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Andachten und Studien zu Jesaja 40-66

Teil 2: Kapitel 49-57

 
Vorbemerkung und Gliederung siehe Teil 1 (Kapitel 40-48)
Dieser Text ist eine Leseprobe aus dem Buch Jesaja - Trost für Gottes Volk
49,1-6 Der Auftrag und Dienst des Knechtes des Herrn
In den nun folgenden neun Kapiteln wird der Messias als Prophet und Priester vorgestellt, der als "Knecht Jahwes" das schwere Erlösungswerk ausführt. Er selbst ist es, der hier zu Beginn aufruft, auf ihn zu hören. Dieser Ruf ergeht nun nicht an Israel, sondern an die Völker ("Inseln"), und die Aufgabe Israels als Zeuge Gottes nimmt der Messias selbst ein (V. 3). Historisch gesehen, könnte man diese Verse auch so verstehen, dass hier Jesaja selbst der Redende ist, aber er wird in diesem Buch häufig mit dem Gesandten Gottes, dem Messias, identifiziert (z.B. 6,8). Diese Aussagen allein auf Jesaja zu beziehen, wie es die Juden auslegen, wird dem Text jedoch nicht gerecht.
Diese Verse sind eigentlich ein Lied, eines von vier Liedern des Knechtes des Herrn (s.a. 42,1-9; 50,4-11; 52,13 - 53,12). Die hebräische Dichtform gesteht nicht aus Reimen, sondern in der Aneinanderreihung jeweils zweier ähnlicher Aussagen. Es ist für den Leser eine leichte Übung, die Verse in dieser Strophenform zu gliedern, was eine wunderschöne lyrische Gestalt ergibt.
Der Herr Jesus ist Gottes Auserwählter (42,1) und auch sein Berufener. Schon bevor Maria schwanger wurde, erhielt sie Weisung, wie sie ihn nennen sollte (Lk 1,31) und was sein Auftrag sein sollte. Seine Worte sind wie ein scharfes Schwert, "durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist" (Hebr 4,12), und von diesem Schwert muss das Fleisch gerichtet werden, bevor der Geist seines Wortes Leben geben kann. Aber auch seine ganze Person hat diese richtende, verurteilende Wirkung: Er ist wie ein Pfeil; wenn der natürliche Mensch von seiner Gegenwart getroffen wird, schmerzt es ihn und er kann es nicht ertragen. Die heilige Gegenwart des Charakters Jesu lässt den Sünder nur ausrufen: Ans Kreuz mit ihm! Christus war wie eine im Köcher Gottes verborgene Geheimwaffe; nie hätte jemand sich ausdenken können, dass ein solcher göttlicher Mensch - Retter, Heiliger und König - jemals auf die Erde kommen würde. Er ist der wahre Israel, der den Auftrag Gottes gehorsam ausführt - im Gegensatz zum Volk Israel, das hierzu bestimmt war, aber versagt hat. Nur durch ihn wurde Gott die ihm gebührende Herrlichkeit zuteil (vgl. Joh 12,28; 13,31; 17,4).
Dennoch sah der "Erfolg" von Jesu Mission, Sünder wieder zu Gott zu führen, zunächst ganz anders aus, und angesichts der Kreuzigung hätte man meinen können, er sei kläglich gescheitert. Seiner Verkündigung des nahen Reichs Gottes waren zunächst Scharen von Juden gefolgt, die ihn dann aber wieder verließen (Joh 6,66) und es blieb nur eine Handvoll Jünger übrig, und auch sie verließen ihn zuletzt. War sein Wort doch kraftlos? Das Volk Israel hatte ihn einfach nicht "gewollt" (Mt 23,37). Obwohl der Herr in seiner Allwissenheit wusste, dass sein Werk nicht vergeblich sein würde, schmerzte und enttäuschte es ihn, dass die Menschen nicht wirklich auf seinen Dienst reagierten, und er fand Trost in dem Wissen, dass Gott ihn für seinen treuen Gehorsam und Dienst auf jeden Fall hoch erhöhen wird. Das ist auch ein Trost für jeden Diener Gottes, der sich hierin mit dem Herrn Jesus Gemeinschaft hat: Auch wenn er bei all seinen Mühen keinen Erfolg sieht, kann er sich in Gott und seinen Verheißungen trösten und daran festhalten, einfach ihm treu zu dienen. Wir brauchen keine Methoden nach Menschenweisheit, um Gott "erfolgreich" zu dienen!
Dann spricht Gott, wie bereits in V. 3, selbst zum Herzen seines Knechtes (V. 5). Das ist genau die Erfahrung des Gläubigen, der dem Herrn nachfolgt. Aus menschlicher Sicht gerät er leicht in Verzweiflung, aber im Glauben kann er sich an Gottes Zusagen stärken. Wenn er diesen Glauben hat, wird Gott sich ihm ganz persönlich offenbaren und er kann Trost von Gott von Angesicht zu Angesicht empfangen. Worin bestand beim Messias dieser Trost? In der Besinnen darauf, dass Gott ihn für seinen Auftrag zubereitet hatte, im Blicken auf die Ehre bei Gott im Gegensatz zur Verachtung bei den Menschen, und im Besinnen darauf, dass Gott seine Stärke ist. Und schließlich in der Bestätigung durch Gott, dass er ihm als seinen Messias ein enorm großes Werk gelingen lassen wird: Der erste Zweck seines Kommens wird erst später in der Weltgeschichte erfüllt werden - die Zurechtbringung Israels vor Beginn des Tausendjährigen Reiches -, aber darüber hinaus wird sein Heil in der Jetztzeit bis an die Enden der Erde zu den Nationen gehen. Das ist ein Schwerpunktthema im Neuen Testament: Gottes Gnade gilt nicht nur Israel, sondern darüber hinaus wurden aus Gnade auch die Völker in Gottes Heilsplan aufgenommen. Der Apostel Paulus zitiert diesen Vers in Apg 13,47, um vor den Juden zu bezeugen, dass er nach deren Ablehnung des Evangeliums zu den Heiden gehen wird.
49,7-13 Die Frucht des Erlösers
Prophezeiungen sind Zusagen Gottes "zur Erbauung und Ermahnung und Tröstung" (1Kor 14,3). Die Hoffnung der Gläubigen ist auf die Zukunft gerichtet, und sie brauchen die tröstenden Prophezeiungen, um wirklich mit Zuversicht nach vorn schauen zu können. Ist es nicht bewegend zu bedenken, dass auch der Herr Jesus von Gott stärkende Zusagen empfing, als er hier der "ganz und gar Verachtete war"? Israel verwarf seinen Gott, weil es Jesus nicht erkannte, aber unter den Völkern der Welt haben sich sogar viele Herrscher dem Herrn unterworfen und ihm alle Ehre gegeben. Königin Viktoria von England sagte beispielsweise gegen Ende ihrer langen Regierungszeit (von 1837-1901): "Ich glaube fest an die Wiederkunft des Herrn Jesus Christus. Und manchmal habe ich gedacht: Er lässt mich deshalb so lange regieren, damit ich meine Krone erst dann niederlege, wenn er wiederkommt - nämlich zu seinen Füßen." Und diese Könige geben dem Herrn nicht nur die Ehre, sondern sie, die als Machthaber eigene Souveränität gewohnt sind, unterwerfen sich ihm! So hat auch jeder Gläubige, der einst sein eigener König war, seinen Herzensthron für den Herrn geräumt.
Wie wir aus Hebräer 5,7 wissen, hat Gott den Herrn Jesus erhört, auch wenn er zuerst durch den Tod gehen musste. Was wie Versagen aussah, war bei Gott der größte Erfolg, der jemals auf dieser Erde erzielt wurde. Auch wenn wir verzweifelt auf Gebetserhörungen warten, dürfen wir wissen, dass Gott jenseits des Leidens etwas für uns bereit hält, das viel besser und von ewigem Bestand ist, im Gegensatz zu unseren zeitlichen Wünschen. Gott hat den Herrn aus den Toten heraufgeführt, ihn zu seiner Rechten erhöht und es ihm gegeben, jetzt die Erlösung und später das Gericht zu bewirken. Welch ein Triumph, errungen durch Überwinderkraft!
In den Versen 9-13 werden die Ergebnisse der Erlösung, die Frucht seiner Leiden beschrieben, was sich in größerer Fülle in Kap. 57-66 entfalten wird. Diese Prophezeiungen beziehen sich insbesondere auf die Wiederherstellung Israels, dessen Bund der Herr Jesus sein wird. Er wird dieses Land aufrichten und die Erbteile, die selbst unter Josua und Salomo nie vollständig in Besitz genommen worden waren, an die zerstreuten Stämme Israels austeilen. Dann werden die Juden aus aller Welt "aus Gefangenschaft" heimkehren. Aber es gilt auch für uns Christen, dass wir aus Finsternis ans Licht gekommen sind, denn er "hat uns aus der Finsternis berufen zu seinem wunderbaren Licht" (1Petr 2,9). Auch wir dürsten nicht, wenn wir vom lebendigen Wasser Christi trinken (Joh 4,10), wir werden nicht vom Gericht Gottes versengt; wir werden von dem geleitet, der sich unser erbarmt hat (Joh 10,4; Röm 8,14), Gott räumt uns mancherlei Hindernisse aus dem Weg, und von allen Enden der Erde strömen Erlöste ins Reich Gottes. Das ist für uns ein besonderer Grund zum Jubeln - dass wir selbst dazugehören dürfen, und dass wir beteiligt sein dürfen am Evangelium (Phil 1,5) und mitarbeiten dürfen an dem großartigen Werk, die Freudenbotschaft zu den Elenden zu bringen, über die Gott sich in Christus erbarmt.
49,14-21 Trost durch Prophezeiungen
Da sich die Verheißung des Erlösers auf die Zukunft bezog und in der Gegenwart nur durch Glauben angenommen werden konnte, meinte das Volk, Gott habe es vergessen. Denn noch griff er nicht offenkundig in ihr Leben ein, sondern wirkte im Verborgenen und hatte Verheißungen gegeben. Doch sein Eingreifen stand nahe bevor: Schon bald sollte Babylon von den Persern erobert werden und sich dadurch die Tore Babylons für die Heimkehr der Juden öffnen. Gott erinnert sein Volk in diesen Versen an seine Treue, seine Liebe zu seinem Volk und an seine Rettung wirkende Macht.
Die Hände sind die Gliedmaße des Handelns. In allem seinen Handeln denkt Gott an die Seinen. Dass sie in seine Hände eingezeichnet sind, erinnert uns jetzt natürlich an die Wundmale Christi. In ihm wurde Gott Mensch, hatte wirkliche Hände und machte diese Aussage auch im buchstäblichen Sinne wahr. Niemand kann die Seinen aus Jesu Hände entreißen, und wer wirklich ihm gehört, braucht sich nicht zu fürchten.
Gott blickte aus der Situation in Babylon bereits in die nahe Zukunft und sah die Mauern Jerusalems wieder aufgebaut, und so sieht er auch heute schon die Mauern der ewigen Stadt (Offb 21,12-19). Auch unser Blick soll auf den künftigen Triumph Gottes gerichtet sein. Nach siebzig Jahren babylonischem Exil sollte der Erlass erteilt werden, dass die Erbauer Jerusalems dorthin zurückkehren können und die Zerstörer dieser von Gott erwählten Stadt von dort verschwinden müssen. Das Volk sollte nur seine Augen des Glaubens erheben und aus dem Wort der Verheißung erkennen, dass Gott dies alles verwirklichen wird: Eine stärkere Bekräftigung als "so wahr ich lebe" kann es gar nicht geben.
Diese Verheißungen beziehen sich nicht nur auf Israel, sondern auch auf die Gemeinde. Denn aus allen Nationen versammeln sich Gläubige zur Gemeinde, die aus Jerusalem hervorging und zunächst nur aus Juden bestand. Aber die Urgemeinde nahm Gläubige aus den Nationen in den Leib, die Braut Christi, auf. Der Dienst, der zu Bekehrungen führt - die "gerechten Taten der Heiligen" (vgl. die "guten Werke" in 1Petr 2,12) - bildet den Schmuck der Braut (Offb 19,8).
In der Zeit des zweiten Tempels unter Esra und Nehemia sollte das Volk noch einmal kurz eine gesegnete Zeit erleben, aber in der hier beschriebenen Weise sind die Verheißungen damals noch nicht erfüllt worden, sondern stehen noch aus und werden im Tausendjährigen Reich erfüllt. Dann werden sie sich so stark im gelobten Land vermehren, dass es ihnen zu eng wird und dass sie sich über ihre eigene Fruchtbarkeit wundern. Das kann nur ein Werk Gottes sein, ebenso wie die Fruchtbarkeit und der Sieg im Leben von gläubigen Christen nur ein erstaunliches Werk Gottes sein kann.
49,22-28 Die Verheißung des glorreichen Sieges
Jahwe fährt mit seinen Verheißungen an sein Volk fort. Seine "Hand" ist der Herr Jesus selbst, der die Errettung Gottes hier auf der Erde ausgeführt hat. Ebenso ist er Gottes "Feldzeichen" (siehe Kap. 11,10), zu dem sich alle Gläubigen der Welt versammeln werden. So haben sich diese Verheißungen zum Teil mit und nach dem ersten Kommen des Messias erfüllt, als das Heil der Welt von den Juden kommend in alle Welt ausging (Joh 4,22). Der Herr Jesus selbst ist es, von dem es einige Kapitel zuvor heißt, dass er die jungen Lämmer seiner Herde "in seinem Gewandbausch" trägt (40,11). So werden die durch den Heiligen Geist neu geborenen Gläubigen der Gemeinde zugeführt und eine fürsorgliche Behandlung erfahren. Die menschlichen Verhältnisse in der Gemeinde sind umgekehrt: Wer groß sein will, soll Diener aller sein (Mk 10,42-44). Solche sind wahre Könige, die den Mitgläubigen in unterwürfiger Weise die Füße reinigen. So etwas Großartiges, etwas, was derartig gegen die menschliche Natur ist, kann nur der Wunder wirkende Gott vollbringen, der in diesen Werken zu erkennen ist. Wer auf diesen Gott hofft und wartet - was Errettung von Sünde betrifft -, wird nicht beschämt werden.
Diese Verheißungen werden sich aber im Tausendjährigen Reich auch buchstäblich erfüllen, denn dem Volk Israel gelten die Verheißungen - und die Gemeinde ist nur im geistlichen Sinn Miterbe der Verheißungen, so wie ihre Gläubigen die geistlichen Kinder Abrahams sind.
Das Volk in Babylon fragte sich: "Ist denn Errettung und Befreiung überhaupt möglich? Wir sind hier doch von einem starken Helden gefangengehalten!" In gleicher Weise können das von Sünde geknechtete Sünder sagen: Menschlich gesehen gibt es für sie keine Hoffnung auf Befreiung. Aber Gott ist immer noch stärker, und er wird seine errettende Kraft - die Kraft des Evangeliums (Röm 1,16) - gegen seine Feinde anwenden. Als letzter Feind wird der Tod weggetan werden (1Kor 15,26), und der, der die Macht des Todes hat, ist schon jetzt durch Jesu Tod am Kreuz besiegt. So hat der Herr Jesus alle die befreit "die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren" (Hebr 2,14-15).
Buchstäblich vollzog es sich aber schon damals so, dass Babylon von einem Stärkeren, Kyrus, bezwungen wurde; und am Ende der Trübsalszeit wird Gott dieses schwere Gericht über alle Feinde Israels halten. Im dritten Siegel wird er sie mit Blut tränken (Offb 16,6), und nach dem Sieg Christi in Harmageddon wird Gott das Fleisch seiner Feinde ihren seelenverwandten Dämonen zu fressen geben (Offb 19,18). Auch diese schreckliche Seite gehört zur Errettung dazu, denn Gott rettet sein Volk vor seinen Feinden. Wie wichtig ist es da, nicht zu denen zu gehören, die Gott ungehorsam sind und seinen geliebten Kindern Schmerzliches antun!
Wiederum ist das Ergebnis, dass alle Welt erkennt, dass Jesus Christus, der Jahwe des Alten Testaments, der große Retter-Gott ist, der sein Volk in Treue zu seinen Verheißungen mit Macht erlöst. Am Kreuz wurde diese Erlösung und dieser Sieg errungen. "Wo ist, o Tod, dein Sieg? ... Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus!" (1Kor 15,55-57).

