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Zu Christus kommen

 

von Arthur W. Pink
Teil 3 des Buches „Was ist rettender Glaube?
Einleitung
Zu Christus kommen: Hindernisse
Zu Christus kommen: mit dem Verstand
Zu Christus kommen: mit den Gefühlen
Zu Christus kommen: mit dem Willen
Auf Echtheit prüfen
 

Einleitung

(Vorbemerkung: Der Ausdruck „zu Christus kommen“ wird heute vielfach in der Evangelisation verwendet und ist auch ein biblischer Begriff. In seiner Bedeutung hat er allerdings eine Wandlung erfahren, und wenn heute Ungläubige aufgefordert werden „komm zu Christus“, ist damit häufig nicht der biblische Sinn gemeint, sondern eine recht oberflächliche, womöglich voreilige Entscheidung. Dieser Artikel verdeutlicht die biblische Bedeutung).
Als Einleitung dieses Teils betrachten wir einige Schriftstellen, die uns Aufschluss darüber geben, was es heißt, zu Christus zu kommen:
„Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“ (Joh 5,40).
Dieser Vers gilt für jeden nicht wiedergeborenen Menschen auf dieser Erde. Solange ein Mensch in seinem natürlichen Zustand verharrt, kann er nicht zu Christus kommen. Trotz aller hervorragenden Eigenschaften Christi, sowohl seiner göttlichen als auch menschlichen, obwohl „alles an ihm begehrenswert“ ist (Hl 5,16), sehen die gefallenen Kinder Adams nichts Schönes an ihm und fühlen sich daher nicht von ihm angezogen. Sie können gut in der Lehre Christi unterwiesen sein, sie mögen ohne Zögern alles glauben, was die Bibel über ihn sagt, sie mögen regelmäßig seinen Namen in den Mund nehmen und bekennen, auf seinem vollbrachten Werk zu ruhen, ihm Loblieder singen - und doch sind ihre Herzen weit von ihm entfernt. Die Dinge dieser Welt haben den ersten Platz in ihren Herzen. Das Befriedigen der eigenen Wünsche ist ihr vorrangiges Anliegen. Sie liefern ihr Leben ihm nicht aus. Er ist zu heilig, als dass er mit ihrer Liebe zur Sünde vereinbar wäre; seine Ansprüche sind zu streng, als dass ihre selbstsüchtigen Herzen ihnen zustimmen würden; die Bedingungen seiner Jüngerschaft sind zu hart, als dass sie zu ihren fleischlichen Wegen passen würden. Sie wollen sich nicht seiner Herrschaft ergeben. Das gilt für jeden von uns, bis Gott ein Wunder der Gnade an unseren Herzen wirkt.
„Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28).
Hier lädt der mitfühlende Heiland in seiner Gnade eine besondere Klasse von Sündern ein. Das „alle“ in diesem Aufruf wird in den darauffolgenden Worten sofort, eindeutig und ausdrücklich eingeschränkt: Es bezieht sich auf die „Mühseligen“ und „Beladenen“ und gilt daher nicht für die Mehrheit der unbekümmerten, ausgelassenen und spaßsüchtigen Leute von heute, denen nichts an Gottes Ehre liegt und die sich über ihr Schicksal in der Ewigkeit keine Sorgen machen. Nein, Gottes Botschaft an solche bedauernswerten Geschöpfe lautet vielmehr: „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugendzeit! Und lebe nach dem, was dein Herz wünscht und wonach deine Augen ausschauen! Doch wisse, dass um all dieser Dinge willen Gott dich zur Rechenschaft ziehen wird!“ (Pred 11,9). Doch zu jenen, die „mühselig“ und erschöpft sind von ihren vergeblichen Bemühungen, das Gesetz zu halten und Gott zu gefallen, die „beladen“ und belastet sind, weil sie ihre völlige Unfähigkeit erkennen, Gottes Anforderungen zu erfüllen, und die sich danach sehnen, von der Macht und der Verunreinigung der Sünde befreit zu werden, zu denen sagt der Herr Jesus: „Kommt her zu mir, und ich werde euch Ruhe geben.“
„Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag.“ (Joh 6,44).
Dieser Vers sagt uns, dass „zu Christus kommen“ nicht so einfach ist, wie viele meinen, und nicht so simpel, wie die meisten Prediger es heute präsentieren. Nein, der fleischgewordene Sohn Gottes erklärt, dass es für einen gefallenen und von der Sünde verdorbenen Menschen völlig unmöglich ist, es sei denn, Gottes Macht wird an ihm wirksam. Das ist eine Aussage, die zutiefst demütigt, dem Fleisch zuwider ist und den Menschen erniedrigt. „Zu Christus kommen“ ist etwas ganz, ganz anderes als das Heben der Hand, damit ein „protestantischer Priester“ für einen betet, als „nach vorn“ zu gehen und die Hand eines Schnellverfahren-Evangelisten zu greifen, eine „Entscheidungskarte“ zu unterschreiben, sich einer Gemeinde anzuschließen oder einer von vielen anderen der „vielen Künste“ des Menschen (Pred 7,29) zu folgen. Bevor irgendjemand zu Christus kommen kann oder will, muss sein Verstand auf übernatürliche Weise erleuchtet, sein Herz auf übernatürliche Weise verändert und sein störrischer Wille auf übernatürliche Weise zerbrochen werden.
„Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Joh 6,37).
Auch dieser Vers ist unangenehm für die fleischliche Gesinnung, aber für das vom Heiligen Geist belehrte Kind Gottes ist er eine kostbare Aussage. Hier wird die gepriesene Wahrheit der bedingungslosen Erwählung gelehrt bzw. die unterscheidende Gnade Gottes. Dieser Vers spricht von einem auserwählten Volk, für das der Vater seinen Sohn gab, und erklärt, dass jeder dieser glückseligen Erwählten zu Christus kommen wird: Nichts wird sie davon abhalten können, weder die Auswirkungen ihres sündigen Zustands in Adam, noch die Macht der innewohnenden Sünde, weder der Hass und die unermüdlichen Listen des Teufels, noch die trügerischen Verirrungen von geistlich blinden Predigern. Wenn die von Gott bestimmte Stunde gekommen ist, wird jeder seiner Erwählten aus der Macht der Finsternis errettet und in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt. Der Vers erklärt, dass ein jeder von diesen Erwählten, der zu Christus kommt - so unwürdig und niedrig er an sich auch sein mag, so schwarz und schrecklich die lange Liste seiner Sünden auch sein mag -, auf keinen Fall von Christus verachtet oder nicht angenommen werden wird, und unter keinen Umständen wird Christus ihn jemals aufgeben.
„Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein; und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26.27).
Hier erklärt der Herr Jesus die Bedingungen, zu denen er bereit ist, Sünder anzunehmen. Er legt die kompromisslosen Anforderungen seiner Heiligkeit dar. Er muss als Herr über alles gekrönt werden, denn sonst wäre er überhaupt nicht der persönliche Herr. Das Herz muss allem entsagen, was seine Vorrangstellung streitig machen könnte. Christus duldet keinen Konkurrenten. Alles, was zum Fleisch gehört - sei es ein geliebter Angehöriger oder das eigene Ich - muss gehasst werden. Das Kreuz ist das Kennzeichen der Jüngerschaft Jesu: kein goldenes Kreuz an einer Kette um den Hals, sondern das im Herzen regierende Prinzip der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung. Wie offensichtlich ist es daher, dass ein vollmächtiges, übernatürliches Werk der Gnade Gottes am Herz des Menschen stattfinden muss, damit ein Mensch auch nur wünscht, diese Anforderungen zu erfüllen!
„... Zu ihm kommend als zu einem lebendigen Stein, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt, kostbar“ (1Petr 2,4).
Hier lernen wir, dass der Christ so fortfahren muss, wie er begonnen hat. „Zu ihm kommend“ ist fortwährende Gegenwart. Wir kommen nicht ein für allemal zu Christus, sondern immer wieder Tag für Tag. Christus ist der einzige, der unsere Bedürfnisse stillen kann, und wir müssen uns ständig an ihn wenden, um von ihm zu bekommen, was wir brauchen. Wir müssen unsere eigene Leere erkennen, um „aus seiner Fülle zu empfangen“ (Joh 1,16). In unserer Schwäche müssen wir seine Kraft von ihm erbeten. In unserer Unwissenheit brauchen wir immer wieder seine Reinigung. Alles, was wir in Zeit und Ewigkeit brauchen, ist in ihm in Fülle vorhanden: Erquickung, wenn wir müde sind (Jes 40,3 1), Heilung des Leibes, wenn wir krank sind (2Mo 15,26), Trost, wenn wir traurig sind (1Petr 5,7), Errettung, wenn wir versucht werden (Hebr 2,18). Wenn wir von ihm abgewichen sind, unsere erste Liebe verlassen haben, dann ist das Heilmittel: „Tue Buße und tue die ersten Werke“ (Offb 2,5), d.h. uns erneut auf ihn zu werfen, so wie beim ersten Mal, als wir zu ihm kamen - als unwürdige, bußfertige Sünder, die seine Gnade und Vergebung suchen.
„Daher kann er die auch völlig erretten, die sich durch ihn Gott nahen, weil er immer lebt, um sich für sie zu verwenden“ (Hebr 7,25).
Dieser Vers versichert die ewige Heilssicherheit für die, die wahrhaft zu Christus gekommen sind. Christus rettet „völlig“ oder „bis aufs Äußerste“, und zwar jene, die durch ihn zu Gott kommen. Er denkt nicht heute so und morgen anders, sondern er ist „derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8). „Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende“ (Joh 13,1). Das stellt er segensreich unter Beweis, „weil er immer lebt, um sich für sie zu verwenden“. Da seine Gebete immer wirksam sind - denn er erklärt, dass der Vater ihn „allezeit“ erhört (Joh 11,42) - wird niemand jemals verderben, dessen Name unauslöschlich auf das Herz unseres Hohenpriesters eingeschrieben ist, wie einst die Namen der Söhne Israels auf das Brustschild des Hohenpriesters (2Mo 28,21.29)!
 