50,1-3 Gott wird retten
In 49,14 hatte das Volk geklagt: "Verlassen hat mich Jahwe". Aber hatte Gott die Juden wirklich ein für allemal verworfen, wie sie meinten? Gott hatte ihnen keinen Scheidebrief gegeben, vielmehr galt ihnen seine Treue. Das gilt jedoch nur für die nach Babylon weggeführten Stämme Juda und Benjamin. Von den zehn Stämmen des Nordreiches, die lange Zeit vorher von den Assyrern weggeführt und auf immer verstreut worden waren, hatte Gott sich wirklich geschieden: "... dass ich die abtrünnige Israel, weil sie die Ehe gebrochen, entlassen und ihr einen Scheidebrief gegeben hatte, doch die treulose Juda, ihre Schwester, sich nicht fürchtete, sondern hinging und selbst auch hurte" (Jer 3,8). Der einzige Grund für diese unverdiente Gnade, dass Gott sie "nicht endgültig verworfen" (Kla 5,22) hatte, besteht darin, dass aus dem Stamm Juda der Messias hervorgehen sollte. Juda war nichts besser als die übrigen Stämme.
Das irdische Jerusalem wird oft mit dem Volk der Juden identifiziert, das wiederum als "Mutter" bezeichnet wird, so wie das "Jerusalem droben" im Galaterbrief als "unsere Mutter" bezeichnet und mit Sara identifiziert wird (Gal 4,26). So wie nicht alle natürlichen Nachkommen Abrahams Erben der Verheißung sind (Röm 9,6ff), so sind auch nicht alle natürlichen Nachkommen Saras wiedergeborene Kinder des Volkes Gottes. Nur wer "in Christus" ist, gehört zum wahren Volk Gottes, denn an Christus hängt die ganze Treue Gottes. Wer gläubig, also "in Christus" ist, wird aber an der Errettung und an der Treue Gottes zweifeln, wenn er Sünde auf sich geladen und Gottes Züchtigung provoziert hat. Sehen wir bei uns Mangel an geistlichem Leben und Frucht, Mangel an Anbetung und Freude am Herrn? Dieses Defizit in der Beziehung zum Herrn liegt dann womöglich an unbereinigter, unbereuter oder unerkannter Sünde. Das kann sogar nicht nur für den einzelnen Gläubigen gelten, sondern für eine ganze Gemeinschaft von Christen, denen der Segen Gottes fehlt.
In Vers 2 sagt Gott, dass er zu seinem Volk "gekommen" ist. Von Anfang ging er auf in Sünde gefallene Menschen zu, um sie zurechtzubringen. So war es bei Adam nach dem Sündenfall (1Mo 3,8), so war es bei den Menschen zu Noahs Zeit, durch den Gott zu den Menschen sprach, und auch durch die Propheten war er zu ihnen gekommen, "früh mich aufmachend und sendend" (Jer 7,25 etc.). Aber das waren alles nur Vorbilder auf das Kommen des Herrn Jesus. Er rief mit dem Ruf des Evangeliums, aber niemand ging darauf ein, bis auf eine Handvoll Jünger. Lag das daran, dass Gott zwar Errettung anbieten, aber nicht bewirken und vollbringen kann? Muss die Entscheidung letztlich dem Menschen überlassen werden? Nein, Gott - und nur Gott - hat die "Kraft, um zu erretten". Sein Wort wird nicht leer zurückkommen, denn es hat die Kraft, das auszuführen, was ihm gefällt. Durch sein Wort schuf er die Welt, auf sein Gebot hin vertrocknet das Meer wie beim Auszug aus Ägypten, und auf seinen Befehl versagen die Himmelkörper ihren Schein. So wird Gott durch das Wort seines Sohnes, das Evangelium vom Kreuz, letztlich sowohl das irdische Israel wiederherstellen als auch in aller Welt Sünder erretten. In den nächsten Abschnitten werden wir näheren Einblick bekommen, wie er das tun wird.
50,4-9 Das lebensspendende Wort des Messias
Gott hat Kraft zu erretten und Errettung zu wirken - das ist die Antwort auf die rhetorische Frage aus V. 2. Er wirkt alles - auch die Errettung - durch sein Wort. Wie vollbringt der Herr Jesus dies? In diesen Versen finden wir die Antwort. Der Vater hat ihm Worte des ewigen Lebens gegeben, und er hat diese Worte den Menschen gegeben (Joh 7,16; 8,26; 17,8). Es war sogar ein Gebot des ewigen Leben, das der Vater dem Sohn mit auf seine Mission in die Welt gegeben hat (Joh 12,49-50). So hatte der Herr Jesus auf der Erde die "Zunge eines Belehrten" (oder Jüngers)", d.h. er sprach nicht von sich selbst, sondern als von Gott belehrt und Gott unterworfen (Joh 8,28). Sein Auftrag war, durch seine Worte "Müde aufzurichten". Er ist für die gekommen, die von der Sünde beschwert und beladen sind und unter ihren vergeblichen Versuchen, von der Sünde frei zu werden, müde geworden sind. Er bringt ihnen die frohe Botschaft, dass er von Sünde retten kann: von der Freude an der Sünde, von der Schuld der Sünde, von der Macht der Sünde und schließlich sogar von der Gegenwart der Sünde.
Es ist ergreifend zu bedenken, in welcher Abhängigkeit von Gott, seinem Vater, der Herr Jesus selber gelebt hat, um dieses Werk in Treue auszuführen. Jeder Tag seines Erdenlebens begann damit, sich von Gott wecken und das Ohr öffnen zu lassen. Den Willen Gottes zu tun, war für ihn keine gedankenlose Routine, sondern musste aus einer täglichen lebendigen Beziehung fließen. Wie viel mehr gilt das für uns, die wir viel mehr nötig haben, von Gottes Wort belebt und geleitet zu werden und wie Jünger zu hören! Noch ergreifender ist es zu bedenken, was der Wille Gottes für den Herrn Jesus war, den er ausführen sollte: Er sollte leiden, er sollte sich von seinen rebellierenden Geschöpfen demütigen und quälen lassen, er sollte still dabei ausharren. Die Einzelheiten seiner Schikanierung werden hier prophezeit: Die Geißelschläge auf seinen Rücken, das Angespucktwerden, und sogar sein Bart wurde ausgerissen. Willig erduldete er dies alles, und tröstete sich durch den Beistand Gottes, der ihn im ringenden Kampf im Garten durch einen Engel stärkte (Lk 22,43). Deshalb harrte er unbeirrt aus, ohne eine Miene zu verziehen. Keinerlei Anflug des Zurückweichens, Zweifelns oder Missfallens war ihm anzusehen.
In diesen Versen sehen wir die Seite des unschuldigen Leidens des Herrn. Er war im Recht, seine Peiniger im himmelschreienden Unrecht. In dieser Situation konnte er aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit aus zweierlei Gründen gänzlich auf Gott vertrauen: Er konnte sicher sein, dass Gott ihn aus den Toten auferwecken würde, weil er gerecht ist, und er konnte sicher sein, dass Gott seine Peiniger richten und bestrafen wird. In Kapitel 53 werden wir dann die andere Seite sehen: Gott gefiel es, ihn zu schlagen (Jes 53,12), weil er die Sünde der Welt trug und zum Fluch gemacht wurde. Aus eben dieser Gnade konnte er für seine Peiniger bitten, dass der Vater ihnen vergeben möge.
50,10-11 Rettung für die, die im Finstern sind
Nachdem Gott erklärt hat, wodurch er rettet - durch das Wort seines Messias-Knechtes - richtet er sich mit der Frage an das Volk, wer unter ihnen ihn fürchte und auf seine Stimme hört. Diese beiden Seiten gehören zusammen: Ihn fürchten, bedeutet, auf sein Wort zu hören. Das tun nur jene, die darum wissen, dass sie in Finsternis leben, dass in ihnen nichts als finstere Sündhaftigkeit ist und dass sie keine andere Hoffnung haben als diesen verheißenen Messias. Sie können auf nichts anderes vertrauen und sich auf niemand anderen stützen als auf den Herrn Jesus Christus, ihrem Gott. Bei ihnen wohnt Gott in Finsternis, denn er duldet kein anderes Licht neben sich, sondern hat gesagt, "dass er im Dunkeln wohnen will" (1Kö 8,12).
Die anderen - religiösen, aber ungläubigen - aus dem Volk zünden sich selber ein Feuer an und verwerfen somit das wahre Licht, Christus. Sie hoffen auf ihre eigenen Fähigkeiten oder auf ihre eigenen Mittel und menschlichen Beziehungen. Das, worauf sie hoffen, ist im Grunde nichts anderes als "feurige Pfeile des Bösen" (Eph 6,16) - ihre religiösen Fälschungen, mit denen sie den wahren Gläubigen das Leben schwer machen. Gott gibt solche Menschen dem preis, was sie gewählt haben. Diese Preisgabe des Menschen an das von ihm gewählte Verderben ist ein allgemeines Prinzip in der Schrift (siehe z.B. Röm 1,24-28). Das gehört zu Gottes Gerechtigkeit, er wird jedem die Frucht dessen geben, was er wählt (Gal 6,7). Ihr Ende wird Verderben sein, und dieses Verderben resultiert aus ihrer eigenen falschen Hoffnung, aber es ist Gottes Hand - der Messias - der dieses Gericht ausführen wird; die Hand, die sonst hätte retten können (siehe V. 2).
51,1-3 Gerechtigkeit, Frucht und Freude
Die ganzen Sinne der Erlösten sollen und müssen auf den Herrn gerichtet sein: ihre Augen (40,15; 42,1.18 etc.) und ihre Ohren (41,1; 42,18; 46,3.12 etc.). Wer Gerechtigkeit erstrebt, wird sie nirgends anders finden können als beim Herrn. Gerechtigkeit und der Herr werden in diesem Vers gleichgestellt, denn der Herr Jesus ist Gerechtigkeit, ja, er ist die Gerechtigkeit der Erlösten (1Kor 1,30). Das Evangelium offenbart die Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,17) - und das ist der Herr Jesus, denn ihn offenbart das Evangelium als Person. In der Bergpredigt hat er viel darüber zu sagen: "Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten" (5,6) - nämlich nach ihm, "Glückselig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten" (5,12) - nämlich um seinetwillen, und: "Wenn nicht eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertrifft, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen" (Mt 5,20) - wenn nämlich nicht der Herr ihre Gerechtigkeit ist. An keiner von diesen Stellen ist die Rede von einer Gerechtigkeit nach menschlichen Maßstäben oder Möglichkeiten. Es ist die Gerechtigkeit, die der Herr Jesus hier auf der Erde erfüllte: Gerecht ist es, Gott sein Leben so vorbehaltlos zu weihen, wie er es tat, gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Weniger zählt bei Gott nicht als gerecht. Es ist zu hoffen, dass Christen wirklich der Gerechtigkeit nachjagen, die von Gott als gerecht anerkannt wird. Und wenn wir auf ihn hören, ihn selbst suchen und auf ihn blicken, ist diese Gerechtigkeit kein unmögliches Ziel. Gott hat Wunder mit uns vor. Denn Erlöste sind nicht von dieser Welt, sondern sind aus einem übernatürlichen Felsen gehauen, dem Felsen Christus. So wie die Juden aus Abraham stammen, so stammen die Erlösten durch die Wiedergeburt von Gott selbst und sind "Teilhaber seiner göttlichen Natur" (2Petr 1,4), und sie sind Glieder der Gemeinde, des himmlischen Jerusalems, so wie die Juden Kinder Saras waren.
Der Herr Jesus war - wie Abraham - auch nur ein einzelner Mensch, ja, der einzige, der jemals Gottes Gerechtigkeit auf der Erde erfüllt hat. Aber in seinem Tod ist er als Samenkorn in die Erde gefallen und hat reiche Frucht gebracht (Joh 12,24). Es ist der beste Beweis seiner Realität, dass in den letzten 2000 Jahren unzählige Sünder umgestaltet worden sind in sein Bild. Gott hat ihn und seine Leiden am Kreuz reichlich gesegnet und Frucht bringen lassen (Jes 53,11) in einer großen Schar von Nachfolgern, deren Heiligkeit, Hingabe an Gott und Gerechtigkeit - ihr leichtes Erfüllen der Gebote Gottes - nicht natürlich erklärbar ist.
Welch ein "Trost" ist es für die Gemeinde, für das jetzige Zion, dass der Herr ihr Frucht und Vermehrung schenkt! Wie freuen sich Diener des Herrn, wenn sie Bekehrungen erleben und sehen, dass ihre Schützlinge treu in der Wahrheit leben (3Jo 1,4). Selbst nach Zeiten geistlicher Züchtigung kann es so sein, so wie auch das in Trümmern daliegende irdische Jerusalem wieder aufgebaut wurde und in Zukunft in vollendeter Herrlichkeit wiederhergestellt sein wird. Welche Freude wird das auf der Erde sein, und welche Freude können wir jetzt im himmlischen Jerusalem haben, wenn wir Gottes Gnadenwirken mit der Gemeinde sehen: Er wirkt Gerechtigkeit, Vermehrung und überströmendes Leben unter den Gläubigen!

51,4-8 Ermutigung für die Erlösten
"Mein Volk" und "meine Nation" sind diejenigen, "die Gerechtigkeit kennen" und "in dessen Herz mein Gesetz ist" (V. 7), also die Gläubigen und Erlösten. Welch frohe Botschaft aus dem Mund des Herrn dürfen sie hier hören! Von ihm aus kommt alles das, was der Herr Jesus ist, ja, er selbst: Er ist das "Gesetz" des Lebens (Röm 8,3) oder die "Weisung" Gottes; er ist die Gerechtigkeit Gottes, das Licht der Welt (Joh 8,12); aber er ist auch der Arm Gottes, der rettet und richtet. Gott ist in seinem Wesen immer der gebende und Heil sendende Gott gewesen. Er hat von Anfang an seinen Messias verheißen, und wer sich nach Erlösung sehnte, brauchte nur auf ihn zu warten. Zur Zeit Jesajas und der babylonischen Gefangenschaft war das Heil Gottes, das Kommen des Messias, schon in greifbare Nähe gerückt (nur noch ca. 600 Jahre sollten vergehen, das ist bei Gott weniger als ein Tag). Und im prophetischen Wort stand sein Kommen sogar unmittelbar vor der Tür, denn z.B. in Kapitel 53 konnten die gläubigen Israeliten ihn als den sehen, der ihre Schuld auf sich nahm und sühnte.
Ihr Lebensraum sollte früher oder später zerstört werden, sowohl der Himmel als auch die Erde. Nur wer in Christus befunden wird, wird dann in die Ewigkeit hingerettet werden: Christus - Gottes Heil und Gerechtigkeit, wird in Ewigkeit bestehen. Diese Aussage gilt besonders für die Zeit vor dem Tausendjährigen Reich, wenn Himmel und Erde von schweren Gerichten Gottes heimgesucht werden. Dann werden die gläubigen Juden in diesem Abschnitt besonders Heil und Trost finden. Aber auch unsere Blicke heute werden dadurch von den irdischen und sichtbaren Dingen weggelenkt auf ihn hin.
Etwas Weiteres, was vergehen wird, sind die gottlosen Menschen, die Feinde des Evangeliums, die die Gläubigen verfolgen. Als Gläubige brauchen wir immer wieder den Zuspruch und die Ermutigung Gottes, uns nicht zu fürchten und nicht zurückzuweichen, uns treu zum Herrn zu bekennen: in unseren Worten wie in unserem Verhalten. Wenn wir in unserem Verstand wissen, was der Wille Gottes ist ("Gerechtigkeit kennen"), weil der Herr Jesus den Willen Gottes gesagt und vorgelebt hat, und wenn wir mit unserem wiedergeborenen Herzen diesen Willen Gottes tun wollen, dann ist das einzige Hindernis, was uns vom Tun der Gerechtigkeit Gottes abhalten kann, der Widerstand von außen. Aber "alles was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt", und zwar durch den Glauben (1Jo 5,4). Wie oft hat der Herr Jesus seinen Jüngern gesagt: "Fürchtet euch nicht! Ich bin es" (z.B. Mk 6,50; s.a. Mt 10,28; 17,7; Joh 6,20 u.a.). Das hatte sogar der Apostel Paulus nötig, als er in Korinth entmutigt war und ihm der Herr in einem Gesicht erschien (Apg 18,9). Wir können nicht aus unserer eigenen Kühnheit mutig sein, sondern können nur aus der Gemeinschaft mit dem Herrn, seinem Beistand und seinem liebevollen Zuspruch Mut zum Bestehen in dieser Welt gewinnen.
51,9-16 Gottes hinausgezögertes Eingreifen
Die Verse 9-11 sind ein Gebet Jesajas, in welchem er das nahe bevorstehende Eingreifen Gottes zur Rettung seines Volkes "beschleunigen" möchte und den Herrn bejubelt, doch bald seine Macht zu erweisen. Der Hüter Israels schläft nicht (Ps 121,4), als ob er geweckt werden müsse, sondern es ist eine Prüfung des Glaubens, wenn der Gläubige auf Gottes rechtzeitiges Eingreifen wartet. Hier ist es ein glaubensvoller Ruf an den Herrn, einzugreifen, im Gegensatz zu den zweifelnden Jüngern, die den Herrn beim Sturm im Boot weckten. Ist es unser sehnliches Verlangen, dass der Herr nicht länger zurückhält, um Gericht über seine Feinde zu halten? Der einzige Grund, warum der Herr und auch wir lieber damit warten wollen, ist der, dass noch Zeit sei, damit viele zur Umkehr kommen.
Glauben heißt glauben an die bereits vollbrachten Taten Gottes. Auch wenn er sich heute zurückhält, hat sich derselbe Gott in alten Zeiten als eingreifender, mächtiger, richtender Gott geoffenbart. So kannte Jesaja ihn aus den alten Schriften: Gott hatte Ägypten (Rahab, s. Ps 87,4) den Garaus gemacht und den Pharao (das Seeungeheuer bzw. den "Drachen") zerschlagen. Die alte Schlange, der Teufel, wird er in Kurzem unter unseren Füßen zertreten (Röm 16,20) und in den Feuersee werfen. Zwei Kapitel weiter wird von eben solch einer Durchbohrung die Rede sein wie hier beim Seeungeheuer; der Herr Jesus erlitt dieses Gericht am Kreuz, als in ihm die Sünde, der Fluch und der Tod gerichtet wurden. Gott ist ein mächtiger Retter, das hat er besonders beim Exodus bewiesen, und erst Recht beim Werk von Kreuz und Auferstehung. Die von ihm Geretteten können nach Zion zurückkommen, das ist der Ort seiner Wohnung, seiner Anbetung und seiner Herrschaft. Nur dort, bei ihm, ist Segen und Lebensfülle. Der Ausdruck "Zionismus" gründet sich auf diese und andere Verheißung der Rückkehr der Juden nach Zion. Der Zionismus jedoch, die Heimkehrbewegung der Juden seit etwa 1900, ist völlig atheistisch geprägt, sein Begründer Theodor Herzl war Kommunist. Dieser Zionismus ist eine gottlose Nachahmung der wahren irdischen Heimkehr nach Zion, die sich beim Anbruch des Tausendjährigen Reiches erfüllen wird, und der geistlichen Heimkehr der Gläubigen zum "himmlischen Jerusalem" (Hebr 12,22).
Nach diesem verzweifelten Ruf nach dem Eingreifen Gottes erfolgt der Zuspruch vom Herrn (V. 12). Auch wenn er jetzt noch nicht eingriff, bestand kein Grund zur Furcht, denn der Gläubige steht in einer persönlichen, direkten Beziehung zum Herrn. Er lebt und stärkt sich durch sein Wort, seinen Trost, und Gott bewahrt, schützt und leitet ihn in seiner Vorsehung. Dass kein Grund zur Furcht besteht, hat jedoch zwei Seiten: zum einen das Wesen Gottes, zum anderen die Nichtigkeit der menschlichen Feinde. Selbst wenn wir um unseres Glaubens willen getötet werden, wäre das noch ein Segen für uns. Um des Herrn willen zu leiden, wird großen Lohn einbringen. Aber wie leicht vergessen wir bei diesen menschlichen Bedrohungen die Größe unsers Gottes! Es gibt viele "Bedränger" - damals Babylon, heute Teufel, Tod und viele Mächte -, aber nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus. Die Leiden der jetzigen Zeit werden nicht ins Gewicht fallen im Vergleich zur ewigen Herrlichkeit bei Gott. Wer sind wir - wie kleingläubig sind wir, dass uns die jetzigen Entbehrungen so viel ausmachen? Auch hinter allen Unruhen der Welt und ihrer Völker - das "brausende" Meer - steht als Ursache Gott, der auch das Seeungeheuer, dass das Meer aufwühlt (so wie Herrscher die Völker in Unruhe versetzen), fest in seiner Hand hält.
Was gibt uns Gott zum Trost und Beistand; wie erkennen wir seine Gegenwart? Er hat uns sein tröstendes Wort, seine Verheißungen, gegeben, welche wir stets auf den Lippen haben. Er beschützt uns so mit dem "Schatten seiner Hand", wie er den Herrn auf der Erde beschützte (vgl. 49,2) und er lässt in seiner Vorsehung nicht zu, dass wir über unser Vermögen versucht werden (1Kor 10,13). Er erhält uns - aber zu welchem Zweck? Damit das Evangelium verbreitet und die himmlische Gemeinde weitergebaut wird, die zugleich das "Himmelszelt" ist als auch die "Grundfeste der Wahrheit" (1Tim 3,15) - damit seine Wahrheit noch auf der Erde gegenwärtig ist und diese wie Salz bewahrt. Und damit wir als sein Volk Gemeinschaft mit ihm haben, und zwar aus Glauben und nicht aus Schauen, denn das ist nur hier auf dieser Erde möglich.
51,17-23 Nahe Erlösung für gezüchtigte Bußfertige
Jetzt spricht der Herr "Jerusalem" mit genau demselben Aufruf an, mit dem ihn Jesaja in V. 9 um sein Handeln bat: "Wach auf, wach auf!" Der Aufruf in 52,1 gleicht noch mehr der Bitte Jesajas - Gott kehrt nun den Spieß um und ruft sein Volk zu seiner Verantwortung auf. Er ist es, von dem Errettung ausgeht und der die Errettung bewirkt und vollendet - aber nicht ohne sein Volk vollmächtig zu einer Reaktion aufgerufen zu haben. Es ist der Weckruf: "Wach auf und stehe auf von den Toten!" (Eph 5,14). Als sich die Jünger der Not der Verfolgung gegenüber sahen, schliefen sie ein "vor Traurigkeit" (Lk 22,45). Sie resignierten unter der Erkenntnis, dass Gottes Wege nicht immer triumphale Wege ohne jedes Leid sind. So ging es auch damals "Jerusalem", dem Volk Gottes in Babylon. Es hatte reichlich Züchtigungen aus der Hand Gottes empfangen und war resigniert. Doch es sollte erwachen und seinen Blick erheben auf den Herrn, der schon bald Erlösung bringen sollte - all dies zielt hin auf den Höhepunkt des "Jesaja-Evangeliums" in Kapitel 53.
Jerusalems Kraft war so geschwächt, dass sie keine Nachwuchskräfte mehr hervorbringen konnte, die sie aus der Misere hätten führen können. Kennen wir dieses Leid, diese Kraftlosigkeit und Verfallserscheinung nicht auch aus unseren Gemeinden? Zweifaches Leid hatte Jerusalem empfangen: Verlust von Besitz ("Verheerung und Zerschmetterung") und von Leben ("Hungersnot und Schwert"). So geht es auch der Gemeinde unter der Züchtigung Gottes: Ihre geistlichen Güter - Erkenntnis, Zeugnis etc. - werden ihr genommen, und schließlich schwindet das geistliche Leben überhaupt: keine neuen Bekehrungen, kein Wachstum, wenig Lebenszeichen. In solchen Situationen ist es - wie damals beim Volk Israel in Babylon - so wichtig, die Hand Gottes darin zu erkennen. Wenn erkannt und anerkannt wird, dass das Leid nicht "an der bösen Gesellschaft" usw. liegt, sondern die verdiente Züchtigung Gottes ist, dann ist die Erlösung nicht mehr fern. Einsicht und Buße sind die ersten Schritte zur Erneuerung. Gott will sein gezüchtigtes Volk trösten. Er will sein Volk herausführen aus dieser katastrophalen Lage, wo Gotteskinder geistlich verhungern, dahinsinken, im Dreck dieser Welt auf der Straße liegen, eingefangen werden von Sektierern usw. Das Volk ist wie im Rauschzustand benebelt von den Züchtigungen Gottes, unfähig klar zu sehen und zu handeln.
Aber wie großartig, dass Gott ein Gott ist, der den Rechtstreit seines Volkes führt! Er will es nicht quälen, sondern zurechtbringen. Wenn die Züchtigung ihren Dienst getan hat und das Volk zur Einsicht gekommen ist, zieht er seine schlagende Hand zurück und segnet. Der Becher des Zorn muss nicht vollständig geleert werden. Das Volk musste den Zorn Gottes kosten, um ihn zu fürchten, und dann nimmt er ihnen den Becher aus der Hand und gibt ihn weiter: damals an die feindlichen Völker (Babylon bekommt diesen Becher in der Zukunft: Offb 16,19; 18,6), die er schlug, aber schließlich am Kreuz seinem eigenen Sohn, der mit dem Zorn Gottes das erlitt, was sein Volk verdient hat.
Prophetisch werden sich die Voraussagen von V. 22-23 vor Beginn des Tausendjährigen Reiches erfüllen, wenn die Bedränger Israels vom Herrn selbst besiegt werden. Das Land Israel war stets ein militärischer Kreuzungspunkt zwischen Ägypten, Persien, Syrien und Europa. Es wurde als Durchzugsgebiet für Heere missbraucht, die oft große Verwüstungen anrichteten. Das schwache Volk musste dieser Gewalt nachgeben. In Psalm 129,3 wird ebenfalls darauf angespielt: "Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt, haben lang gezogen ihre Furchen", was aber auch eindeutig vom Leiden des Messias bei seiner Geißelung durch die Besatzungsmacht Rom spricht. Die Welt hat ihre blutrünstige Wut nicht nur am Land Israel ausgelassen, sondern am Messias selbst.
52,1-6 Erlöst zu Ehre und Kraft
Außer dem Aufruf "Wach auf, wach auf" entspricht in diesem Vers auch die Aufforderung "Kleide dich in deine Kraft" der Bitte an Gott in 51,9. Die Kraft der Erlösten ist nämlich die Kraft Gottes, die er ihnen durch die Erlösung verleiht (vgl. Eph 1,20; 2,5). Im Aufruf in 51,17 ging es um die Erlösung von Schuld und Strafe - die negative Seite der Erlösung; nun geht es um die Erlösung von Kraftlosigkeit und mangelnder Gerechtigkeit - die positive Seite. Dieser Ruf Gottes bewirkte beim alten Volk Israel, dass es - soweit es im Glaubensgehorsam reagierte - aus Babylon zurückkehrte nach Jerusalem und die Fremdherrschaft abschüttelte. Das war damals nur ein kleiner Überrest, und daraus lernen wir, dass es sowohl heute als auch zu Beginn des Tausendjährigen Reiches nur der kleine, treue Überrest ist, der Gottes Ruf in die Erlösung folgt. Das erlöste Volk Gottes ist stark, in majestätische, praktische Gerechtigkeit gekleidet und heilig, d.h. ohne jede Unreinheit. Unmöglich kann diese Verheißung bei der Heimkehr der Juden aus Babylon erfüllt worden sein, denn nur kurze Zeit später wurde Jerusalem erneut von "Unbeschnittenen" verunreinigt, z.B. durch den Antiochus Ephiphanes und später durch die Römer.
Das erlöste Volk Gottes wird aufgefordert, den schändlichen Dreck dieser Welt hinter sich zu lassen und sich zu der Ehrenstellung zu erheben, die Gott dem Gläubigen zuweist. Sie sollen mitherrschen mit Christus, auf seinem Thron. Jerusalem könnte sich nicht selbst von den Fesseln befreien, wenn der Herr diese Fesseln nicht gelöst hätte. Hier aber wird es aufgefordert, diese Erlösung auszuleben und zu praktizieren und nicht wie Unerlöste weiter in Knechtschaft und Bindung zu leben. Es werden keine Einzelpersonen angesprochen, sondern das gesamte Volk; die Gläubigen sollen sich gegenseitig mit ihren Gaben bei dieser Befreiung und Auferbauung unterstützen (vgl. Eph 4,11-16).
Die Verse 3-6 sind aufeinander aufbauende Begründungen, die mit "denn" oder "darum" beginnen. Das in V. 2 beschriebene Leben in der Erlösung wird begründet mit Gottes Heilshandeln, welches in V. 3-6 zusammengefasst wird. Gottes Volk wurde von fremden Herrschern unterdrückt, die dafür nichts zahlten und leisteten. Aber Gott kehrt dieses Unrecht um und erlöst sein Volk, ohne eine Zahlung für sich selbst zu verlangen. Als Beispiele dafür werden die Unterdrückung durch Ägypten und Assur angeführt. Gott hatte sich bereits als Retter seines Volkes von diesen Feinden erwiesen. Nun war das Volk in Babylon, und der Herr stand im Begriff, es auch von dieser Macht zu erretten. Damit verherrlichte er sich gegenüber den Feinden, die Gott aufgrund des elendigen Zustands seines Volkes höhnten. Dieses Höhnen sollte ihnen vergehen. In Römer 2,24 erinnert Paulus daran, dass aber das ungläubige Leben der Juden zu diesem Gott verunehrenden Zustand geführt hatte. Nun ist es Gottes Sache, aus diesem unehrenhaften Zustand zu erretten. Das Ziel davon ist, dass das Volk seinen Namen, seine Person, sein Wesen und seinen Charakter erkennt, ja, dass es erkennt, wer sein Retter ist: Der Herr Jesus Christus, dessen Erlösungstat in den folgenden Abschnitten eindrücklich beschrieben wird.
52,7-12 Absonderung zum Heil
Nun steht die Verkündigung der Rettungstat des Herrn in Kapitel 53 unmittelbar bevor. Die Spannung in der Erwartung der Erlösung steigt bis zum Bersten. Bereits in diesen Versen klingt die liebliche Melodie der vollbrachten Erlösung an. "Frohe Botschaft" wird verkündet von Boten - und welche Freude, dass sie bereit sind, sich nicht auf den Lorbeeren ihrer eigenen Erlösung auszuruhen, sondern ihre Füße müde werden zu lassen, Berge zu erklimmen, um diese Botschaft bis ans Ende der Erde zu bringen. Paulus zitiert diesen Vers - und kurz darauf auch 53,1 - in Römer 10 (V. 15.16) und beschreibt damit eindeutig Evangelisten und alle, die sich vom Herrn zur Verkündigung seiner errettenden Evangeliumsbotschaft gebrauchen lassen. Diese Botschaft ist "Frieden" - Frieden mit Gott durch das Opfer vom Kreuz - und "Heil" - Heilung aller Folgen der Sünde, d.h. ein neues Herz, eine neue Natur und ewiges, Gott verherrlichendes Leben. Die Botschaft selbst lautet: "Dein Gott herrscht als König!" Es ist die Botschaft des Sieges Jesu über alle Feinde. Wer glaubt, braucht nicht in Niederlagen und Unterwerfung unter den Feinden Gottes zu leben, sondern nur in Unterwerfung unter den wahren König: Jesus Christus, der Retter-Gott.