(Kapitel 6)

Zu Christus kommen: Hindernisse

Unter dieser Überschrift versuchen wir zu zeigen, warum der natürliche Mensch unfähig ist, zu Christus zu kommen. Als Ausgangspunkt wollen wir nochmals Johannes 6,44 anführen: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht.“ Das ist deshalb auch für Tausende bekennender Christen eine „harte Rede“ (Joh 6,60), weil sie nicht einsehen, zu welch schrecklicher Verderbnis der Sündenfall führte. Außerdem ist zu befürchten, dass vielen Christen „die Plage ihres Herzens“ (1Kö 8,38) fremd ist. Gewiss, wenn der Heilige Geist sie jemals aus dem Schlaf des geistlichen Todes erweckt und ihnen Licht gegeben hat, damit sie ihren entsetzlichen natürlichen Zustand erkennen, und wenn sie zur Erkenntnis geführt wurden, dass ihre Gesinnung des Fleisches „Feindschaft gegen Gott“ ist (Röm 8,7), dann werden sie nicht gegen diese erhabene Aussage Christi murren. Aber geistlich Tote können weder geistlich sehen noch erkennen.
Worin besteht die völlige Hilflosigkeit des natürlichen Menschen?
Es scheitert nicht an fehlenden Fähigkeiten
An den notwendigen Fähigkeiten fehlt es dem natürlichen Menschen nicht. Daran muss man eindeutig festhalten, denn andernfalls wäre der gefallene Sünder kein verantwortliches Geschöpf mehr. So schrecklich die Folgen des Sündenfalls auch sind, so haben sie den Menschen doch keiner Fähigkeit beraubt, mit denen Gott ihn ursprünglich ausgestattet hat. Der Sündenfall hat dem Menschen alle Kraft genommen, diese Fähigkeiten richtig einzusetzen, d.h. sie zur Ehre seines Schöpfers zu gebrauchen. Dennoch besitzt der gefallene Mensch genau dieselbe dreifache Natur aus Geist, Seele und Leib wie vor dem Eklat von Eden. Kein Bestandteil des Menschen wurde ausgelöscht, obwohl jeder Bereich durch die Sünde verunreinigt und verdorben wurde. Ja, der Mensch starb einen geistlichen Tod, aber Tod bedeutet nicht Auslöschung der Existenz, sondern Trennung; der geistliche Tod ist die Trennung und Entfremdung von Gott (Eph 4,18): der geistlich Tote ist sehr wohl lebendig und aktiv, wenn es um den Dienst für den Teufel geht.
Die Hilflosigkeit des gefallenen Menschen beruht nicht auf einem körperlichen oder geistigen Schaden. Er hat dieselben Füße, die ihn an einen Ort bringen können, wo das Evangelium verkündet wird, oder auch zu einer eitlen Vergnügungsstätte. Er hat dieselben Augen, mit denen er die Bibel oder auch weltliche Zeitungen lesen kann. Er hat dieselbe Zunge und Stimme, um Gott anzurufen, die er zu eitlem Geschwätz oder törichtem Gesang gebraucht. Er verfügt auch über denselben Verstand, um über die Dinge Gottes und die Ewigkeit nachzudenken, den er nun so fleißig für seine eigenen Geschäfte einsetzt. Das ist der Grund, weshalb der Sünder „ohne Entschuldigung“ ist. Der Missbrauch der Fähigkeiten, die der Schöpfer ihm verliehen hat, steigert die Schuld des Menschen. Möge doch jeder Diener des Wortes Gottes darauf achten, dass dies den unerretteten Zuhörern beständig aufs Herz gelegt wird.
Das Problem ist die Natur des Menschen
Wenn wir den Sitz des geistlichen Unvermögens des Menschen finden wollen, müssen wir tiefer graben. Seine Hilflosigkeit ist in seiner verdorbenen Natur begründet. Durch die Ursünde Adams und durch unsere eigene Sünde ist unsere Natur so verkommen und verdorben, dass kein Mensch imstande ist, zu Christus zu kommen, ihn zu lieben und ihm zu dienen, ihn höher zu achten als die ganze Welt zusammen und sich seiner Herrschaft zu unterwerfen, solange nicht der Geist Gottes ihn erneuert und ihm eine neue Natur verleiht. Eine bittere Quelle kann kein süßes Wasser sprudeln, und ein schlechter Baum kann keine guten Früchte hervorbringen.
Wir möchten das durch eine Veranschaulichung noch deutlicher machen: Die Natur eines Geiers veranlasst ihn, sich von Aas zu ernähren; er hat zwar die gleiche körperliche Beschaffenheit wie ein Huhn, das gesunde Körner pickt, aber er hat kein Verlangen nach Körnern, sondern nach Aas. Die Sau wälzt sich aufgrund ihrer Natur im Dreck; sie hat zwar die gleichen Gliedmaße wie ein Schaf und könnte damit aufs grüne Gras gehen, aber ihr fehlt die Lust auf frische Weiden. So ist es mit dem unerretteten Menschen. Er hat dieselben körperlichen und geistigen Fähigkeiten wie die Wiedergeborenen und könnte sie für Gott und seinen Dienst einsetzen, aber er hat kein Verlangen danach.
„Und Adam ... zeugte einen Sohn, ihm ähnlich, nach seinem Bild ...“ (1Mo 5,3). Welch schrecklichen Kontrast sehen wir hier zu dem, was wir zwei Verse vorher lesen: „An dem Tag, als Gott Adam schuf, machte er ihn Gott ähnlich.“ In der Zwischenzeit war Adam in Sünde gefallen, und ein gefallener Mensch konnte nur ein gefallenes Kind zeugen und ihm seine eigene Verdorbenheit vererben. „Wie könnte ein Reiner vom Unreinen kommen? (Hi 14,4). Deshalb erklärt David: „Siehe, in Schuld bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen“ (Psalm 51,7). Obwohl die Gnade Gottes ihn zum „Mann nach dem Herzen Gottes“ machte, war David von Natur aus - so wie wir - voller Unreinigkeit und Sünde. Wie frühzeitig tritt diese verdorbene Natur schon bei einem kleinen Kind zutage! „Selbst ein Knabe gibt sich durch seine Handlungen zu erkennen“ (Spr 20,11): die böse Neigung seines Herzens wird bald offenbar - Stolz, Eigenwille, Eitelkeit, Lüge, Widerstreben gegen Gutes: das sind die bitteren Früchte, die schon bald an dem noch zarten, aber dennoch verdorbenen Zweig auftauchen.
Der natürliche Verstand ist verdorben
Die Unfähigkeit des natürlichen Menschen, zu Christus zu kommen, beruht auf seinem völlig verfinsterten Verstand. Dieses wichtigste Werkzeug der Seele ist seiner ursprünglichen Herrlichkeit beraubt und vollkommen von Verwirrung bedeckt. Sowohl der Verstand als auch das Gewissen sind verunreinigt: „Da ist keiner, der verständig ist“ (Röm 3,11). Paulus erinnerte die Gläubigen ernstlich: „Einst wart ihr Finsternis“ (Eph 5,8), nicht nur „in Finsternis“ sondern selber Finsternis. Thomas Boston schrieb 1680:
Die Sünde hat die Fenster der Seele geschlossen; in ihrem ganzen Reich herrscht Finsternis. Sie ist das Land des Dunkels und des Todesschattens, wo das Licht wie Finsternis ist. Dort regiert der Fürst der Finsternis, und nichts wird dort entworfen als die Werke der Finsternis. Wir werden geistlich blind geboren und können ohne ein Wunder der Gnade nicht geheilt werden. Das ist dein Zustand, wer immer du bist, wenn du nicht von neuem geboren wurdest.
„Weise sind sie, Böses zu tun; aber Gutes zu tun, verstehen sie nicht“ (Jer 4,22). „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie kann das auch nicht“ (Röm 8,7). Der natürliche Mensch widerstrebt geistlichen Dingen und ist ihnen abgeneigt. Gott hat Sündern seinen Willen geoffenbart und den Weg der Errettung gezeigt, doch sie wollen nicht darauf gehen. Sie hören, dass allein Christus retten kann, aber sie weigern sich, sich von den Dingen zu trennen, die sie daran hindern, zu ihm zu kommen. Sie hören, dass es die Sünde ist, die die Seele umbringt, und doch umhegen sie die Sünde in ihrer Brust. Sie achten nicht auf die Warnungen Gottes. Die Menschen glauben, dass Feuer schmerzt und brennt und wollen es um jeden Preis vermeiden, doch durch ihr Verhalten zeigen sie, dass sie das ewige Höllenfeuer als bloße Vogelscheuche abtun. Die Gebote Gottes sind „heilig, gerecht und gut“, aber der Mensch hasst sie und hält sich nur soweit daran, wie es seiner Anerkennung bei den Menschen dient.
Die natürlichen Zuneigungen sind verdorben
Das Unvermögen des natürlichen Menschen, zu Christus zu kommen, beruht auf der völligen Verdorbenheit seiner Zuneigungen. Charles Spurgeon sagte in einer Predigt über Johannes 6,44 (Nr. 182):
Bevor der Mensch die Gnade Gottes empfängt, liebt er von sich aus alles andere als geistliche Dinge. Wenn ihr das prüfen wollt, schaut euch nur um. Man braucht kein Denkmal an die Verdorbenheit der menschlichen Zuneigungen. Blickt irgendwo hin - es gibt keine Straße, kein Haus, nein, kein Herz, wo wir nicht die traurigen Beweise für diese furchtbare Wahrheit aufgeprägt finden. Warum ist es so, dass die Menschen sich am Tag des Herrn nicht allesamt im Haus Gottes einfinden? Warum trifft man uns nicht regelmäßiger beim Bibellesen an? Wie kommt es, dass Gebet eine nahezu durchgängig vernachlässigte Pflicht ist? Warum wird der Herr Jesus so wenig geliebt? Warum haben sogar seine angeblichen Anhänger nur so kühle Zuneigungen zu ihm? Woher kommen diese Dinge? Gewiss können wir sie auf keine andere Ursache zurückführen als diese: die Verkommenheit und Verdorbenheit der Zuneigungen. Wir lieben das, was wir hassen sollten, und wir hassen das, was wir lieben sollten. Es liegt an der menschlichen Natur, an der gefallenen menschlichen Natur, dass der Mensch das jetzige Leben mehr liebt als das künftige. Es sind die Folgen des Sündenfalls, dass der Mensch die Sünde mehr liebt als Gerechtigkeit und die Wege dieser Welt mehr als die Wege Gottes.
Die Zuneigungen des natürlichen Menschen sind völlig verdorben und verstimmt. „Trügerisch ist das Herz, mehr als alles, und unheilbar ist es“ (Jer 17,9). Der Herr Jesus bestätigte deutlich, dass die Zuneigungen des gefallenen Menschen die Mutter aller Gräuel sind: „Von innen aus dem Herzen der Menschen kommen die bösen Gedanken hervor: Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut, Torheit“ (Mk 7,21.22). Thomas Boston schrieb (in Fourfold State):
Die Zuneigungen des natürlichen Menschen sind erbärmlich entstellt; geistlich gesehen ist er ein Monster. Sein Herz ist dort, wo seine Füße sein sollten: auf die Erde fixiert; seine Ferse hingegen ist zum Tritt gegen den Himmel gerichtet, wo sein Herz sein sollte (Apg 9,5). Sein Angesicht ist der Hölle zugewandt, sein Rücken dem Himmel zugekehrt, und deshalb ruft Gott ihn auf, umzukehren. Er freut sich über das, was er bedauern sollte, und bedauert das, worüber er sich freuen sollte. Seine Ehre ist in seiner Schande, und er schämt sich seiner Ehre; er verabscheut, was er ersehnen sollte und ersehnt, was er verabscheuen sollte (Spr 2,13-15).
Der natürliche Wille ist verdorben
Die Unfähigkeit des natürlichen Menschen, zu Christus zu kommen, ist in der völligen Verdorbenheit seines Willens begründet. Spurgeon sagte darüber:
Der Arminianer sagt: „Wenn der Mensch will, kann er errettet werden.“ Wir antworten: „Werter Herr, das glauben wir alle; das Problem ist nur: der Mensch will nicht. Wir behaupten, dass kein Mensch zu Christus kommen will, wenn er nicht zu ihm gezogen wird. Das behaupten wir nicht nur, sondern Christus selbst sagt es: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“ (Joh 5,40); und solange dieses „Ihr wollt nicht“ in der Schrift steht, werden wir an keine andere Lehre vom „freien Willen des Menschen“ glauben. Es ist seltsam: Wenn die Leute über den freien Willen reden, sprechen sie über etwas, was sie überhaupt nicht verstehen. „Nein“, sagt der eine, „ich glaube, dass der Mensch errettet werden kann, wenn er will.“ Aber das steht überhaupt nicht zur Debatte. Die Frage ist: Kann der Mensch von Natur aus überhaupt wollen, sich den demütigenden Bedingungen des Evangeliums zu unterwerfen? Wir erklären auf Grundlage der Autorität der Bibel, dass der Wille des Menschen derart auf Unheil ausgerichtet, dermaßen verdorben und so sehr zu allen Übeltaten bereit und so sehr allem Guten abgeneigt ist, dass ohne die mächtige, übernatürliche und unwiderstehliche Einflussnahme des Heiligen Geistes kein Mensch jemals zu Christus gezogen wird.
Und Thomas Boston schrieb:
Hier haben wir eine dreifache Schnur gegen den Himmel und gegen Heiligkeit, die nicht so einfach aufzulösen ist: ein blinder Verstand, ein verdorbener Wille und üble, verstimmte Zuneigungen. Der Verstand ist aufgedunsen von Selbsteinbildung und redet dem Menschen ein, er solle sich nicht erniedrigen; und auch die verdrehten Zuneigungen, die sich gegen den Herrn erheben und den verdorbenen Willen verteidigen, halten ihn davon ab. So geht das arme Geschöpf gegen Gott und seine Güte an, bis ein Tag der Macht kommt, an dem dieser Mensch zu einer neuen Schöpfung gemacht wird.
Vielleicht sagen einige Leser: Eine solche Lehre ist darauf ausgelegt, Sünder zu entmutigen und sie in Verzweiflung zu treiben. Darauf antworten wir: Erstens entspricht diese Lehre dem Wort Gottes! Zweitens ist es sehr zu wünschen, dass Gott dieses Buch dazu benutzen möchte, einige zum Verzweifeln an sich selbst zu bringen. Drittens wird dadurch deutlich, wie absolut notwendig es ist, dass der Heilige Geist an solchen verdorbenen und geistlich hilflosen Kreaturen wirkt, wenn sie jemals zu Christus kommen und errettet werden sollen. Und wer diese Wahrheiten nicht klar versteht, wird niemals echt und ernsthaft Christi Hilfe suchen!
Manche Seelen sind sehr bedrückt und bestürzt und möchten genau wissen, was es bedeutet, zu Christus zu kommen. Sie haben diesen Ausdruck oft gehört und davon gelesen, und vielleicht haben viele Christen sie aufgefordert, zu ihm zu kommen, allerdings ohne eine biblische Erklärung, was das bedeutet. Solche Seelen sind womöglich vom Heiligen Geist erweckt, haben ihren schrecklichen Zustand erkannt, wurden von ihrer anmaßenden lebenslangen Rebellion gegen Gott überführt und zur Erkenntnis gebracht, dass sie dringend Christus brauchen. Sie sehnen sich wahrhaft, zu ihm zu kommen und errettet zu werden, haben jedoch festgestellt, dass dies etwas ist, was ihre Kräfte übersteigt. Sie rufen verzweifelt: „O, dass ich doch wüsste, wo ich ihn finden könnte! Dass ich doch zu seiner Stätte kommen könnte!“ (Hi 23,3). Es gibt nicht viele, die eine solche Erfahrung durchleben, denn Gottes Volk ist eine „kleine Herde“ (Lk 12,32). Die große Mehrheit der bekennenden Christenheit behauptet, dass sie es sehr einfach fanden, zu Christus zu kommen. Doch im klaren Licht von Johannes 6,44 müssen wir versichern: Wenn Sie, lieber Leser, es einfach fanden, zu Christus zu kommen, ist das ein Indiz, dass sie noch gar nicht wirklich in geistlicher und rettender Weise zu ihm gekommen sind.
Was aber bedeutet dann „zu Christus kommen“?
Erstens - im negativen Sinne - ist es keine Handlung, die wir irgendwie mit unserem Körper vollziehen. Das ist so offensichtlich, dass es überflüssig sein sollte, es überhaupt zu erwähnen. Doch in dieser schrecklichen Zeit der geistlichen Unwissenheit und fleischlicher Verdrehung der heiligen Dinge Gottes ist es tatsächlich nötig, die elementarsten Wahrheiten und Begriffe zu erklären. Wenn so viele kostbare Seelen irregeleitet worden sind und glauben, dass ein Gang nach vorn zu einem „Übergabegebet“ oder einem „Bußruf“ oder das Ergreifen der Hand eines Evangelisten dasselbe sei wie zu Christus zu kommen, halten wir es dringend für notwendig, sowohl dieses geistliche Ereignis klar zu definieren als auch herauszustellen, was dieser Ausdruck nicht bedeutet.
Zweitens ist das Wort „kommen“ in diesem Zusammenhang bildhaft gemeint. Es ist ein Ausdruck, der sich normalerweise auf den natürlichen Bereich des Körpers bezieht, hier jedoch auf die Seele angewendet wird, um diesen Vorgang zu beschreiben. „Zu Christus kommen“ beschreibt die Bewegung eines vom Heiligen Geist erleuchteten Verstandes hin zum Herrn Jesus - zu ihm als Prophet, um von ihm das Wort Gottes zu hören; zu ihm als Priester, auf dessen Sühnopfer und Fürsprache vertraut werden kann, und zu ihm als König, um sich von ihm beherrschen zu lassen. Zu Christus kommen bedeutet, der Welt den Rücken zu kehren und sich ihm als unsere einzige Hoffnung und Freude zuzuwenden. Es ist ein Aufgeben von sich selbst, das Ende alles Vertrauens auf sich selbst. Es ist das Aufgeben jedes Götzen und aller anderen Abhängigkeiten. Das Herz erstreckt sich zu ihm in liebender Unterwerfung und vertrauensvoller Zuversicht. Der Wille unterwirft sich ihm als Herrn und ist bereit, sein Joch auf sich zu nehmen und ihm ohne Vorbehalte zu folgen. Beim „Kommen zu Christus“ bewirkt die Gnade Gottes, dass sich die ganze Seele zum ganzen Christus hinwendet: Verstand, Herz und Wille werden durch übernatürliche Kraft zu ihm gezogen und dazu gebracht, ihm zu vertrauen, ihn zu lieben und ihm zu dienen. Matthew Henry schrieb:
Es ist die Pflicht und das Interesse von geplagten und schwer beladenen Sündern, zu Christus zu kommen und allem zu entsagen, was in Opposition oder Wettstreit zu ihm steht. Wir müssen ihn als unseren Arzt und Anwalt annehmen und uns seiner Führung und Regierung hingeben und bereit sein, uns von ihm auf seine Weise und zu seinen Bedingungen retten zu lassen.
Bevor wir fortfahren, möchten wir jeden Leser ernstlich bitten, sich selbst zu prüfen. Nehmen Sie nichts als selbstverständlich hin: Wenn Ihnen etwas an Ihrer Seele liegt, suchen Sie Gottes Hilfe, um sicher zu gehen, dass Sie wirklich zu Christus gekommen sind.
Der „Christus“ des Papstes ist ein Christus aus Holz, und der „Christus“ falscher Prediger ist ein Christus aus Worten, aber Jesus Christus, unser Herr, ist der „starke Gott, Vater der Ewigkeit, Fürst des Friedens“ (Jes 9,6). Der Christus Gottes erfüllt Himmel und Erde: Er ist der Eine, durch Dinge geworden sind und bestehen. Er sitzt zur Rechten der Majestät in der Höhe und hat alle Gewalt, Herrschaft und Macht. Er ist höher als alle Himmel geworden und ihm sind alle Fürstentümer und Gewalten unterworfen. Vor seiner Gegenwart werden sowohl die Erde als auch die Himmel fliehen. Ein solcher Christus darf von sündigen Menschen weder verkauft noch verschenkt, weder angeboten noch verhökert werden. Er ist die unaussprechliche Gabe des Vaters für alle, die „zum ewigen Leben verordnet“ sind (Apg 13,48), und für niemand sonst. Dieser Christus, diese Gabe des Vaters, wird den Erben des Heils auf übernatürliche Weise durch den Heiligen Geist geoffenbart und auf sie angewendet, wann, wo und wie immer es ihm gefällt - und nicht wann, wo und wie immer es den Menschen gefällt.
Im vorigen Kapitel haben wir uns länger mit der Aussage Jesu aus Johannes 6,44 beschäftigt: „Niemand kann zu mir kommen“, und haben damit versucht, das geistliche Unvermögen des gefallenen Menschen aufzuzeigen und warum der natürliche Mensch unfähig ist, in geistlicher und rettender Weise zu Christus zu kommen. Nun möchten wir den zweiten Teil dieses Satzes betrachten: „... wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht.“ Worin besteht dieses „Ziehen“? Erstens: So wie das „zu Christus Kommen“ keine körperliche Handlung ist, so bedarf dieses göttliche Ziehen keiner äußeren Kraft. Zweitens: Es ist ein vollmächtiger Impuls, der durch den Heiligen Geist in den Erwählten bewirkt wird. Dadurch wird ihr angeborenes Unvermögen zu geistlichen Handlungen überwunden und die Kraft dazu verliehen. Dieses übernatürliche und vollmächtige Wirken des Heiligen Geistes an der Seele ist es, das den Menschen befähigt und veranlasst, zu Christus zu kommen. Das führt uns zu unserem nächsten Kapitel.
 