Dass Gott auch über die Könige dieser Welt herrscht, wurde in der Befreiung Israels aus Babylon deutlich. Gott lenkte die Herzen der Könige und Fürsten, um den Weg für sein Volk frei zu machen, zurück nach Jerusalem, damit es wieder aufgebaut werde. Anschaulich beschreibt der Prophet, wie die Wächter auf den Zinnen Jerusalems sich Auge in Auge anschauen und die Freude einander weitergeben über das, was sie gerade erblickt haben: Gott selbst kommt nach Jerusalem zurück - er, dessen Herrlichkeit in Hesekiels Vision (Hes 10,4.18-19) den Tempel Jerusalems verlassen hatte. Wann kehrte er nach Jerusalem zurück? Beim wiederaufgebauten Tempel unter Esra und Serubbabel waren es "nur" sein Wort und sein Geist, mit denen die Gegenwart des Herrn im Glauben - nicht im Schauen - erfasst werden konnte (siehe Hag 2,5). Aber leibhaftig kehrte der Herr nach Zion zurück, als der Herr Jesus dort diente und lehrte - und auf einem Eselfüllen in Zion einzog, um sich von diesem Volk kurz darauf verwerfen zu lassen. Hier bei Jesaja sollten die "Trümmerstätten" jubeln - und beim Einzug des Herrn in Jerusalem hätten die Steine ihm zugejubelt, wenn man es dem Volk untersagt hätte (Lk 19,40). In Wirklichkeit war aber auch die jubelnde Menge noch totes Trümmergestein, und erst später sollten etliche von ihnen durch den Glauben eingesetzt werden als lebendige Steine in den geistlichen Tempel (vgl. 1Petr 2,5). Dieser Vers hat also eine reichhaltige, vielschichtige Bedeutung. Auch der Körper des Sünders ist eine Trümmerstätte, von der Sünde verwüstet, aber wenn der Herr im Heiligen Geist dort Einzug hält, wenn der Mensch wiedergeboren wird, hat dieser Bekehrte ebenso großen Grund zum Jubeln. Und in Zukunft wird das buchstäbliche Zion Jubeln, wenn der Herr Jesus vom Himmel wiederkommt, um in Jerusalem seinen Thron aufzurichten.
In so vielfältiger Weise also hat der Herr sein Volk getröstet und erlöst - immer jedoch aufgrund der einen Tat von Golgatha, die im nächsten Kapitel beschrieben wird. Dort auf Golgatha entblößte der Herr seinen heiligen Arm, den Herrn Jesus, Ausdruck seiner Kraft und seines Handelns. Stellvertretend für alle Nationen beobachteten sowohl Juden als auch Römer dieses "Schauspiel" (Lk 23,48), bei dem Gott seine Rettungstat und seine große Retterliebe aller Welt vor Augen malte. Als ein treuer Überrest von Juden aus Babylon nach Jerusalem zurückkehrte, erregte das sicher auch die Aufmerksamkeit aller Nationen, aber das war nur ein Vorschatten der wahren Erlösungstat des Herrn.
Die Reaktion auf die frohe Botschaft soll sein, dass die Erlösten "weichen" - fortziehen aus ihren alten Lebensumständen, fort aus Babylon. Wer sich zum Herrn Jesus bekehrt, verlässt sein altes Leben und verunreinigt sich nicht mehr mit den Götzen und Sünden, an denen er vorher gehangen hat. So sollten auch die Juden aus Babylon fortziehen, nachdem der Herr die Tür des Heils, den Weg zurück nach Jerusalem, geöffnete hatte. Paulus zitiert diesen Vers in 2Kor 6,17, um herauszustellen, dass Gläubige nur dann echte Gemeinschaft mit Gott haben können, wenn sie diese Trennung von der Welt und ihrer Finsternis vollzogen haben. Manche stellen sich diese Trennung als sehr schwierig vor, aber sie ist nicht so schwer, wie es menschlich gesehen erscheint, denn "der Herr zieht vor euch her, und eure Nachhut ist der Gott Israels." Der Herr Jesus ist uns vorausgegangen ans Kreuz, er hat die Welt vor uns überwunden und uns den Glauben gegeben der die Welt überwindet. Und nun ist der Gläubige geborgen in Gott und seinem Beistand, der auch die langsamsten und schwächsten der Herde, die Nachhut, trägt und nicht an ihrer Schwäche scheitern lässt.
52,13-15 Das Lied vom leidenden Messias-Knecht
Der Abschnit 52,13 - 53,12 bilden den Mittelpunkt dieses "neutestamentlichen Teils" von Jesaja, den Kapiteln 40-66, sie sind die Mitte des zweiten, mittleren Teils (Kap. 49-57). Das Evangelium vom Kreuz, die Lehre vom stellvertretenden Opfer Christi, ist hier bereits im AT vollständig enthalten; und somit muss das gesamte Evangelium, das Paulus mit dem Römerbrief offenbarte und das vorher ein verborgenes, verschwiegenes Geheimnis war (Röm 16,25), noch mehr umfassen als diese Wahrheit. Es ist sogar eine durchgängige alttestamentliche Lehre, dass ein stellvertretendes Opfer zur Erlösung nötig war, denn das Prinzip von Stellvertretung und Opfer finden wir gleich nach dem Sündenfall, sowohl in dem Tier, aus dem Gott die Felle für Adam und Eva machte, als auch in Abels Opfer. Aber so deutlich wie hier kommt dieses Erlösungswerk nirgends im AT zum Ausdruck, und hier wird angedeutet, dass es der Gesalbte Gottes selbst ist, der dieses Opfer bringt.
Als "mein Knecht" werden in Jesaja verschiedene Personen oder Personengruppen bezeichnet, so Jesaja selbst (20,3), Eljakim (22,20), David (37,35) und vor allem das Volk Israel (41,8; 42,19 u.a.). Dass mit dem Knecht in Kap. 52-53 das leidende Volk Israel gemeint ist, ist die verbreitetste jüdische Auslegung. Aber der Knecht Jahwes, der Gottes Gerechtigkeit auf der Erde aufrichtet (siehe 42,1-4), kann kein anderer sein, als der Messias selbst. Auch in 49,6 kann mit dem Knecht nicht das Volk Israel gemeint sein, da dieser Knecht eben dieses Volk aufrichtet und sogar das Heil für die Nationen wird. Sicherlich haben Paulus und Apollos insbesondere diese Schriftstelle verwendet, um den Juden zu beweisen, dass Jesus der Messias ist (Apg 9,22; 18,28), so wie auch der Evangelist Philippus mit diesem Abschnitt dem Kämmerer aus Äthiopien die Heilsbotschaft erklärte (Apg 8,32). Mit seinen vielen detaillierten und im NT erfüllten Prophezeiungen beweist dieser Abschnitt auch vollmächtig die göttliche Inspiration der Bibel. Jeder Skeptiker ist herausgefordert, eine solch detaillierte, präzise Voraussage anders zu erklären als durch Gottes Handschrift!
52,13 - 53,12 ist das letzte der vier messianischen Lieder in Jesaja (vgl. 42,1-9; 49,1-13; 50,4-11) und gliedert sich in fünf Strophen zu je drei Versen. Verse aus allen fünf Strophen - die zusammen fast den gesamten Abschnitt ergeben - werden im NT zitiert. Jede der fünf Strophen stellt eine besondere Seite des Leidenswerkes des Messias heraus:
1. Strophe: Seine Erniedrigung und Erhöhung in den Augen der Menschen
2. Strophe: Seine Verachtung und sein Leiden aus der Hand Menschen
3. Strophe: Sein stellvertretendes Leiden zum Heil der Gläubigen
4. Strophe: Sein göttlicher Charakter in seinem Leiden
5. Strophe: Sein Leiden aus der Hand Gottes und die Frucht seines Werkes
Die erste Strophe, 52,13-15, zieht einen Bogen vom edlen Charakter und der künftigen hohen Stellung des Messias über seine Erniedrigung wieder zurück zur Erhöhung. Sein ganzes Handeln war bestimmt von "Einsicht", d.h. völlig beherrscht, sowohl in eigener Weisheit und Allwissenheit als auch in Ergebung unter den Willen des Vaters. Darin unterscheidet er sich von allen anderen Menschen, deren Handeln mehr oder weniger vom "Willen des Fleisches und der Gedanken" (Eph 2,3) bestimmt ist, d.h. von körperlichen und seelischen Trieben und sündigem Egoismus. Obwohl der natürliche Mensch durch sein Gewissen ahnt, wie töricht und verwerflich solches Handeln ist, kann er aber das Joch der Sünde nicht abwerfen und ist diesen törichten Instinkten der Sünde ausgeliefert - lebt zur Unehre Gottes und zu seinem eigenen Verderben. Die Stellung, die der Messias erlangen wird, entspricht seinem erhabenen Charakter. Obwohl sein einsichtiges Handeln ihn zunächst in Verachtung und ans Kreuz bringt, wird er notwendigerweise von Gott über alles erhöht werden (vgl. Phil 2,8-10).
V. 14 steht im krassen Gegensatz zu diesen Aussagen. Doch bevor Gott die schreckliche Erniedrigung des Messias ankündigte, musste deutlich herausgestellt werden, wie erhaben er in Wirklichkeit ist. Er ist der größte und höchste aller je geborenen Menschen, aber dieser Vers stellt uns ihn vor, als sei er der hässlichste, entsetzlichste Mensch überhaupt gewesen. Sicherlich bezieht sich diese Beschreibung auf sein Leiden unter der Misshandlung, Geißelung und Kreuzigung. Die Evangelien geben keinen Hinweis darauf, dass die äußere Erscheinung unseres Herrn irgendwie außergewöhnlich gewesen sei - er hatte vermutlich weder besondere Anmut noch war er abstoßend. Gewiss hätten sich die Juden ihren Messias majestätischer vorgestellt, und ein Grund, weshalb sie ihn ablehnten, war seine Armut, seine niedrige Herkunft aus Galiläa und seine Nähe zum Abschaum der Gesellschaft. Auch wenn es unwichtig ist, wie er als Mensch ausgesehen hat, müssen wir jedoch bedenken, dass jede Verunstaltung des Menschen - von der kleinsten Warze bis zur gröbsten Missbildung - eine Folge des Sündenfalls ist, genau wie Krankheit und Tod. In diesem Abschnitt geht es ja darum, dass der Messias stellvertretend die Folgen der Sünde auf sich genommen hat. Er hat sich der Kranken, Lahmen, Aussätzigen und Sünder angenommen und sich so sehr mit ihnen identifiziert, dass die Selbstgerechten die Nase vor ihm rümpften. In seinem Leben und Leiden erteilte er damit die Lektion, was von Gott erhöht werden wird: "Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden" (Lk 14,11).
Zur Erhöhung des Messias gehört nicht allein, dass er bei Gott erhöht ist, sondern er wird auch in den Augen der Menschen erhöht sein, so hoch, dass sogar Könige zu ihm aufblicken (vgl. 49,7). Das gilt jetzt für jene, die ihn als ihren Erlöser annehmen, und in Zukunft für alle ohne Ausnahme, denn "jedes Auge wird ihn sehen", wenn er in Herrlichkeit wiederkommt (Offb 1,7). Eine andere, bessere Lesart gibt den Anfang von V. 15 so wieder: "... ebenso wird er viele Nationen besprengen." Das deutet hin auf den priesterlichen Dienst des erniedrigten Messias: Er besprengt und reinigt mit seinem eigenen Opferblut nicht nur die gläubigen Juden, sondern Gläubige aus allen Nationen. Die Priester wurden mit Opferblut in Verbindung mit dem Salböl (einem Bild für den Heiligen Geist) besprengt (2Mo 29,21), und so "besprengt" der Herr nun durch sein Evangelium all jene, die mit Glaubensgehorsam darauf reagieren und sich mit dem entsetzlichen Gekreuzigten identifizieren, mit seinem rechtfertigenden Blut und seinem heiligmachenden Geist. Dieser Vers wird in Römer 15,21 zitiert, wo Paulus ihn als Begründung dafür anführt, dass er das Evangelium in immer weiteren Kreisen verbreiten und seine Missionsreisen weiter ausdehnen möchte. In all den Jahrhunderten des Alten Testaments handelte Gott speziell mit seinem Volk Israel, aber welche Gnade, dass seine größte Heilstat als eine Botschaft für die ganze Welt verkündet wird! Wir sind Nutznießer dieses Evangeliums für die Nationen, das nicht nur den Juden in Babylon galt, sondern in die ganze Welt hinaus erschallen soll. Und wir dürfen "teilnehmen am Evangelium" und die Gnade Gottes in die Welt hinaustragen. Dann dienen wir, wie Paulus, "priesterlich am Evangelium" (Röm 15,16), indem wir andere mit dem Evangelium "besprengen".
53,1-3 Seine Verachtung und sein Leiden aus der Hand Menschen
Vers 1 wird im Neuen Testament von zwei bedeutenden Zeugen ausgelegt. Das wirft viel Licht auf das Wesen des Evangeliums. In Johannes 12,38 erklärt der Evangelist Johannes, dass der Unglaube der Juden bezweckte, dass sich dieser Vers erfüllte und bewahrheitete. Er stellt auch ein "Herr ... ?" in der Anrede voran, wodurch deutlich wird, dass dies eine Frage ist, die alle Boten Gottes an Gott richten - d.h. Jesaja, der Herr Jesus, die Apostel und Evangelisten. Aber es ist auch die Frage des treuen Überrestes, der künftigen jüdischen Missionare vor Anbruch des Tausendjährigen Reiches, die der Welt noch einmal das Evangelium bringen und dann selber eingestehen, dass sie damals ihren Messias verkannt haben (siehe das "wir" in V. 2.3.4.6). Evangelisten geraten bei fehlendem Erfolg manchmal in Zweifel, ob sie auf dem rechten Weg sind, und stehen dann in der Gefahr, zu menschlichen Hilfsmitteln zu greifen, um dem Evangelium nachzuhelfen. Doch dieser Vers ermutigt zur treuen Verkündigung, indem er herausstellt, dass es normal ist, wenn natürliche Menschen nicht auf die Verkündigung des Evangeliums reagieren. Wie könnten sie auch, da sie tot in Sünden sind und Geistliches weder hören noch verstehen können? Ein Wunder der Gnade Gottes ist nötig, und bei jedem, der doch glaubt, ist Gott für dieses Wunder zu preisen.
Paulus zitiert den Vers in Römer 10,16 ebenfalls im Zusammenhang mit Evangeliumsverkündigung und fehlender Reaktion darauf. Er setzt sogar "glauben" mit "gehorchen" gleich, und dadurch ist klar, dass dieses Wunder der Gnade nicht dann geschehen ist, wenn jemand sagt, er glaube, aber damit nur seine Anerkennung historischer Tatsachen meint. Persönlicher Glaubensgehorsam ist nötig: Unterwerfung unter den Herrn Jesus als Erlöser und Herr. Solchen wird "der Arm des Herrn offenbar", d.h. die umgestaltende, heiligende Kraft Gottes kommt in ihrem Leben zum Ausdruck, da sie eine persönliche Begegnung mit Gott hatten, ihn im Herrn Jesus erkannt haben und diese Erkenntnis ihnen ewiges, vollmächtiges, göttliches Leben eingepflanzt hat.
Das Wort vom Kreuz wird deshalb vom natürlichen Menschen abgelehnt, weil es völlig unattraktiv ist. Es ist dem vernünftig denkenden, fortschrittlichen Menschen eine "Torheit" (1Kor 1,18; 2,14). Der Herr Jesus war genau das Gegenteil von dem, wie sich "normale" Menschen einen Retter und Helden vorstellen. Das ist das Resümee aus den Versen 2-3: "Wir haben ihn für nichts geachtet." Vers 2a beschreibt ihn bildhaft, die übrigen Verse direkt. Menschlich gesehen konnte diese von Sünde geprägte Erde keine Frucht für Gott bringen; es war ein vertrocknetes Land, abgeschnitten vom lebendigen Gott, und so war der Herr kein ästhetischer Supermensch wie wahrscheinlich Adam, sondern war "in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde" (Röm 8,3). Für das Erlösungswerk war es unbedingt nötig, dass Gott Mensch wurde und sich als Mensch mit den Folgen der Sünde identifizierte. Der "Spross" erinnert an 11,1, wo verheißen ist, dass dieser unscheinbare Wurzelspross Frucht bringen wird. Genau das wird in Vers 11 (siehe Tabelle) das Ergebnis sein. Als solcher Spross lebte er vor Gott, dessen Wohlgefallen auf ihm ruhte. Im Gegensatz zu Gott begehrten ihn die Menschen nicht, denn von seinen äußerlichen Merkmalen - im Aussehen sowie in seinen Lebensumständen der Armut und Niedrigkeit, vielleicht sogar gezeichnet von Krankheiten und Hunger - entsprach er nicht ihren Vorstellungen. "Sie ärgerten sich an ihm" (Mk 6,3), dem "Galiläer" (Mt 26,69). Als er sein öffentliches Wirken begann, bestieg er damit keine Karriereleiter, sondern begann erst recht den Abstieg in die Verachtung und in das Verworfen- und Verlassensein. Auch das bedeutete für ihn Leiden und Schmerzen, da es ihm ins Herz traf, dass jene, zu deren Heil er gekommen war, ihn verwarfen.
Jesaja identifiziert sich durch das "wir" a) mit all jenen, die ihre Sündhaftigkeit vor Gott eingestehen - diese Sündhaftigkeit, die in der Ablehnung des Erlösers gipfelt -, b) mit allen, die der Herr erlöst hat (V. 5.6) und c) mit allen, die das Evangelium verkünden (V. 1). Er identifiziert sich damit mit dem "Israel Gottes" - den Erretteten aller Zeiten, die aus der Finsternis berufen sind, Lichter in dieser Welt zu sein. Aber er identifiziert sich auch mit dem irdischen Israel, das schon damals seine Propheten verachtete und verfolgte, ebenso wie den Herrn selbst, aber in Zukunft zur Umkehr kommen wird.