(Kapitel 7)

Zu Christus kommen: mit dem Verstand

Eine Erkenntnis Christi ist die Voraussetzung.
Was man nicht kennt, dahin kann man nicht gezielt kommen. Niemand kann ein Gebot befolgen, wenn er nicht die Aussagen dieses Gebotes kennt. Ein Stütze muss erkannt werden, bevor man sich darauf stützen kann. Wenn wir jemanden vertrauen wollen, müssen wir zunächst mit ihm vertraut werden. Dieses Prinzip ist so offensichtlich, dass sich jede weitere Argumentation erübrigt. Nun wollen wir es auf unser Thema anwenden: Die Erkenntnis Christi muss notwendigerweise dem Glauben an ihn oder dem Kommen zu ihm vorausgehen. „Wie aber sollen sie an den glauben, von dem sie nicht gehört haben?“ (Röm 10,14). „Wer Gott naht [zu ihm kommt], muss glauben, dass er ist und denen, die ihn suchen, ein Belohner sein wird.“ (Hebr 11,6). Niemand kann zu Christus kommen, der Christus nicht kennt. Wie in der alten Schöpfung, so ist es auch in der neuen: Gott spricht zuerst: „Es werde Licht.“
Diese Erkenntnis erlangt der Verstand durch die Heilige Schrift.
Wir können nichts über Christus wissen, als das, was Gott über ihn im Wort der Wahrheit geoffenbart hat. Dort allein kann die wahre „Lehre des Christus“ (2Jo 9) gefunden werden. Deshalb hat unser Herr befohlen: „Suchet in der Schrift ...“ (Joh 5,39). Er tadelte die beiden Emmaus-Jünger dafür, dass sie „zu träge“ waren, „an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben!“ und „von Mose und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf“ (Lk 24,25.27).
Das Wort Gottes wird auch als „das Wort des Christus“ (Kol 3,16) bezeichnet, weil er der Inhalt der Heiligen Schrift ist. Wo die Bibel unbekannt ist, dort ist auch Christus unbekannt. Das ist ein klarer Beweis, dass keine Erkenntnis seiner Person erlangt werden kann ohne das inspirierte Zeugnis der Schrift.
Eine theoretische Erkenntnis Christi reicht nicht aus.
Mit dieser Aussage müssen wir uns etwas länger befassen, denn hierin herrscht heute eine enorme Unwissenheit. Ein Kopfwissen über Christus wird sehr oft damit verwechselt, ihn im Herzen erkannt zu haben. Doch Rechtsgläubigkeit ist nicht Errettung. Eine fleischliche Meinung von Christus, eine nur intellektuelle Erkenntnis von ihm, wird niemals einen toten Sünder zu seinen Füßen bringen. Es muss eine lebendige Erfahrung geben - Gottes Wort und Gottes Werk müssen in der Seele zusammenwirken und Erneuerung und Erkenntnis hervorbringen.
In 1. Korinther 13,2 werden wir unmissverständlich gewarnt: Ich kann die Gabe der Weissagung haben, alle Geheimnisse verstehen und alle Erkenntnis haben, doch wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts. So wie ein Blinder durch Mühe und Fleiß viele Dinge exakt theoretisch oder begrifflich beschreiben kann, obwohl er sie niemals gesehen hat, so kann sich der natürliche Mensch durch religiöse Bildung und persönlichen Fleiß eine lehrmäßig gesunde Erkenntnis der Person und des Werkes Christi aneignen, ohne im Geringsten geistlich oder lebendig mit ihm vertraut zu sein.
Nicht jede Art von Erkenntnis - nicht einmal die Erkenntnis von Gottes Wahrheit und von Christus - ist wirksam und rettend. Es gibt eine Form der Erkenntnis - genauso wie es eine Form der Gottseligkeit gibt (2Tim 3,5), der es an Kraft fehlt. Im Römerbrief wird ein solcher lediglich religiöser Mensch beschrieben als „ein Erzieher der Törichten, ein Lehrer der Unmündigen, der die Form der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz hat“ (Röm 2,20). Im Zusammenhang geht es hier um die Juden, die in den Schriften unterwiesen waren und sich als qualifizierte Lehrer anderer ansahen; aber die Wahrheit war ihnen vom Heiligen Geist nicht auf ihre Herzen geschrieben. Eine „Form der Erkenntnis“ bedeutet, dass diese Menschen in ihren Hirnen die richtige Lehre repräsentierten und somit frei und fließend über die Dinge Gottes diskutieren konnten, aber in ihren Seelen fehlte ihnen das göttliche Leben. Wie viele haben eine Erkenntnis der Errettung, aber keine Erkenntnis „zur Rettung“, wie Paulus sie in 2. Timotheus 3,15 unterscheidet. Eine solche rettende Erkenntnis muss der Seele durch das übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes vermittelt werden.
„Sie schreiten fort von Bosheit zu Bosheit, mich aber erkennen sie nicht, spricht der HERR“ (Jer 9,2). Über wen wurde dies gesagt - über die Heiden, die keine schriftliche Offenbarung Gottes hatten? Nein, über die Israeliten, die sein Gesetz in ihren Händen hielten, seinen Tempel in ihrer Mitte hatten und sein Wort aus dem Mund seiner Propheten hörten. Sie hatten das Vorrecht vieler wunderbarer Manifestationen von Gottes Majestät, Heiligkeit, Macht und Gnade, doch trotz ihrer reichen theoretischen Erkenntnis Gottes war er ihnen geistlich gesehen fremd. So war es, als der Sohn Gottes Mensch wurde. Auf natürlicher Ebene verfügten sie über so viel Licht über ihn: Sie waren Zeugen seines vollkommenen Lebens, sahen seine Wunderwerke, hörten seine unvergleichlichen Lehren, waren immer wieder in seiner unmittelbaren Gegenwart, doch obwohl das Licht in der Finsternis schien, hat „die Finsternis es nicht erfasst“ (Joh 1,5). So ist es auch heute. Lieber Leser, vielleicht sind Sie ein fleißiger Bibelleser, sogar mit den alttestamentlichen Schattenbildern und Prophezeiungen vertraut, glauben alles, was die Schrift über Christus sagt und vermitteln die biblische Botschaft an andere weiter, und doch kann es sein, dass Sie ihm geistlich fremd sind.
„Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Das bedeutet, dass der natürliche Mensch absolut nicht dazu in der Lage ist, die Dinge Gottes geistlich zu beurteilen. Er kann sie zwar auf natürliche Weise „sehen“, er mag sie untersuchen und sogar theoretisch bewundern, aber er kann sie nicht erfahren und in lebendiger Weise empfangen.
Da diese Unterscheidung so wichtig und zugleich so wenig bekannt ist, wollen wir sie zu veranschaulichen versuchen: Stellen wir uns vor, jemand habe noch nie im Leben Musik gehört. Andere berichten ihm von der Schönheit und Anmut der Musik, und so entschließt er sich zu einem sorgfältigen Studium dieses Themas. Dieser Mensch kann sich tiefgründig mit der Kunst der Musik vertraut machen, sogar die Regeln der Harmonielehre studieren und verstehen, aber wie anders ist dies, als einem großen Orchester zuzuhören - wenn ihm das zu Ohren kommt, was er vorher nur aus der Theorie kannte! Noch bedeutender ist der Unterschied zwischen einer natürlichen und einer geistlichen Erkenntnis göttlicher Dinge.
Paulus erklärte: „Wir reden Gottes Weisheit in einem Geheimnis“ (1. Korinther 2,7). Er bestätigte nicht nur, dass Gottes Weisheit an sich ein Geheimnis ist, sondern dass sie sogar „in einem Geheimnis“ verkündet wird. Und warum? Weil der natürliche Mensch, auch wenn er es hört oder sogar theoretisch versteht, doch niemals das Geheimnis kennen oder begreifen kann, welches die Weisheit Gottes immer noch ist. Sprüche 9,10 besagt: „Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang; und Erkenntnis des allein Heiligen ist Einsicht.“ Göttliche Dinge können nur wirklich verstanden werden durch „Erkenntnis des allein Heiligen“. Jeder wahre Christ hat eine Erkenntnis von göttlichen Dingen, eine persönliche, erfahrungsmäßige, lebendige Erkenntnis, die kein fleischlicher Mensch besitzen oder erlangen kann, so fleißig er sie auch studieren mag.
Eine geistliche und übernatürliche Erkenntnis Christi muss vom Heiligen Geist vermittelt werden
Darum geht es in 1. Johannes 5,20: „Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns Verständnis gegeben hat.“ Die Erkenntnisfähigkeit muss dem erkannten Gegenstand entsprechen. Der natürliche Verstand kann Christus auf natürliche Weise erkennen und begreifen, aber bevor wir Christus geistlich erkennen können, müssen wir „erneuert werden im Geist unserer Gesinnung“ (nach Eph 4,23). Der Heilige Geist muss am Verstand ein übernatürliches Werk der Gnade vollbringen, bevor der Mensch die übernatürliche und geistliche Person Christi begreifen kann. Das ist die wahre und rettende Erkenntnis Christi, die die Zuneigungen entzündet, den Willen heiligt und den Verstand geistlich auf den Fels des Heils richtet. Diese Erkenntnis Christi ist „ewiges Leben“ (Joh 17,3). Diese Erkenntnis führt zu Glauben an Christus, Liebe zu ihm und Unterwerfung unter ihn. Diese Erkenntnis lässt die Seele wahrhaftig und freudig ausrufen: „Wen habe ich im Himmel? Und außer dir habe ich an nichts Gefallen auf der Erde“ (Psalm 73,25).
„Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag“ (Joh 6,44). Durch das verborgene und vollmächtige Wirken des Heiligen Geistes führt der Vater jeden seiner Erwählten zu einer rettenden Erkenntnis Christi. Diese Wirkungen des Geistes beginnen damit, dass er den Verstand erleuchtet und das Denken erneuert. Man beachte aufmerksam die Reihenfolge in Hesekiel 37,14: „Und ich gebe meinen Geist in euch, dass ihr lebt ... Und ihr werdet erkennen, dass ich, der HERR, geredet und es getan habe, spricht der HERR.“ Kein Sünder kann jemals zu Christus kommen, bevor der Heilige Geist zu ihm kommt! Und kein Sünder wird in rettender Weise an Christus glauben, solange der Heilige Geist ihm nicht diesen Glauben gegeben hat (Eph 2,5; Kol 2,12); und auch dann gilt: Der Glaube ist zuerst ein Auge, um Christus zu erkennen, bevor er ein Fuß ist, um Christus zu nahen. Es kann keine Handlung stattfinden, wenn sie nicht auf ein Objekt ausgerichtet ist, und es kann keinen Glauben an Christus geben, solange man nicht sieht, dass Christus herausragend, allgenugsam und für arme Sünder das rechte Heilmittel ist. „Auf dich vertrauen, die deinen Namen kennen“ (Ps 9,11) - und nicht: „die deinen Namen kennen sollten“. Aber es sei noch einmal gesagt: Diese Erkenntnis muss geistlich und übernatürlich vom Heiligen Geist vermittelt sein.
Der Heilige Geist - und nicht nur ein Prediger - muss von den Dingen Christi nehmen und sie dem Herzen des Sünders vorstellen. Nur in Gottes Licht „sehen wir das Licht“ (Psalm 36,10). Dem Sünder müssen zuerst die Augen aufgetan werden, bevor er sich von der Macht des Teufels zu Gott bekehrt (Apg 26,18). Das Licht der Sonne sieht man bei Tagesanbruch zuerst erstrahlen, bevor man seine Wärme spürt. Nur wer den Sohn mit einem übernatürlich erleuchteten Verstand „sieht“, kann geistlich und rettend „glauben“: „Dies ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe“ (Joh 6,40). Bevor wir in das Bild des Herrn verwandelt werden, müssen wir seine Herrlichkeit schauen (2Kor 3,18). Man beachte auch die Reihenfolge in Römer 3,11: „Da ist keiner, der verständig ist“ kommt vor „da ist keiner, der Gott sucht“. Der Geist Gottes muss mit seinem Licht den Verstand erleuchten, und dieses Licht gibt dem Verstand das tatsächliche Bild geistlicher Dinge auf geistliche Weise zu erkennen und prägt sie auf die Seele auf, so wie der lichtempfindliche Film in einer Kamera sein Abbild von dem Licht empfängt, das auf ihn fällt. Das ist die „Erweisung des Geistes und der Kraft“ (1Kor 2,4).
Wie unterscheidet man diese geistliche und lebendige Erkenntnis von einer bloß theoretischen und gedanklichen?
Anhand ihrer Auswirkungen. Paulus schrieb an die Thessalonicher: „Denn unser Evangelium erging an euch nicht im Wort allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in großer Gewissheit“ (1Thes 1,5). Was das bedeutet, wird im nächsten Vers erklärt: „... indem ihr das Wort in viel Bedrängnis mit Freude des Heiligen Geistes aufgenommen habt.“ Der Heilige Geist hatte dem Wort Gottes eine Wirksamkeit verliehen, wie es keine menschliche Logik, Rhetorik oder Überzeugungskraft vermag. So traf das Wort ins Gewissen und deckte die eiternden Wunden auf, die die Sünde zugefügt hatte. Es hatte die Thessalonicher so tief getroffen, dass es bei ihnen Seele und Geist voneinander schied. Es hatte ihre gute Meinung von sich selbst erschüttert. Es hatte sie den brennenden, auf sie gerichteten Zorn Gottes spüren lassen. Es hatte bei ihnen Bedenken hervorgerufen, ob solche jämmerlichen Kreaturen wie sie jemals Gnade von einem heiligen Gott erwarten könnten. Es hatte Glauben bewirkt, sodass sie auf den großen Arzt der Seelen schauten. Es hatte ihnen eine Freude gegeben, die diese armselige Welt nicht kennt.
Das Licht, mit dem der Heilige Geist den Verstand erleuchtet, ist voller Wirksamkeit, wohingegen die Erkenntnis, die durch bloßes Studium erlangt wird, geistlich unwirksam bleibt. Ein fleischlicher Mensch mag sich eine theoretische Kenntnis alles dessen aneignen, was ein geistlicher Mensch in lebendiger Weise kennt, doch ist er „im Hinblick auf die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus träge und fruchtleer“ (nach 2Petr 1,8). Das Kopfwissen, das heute zahllose bekennende Christen besitzen, bewirkt bei ihnen ebenso wenig einen gottesfürchtigen Wandel, wie wenn es im Hirn eines anderen gespeichert wäre. Das Licht des Heiligen Geistes demütigt und erniedrigt den Sünder; aber die Erkenntnis, die durch bloße Bildung und Studium erlangt wird, bläht auf (1Kor 8,1) und trügt.
Eine geistliche und rettende Erkenntnis Christi bringt die Seele stets zum Gehorsam aus Liebe. Das Licht Christi leuchtete erst dann im Herzen von Paulus auf, als er gefragt hatte: „Was soll ich tun, Herr?“ (Apg 22,10). Den Kolossern erklärte der Apostel: Das „Wort der Wahrheit des Evangeliums, das zu euch gekommen ist, ... (bringt) Frucht und wächst, wie auch unter euch von dem Tag an, da ihr es gehört und die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt habt“ (Kol 1,6). Doch eine lediglich theoretische Erkenntnis der Wahrheit wird „durch Ungerechtigkeit niederhalten“ (Röm 1,18). Wer eine solche Erkenntnis hat, diskutiert und argumentiert gern darüber und blickt geringschätzig auf alle herab, die nicht so weise sind wie er. Aber das Leben solcher Menschen ist oft beschämend. Eine rettende Erkenntnis Christi macht Christus der Seele so lieb, dass alles andere als Dreck angesehen wird im Vergleich zu seiner Majestät: Das Licht seiner Herrlichkeit wirft - wie bei einer totalen Sonnenfinsternis - einen großen Schatten über die ganze Welt. Doch eine rein lehrmäßige Erkenntnis Christi bewirkt solches nicht: Damit kann man zwar lauthals Loblieder singen, doch das Herz giert immer noch nach den zeitlichen und sinnlichen Dingen.