Die chiastische (kreuzförmige) Struktur von Jesaja 53: vom Versagen des Menschen zum Sieg Gottes - in der Mitte ein Lamm
Menschliche Seite
Stichwort
Göttliche Seite
[Jes 53,1] Wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm Jahwe offenbar geworden?
Versagen des Menschen - Triumph Gottes
[Jes 53,12] Darum werde ich ihm die Großen zuteil geben, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist; er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan.
 
 
 
[Jes 53,2] Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen, und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, dass wir seiner begehrt hätten.
Spross und Frucht - Verachtung und Erfolg
[Jes 53,11] Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen. Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Knecht die Vielen zur Gerechtigkeit weisen, und ihre Missetaten wird er auf sich laden.
 
 
 
[Jes 53,3] Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt; er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet.
Leiden
[Jes 53,10] Doch Jahwe gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen. Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird er Samen sehen, er wird seine Tage verlängern; und das Wohlgefallen Jahwes wird in seiner Hand gedeihen.
 
 
 
Jes 53,4] Fürwahr, er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt;
Schuld und Unschuld
[Jes 53,9] Und man hat sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt; aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tode, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Munde gewesen ist.
 
 
 
[Jes 53,5] doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.
Gericht
[Jes 53,8] Er ist hinweggenommen worden aus der Angst und aus dem Gericht. Und wer wird sein Geschlecht aussprechen? denn er wurde abgeschnitten aus dem Lande der Lebendigen: wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn Strafe getroffen.
 
 
 
[Jes 53,6] Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg; und Jahwe hat ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit. -
Lamm
[Jes 53,7] Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, gleich dem Lamme, welches zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf.