Der natürliche Mensch kann vielleicht die Wahrheit über die Dinge Gottes kennen, aber nicht die Dinge an sich. Er kann den Buchstabensinn der Bibel tiefgründig verstehen, aber nicht ihren Geist. Er kann über sie in gesunder, rechtgläubiger Weise diskutieren, aber in keiner anderen Weise als jemand über Honig und Essig reden kann, der bisher weder die Süßigkeit des einen noch die Sauerkeit des anderen geschmeckt hat. Es gibt Hunderte von Predigern, die die richtige Auffassung von geistlichen Dingen haben, aber die im Wort der Wahrheit enthaltenen Dinge selber nicht geschmeckt haben: „Sie wollen Gesetzeslehrer sein und verstehen nichts, weder was sie sagen noch was sie fest behaupten“ (1Tim 1,7). So wie ein Astronom, der sich ein Leben lang mit dem Studium der Sterne beschäftigt, deren Namen, Positionen und unterschiedlichen Größen kennt, aber von ihnen nicht mehr persönlich beeinflusst wird als alle anderen Menschen, so ist es auch mit denen, die die Schrift studieren, aber vom Heiligen Geist nicht auf übernatürliche und rettende Weise erleuchtet worden sind.
... was des Geistes Gottes ist
Wir hoffen, dass durch die bisherigen Kapitel jedem gläubigen Leser klar geworden ist, dass das „zu Christus Kommen“ eines Sünders weder eine körperliche noch eine verstandesmäßige Handlung ist, sondern vollkommen geistlich und übernatürlich, und dass diese Handlung nicht aus dem menschlichen Verstand oder Willen entspringt, sondern aus den verborgenen und vollmächtigen Wirkungen Gottes, des Heiligen Geistes. Wir sagen „jedem gläubigen Leser“, weil wir nicht erwarten dürfen, dass Unerrettete das wahrnehmen können, was sie nicht persönlich erfahren haben. In der zweiten Hälfte des vorigen Kapitels wurde der Unterschied herausgestellt zwischen einerseits einer gesunden theoretischen Erkenntnis Christi und andererseits einer lebendigen und umgestaltenden persönlichen Erkenntnis von ihm. Die fleischliche Gesinnung wird diesen Unterschied nicht attraktiv finden, sondern ihn verächtlich von sich weisen. Doch das sollte uns nicht überraschen, nichts anderes wäre zu erwarten.
Würde dieses Kapitel einem typischen evangelikalen Prediger oder Bibellehrer vorgelegt und würde er nach seiner aufrichtigen Meinung dazu gefragt, würde er wahrscheinlich sagen, der Autor sei entweder dem „Mystizismus“ oder dem „Fanatismus“ verfallen. So wie die Religionsführer in Jesu Zeit seine geistlichen Lehren ablehnten, so weigern sich heute die prominenten und angeblich so bibeltreuen Evangelikalen, die demütigende und durchdringende Botschaft anzunehmen, die von Jesu Knechten verkündet wird. Sie würden den Inhalt dieses Buches verachten. Doch diese Verachtung zeigt nur, wie wahr 1. Korinther 2,14 ist: „Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit.“
Der Autor hat persönlich einige sehr gewissenlose Menschen kennen gelernt - verlogen, unehrlich, skrupellos im Gebrauch von solchen Taktiken, die selbst bekennende Nichtchristen ablehnen würden - die aber dennoch begeistert für die göttliche Inspiration der Bibel, die Gottheit Jesu und die Errettung allein aus Gnade eintreten. Wir haben persönlich mit Männern zu tun gehabt, deren Herz voller Begierde und deren Lebenswandel höchst weltlich war, und die dennoch über „Modernismus“ und „Evolutionsglauben“ usw. schimpften und „treu“ die jungfräuliche Geburt Christi und die Sündenvergebung allein durch Jesu Blut verkündeten. Dass diese Leute „natürlich“ oder „fleischlich“ sind, d.h. nicht wiedergeboren, ist offenkundig und unmissverständlich klar, wenn man sie am unfehlbaren Maßstab der Heiligen Schrift beurteilt: es wäre nicht nur ein Widerspruch in sich, sondern sogar Gotteslästerung, wenn man sagen würde, sie seien von Gott zu „einer neuen Schöpfung“ gemacht worden. Dennoch sind die Grundwahrheiten der Bibel für sie keine „Torheiten“, sondern sie stimmen ihnen begeistert zu und treten entschieden dafür ein.
Doch das widerspricht nicht der Aussage von 1. Korinther 2,14, wenn dieser Vers richtig gelesen und verstanden wird. Man beachte aufmerksam, dass es dort nicht etwa heißt: „Ein natürlicher Mensch nimmt nicht an, was Gottes ist“. Dann stünden Realität und Schrift tatsächlich im Widerspruch. Doch der Vers sagt, dass ein natürlicher Mensch das nicht annimmt, „was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit“. Und die oben beschriebene Realität veranschaulicht nur, wie minutiös zutreffend dieser Vers ist. Das, „was Gottes ist“, bekennen diese Männer zu glauben; für das „was des Christus ist“, treten sie begeistert ein, aber das, „was des Geistes Gottes ist“ ist ihnen persönlich fremd. Wenn ihnen daher das verborgene und übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes auf die Seelen der Erwählten vorgestellt wird, erschient ihnen das als „Torheit“, entweder als Mystizismus oder Fanatismus. Aber das erneuerte Denken reagiert ganz anders darauf.
Christus in euch
Wenn der Heilige Geist übernatürlich an Gottes Erwählten wirkt und ihnen Glauben gibt (Kol 2,12), bringt er eine „neue Schöpfung“ hervor. Errettung durch Glauben kommt zustande, wenn der Heilige Geist vollmächtig durch das Evangelium wirkt. Dann gestaltet er Christus in der Seele (Gal 4,19) und lässt den Gegenstand des Glaubens durch das Auge des Glaubens zur Seele vordringen. Dabei wird ein echtes „Bild“ Christi direkt auf die Seele aufgeprägt, die gerade erweckte wurde und deren Erweckung sie befähigt, Christus zu erkennen. So wird Christus im Herzen „gestaltet“, so wie ein äußerer Gegenstand im Auge abgebildet wird. Wenn ich sage, dass ich einen bestimmten Gegenstand „im Auge habe“, meine ich damit nicht, dass dieser Gegenstand sich tatsächlich örtlich in meinem Auge befinde - das wäre unmöglich -, aber er ist als Objekt in meinem Auge, d.h. ich sehe ihn. Wenn es also heißt, dass „Christus in uns gestaltet wird“ und dass „Christus in uns ist, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27), bedeutet das nicht, dass er, der leibhaftig zur Rechten Gottes sitzt, örtlich und substantiell in uns Gestalt annimmt. Nein, es bedeutet vielmehr, dass Christus, der Inhalt und Gegenstand unseres Glaubens, vom Heiligen Geist von oben wie Licht hereingelassen wird, sodass die Seele ihn mit dem Auge des Glaubens sieht, und zwar exakt so, wie das Wort Gottes ihn präsentiert. So wird Christus in uns „gestaltet“; und so „wohnt er durch den Glauben in unseren Herzen“ (Eph 3,17).
Was wir versucht haben, in diesem Kapitel darzulegen, wird in der sichtbaren Welt auf wunderbare Weise veranschaulicht. Es ist tatsächlich verblüffend zu entdecken, wie viele geistliche Werke Gottes im materiellen Bereich eine bildhafte Entsprechung haben. Wenn unsere Gesinnung geistlicher wäre und wenn unsere Augen schärfer Ausschau halten würden, dann würden wir überall in der sichtbaren Realität Zeichen und Symbole entdecken. Wenn man an einem sonnigen Tag in ein klares Gewässer schaut, erblickt man dort sein eigenes Gesicht in einer Repräsentation, die direkt dem Gesicht außerhalb des Wassers entspricht. Es handelt sich nicht um zwei Gesichter, sondern um nur eines, das Original und sein Abbild. Doch nur ein Gesicht wird gesehen, welches sein eigenes Bild auf das Wasser wirft. So geschieht es auch mit den Seelen von Gottes Erwählten: „Wir alle aber schauen (wie in einem Spiegel) mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn an und werden so verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht“ (2Kor 3,18). Möge doch sein Bild in uns für andere sichtbarer werden!
 