53,4-6 Sein stellvertretendes Leiden zum Heil der Gläubigen

"Fürwahr" ist ein hebr. Wort, das auch "wahrlich" bedeutet. Hier nun wird uns tatsächlich die wohl größte Wahrheit, die unglaublichste Tatsache, des Buches Jesaja - wenn nicht der ganzen Bibel - vorgestellt: Der Messias hat die Konsequenzen der Sünde stellvertretend für Sünder auf sich genommen. Dieser Vers wird in Matthäus 8,17 zitiert, nachdem der Herr viele Besessene und Leidende geheilt hatte. Manche leiten daraus ab, dass die Erlösung auch körperliche Heilung mit einschließe und ein Gläubiger nicht mehr krank zu werden brauche. Welche Verkehrung der Tatsachen ist solch eine Lehre! In Matthäus 8 wird uns bildhaft vorgestellt, dass der Herr von der Sünde und ihren Folgen rettet, am Kreuz hat er diese Rettung vollbracht. In diesem Zeitalter können Gläubige von der Sünde selbst und ihren geistlichen Auswirkungen befreit sein, erst im künftigen Zeitalter werden sie auch von Krankheit und Tod erlöst sein. Die eigentliche Wahrheit sehen wir, wenn wir verstehen, was die eigentlichen Leiden und Krankheiten des Menschen sind. Von diesem elendigen Krankheitszustand des Volkes war gleich zu Beginn in Jesaja die Rede: "Von der Fußsohle bis zum Haupt ist keine heile Stelle an ihm" (1,6, siehe Zusammenhang). Das war eine Beschreibung des geistlichen Zustands! Und das öffnet unseren Blick für die geistlichen Wahrheiten, wenn wir in den Heilungswundern unseres Herrn in den Evangelien unsere geistlichen Heilungen sehen: wie er uns auferweckt zu ewigem Leben, unsere Augen und Ohren öffnet für ihn und sein Wort, uns von unserer Gelähmtheit befreit, um ihm dienen zu können usw.
Die Beschreibung in V. 4 ist bildhaft, in V. 5 wortwörtlich: es waren unsere Übertretungen und Missetaten, wegen derer er am Kreuz verwundet werden musste. Mit deutlichen Worten wird hier die Theologie der Stellvertretung beschrieben: Jemand erleidet die Strafe, die andere verdient haben, an ihrer Stelle, und sie dürfen deshalb frei ausgehen. Eine simple Lehre, aber eine unfassbare Wahrheit. Unfassbar aber auch, dass der Großteil derer, die der Christenheit im weiteren Sinne angehören, diese grundlegende Lehre nicht kennen. Wie viele Namenschristen hoffen, Vergebung und Frieden durch eigene Leistungen und Werke zu finden! Bringen wir ihnen doch diese frohe Botschaft der Erlösung, der Rettungstat Christi - und natürlich erst recht denen, die noch nie von diesem Retter gehört haben! Gottes Gericht, Zorn und Strafe wegen der Sünde muss sich "entladen" können, damit Gottes Gerechtigkeit erfüllt wird - und all dieser Schrecken hat sich am Kreuz auf den menschgewordenen, sündlosen Sohn Gottes ergossen, dessen Opfer das einzige bei Gott annehmbare Lösegeld für Sünde ist. Der Zorn Gottes ist gestillt, und die Gläubigen dürfen nun Frieden haben und von der Sünde und ihren von Gott trennenden Folgen geheilt sein.
Diese Verse sprechen eindrücklich von Jesu schrecklichen Leiden in seinem Leib, dass er während der dreistündigen Finsternis am Kreuz aus der Hand Gottes erlitten hat. Es ist bedeutsam, dass der Herr bereits vor seinem Tod sagte, "es ist vollbracht". Er starb für die Gläubigen stellvertretend den Tod; aber dieser Tod war nicht der Augenblick, als er seinen Geist in die Hände des Vaters übergab, sondern es war der Tod der Trennung von Gott, als er von ihm verlassen war, weil er "zur Sünde gemacht" wurde (2Kor 5,21). Der Lohn der Sünde ist der Tod, und diesen Tod schmeckte der Herr in der bitteren Erfahrung, als er während der dreistündigen Finsternis am Kreuz den Zornesbecher Gottes leerte. Beim Blick auf den leidenden Herrn am Kreuz wird deutlich, wie schrecklich Trennung von Gott - d.h. der Tod als Lohn der Sünde - wirklich ist.
Manche sehen in dem Ausdruck "unser aller Schuld" einen Beleg für ihre irrige Auffassung, dass der Herr die Sünden aller Menschen aller Zeiten getragen habe. Aber wenn wir genau hinschauen, sehen wir, dass hier ausdrücklich nur von Gläubigen die Rede ist. Zurückblickend erkennen sie, dass sie in ihrem ungläubigen Zustand den Messias von sich aus nicht erkannt hatten (V. 4b). Sie sind jene, die durch sein Werk wirklich Frieden mit Gott erlangt haben - und nicht nur theoretisch erlangen könnten (V. 5b), und sie sind diejenigen, denen tatsächlich "Heilung geworden" ist - und nicht solche, denen Heilung hätte werden können. Sie sind jene, die erkannt haben, dass sie verlorene Schafe waren, verirrt in Eigensinn und auf dem Weg ins Verderben, aber gerettet wurden durch das Rettungswerk des Herrn (vgl. 1Petr 2,24-25). Sie sind die "vielen" - eben nicht alle -, deren Sünde er getragen hat (siehe V. 11.12). Wie dankbar macht das den Gläubigen, dass er aus absoluter Gnade zu diesen Erwählten gehören darf!
53,7-9 Sein göttlicher Charakter in seinem Leiden
Wir befinden uns nun, zu Beginn von V. 7, in der Mitte von Kapitel 53, dem mittleren Kapitel des mittleren Teils vom "neutestamentlichen Jesaja" (Kap. 40-66). Wir können diesen zweiten Teil von Jesaja als Thron Gottes sehen - als seine Erklärung, dass er durch "Gnade herrscht" (Röm 5,21). Das ist der in 16,5 verheißene "Thron aus Gnaden", der aufgerichtet wird, "wenn der Unterdrücker nicht mehr da ist". Und hier in der Mitte dieses Gnadenthrons sehen wir ein Lamm. Genau das sah der Apostel Johannes, als ihm eine Schau für die Regierungswege Gottes gegeben wurde: "Ich sah inmitten des Thrones ... ein Lamm stehen wie geschlachtet ..." (Offb 5,6). Damit sich in Gottes Regierung seine Gerechtigkeit und seine Liebe vereinigen, musste er ein Lamm werden, dass zur Sühnung von Sünden starb. Nun ist dieses Lamm das Zentrum, das Herz der Herrschaft Gottes über die Erlösten. In V. 6 identifizierte er sich mit den verirrten Schafen, indem er ihre Verirrungen auf sich nahm - das spricht von Stellvertretung und dem Sündopfer. Hier in V. 7 geht es um seinen eigenen hingebungsvollen Charakter, was vom Brandopfer spricht, der ganz hingegebenen Anbetung Gottes. Nur eine solche völlige Anbetung ist Gott wohlgefällig. Der Herr Jesus fügte sich ganz dem Willen Gottes, so schrecklich dieser auch für ihn war. Wenn Rinder geschlachtet werden, widerstreben sie voller Panik; Schafe hingegen fügen sich ihrem Schicksal. Isaak wusste, dass nur ein solches Lamm das nötige Brandopfer stellen konnte (1Mo 22,7); aber an Isaaks Stelle wurde kein Schaf, sondern ein Widder - ein Sündopfer - dargebracht. Das "Lamm Gottes" kam erst mit dem Herrn Jesus - so lange stand die Frage Isaaks - "Wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?" - im Raum, und ihre Beantwortung durch den Messias wird hier von Jesaja vorweggenommen und durch Johannes dem Täufer endgültig geklärt (s. Joh 1,29.36). Der Evangelist Philippus schließlich erklärte von diesem Vers ausgehend dem Kämmerer aus Äthiopien das Evangelium von Jesus (Apg 8,32.35).
Vers 8 ist allein von seiner sprachlichen Aussage und Übersetzung schwer zu verstehen, aber er wird in Apg 8,33 zitiert, was uns eine göttliche Hilfe bietet. Dort heißt es, dass "sein Gericht weggenommen" wurde; er bekam noch nicht einmal eine menschlich gerechte Gerichtsverhandlung, sondern wurde durch böse Intrigen und politische Verschwörung absolut zu Unrecht verurteilt. Daniel schreibt ganz ähnlich, dass der Messias "nichts haben" werde (Dan 9,26). Die Satzkonstruktion hier in Jesaja scheint etwas anders zu sein, besagt aber dasselbe: Ihm wurde von seinen Feinden Angst (oder: "Gefängnis") und Gericht zugefügt, aber ohne eine gerechte Verhandlung zu bekommen, wurde er daraus "weggenommen" und hastig gekreuzigt, damit diese Untat noch vor dem religiösen Passahfest vollzogen werden konnte.
Sein "Geschlecht" sind seine Nachkommen. Nachkommenschaft war im hebräischen Denken notwendig für Erfolg. Das AT beschreibt bedeutende Männer oft mit ihrer "Geschlechterfolge", d.h. mit ihrem nachfolgenden Stammbaum. So gliedert sich z.B. das ganze 1. Buch Mose in die "Geschlechterfolgen" von Männern wie Adam, Noah, Isaak, Jakob usw. (1Mo 5,1; 6,9; 25,19; 37,2). Der Herr Jesus hatte keine irdischen Nachkommen, sondern starb am Kreuz wie jemand, dessen Andenken völlig ausgelöscht wird. Aber ab Vers 10 werden wir sehen, welche wirkliche Nachkommenschaft der Herr durch sein Werk vom Kreuz erlangt hat! Das Samenkorn muss sterben, um Frucht zu bringen. Aus irdischer Sicht wurde sein Leben zwar "abgeschnitten", aber sein Opfer und sein Werk wird nicht fruchtlos bleiben. Der letzte Satz von V. 8 hat eine zweifache Bedeutung, so wie das Geschehen am Kreuz zwei Seiten hat: Die Ursache für sein Leiden war, dass sein Volk sündigte und gegen Gott rebellierte - bis zu dem Extrempunkt, dass es Gottes Messias ans Kreuz verordnete. Der Grund seines Leidens war jedoch, dass er stellvertretend die Sünden seines Volkes - der Erwählten, die der Vater ihm gegeben hat - auf sich nahm und sühnte.
Die Aussage von V. 9 scheint die offensichtlichen Tatsachen umzukehren: Eigentlich war der Herr Jesus bei Gottlosen in seinem Tod am Kreuz und bekam sein Grab bei einem Reichen. Hier geht es jedoch um etwas anderes: Die Menschen wollten ihn zu den Gottlosen rechnen, sowohl am Kreuz als auch danach - wollten ihn endgültig loswerden als jemanden, der keiner Erinnerung würdig sei. Aber stattdessen bekam er durch die souveräne Fügung Gottes das Ehrengrab des reichen Josef von Arimathäa. Gott rechtfertigte ihn somit andeutungsweise bereits vor seiner Auferstehung. Und natürlich war er in den drei Tagen seines Todes bei dem wahrhaft Reichen - bei Gott, dem Vater, im Paradies. Er ist der einzige, der aus eigener Kraft nach dem Tod in diese Seligkeit eingehen konnte, weil er der einzige ist, der kein Unrecht begangen und stets nur Wahrheit geredet hat. Es wäre schon "Unrecht" gewesen, wenn er sein Leben Gott nur etwas weniger geweiht und aufgeopfert hätte. Wir alle sind dieses Unrechts schuldig - dass wir unserem Gott Ehre und Hingabe vorenthalten. In unserem wunderbaren Herrn jedoch haben wir die Sühnung für unser Unrecht und alles, was wir brauchen, um seiner Hingabe nachzueifern.
Bedenken wir noch eines: Es handelt sich hier um Prophetie, die über 700 Jahre vorher aufgeschrieben und dann detailliert erfüllt wurde. Haben wir hier nicht wahrhaft Indizien, die "beweisen, dass Jesus der Christus" (Apg 9,22; 18,28) und die Bibel das wahre Wort Gottes ist? Und hat Gott durch Jesaja nicht so oft beteuert, dass er das Kommende vorher ankündigt (z.B. 42,23; 42,9; 43,19)? Für den Verstand sollte dieser Beweis ausreichen - dass sich der Sünder dennoch gegen das Evangelium sträubt, liegt nicht an seinem Hirn, sondern an seinem Herzen. "Wer hat unserer Verkündigung geglaubt?"
53,10-12 Sein Leiden aus der Hand Gottes und die Frucht seines Werkes
Ist es nicht überaus rätselhaft, wie es Gott gefallen konnte, seinen über alles geliebten, einzigen Sohn zu schlagen und zu quälen? Kann es einen anderen Grund dafür geben, als dass es Gott gefiel, seinen vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschluss auszuführen - den Ratschluss, die Erwählten zu erlösen? Oft sagt uns die Schrift, dass "der Christus leiden musste" (z.B. Lk 9,22; 24,26.46, Apg 17,3) und dass er nach Gottes "bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis" hingegeben wurde (Apg 2,23; 4,28; 1Petr 1,20). Nur wenige Kapitel zuvor hatte Gott erklärt, dass es ihm gefällt, seinen Ratschluss auszuführen (46,10). Ja, Gott gefällt es, seine Pläne zu verwirklichen - seinen Heilsplan, seine Pläne der Gnade, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit - und das zum unvorstellbar hohen Preis seines Sohnes! "Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat ..." (Röm 8,23)! Was das aber für den Herrn Jesus bedeutet hat, Gottes Zorn über alle Sünden aller Erretteten aller Zeiten am Leibe zu erfahren, ist einerseits unermesslich und unergründlich, aber andererseits gibt uns die Schrift viele Andeutungen. Es wurde drei Stunden finster im Land des Kreuzes, und Gott verbarg dieses Geschehen vor den Blicken der Menschen, aber im persönlichen Bibelstudium und in der Gemeinde - besonders beim Gedächtnismahl - dürfen wir durch die Schrift sein Leiden Stück um Stück erahnen. Schriftstellen wie z.B. die Psalmen 22; 38; 42; 69; 88 und 102; die Opfer aus 3. Mose; die Erfahrungen Hiobs (z.B. 16,7-17) und viele weitere Hinweise liefern uns Gottes Hilfe, um zu erkennen, wie grausam die Konsequenzen der Sünde sind, wie heilig Gott ist und welche Gnade die Erlösung bedeutet.
Der Herr Jesus hat sein Leben am Kreuz als Schuldopfer eingesetzt. Das Wort "Schuldopfer" bezeichnet genau das Opfer, das in 3Mo 5,15f beschrieben wird und zur stellvertretenden Sühnung von Sünde diente. Alle 5 Opfer aus 3Mo 1-5 finden wir hier in der prophetischen Beschreibung seines Werkes wieder: das Brandopfer - seine Ganzhingabe an Gott als Lamm; das Speisopfer - sein vollkommenes Leben, das er einsetzte; das Friedensopfer - unseren Frieden mit Gott als Segnung aus seinem Opfer -; das Sündopfer - zur allgemeinen Sühnung für sein Volk; und nun das Schuldopfer zur Tilgung begangener persönlicher Sünden. Aber auch die Auferstehung wird hier klar vorausgesagt, denn wenn er Nachkommen sehen und seine Tage verlängern wird, musste er aus den Toten auferstehen. Als Auferstandener hält er seine Nachkommen nun in seiner sicheren Hirtenhand, und so gedeihen die Gläubigen in seiner Hand zum Wohlgefallen Gottes.
Ja, diese Gerechtfertigten und Gerechten, diese Geheiligten und Heiligen - die Erlösten, sind die Frucht seiner Leiden, die Frucht, an der er sich nährt und freut. Das muss unsere Perspektive als Gläubige sein - nicht unser Wohlergehen, sondern dass wir ihm zur Ehre und Freude sein dürfen, indem wir ihm in Heiligung und Hingabe nachfolgen. Das ist sowohl seine jetzige Freude als auch sein jetziger Dienst - die Erlösten zur Gerechtigkeit zu weisen, d.h. ihr Wachstum zu seiner Ähnlichkeit zu fördern, ihren Charakter in seinen Charakter umzugestalten. Viele haben die Vorstellung, Gnade bedeute, dass Gott Sünder rette, auch wenn sie als Sünder und in Sünde weiterleben. Aber hier sehen wir, wie falsch diese Ansicht ist. Gottes Rettung bewirkt ihren Zweck: Sie ist eine Rettung weg von Sünden (Mt 1,21) und hin zur Gerechtigkeit und Heiligkeit. Wie kann das Realität werden? "Durch seine Erkenntnis", d.h. wenn man ihn erkennt. Die persönliche Erkenntnis Jesu - der persönliche Glaube an ihn, die persönliche Beziehung der Unterwerfung unter ihn, die Abhängigkeit von ihm, der Blick auf ihn im Alltag und in seinem Wort - wird sich mächtig im Leben des Gläubigen auswirken (vgl. 2Kor 3,18; 1Jo 2,3). Aber als Hoherpriester vertritt der Herr Jesus uns auch, wenn wir versagt haben; unsere Sünden brauchen uns nicht mehr zu belasten, weil sie auf ihn gelastet haben. Eindeutig geht es hier nicht um "alle Menschen", sondern um die "vielen", für die er am Kreuz gesühnt hat.
Der Sieg am Kreuz hatte triumphale Folgen: Gott gab seinem gehorsamen Sohn Menschen aus allen Klassen und Gruppen, auch "Große" wie Könige und Reiche. Zu seiner Beute gehören auch "Starke", die mit ihrem Willen heftig widerstreben, aber durch die unwiderstehliche Gnade Gottes zu Buße und Glauben geleitet werden. So mancher verbohrte Atheist und Spötter ergab sich schließlich seinem Herrn und Retter. Da Jesu Gehorsam und Sieg am Kreuz schon vor aller Ewigkeiten feststand, gab Gott ihm diese Menschen schon vorher (Joh 6,39; 17,6).
Zuletzt wird sein Werk vom Kreuz als Begründung für seinen Erfolg genannt und dabei zusammengefasst: Für Gott bedeutete Jesu Werk völlige Verherrlichung, weil er sein vollkommenes Leben als Opfer darbrachte; für ihn selbst bedeutete sein Werk zweifaches Leid: durch Menschen - Übeltretern zugerechnet (s. Lk 22,37) und durch Gott - er wurde zur Sünde gemacht und als solche von Gott behandelt. Und für "viele" Sünder, die gläubig werden, bedeutet sein Werk Erlösung und Heil, weil er ihre Sünden getragen und für sie Fürbitte getan hat. Ein erstaunlicheres Werk wäre nicht auszudenken! Niemand hätte das erfinden können - schon gar nicht 700 Jahre im Voraus - und niemand anderes hätte das vollbringen können, als nur der gnadenreiche und heilige Gott selbst!
54,1-6 Jubel über Gottes Heil
Wie oft war dem Volk Gottes in den Kapiteln 40-52 Rettung und Erlösung verheißen worden! Wie oft hatte Gott angekündigt, dass sein Heil nahe bevorsteht und dass er es ausführen wird! Nun hat er diese Verheißung erfüllt. Jesaja 53 blickt zwar prophetisch in die Zukunft - 700 Jahre voraus -, aber ist grammatisch rückblickend geschrieben - in der Vergangenheitsform. Da die Rettungstat des Herrn schon ewig feststand und nur noch verkündet (und später ausgeführt) werden brauchte, durfte damals schon jeder Glaubende so darauf vertrauen, als sei diese Rettung bereits geschehen.
Jesaja 53 ist eingerahmt von Jubel; in 52,7-12 war es die Freude über die unmittelbare bevorstehende Rettung, hier ist es der Jubel über die geschehene Errettung. Wer ist hier angesprochen, wer soll jubeln? Wir können es unmittelbar auf das Volk Israel beziehen, sowohl in seiner damaligen Situation in Babylon, woraus es befreit werden sollte, als auch auf Israels künftige Wiederherstellung im Tausendjährigen Reich. Aber aus Galater 4,27, wo V. 1 zitiert wird, wissen wir, dass wir diesen Abschnitt ganz direkt auf uns bzw. auf die Gemeinde beziehen können: Durch das Erlösungswerk Christi bekommt seine Braut, die Gemeinde, reiche Nachkommenschaft, viele Bekehrte aus aller Welt. Bevor es das "Wort vom Kreuz" gab, war die kleine Schar der Gläubigen geistlich unfruchtbar; eine Handvoll Jünger vermochte nichts auszurichten, bevor der Heilige Geist ihnen Kraft dazu verlieh. Der jüdisch-christliche Glaube fand nicht viel Anklang in der heidnischen Welt, bevor er sich schließlich mit dem Evangelium vom Kreuz explosionsartige im ganzen Römischen Reich verbreitete. Sara, auf die Paulus in Galater 4 anspielt, wartete 90 lange Jahre auf ihren Nachwuchs, und auch die "Welt", von Gott geliebt, musste viele Tausende Jahre warten, bis mit dem in Jesaja 53 verkündeten Errettungswerk Frucht für Gott aus ihr hervorkam. So wie dem Herrn nach einem vermeintlich erfolglosen Ende seines Lebens Nachkommen verheißen wurden (s. 53,8.10-11), so wird auch seine Braut, die Gemeinde, eine große Nachkommenschaft haben und sehr fruchtbar sein. Für uns ist es heute eine riesige geistliche Freude, wenn wir miterleben dürfen, dass das Wort Gottes nicht gebunden ist und nicht kraftlos zurückkehrt. Überall auf der Welt sind von Gott gesandte Evangelisten und Missionare am Werk und führen einen Heiden nach dem anderen ins Reich Gottes, und die Gemeinden, die dadurch entstehen, sorgen durch die "Zurüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes" (Eph 4,12) dafür, dass dieses Werk der Auferbauung der Gemeinde weitergeht.
Die Gemeinde ist wie ein himmlisches Zelt, das ausgebreitet wird. Nicht umsonst war Paulus, der Apostel der Heiden, Zeltmacher von Beruf. In Psalm 104,2 lesen wir, dass Gott die Himmel - und die Gemeinde ist sein himmlisches Volk - "ausspannt wie eine Zeltdecke". Städte wie Thessalonich, Korinth und Rom waren in vorchristlicher Zeit geistlich "verödet", aber dann wurden sie mit geistlichem Leben besiedelt, sodass wir sie aus der Bibel als Synonyme für lebendige Gemeinden kennen. Es ist der Herr selbst, der die Gemeinde baut, und deshalb braucht sie sich nicht vor den Anfeindungen der Welt zu fürchten, denn die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden. Die Gläubigen werden die schandvolle Zeit vor ihrer Bekehrung vergessen und auch die Zeit der vergeblichen Suche nach Gott, wenn sie in die lebendige, dauerhafte Beziehung zu ihrem Erlöser getreten sind. Welch ein Erlöser - Gott selbst - und welche eine Beziehung - eine Ehe! Etwas Großartigeres ist nicht auszudenken, als diese innige, dauerhafte Beziehung zum allmächtigen, heiligen Gott, der Liebe ist! Doch zuerst muss das berufene Volk Gottes durch Kränkungen und Trübsale gehen, um diese Beziehung wirklich wertschätzen zu lernen. So wird es auch dem irdischen Volk Israel gehen, das jetzt von Gott wie eine Witwe beiseite gesetzt ist und durch schlimme Drangsale gegangen ist und noch gehen wird, bis der Herr es im Tausendjährigen Reich als sein Volk annehmen wird.
54,7-10 Frieden nach Drangsal
Wir wollen noch einmal darüber nachdenken, an wen sich diese Trostworte Gottes richten. Allein dieses Wissen, dass es Worte des Trostes sind, geben uns Aufschluss, denn das ist ja das Thema dieses ganzen Abschnittes: Gott tröstet sein Volk (40,1); sein Volk ist also der Empfänger; das sind all die "vielen", deren Sünden der Herr Jesus am Kreuz getragen und gesühnt hat, was die Botschaft von Kapitel 53 war. Das ist nicht das damalige irdische Israel, denn von ihnen war nur eine Minderheit wirklich sein Volk, sondern das himmlische Jerusalem, wie wir es bereits anhand des Zitates von 54,1 in Galater 4,27 festgestellt haben. Es ist also die Gemeinschaft aller wahrhaft Gläubigen. Das bezieht sich sicherlich auf die wenigen Gläubigen aus Israel zur Zeit Jesajas und später während der babylonischen Gefangenschaft, die Trost durch diese Botschaft empfingen, wenn sie daran glaubten, und es bezieht sich auch auf die gläubigen Juden, die durch die Trübsalszeit ins Tausendjährige Reich eingehen und sich in der Drangsal ebenfalls an diesen Worten trösten werden. Aber auch wir als Gläubige der jetzigen Haushaltung dürfen diesen Trost in Anspruch nehmen. Weitere Belege dafür sind: Vers 13 wird in Joh 6,45 vom Herrn in Bezug auf alle Gläubigen zitiert; am Ende von V. 17 wird dieser Trost als das Erbteil aller Knechte Jahwes bezeichnet, und die Gläubigen als Gemeinde sind ebenfalls die Braut ihres Schöpfers und Erlösers, des Retter-Gottes Jahwe, das ist Jesus.
Rein historisch auf die damalige Situation Israels gedeutet kommt man zu keiner befriedigenden Auslegung. Für einen kleinen Überrest der Juden mögen diese Verse gegolten haben, aber der Großteil kehrte nicht aus Babylon ins Land zurück, und die nachfolgenden Generationen der Zurückgekehrten verließen abermals die Wege Gottes. Eher passen diese Aussagen auf die Israeliten, die unter der künftigen Verfolgung durch den Antichristen während der "großen Drangsal Jakobs" leiden werden. Aber besonders wertvoll werden uns diese Verse, wenn wir verstehen, dass es hier um unsere Erlösung in Christus, um den Neuen Bund in Christus geht. Die Erwähnung dieses "Friedensbundes" ist ein weiterer Hinweis darauf, dass diese Verse allen Erlösten gelten, für die der Herr sein Blut, das Blut des Neuen Bundes, vergossen hat - und nicht für das irdische Israel, das an der Wirksamkeit des Blutes von Böcken und Stieren festhielt.
Die Erlösten sind all jene, die sich mit dem Gekreuzigten und seinem Tod identifizieren (Röm 6,3). Am Kreuz erging der Zorn Gottes über den Leib Jesu, dort wurde er von Gott verlassen. Dieser Leib war im Grab "verwitwet", denn der Herr war während dieser drei Tage im Geist im Paradies, getrennt von seinem Leib. Ein wahrer Gläubiger hat in seiner Erfahrung der Bekehrung etwas Entsprechendes durchgemacht: Als er seine Sündhaftigkeit erkannte, sah er sich von Gott getrennt und verlassen, ja, des flammenden Zornes Gottes schuldig. Er sah, dass sein Platz am Kreuz ist. Er übte Selbstgericht, was er in der Taufe zum Ausdruck brachte. Das Wasser der Taufe wird in 1Petr 3,21 mit der Sintflut verglichen (die "Wasser Noahs", siehe hier V. 9), und aus Röm 6,3-4 wissen wir, dass der Getaufte bildhaft im Grab Jesu begraben ist. Wer dieses Selbstgericht an sich vollzogen hat und durch diese Seelenübungen der Verzweiflung über die Sünde gegangen ist - wie Paulus es in Römer 7 beschreibt -, und dann seinen gekreuzigten und auferstandenen Erlöser erkannt hat, der darf sich der Zusage des Erbarmens und der Gnade Gottes gewiss sein. Ist es nicht eine einfache Logik, dass, wer den Trost Gottes erfahren will, zunächst durch Trübsale gehen muss? Wir brauchen solche Trübsale nicht künstlich zu suchen, in unserer Sündhaftigkeit finden wir sie reichlich. Die Sünden Israels brachten das Volk damals in die Drangsal Babylons und in die heutige Beiseitesetzung, aber unsere Sünden brachten unseren Heiland ans Kreuz (Kap. 53) - wir brauchen uns nur mit ihm identifizieren - jedoch nicht formal, sondern von Herzen! Dann bekommen wir nach aller Seelennot und Beunruhigung Frieden mit Gott und genießen einen ewigen Friedensbund (V. 10), besiegelt durch das Blut unseres teuren Herrn.
54,11-17 Trost in Vollendung
Diese Verse sind wichtiges Anschauungsmaterial dafür, was damit gemeint ist, dass Gott den Seinen "jede Träne von ihren Augen abwischen" wird (Offb 21,4). "Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden" (Mt 5,4). Diese Elendigen, Ungetrösteten und Sturmbewegten sind all jene, die entweder an ihrer Sündhaftigkeit verzweifelt und durch tiefe Seelenübungen und Buße gegangen sind, oder die wegen ihrer Unbußfertigkeit Gottes züchtigende Gerichte erlitten haben und auf diese schmerzvolle Weise zur Buße geleitet wurden. Letzteres war bei den wenigen gläubigen Israeliten der Fall, die Jesaja hier direkt ansprach; und das wird auch bei den Juden der Fall sein, die durch die große Drangsal ins Tausendjährige Reich eingehen.
Wir haben bereits gesehen, dass hier das himmlische Jerusalem angesprochen wird. Diese himmlische Stadt wird nun in ganz ähnlicher Weise beschrieben wie das heilige, neue Jerusalem in Offb 21,2.10-27 geschildert wird. Man ziehe den dortigen Text zum Studium dieses Abschnittes heran, denn die Parallelen liegen deutlich auf der Hand (vgl. auch 55,1 mit Offb 21,6; 22,1-2.17). Gott verheißt hier denen, die in Buße und Glauben zu ihm, den Herrn Jesus, umkehren, dass er diese Gläubigen mit Pracht und Herrlichkeit ausstatten wird - ja, dass er sie als seine makellose Braut vor sich selbst präsentieren wird. Die Heiligung ist Gottes Werk, das durch seine Verheißung fest steht. Diese göttliche Charakterformung fängt bei der Festigkeit des Baus an, den Steinen und Grundmauern. Die Gläubigen bilden "die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist" (Hebr 11,10). In Offb 21 gehören zu dieser Grundmauer die zwölf Grundsteine mit den Namen der Apostel, das Lammes. Die Grundlage ist, dass sie dem Lamm nachgefolgt sind und ihr Charakter in diesen Lammescharakter umgewandelt ist. Er ist nun ein Ausdruck des herrlichen Charakters Jesu, der für Gott köstlich ist (1Petr 3,4). Die Gläubigen werden aber auch mit Überwinderkronen (Siegeskränzen) geschmückt (s. 1Kor 9,25; 2Tim 4,8; Jak 1,12; 1Petr 5,4; Offb 2,10), was hier den von Edelsteinen prangenden Zinnen entspricht.
Ab Vers 13 wechselt die bildhafte Rede bzw. die äußerliche Veranschaulichung der inneren Herrlichkeit zu den geistlichen Realitäten, wovon drei genannt werden: Erstens sind die Gläubigen vom Herrn selbst gelehrt. Der Herr Jesus verwendet diese Aussage in Joh 6,45, und es ist wichtig zu beachten, dass es im dortigen Zusammenhang nicht um Prophetie und künftige Dinge geht, sondern um die Errettung. Gewiss werden im Tausendjährigen Reich alle vom Herrn gelehrt sein - manche Ausleger sehen allein hierin diese Bedeutung -, aber um jetzt durch Wiedergeburt ins unsichtbare Reich Gottes zu gelangen, muss man ebenfalls von Gott gelehrt sein. Gott offenbart dem Sünder seinen Willen und seine Heiligkeit und überführt ihn so von Sünde. Es ist wichtig für die Evangelisation, dass wir nicht solche zu einem Bekenntnis drängen, die noch nicht in dieser Weise von Gott gelehrt sind. Das ist die erste Grundlage eines von Gott geformten Charakters: Gotteserkenntnis, Gottesfurcht und Sündenerkenntnis. Zweitens haben die Gläubigen großen Frieden. Sie sind mit Gott versöhnt durch Glauben an ihren Erretter und Stellvertreter Jesus Christus, und sind in ihm zur Ruhe gekommen. Dieser Frieden und diese Gewissheit der Liebe Gottes (Röm 8,32) erfüllt und prägt ihren Charakter. Drittens sind die Gläubigen durch Gerechtigkeit befestigt, was zwei Seiten hat: Sie sind stellungsmäßig gerechtfertigt, d.h. ihnen wurde die Gerechtigkeit Christi zugerechnet; und sie leben in praktischer Gerechtigkeit, was ihre Stärke und ihr Schutz ist (vgl. Eph 6,14). Ja, der gerechte Wandel ist ihr Aushängeschild und ihre sichtbare Herrlichkeit. Die gerechten Taten der Heiligen bilden das prachtvolle Kleid der Braut Christi (Offb 19,8). Und Gerechtigkeit heißt dabei viel mehr als das Halten der Gebote! Nur die völlige Hingabe an Gott ist gerecht - ganz so wie der Herr Jesus sich ihm ergab.
Gelten auch die Verheißungen des Schutzes aus V. 14-17 der Gemeinde - oder nur dem irdischen Israel, dem Augapfel Gottes? Denken wir z.B. an die Schutzzusage Gottes an Paulus in Apg 18,9-10; oder denken wir an die Zusage des Herrn an die in die Mission gesandten Apostel in Mt 28,18.20. Wenn die Gemeinde ihren göttlichen Auftrag - Heiligung, Anbetung und Mission - auf der Erde erfüllt, wird sie zweifellos angegriffen werden (2Tim 3,12). Hier sichert der Herr den Gläubigen zu, dass er alle Macht hat, und wenn Bedrängnis kommt, so hat der Herr auch diese ganz in seiner Hand. Sogar die Feinde werden letztendlich von Gott für seine Ziele gebraucht. Der gläubige Überrest Israels, der aus Babylon auszog und Jerusalem wieder aufbaute, durfte das ganz direkt erleben. Feinde wie Sanballat und Tobija wollten ihr Werk vereiteln, aber es gelang ihnen nicht (Neh 4,1ff u.a.) - und denken wir erst an den gottlosen Haman, der die Juden in Babylon vernichten wollte und die Verheißung von V. 17 bitter am eigenen Leib erfuhr (Est 7,6-10). Wir hingegen haben nicht zu erwarten, dass wir vor irdischen Gerichten Recht bekommen, aber wir dürfen zusammen mit dem Herrn richten (1Kor 6,3)! So ist es das Erbteil der "Knechte" des Herrn, Gottes "Söhne" zu sein und so vollen Anteil am ganzen Erbe zu bekommen, dass der Herr Jesus mit ihnen teilen wird (Röm 8,17).
55,1-5 Der Ruf zum Evangelium
Sind nach der wunderbaren Zukunftsaussicht für die Gläubigen nun die Ungläubigen etwa "durstig" geworden? Durstig nach dem Heil Gottes, das in Kap. 53 teuer errungen und in Kap. 54 in seinen wunderbaren Ergebnisse vorgestellt wurde? Unter den Juden, zu denen Jesaja sprach, waren viele solcher toten Bekenner, die noch nicht von dem lebendigen Wasser getrunken hatten. Oder fühlten sie sich gerade als diejenigen angesprochen, denen bevorsteht, vor Gericht schuldig gesprochen zu werden (54,17)? Wurde ihnen jetzt etwa klar, was ihnen fehlte? Das sollte die Gnade Gottes in der Verkündigung ja gerade bewirken - ihr Herz aufschließen. Ein gleicher evangelistischer Ruf ist in die Zukunftsaussicht für die Gemeinde in Offb 21,6 und 22,17 eingestreut. Obwohl das Buch der Offenbarung für die "Knechte" des Herrn geschrieben ist (Offb 1,1), wird zum Schluss eindringlich an die appelliert, die noch keine solchen Knechte sind. Wenn der Sünder sowohl mit der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes als auch mit der Gnade und dem Heil Gottes konfrontiert wird, kann der Heilige Geist bei ihm Durst nach dem Heil wecken. Die Gnadenbotschaft ist: "Alle" ohne Einschränkung sind eingeladen - sofern sie "durstig" sind - und: Das ewig durstlöschende lebendige Wasser gibt es kostenlos, ohne Gegenleistung! Dennoch ist es kein "Schenken", sondern ein "Kaufen" ohne Kaufpreis, eben keine leichtfertige Transaktion, sondern der wichtigste Schritt des Lebens. Wie viele geben stattdessen ihr Geld für Scharlatane aus oder suchen ihr Glück in den Verführungen des Widersachers!
Dieser Ruf, zu "hören", zu "essen" und zu "kommen" ist genau der Ruf des dreieinigen Gottes in den Evangelien: Der Vater ruft auf, auf den Sohn zu hören (Mk 9,7); der Herr Jesus ruft alle Müheseligen und Beladenen auf, zu ihm zu kommen (Mt 11,28) und der Heilige Geist bringt den erweckten Sünder dazu, die Heilsbotschaft zu "essen" (Joh 6,54.63). Wahre Speise und wahrer Trank sind das Fleisch und das Blut Jesu, das er für das Leben der Welt am Kreuz gegeben hat (Joh 6,51.55). Wenn diese Speise auch zunächst bitter erscheint, ist sie dennoch "Wein" der Freude und des Heils, und nahrhafte "Milch"; sie erweist sich als "fett" und "gut" - voller Segnungen des Herrn und voller Gewissheit und Erfahrung seiner Gnade und Liebe.
Das Gesetz sagte: Tue dies, damit du lebst! (5Mo 4,1; 8,1). Das Evangelium sagt: "Hört, und eure Seele wird leben!" Wenn Gott Gnade erwiesen und hörende Ohren gegeben hat, ist das ewige Leben gewiss. Das ist der "ewige Bund", den Gott vor ewigen Zeiten in Christus geschlossen hat, ohne menschliches Hinzutun, und der in Ewigkeit bestehen wird. Es ist kein Bund der Werke, sondern der Gnade; es ist kein Bund bezüglich irdischer Segnungen, sondern himmlischer. Es ist der messianische Bund, der David verheißen (2Sam 7,29) und in Christus, dem Sohn Davids, erfüllt wurde. Er ist der wahre David, der "Zeuge und Gebieter für Völkerschaften". Er ist Gottes beglaubigtes Zeugnis seiner Gnade, und er ist der Herr und Gebieter all jener, die er aus allen Völkern erkauft hat (Offb 5,9). Vers 5 kann sich sowohl auf den Messias beziehen, dem ein zuvor fremdes Volk - die erlösten Sünder - dienen wird, so wie König David ihm unbekannte Völker dienten (2Sam 22,44). Oder es bezieht sich auf die Gläubigen, das jetzige Zeugnis Gottes auf der Erde, denen sich viele Bekehrte anschließen. Diese Aufgabe wird auch das erlöste und verherrlichte Volk Israel während des Tausendjährigen Reiches auf der Erde erfüllen (siehe Sach 8,22-23).
55,6-13 Der Ruf zur Bekehrung und seine Wirksamkeit
Die Verse 6-13 sind einzeln genommen sehr bekannt, viel zitiert und oft auf Kalenderzetteln oder Spruchkarten zu finden. Es ist aber sehr aufschlussreich festzustellen, dass sie hier einen zusammenhängenden Gedankengang bilden, der sich wie folgt skizzieren lässt: 1.) Der Aufruf: Umkehr jetzt, bei der von Gott gegebenen Gelegenheit (V. 6-7a); 2.) die erste Begründung: Gottes Gnade (V. 7b); 3.) die zweite Begründung: Gottes heiliges Wesen (V. 8-9), 4.) die dritte Begründung: Gottes wirksames Wort (V. 10-11), 5.) die vierte Begründung: Gottes wunderbares Ziel (V. 12-13).
Gott biedert sich den Ungläubigen nicht an, sondern lässt sich suchen und erbitten. Das ist auch die Verheißung des Herrn in Mt 7,7. Wer von Gott angesprochen und erweckt ist, ihn sucht und im Wunsch nach Errettung den Namen des Herrn anruft - den Namen des Herrn Jesus (Apg 4,12) - wird errettet werden (Röm 10,13). Dass damit keine bloß aufzusagende Formel gemeint ist, wird aus V. 7 deutlich: Nach dem Aufruf zum Glauben und zum Annehmen der freien Gnade in V. 1.3 liegt in diesem Evangeliumsruf die Betonung auf Umkehr und Buße. Die Errettung ist zwar ohne Gegenleistung und ohne Kaufpreis, aber nicht ohne Lebensveränderung. Die Errettung ist für Gottlose und böse Menschen, aber sie müssen sowohl ihren alten Lebenswandel aufgeben als auch ihr sündiges Denken ändern. Genau das heißt Buße (griechisch metanoia) wörtlich: umdenken. Die Bekehrung ist jedoch nicht nur das Abkehren weg vom Alten, sondern auch das Hinwenden hin zum Neuen: zu Gott, dem Herrn Jesus Christus. In 1Thes 1,9 ist eine solche Bekehrung beispielhaft beschrieben.
Der erste angegebene Grund macht die Bekehrung möglich: Gott knausert nicht mit Vergebung, sondern so enorm und schwer die Schuld auch ist, vergibt er sie, weil es einen Stellvertreter für die fällige Strafe gibt (Kap. 53). Der zweite angegebene Grund macht die Bekehrung nötig: In V. 7 war von den gottlosen und bösen "Wegen" und "Gedanken" der Unbekehrten die Rede. Sie stehen im Widerspruch zu Gottes ganz anderen "Wegen und Gedanken". Alles Denken und Handeln des natürlichen Menschen bezieht sich auf die Erde und darauf, das Beste aus dem irdischen Dasein zu machen. Sein Denken dreht sich hauptsächlich um sich selbst, wenig um andere und gar nicht um den wahren Gott. Sein Wandel gefällt ihm selbst, wenig anderen und überhaupt nicht Gott. Zu Gottes Wegen und Gedanken besteht da buchstäblich ein himmelweiter Unterschied: Seine Wege und Gedanken sind darauf aus, seine Gnade und Liebe zu zeigen. Er ging für seine Feinde, für Gottlose in den Tod - unfassbar! (vgl. Röm 5,6-8). Der Bekehrte soll sich ein ebensolches Denken - eine missionarische Gesinnung - und einen ebensolchen Wandel im Dienst des Evangeliums aneignen (vgl. Röm 12,2ff), denn er ist nicht für die Erde, sondern für den Himmel bestimmt, für die Herrlichkeit Gottes (vgl. Röm 3,23; 5,2)