(Kapitel 8)

Zu Christus kommen: mit den Gefühlen

„Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen“ (Joh 6,37), erklärte der Herr Jesus. Vor Grundlegung der Welt gab der Vater Christus die Personen seines Volkes; nun, bei der Wiedergeburt, gibt er diesen Personen ein Herz für Christus. Das „Herz“ umfast die Gefühle wie auch den Verstand. Im vorigen Kapitel stellten wir heraus, dass kein Mensch zu Christus kommen will oder kann, solange er ihn nicht kennt; ebenso wahr ist, dass kein Mensch zu Christus kommen will oder kann, solange seine Gefühle von ihm entfremdet sind. Beim natürlichen Menschen ist nicht nur der Verstand in völlige Finsternis verhüllt, sondern sein Herz ist durch und durch feindlich gegen Gott. „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft (und nicht nur in Feindschaft) gegen Gott“ (Röm 8,7). „Feindschaft“ ist mehr als nur ein paar feindliche Gedanken; sie ist der Hass, der aus den ureigensten Gefühlen kommt. Wenn daher der Heilige Geist einen Menschen zu einer „neuen Natur in Christus“ macht, erneuert er nicht nur den Verstand, sondern verändert grundlegend das Herz.
Wenn Glaube uns einen Blick für geistliche Dinge gibt, wird das Herz mit Liebe zu diesen geistlichen Dingen erfüllt. Man beachte die Reihenfolge in Hebräer 11,13, wo im Zusammenhang mit dem Glauben der Patriarchen an die Verheißungen Gottes gesagt wird, dass sie von diesen Verheißungen „überzeugt waren“ und diese „willkommen geheißen“ haben. Das spricht von ihren innigen Gefühlen für diese Verheißungen. Wenn der Verstand durch den Heiligen Geist erneuert wird, wird das Herz mit einer zarten Sehnsucht zu Christus gezogen. Wenn es dem Heiligen Geist gefällt, der Seele die wunderbare Liebe Christi zu mir vorzustellen, dann wird eine Gegenliebe erweckt, die sich daraufhin ihm zuwendet. Man beachte die Reihenfolge in 1. Johannes 4,16: „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ Der Apostel stellt die Erkenntnis (nicht die theoretische, sondern geistliche) dem Glauben voran, und beides steht vor der Vereinigung und Gemeinschaft mit der Liebe Gottes. Das Licht und die Erkenntnis Christi und des Himmels, die wir durch die Überlieferung, Erziehung, vom Hören oder Lesen haben, erwärmt niemals die Zuneigung, sondern sie entsteht dann, wenn die „Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5). Welch ein Unterschied ist das!
Diese Seite unseres Themas wurde viel zu wenig betont. Das lässt sich leicht nachweisen, wenn man die Frage erwägt: Wie kommt es, dass der Vers „wer nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,16) hundert Mal öfter von Predigern und Traktatverfassern zitiert wird als die Aussage: „Wenn jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei anathema (d.h. verdammt)“ (1Kor 16,22)?
Glauben heißt lieben
Wenn wir die Ausgewogenheit der Wahrheit bewahren wollen, müssen wir sorgfältig beachten, wie der Heilige Geist das Wort „lieben“ im Neuen Testament anstelle von „glauben“ verwendet. Betrachten wir dazu die folgenden Verse: „Denen, die Gott lieben (nicht: an ihn glauben), wirken alle Dinge zum Guten mit“ (Röm 8,28); „... was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (nicht: an ihn glauben)“ (1Kor 2,9); „wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt“ (1Kor 8,3); „der Siegeskranz der Gerechtigkeit, den der Herr, der gerechte Richter, mir als Belohnung geben wird an jenem Tag: nicht allein aber mir, sondern auch allen, die sein Erscheinen liebgewonnen haben“ (2Tim 4,8); „... den Siegeskranz des Lebens ... den der Herr denen verheißen hat, die ihn lieben“ (Jak 1,12); „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe“ (1Jo 4,8).
„Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht“ (Joh 6,44). Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass dieses Ziehen zum Teil darin besteht, dass der Heilige Geist auf übernatürliche Weise den Verstand erleuchtet. Es besteht aber auch darin, dass der Heilige Geist die Zuneigungen zu Christus hinwendet. Er handelt an Sündern entsprechend ihrer Natur: nicht mit äußerer Gewalteinwirkung, wie bei störrischen Tieren, sondern durch eine geistliche Einflussnahme oder Kraft, die ihre inneren Anlagen bewegt: „Mit menschlichen Tauen zog ich sie, mit Seilen der Liebe“ (Hos 11,4). Der Heilige Geist überzeugt ihr Urteilsvermögen; zeigt ihnen, dass in Christus unendlich mehr Güte und Segen ist als in jedem Geschöpf oder in der sündigen Befriedigung fleischlicher Lüste; er gewinnt ihre Herzen für Christus, indem er ihnen einen Sinn gibt für Jesu alles überragende Vorzüglichkeit und seine völlige Genugsamkeit für alle ihre Bedürfnisse. Für die Gläubigen ist Christus „kostbar“ (1Petr 2,7) - so kostbar, dass sie bereit sind, der Welt zu entsagen und sich von allem zu trennen, damit sie „Christus gewinnen“ (Phil 3,8).
Wie wir in Kapitel 6 ausführlich gezeigt haben, sind die Gefühle des natürlichen Menschen von Gott entfremdet und an das Zeitliche und Sinnliche gebunden, sodass der Mensch nicht zu Christus kommen will. Obwohl Gottes Knechte den Sünder mit der liebreizenden Musik des Evangeliums locken, verschließt er sein Ohr wie die Natter. Der Herr veranschaulichte diese Situation im Gleichnis vom großen Gastmahl: „Und sie fingen alle ohne Ausnahme an, sich zu entschuldigen“ (Lk 14,18). Der eine zog sein Landstück vor, der andere sein Geschäft und ein Dritter sein familiäres Amüsement. Und nichts weniger als die allmächtige Kraft und Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Herzen kann den Fluch brechen, den Sünde und Satan über den Menschen gebracht haben, und nur der Heilige Geist kann sein Herz von vergänglichen Dingen wegwenden hin zu dem Unvergänglichen. Das tut der Heilige Geist in Gottes Erwählten durch seine verborgene und unwiderstehliche Wirksamkeit: Er wirkt an ihnen und zieht sie, indem er ihnen Christus vorstellt in der Anziehungskraft seiner Person und den unendlichen Reichtümern seiner Gnade, seine Liebe in ihre Herzen eingibt und sie dazu bewegt, seine freundlichen Einladungen und kostbaren Verheißungen zu ergreifen.
Wunderschön vorgebildet ist das in Hohelied 5,4: „Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung (der Tür), da wurden meine Gefühle für ihn erregt.“ Hier sehen wir, dass die „Tür des Herzens“ (Apg 16,14; „Lydia ... deren Herz öffnete der Herr“), oder genauer gesagt, die „Tür des Glaubens“ (Apg 14,27), noch für Christus verschlossen ist, und die von ihm geliebte Person ist noch abgeneigt und unwillig, aufzustehen und ihm zu öffnen (Hl. 5,3). Doch obwohl er nicht willkommen ist, kann seine Liebe nicht ausgelöscht werden, und so öffnet er die Tür sanft auch ohne Einladung (aber er bricht die Tür nicht auf). Seine Hand, die die Tür öffnet, ist ein Bild seiner wirksamen Gnade, die jedes Hindernis im Herzen seiner Erwählten beseitigt (vgl. Apg 11,21) und sie für sich gewinnt. Sein gnädiges Öffnen der Tür durch seinen Geist wirkt sich darin aus, dass „meine Gefühle für ihn erregt“ werden (vgl. Jes 63,15; Phim 12). Die Gedanken dieses Abschnitts verdanken wir dem unvergleichlichen Kommentar zum Hohenlied von John Gill.