Der in V. 10-11 angegebene dritte Grund macht die Bekehrung wirksam. Wenn sie möglich und nötig ist, garantiert das noch nicht, dass tatsächlich in Sünde tote Gottlose zu Gott umkehren werden. Aber Gott hat sein Wort, dessen Verkündung und Wirkung so angelegt, dass es seine Absichten vollführen wird. Mit diesem Wort ist einerseits der Herr Jesus, das Wort Gottes, gemeint, der auf der Erde das Werk Gottes vollbracht hat und siegreich in den Himmel zurückgekehrt ist, mit der reichen Beute der Erretteten, die zu alttestamentlicher Zeit lebten. Aber auch das in der Jetztzeit verkündete Evangelium ist damit gemeint. In Hebr 6,7 wird das Evangelium ebenfalls mit segnendem Regen verglichen, der letztendlich Frucht für Gott bringt. Das ist das Ziel des Evangeliums: nicht das Glück des Menschen - das ist ein Nebeneffekt -, sondern die Ehre Gottes. Gibt es eine bessere Evangelisations-"Methode", gibt es bessere Raffinessen des Gemeindewachstums, als das originale, kraftvolle Wort Gottes zu verkünden? Wenn wir es verfälschen, verwässern oder verstümmeln, wird der Erfolg ausbleiben bzw. sich nur scheinbarer Erfolg einstellen. Aber Gott ist souverän und sein biblisches Wort bewirkt, was ihm gefällt - auch Bekehrungen Gottloser, bei denen wir es niemals erwartet hätten.
In V. 12-13 wird als vierter Grund die künftige Freude des Heils genannt, dieser Grund macht die Bekehrung fruchtbar. Zunächst wird angespielt auf den Auszug der Juden aus Babylon zurück ins Gelobte Land. Dann wird bildhaft beschrieben, welche Freude im Land bei ihrer Wiederkehr herrscht und wie dieses Land aufblühen wird. Da es sich für die Juden damals so nicht erfüllte, ist das sicherlich eine Prophezeiung auf das Tausendjährige Reich. Obgleich diese Bilder schwierig auszulegen sind, sind sie jedenfalls eine erhabene und anmutige Poesie. Die Freude über die Bekehrung zu Gott könnte nicht lebhafter ausgedrückt werden. Die ganze Natur, die jetzt noch seufzt (Röm 8,22) ist in Wallung angesichts der Rückkehr der Herrlichkeit Gottes. Deuten wir es auf die persönliche Erfahrung des Bekehrten: Als er dem lebendigen Gott begegnete und den Herrn Jesus als seinen Herrn und Erretter annahm und sich seines Heils gewiss wurde, jubelte er mit seinem ganzen Wesen. Seine natürlichen Fähigkeiten stehen nun im Dienst des Königs und ehren ihn, wofür Händeklatschen ein Bild ist (2Kö 11,12) und die Folgen des Sündenfalls (Disteln und Dornen) sind besiegt und stattdessen bringt er Ehre für Gott. Ja, er lebt ewig, um ein ewiges Denkmal für die Gnade und Herrlichkeit Gottes zu sein.
56,1-8 Das Heil ohne Ansehen der Person
Kap. 53 erklärte den Erwerb der Errettung, Kap. 54 die Freude über die Errettung und Kap. 55 die persönliche Annahme der Errettung. In Kap. 56,1-8 geht es nun um das Leben in der Errettung für Menschen aus allen Völkern, der Rest dieses Abschnitts, der in 57,21 endet, stellt dann das vermeintlich errettete, aber Gott entehrende Leben der toten Bekenner dar.
Wahre Gläubige werden daran erkannt, dass sie Gottes Gebote halten, also in Gottes Augen gerecht leben (1Jo 2,4ff). Das "Recht zu wahren" bedeutet in erster Linie, das Wort Gottes zu bewahren, d.h. es zu studieren, zu beherzigen und daraus zu leben. Nur wer Gottes Wort im Herzen bewahrt, kann "Gerechtigkeit üben". Die Motivation dazu ist Gottes baldige Offenbarung seiner vollen Erlösung: Der Herr Jesus wird wiederkommen, und dann wird auch die Gegenwart der Sünde aus der Welt und aus unserem Fleisch weggetan werden. Glücklich sind, die das Wort Gottes tun und daran festhalten (vgl. Mt 7,24). Der Sabbat war das Siegel der Gnadenseite des Alten Bundes und drückte aus, dass der Mensch im Werk Gottes ruhte. Für den Gläubigen heute ist das die erste Pflicht: Für seine Errettung nicht auf eigene Leistungen zu hoffen, sondern allein von der Gnade Gottes abhängig zu sein. Die zweite Pflicht ist die Abkehr von allem Bösen: Wer den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit (2Tim 2,19).
Fremde (d.h. Ausländer von Israel) und "Verschnittene" (Eunuchen) durften nach dem Gesetz Israels nicht in die Versammlung der Gläubigen und nicht ins Haus Gottes kommen (2Mo 12,43; 5Mo 23,1.3.7.8). Das Heil ist zwar aus den Juden, aber nicht nur für die Juden. Gott hat die Welt geliebt und will, dass alle Menschen errettet werden. Niemand ist aufgrund seiner Volkszugehörigkeit oder persönlichen Merkmale vom Heil ausgeschlossen. Nur Unglaube schließt vom Heil aus. Diese Verheißung für Verachtete muss für die Juden eine Demütigung gewesen sein und forderte ihre Bereitschaft heraus, mit solchen in ihren Augen minderwertigen Menschen das Heil zu teilen. Unter etablierten Christen kommt heute leicht eine ähnlich arrogante Haltung auf. Haben wir einen Blick und ein Anliegen dafür, dass Gott gerade die gesellschaftlich Verachteten auserwählt hat (1Kor 1,28)? Gott kann erstaunliche Veränderungen selbst an den hoffnungslosesten Fällen bewirken, sodass sie sich "dem Herrn anschließen" und ihm "dienen" und ihn "lieben" (V. 6)
Gott ist es, der Verachtete einreiht unter sein Volk, ihnen ihren Platz gibt in seinem Haus als seine eigenen Söhne. Sie werden auf seinem heiligen Berg wohnen, d.h. in der Gegenwart der Herrlichkeit Gottes, und werden seine Gemeinschaft genießen. Sie bringen geistliche Schlachtopfer - sich selbst, ihre Habe und ihr Lob - zum Wohlgefallen Gottes dar. Menschen mögen die Nase rümpfen wegen ihrer ärmlichen Kleidung oder ihrer unbeholfenen Ausdrucksweise, aber für Gott sind sie wahre Anbeter. Die etablierten Bekenner hingegen meinen, durch ihr traditionelles, aber verkommenes System Gott zu dienen, aber in Wirklichkeit sind ihre Versammlungen "Räuberhöhlen" (Mt 21,13). Statt Gott die Ehre der Hingabe zu geben, suchen sie in der Gemeinschaft Gewinn für sich selbst, wie zur Zeit Jesu die Taubenverkäufer und Wechsler. Wer aber im Gottesdienst eigenen Gewinn sucht, beraubt Gott.
Gottes Haus ist ein Bethaus "für alle Völker". Diesen Nachsatz lässt der Herr bei seinem Zitat in Mt 21,13 aus, weil der damalige Tempel nicht die Erfüllung dieser Verheißung war, aber ein Abbild davon sein sollte. Sowohl die Gemeinde jetzt als auch der künftige Tempel im Tausendjährigen Reich sind aber Häuser für alle Völker. "Der Herr tat täglich zur Gemeinde hinzu" (Apg 2,47) ist die Erfüllung von V. 8. Die "Vertriebenen Israels" sind jedoch nicht die 10 verlorenen und verstreuten Stämme, sondern die Auserwählten Gottes unter allen Völkern der Welt, die der Herr als Hirte sucht wie verlorene Schafe. Einen jeden findet er und führt er auf seinen Schultern tragend der Gemeinde hinzu.
56,9 - 57,2 Verkehrtheit im Volk Gottes
Jesaja hat nun das Heil in seinem ganzen Ausmaß verkündet. Wie aber reagierten die Juden seiner Zeit darauf? Um die Heilsbotschaft bußfertig im Glauben anzunehmen, mussten sie von ihrem elendigen Zustand überführt werden. Deshalb beschreibt der Prophet in 56,9 - 57,13 schonungslos das real existierende geistliche Grauen in Juda, bevor er in 57,15 den Bußfertigen nochmals sein Heil anbietet.
Zuerst ruft er die "wilden Tiere" - das sind fremde Mächte wie z.B. Assyrien und Babylon - zum züchtigenden Gericht über Israel. Züchtigung und Gericht ist nötig, 1.) weil die Hirten ihre Verantwortung sträflich versäumten und das Volk ins Verderben taumelte (56,10 - 57,2); und 2.) weil die Juden dem Götzendienst frönten (57,3-13).
Die geistlichen Führungspersonen - Priester, Älteste, Schriftgelehrte - waren blinde Blindenführer und hatten selber Gott nicht erkannt und keine lebendige Beziehung zu ihm. Sie erkennen aber auch geistliche Gefahren nicht und schweigen zu den Abwegen des Volkes. Wie trifft das unsere Situation! Wer wagt es heute noch, geistliche Verantwortung zu üben und ein warnendes Wort zu erheben vor der Verweltlichung der Gemeinde, vor allerlei modernen Götzen wie Psychologie, Wohlstandsevangelium, kultischen Moden, vor Wölfen in Schafspelzen, die in christlichem Gewand Irrlehren verbreiten? Wer warnt die jungen Leute in den Gemeinden vor den christlichen Verirrungen unserer Zeit? Diejenigen, die es besser wissen müssten, weil sie jahrelang die Bibel kennen, schweigen, bellen nicht, sondern leben lieber für ihren Bauch. Paulus beschreibt gesetzliche Judaisten in Phil 3,2 als "Hunde", die sich für ihre Traditionen einsetzen, aber nicht für den wahren Glauben und die Seelen der Schafe. Anstatt in die Bibel zu schauen, "träumen" sie und reden gehaltloses Ohrenkitzel oder berichten von angeblichen Visionen. Sie sind zu faul zu fleißigem Bibelstudium, denn das bedeutet Arbeit (2Tim 2,15). Das wollen Hirten sein? Ihr Interesse gilt nicht den Schafen, sondern ihren eigenen Zielen. Sie machen Karriere in dieser ungerechten Welt, und sie gehen dem Zeitgeist der Spaßgesellschaft nach. Sie haben einen Ruf, ein Motto, aber nicht den Ruf des Evangeliums. Sie rufen zu Vergnügungsveranstaltungen auf: Lasst uns feiern! Lasst die christliche Party steigen! Und das alles im Namen des Herrn.
Wie schrecklich ist ein solcher Zustand in dem Volk, dass sich mit dem Namen Gottes benennt! Die meisten von ihnen haben keine persönliche Beziehung zu Gott, sind nie zu Buße und echtem Glauben durchgedrungen. Doch da gibt es vereinzelte Wiedergeborene, "Gerechte". Können sie in einem solchen Umfeld überleben? In einem solchen Klima sind hingegebene Gläubige Außenseiter, werden verurteilt als "ewig Gestrige" und abgelehnt als unmodern und negativ. Das zarte Leben in ihrer Seele wird niedergedrückt, sie verhungern und verarmen geistlich. Sie finden in der Gemeinde keine Erbauung, sondern nur Bedrückung. Sie werden im Wahn der Masse zertrampelt. Doch Gott nimmt sich ihrer an: Wenn sie sterben, vor Leid oder Drangsal, gehen sie in Frieden heim zu ihm und empfangen ihren Lohn. Mögen die Namensgläubigen auch darüber "lästern", dass die Gerechten "nicht mitlaufen in demselben Strom der Ausschweifung" (1Petr 4,4); wenn sie unbeirrt den Weg gehen, den sie aus der Bibel als den rechten erkannt haben, werden sie innerlich Ruhe und Frieden haben, weil Gott ihnen beisteht.
57,3-13 Götzendienst im bekennenden Volk Gottes
Das bekennende Volk Gottes bestand damals wie heute aus zwei grundsätzlich verschiedenen Gruppen: einerseits die echten Gläubigen, die eine Minderheit waren und die andererseits von den anderen, nur vermeintlich gläubigen Israeliten, verspottet und bedrängt wurden. Letztere spricht Gott an als Kinder böser Mächte. Der Herr Jesus sagt zu den ungläubigen Juden, die ihn anfeindeten, klipp und klar, dass sie den Teufel zum Vater haben (Joh 8,44) und nannte die Pharisäer "Schlangen, Otternbrut" (Mt 23,33). Der natürliche Mensch muss einsehen, wer er ist und wessen Wesen er ererbt hat. Der Sünder hat mit seiner Sünde eine solch ekelhafte Natur geerbt wie eine widerliche Schlange. Er entspricht dem, wovon er abstammt, wie ein Kind seinen Eltern entspricht. So wurden auch die ungläubigen Israeliten von ihrer Natur hingezogen zu allerlei Götzendienst und Gräueln (1Kor 12,2). Und dem Guten gegenüber waren sie verfeindet; sie spotteten über die Gerechten und erwiesen sich somit als Feinde Gottes und des Herrn selbst - ihm streckten sie die Zunge heraus. Das notwendige Kennzeichen von Gläubigen, die Bruderliebe (1Jo 2,9-10) fehlte ihnen.
Die Form des Götzendienstes ist heute eine andere als damals, aber die Grundelemente sind dieselben geblieben. Damals gehörten sogar Kinderopfer zu den Gräueln, aber werden den modernen Götzen etwa keine Kinder geopfert? Zigtausende Ungeborener fallen auch in unserem "christlichem Abendland" dem Dienst des Wohlstands und des eigenen Bauches zum Opfer. Der Götzendienst damals war grausam, aber unsere Kultur ist keinen Deut weniger grausam.
Götzendienst wurde an verschiedensten Orten geübt: unter Bäumen, auf Höhen, in Tälern, an Bachläufen - statt Gott für seine Schöpfung zu preisen, gingen sie ihrer natürlichen Neigung nach. Sogar ihre eigenen Häuser waren Kultstätten. Außen auf Türen und Pfosten sollten sie Gottes Wort schreiben, als "Denkzeichen" für Gott und Ausdruck der Verinnerlichung (5Mo 6,8-9), aber hinter der Fassade machten sie sich selber Denkzeichen und nutzten ihren Götzenkult zu Ausschweifung und Hurerei (V. 8). Äußerlich hatten sie auf diese Weise ein erfolgreiches Leben, wenngleich dieser Erfolg sogar mit okkulten Praktiken ("hinab bis zum Scheol") verbunden war. Dasselbe erleben wir heute, wo im Berufsleben nicht nur Lug und Trug, sondern gezielter Einsatz esoterischer Hilfsmittel an der Tagesordnung ist. Man plagt sich ab und nimmt jede Anstrengung auf sich, um Erfolg zu haben, und dieser Erfolgt stellt sich tatsächlich ein, sodass der Irrglaube bestärkt wird.
Jede Lüge (V. 11) zeigt, dass der Mensch etwas anderes mehr fürchtet als Gott, der Lüge mit dem Lohn der Sünde bestraft. Der Sünder fürchtet mehr die Konsequenz der Ehrlichkeit - vielleicht menschliche Nachteile nach dem Motto, "der Ehrliche ist der Dumme." Aber welche Beleidigung ist es gegenüber Gott, solche Nachteile mehr zu fürchten als seinen Zorn! Auch wenn Gott lange dazu schweigt, wird er eines Tages Gericht halten. Die vermeintliche Gerechtigkeit solcher Leute wird sich dann als nichtig erweisen, und ihre Götzen - ihre Leistungen, Errungenschaften und Werke - können ihnen nicht helfen. Ihr Leben lang haben sie sich davon Glück und Segen versprochen - nun gibt Gott sie ihrer eigenen, falschen Hoffnung preis. Sie selber wollten es so.
Gibt es Rettung für solche Verlorenen? Ja, wenn ein Sünder sich in dieser Beschreibung wiederfindet, in Not und Bedauern gerät und zu Buße und Glauben kommt, kann er beim Herrn Jesus Zuflucht nehmen. Dann wird er zu den glückseligen "Sanftmütigen" gehören, die "das Land erben" (Mt 5,5). Er hat aufgehört, gegen Gott zu rebellieren und ihm im Hohn ins Angesicht zu widerstehen, sondern hat sich dem Allmächtigen ergeben und die Waffen gestreckt. Als Lohn wird er die Ewigkeit in Gottes Gegenwart verbringen, auf Zion, dem heiligen Berg, der sein Erbteil ist.
57,14-21 Gott belebt den Demütigen
Der Ruf aus V. 14 erinnert uns an den bekannten Vers 40,3: "Bereit den Weg des Herrn ...!" Dort ging es darum, dass Gott zu seinem Volk kommt; hier hingegen geht es um die Umkehr des Volkes zu seinem Gott. Bei der Errettung kommt zuerst die Initiative Gottes - Gott macht den ersten Schritt, er hat uns zuerst geliebt -, aber auch der Sünder ist aufgerufen, im Glauben den richtigen Weg einzuschlagen. Für die Juden in Babylon bedeutete das, den Götzendienst in Babylon zu verlassen und im Glauben nach Jerusalem zurückzukehren.
Die Ungläubigen hielten ihren Götzendienst für "hoch und erhaben" (vgl. V. 7) und verkannten damit den wahren Gott völlig, denn ihr Dienst war in Wirklichkeit elendig und armselig und widersprach zutiefst dem Wesen Gottes: Ihre Götzen waren vergänglich, ohnmächtig und voll unflätiger Sünde. Gott aber ist der Ewige und Heilige. Die Ungläubigen hatten so dringend nötig umzukehren, und die Gläubigen hatten dringend nötig, sich aus diesem Umfeld zu entfernen. Dann würden herrliche Verheißungen an ihnen wahr werden: Wenn sie nicht stolz, sondern über ihr Versagen und ihre Sünde zerbrochen und gebeugt sind, dann wollte Gott an ihrer Tür stehen und anklopfen, bei ihnen wohnen und engste Gemeinschaft mit ihnen haben. Wie entgegengesetzt ist die heutige Devise sowohl in der Welt als auch in der Christenheit: Jedes Gefühl der Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit wird bekämpft und stattdessen wird gepredigt, nur Selbstliebe, Selbstannahme und Selbstwertgefühl würde einen Menschen in Gemeinschaft mit Gott bringen. Welche Lüge! Wenn wir Jesu klare Aussagen über Selbstverleugnung in Mt 5,3; Lk 9,23 und 14,26 lesen, wird uns die einheitliche Lehre der Bibel deutlich: Nicht Selbstliebe, sondern Selbstverachtung - Verabscheuung der eigenen Sündennatur - führt zum Heil. Den ungläubigen Juden damals mangelte es jedenfalls nicht an Selbstbewusstsein, denn durch ihren Götzendienst fanden sie ja "neue Kraft" (V. 10). In Wirklichkeit waren sie tot in ihrem Geist und verdorben in ihrem Herzen. Doch Gott schenkt den Bußfertigen neues Leben an Geist und Herz.
Den Erwählten gilt der züchtigende Zorn Gottes nicht für immer (zum Thema "Allversöhnung" siehe V. 21), sondern leitet sie zu einem Ziel in der Zeit. Israel war hier sein erwähltes Volk und ebenfalls nicht zum ewigen Zorn bestimmt. Das Volk hatte besonders in der Habsucht gesündigt. Das ist oft der Fall, wenn Gott in seiner Güte Wohlergehen schenkt, wie bei den Israeliten im gelobten Land und auch im christlichen Europa nach der Reformation. Die Herzen der bekennenden Christen wurden fett und träge, uns so wandte sich Gott von seinem Volk ab, um ihm zu zeigen, wo es ohne ihn bleiben würde. Aber es blieb stur auf dem Weg seiner Abtrünnigkeit; die Juden mussten 70 Jahre in die Verbannung. Gottes Absicht der Rettung und Heilung seines Volkes steht jedoch fest. Weil er es will und beschlossen hat, wird das Volk Errettung erfahren. Das ist seine unverdiente Gnade, und aus dieser Gnade sind auch wir errettet: nicht weil wir besser waren als andere, sondern weil Gott uns retten und heilen wollte.
Die über ihre Sünde und ihr Versagen trauern, werden sich dann über ihr Heil freuen und Gott dafür preisen. "Frucht der Lippen" sind die wahren Opfer des Lobes, die Gott gefallen (Hebr 13,15). Es ist die echte, ungekünstelte Freude über den Frieden mit Gott, den der Herr Jesus als Friedensbote, ja als unser Friede (siehe Eph 2,14-17, wo dieser Vers zitiert wird) den Erlösten gibt. Das sind Erlöste aus der "Nähe" (Israel) und auch aus der "Ferne" (den Nationen - vgl. Eph 2,17). Sie sind geheilt, können Gott dienen und loben und das ewige Leben genießen. Die Gottlosen hingegen, die nicht umkehren, haben alles, aber keinen Frieden. Sie haben untereinander keinen Frieden und stürzen die Welt in Krieg wie ein brausendes Meer (s. Lk 21,25). Sie haben keinen Frieden mit sich selbst und bringen bei all ihrer Aktivität nur "Kot" hervor - nicht Frucht für Gott, sondern Widerwärtiges. Und sie haben auf Ewigkeit keinen Frieden mit Gott. Dass in V. 16 keine Allversöhnung (die Lehre, die Hölle sei nicht ewig und die Verdammten würden irgendwann erlöst) gelehrt wird, wird durch diese Aussage deutlich, denn mit dieser ernsten Wahrheit schließen alle drei Teile von Jes 40-66 (vgl. 48,22; 66,24), und in 66,24 heißt es ausdrücklich: "Ihr Wurm wird nicht sterben und ihr Feuer nicht erlöschen."
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