Welch Wunder der Gnade ist geschehen, wenn das Herz wirklich von der Welt zu Gott gewandt wurde, vom eigenen Ich zu Christus, von der Liebe zur Sünde zur Liebe zur Heiligkeit! Dann ist erfüllt, was Gott als neuen Bund verheißen hat: „Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben“ (Hes 36,26, vgl. Hebr 8,10). Es gibt keinen Menschen, der das Geld so sehr liebt, dass er nicht bereit wäre, es abzugeben für etwas, was wertvoller ist als der Betrag, mit dem er es erwerben kann. Der natürliche Mensch hält materielle Dinge für wertvoller als geistliche, aber der Wiedergeborene liebt Christus mehr als alle anderen Dinge neben ihm, weil er nämlich zu einer „neuen Schöpfung“ gemacht worden ist. Es ist eine geistliche Liebe, die das Herz an Christus bindet.
Die Liebe der Wahrheit
Nicht einfach ein Erkennen der Wahrheit rettet, sondern eine Liebe der Wahrheit gehört notwendigerweise dazu. Das wird deutlich aus 2. Thessalonicher 2,10: „(Die Ungläubigen gehen verloren, weil) sie die Liebe der Wahrheit zu ihrer Errettung nicht angenommen haben.“ Diese Aussage müssen wir aufmerksam beachten, weil man ansonsten zu einer falschen Schlussfolgerung kommen könnte: Es geht nicht um eine Liebe zur Wahrheit, sondern um die Liebe der Wahrheit. Manche haben erstere, ihnen fehlt jedoch letztere. Ich habe Zeugen Jehovas kennen gelernt und mit Christadelphians [++Fußnote: In Dtl. „Urchristen“, sie lehnen die Gottheit und Präexistenz Christi ab] im Zugabteil gesessen, die so manchen wahren Christen beschämen: Nach einem langen Arbeitstag verbringen sie den ganzen Abend mit fleißigem Bibelstudium. Das taten sie jedoch nicht, um ihre Neugier zu befriedigen. Ihr Eifer währte schon jahrelang. Ihre Bibel war ihnen so lieb, wie einem frommen Katholiken sein Rosenkranz kostbar ist. Auch sie haben eine natürliche Liebe zu Christus, eine inbrünstige Hingabe an ihn, die jedoch nicht aus einem erneuerten Herzen kommt. So wie jemand in einer frommen katholischen Familie aufwächst und mit einer tiefen Verehrung und echte Liebe zur „Gottesmutter“ groß wird, so wächst auch jemand mit einer echten, aber bloß natürlichen Liebe zu Jesus auf, wenn er von evangelikalen Eltern erzogen und unterwiesen wird, die ihn von Klein auf sagen, dass Jesus ihn liebt.
Man kann einen historischen Glauben an alle Lehren der Schrift haben, ohne dass jemals die Kraft des Evangeliums persönlich erfahren wird. Man kann einen fleischlichen Eifer für Teile der Wahrheit Gottes (wie bei den Pharisäern) und doch kein erneuertes Herz haben. Man kann Freude empfinden beim oberflächlichen Annehmen des Wortes Gottes (so wie bei denen, die mit dem „steinigen Ackerboden“ verglichen werden; Mt 13,20), ohne eine „Wurzel der Sache“ (Hi 19,28) zu haben. Man kann Tränen vergießen beim Anblick des leidenden Heilands (wie die Frauen, die Christus auf dem Kreuzweg beweinten; Lk 23,27. 28), und doch kann das Herz gegenüber Gott hart wie ein Mühlstein sein (Hi 41,16). Man kann sich im Licht der Wahrheit Gottes freuen (wie Herodes; Mk 6,20), und doch nie der Hölle entkommen sein.
Deshalb besteht ein wichtiger Unterschied zwischen einer „Liebe zur Wahrheit“ und der „Liebe der Wahrheit“, und zwischen einer natürlichen Liebe zu Christus im Gegensatz zu einer geistlichen Liebe zu ihm. Doch wie kann ich sicher sein, ob ich die rechte Liebe habe? Wir können wie folgt zwischen diesen Arten der Liebe unterscheiden:
1.) Die eine Liebe ist teilweise, die andere unumschränkt: die eine schätzt die Lehren der Schrift, aber nicht die Pflichten, die dadurch auferlegt werden, liebt die Verheißungen der Bibel, aber nicht die Gebote, die Segnungen Christi, aber nicht seine Ansprüche, seinen priesterlichen Dienst, aber nicht seine königliche Herrschaft - das gilt jedoch nicht für den, der geistlich liebt.
2.) Die eine Liebe besteht gelegentlich, die andere dauerhaft: Die eine zieht sich zurück, wenn persönliche Interessen betroffen sind; die andere tut das nicht.
3.) Die eine Liebe ist unbeständig und schwach, die andere bleibend und kräftig: die eine vergeht schleunigst, wenn andere Freuden ihr den Rang streitig machen und dominiert nicht über die anderen Vorlieben, doch geistliche Liebe regiert das Herz und ist „stark wie der Tod“ (Hl 8,6).
4.) Natürliche Liebe bessert nicht, doch geistliche Liebe gestaltet Herz und Leben um.
Auch durch das Wesen des Zurückfallens wird deutlich, dass ein rettendes „zu Christus Kommen“ darin besteht, dass die Zuneigungen zu Christus gewendet und auf ihn fixiert werden: Ein solches Zurückfallen beginnt damit, dass sich das Herz von Christus entfernt. Man beachte, wie das Zurückfallen in Offenbarung 2,4 auf die eigentliche Ursache zurückgeführt wird: „Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast.“ Ob jemand wirklich und echt zu Christus umgekehrt ist, kann daran erkannt werden, wie sich der Verstand auf die Gefühle auswirkt. Ein treffendes Beispiel dafür ist Petrus, von dem es in Matthäus 26,75 heißt: „Und Petrus gedachte des Wortes Jesu, der gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“ Dieses „Gedenken“ war nicht nur ein sachliches Erinnern, sondern ein geistliches Denken an die erfahrene Gnade: Sein Herz wurde dadurch erweicht. So ist es stets, wenn der Heilige Geist an uns wirkt und uns erneuert. Man kann sich an eine frühere Sünde erinnern, ohne dadurch gebührend gedemütigt zu werden. Man kann des Todes Jesu in theoretischer und spekulativer Weise gedenken, ohne dass die Gefühle wirklich bewegt werden. Nur wenn unser Verstand vom Heiligen Geist erweckt wird, kann das Herz wirksam bewegt und verändert werden.
 
(Kapitel 9)

Zu Christus kommen: mit dem Willen

Die Seele des Menschen umfasst drei hauptsächliche Bestandteile: den Verstand, die Gefühle und den Willen. Wie bereits gezeigt, wurden alle drei Bereiche vom Sündenfall radikal in Mitleidenschaft gezogen: sie wurden verunreinigt und verdorben und dienen folglich nicht mehr Gott und Christus, sondern dem eigenen Ich und der Sünde. Doch bei der Wiedergeburt werden Verstand, Gefühl und Wille vom Heiligen Geist erweckt und gereinigt, zwar nicht sofort vollkommen, aber grundlegend, und dieser Prozess setzt sich dann das ganze Leben über in der Heiligung fort und gipfelt in der Vollkommenheit bei der Verherrlichung. Aufgrund der Schöpfungsordnung sind diese drei Bereiche einander untergeordnet, so wie der Schöpfer es vorgesehen hatte. Jeder der drei Bereiche wird von den anderen zwei beeinflusst. In 1. Mose 3,6 lesen wir: „Und die Frau sah, dass der Baum gut zur Speise“ war - der Verstand beurteilt - „und dass er eine Lust für die Augen“ war - die Gefühle reagieren - „und dass der Baum begehrenswert war, Einsicht zu geben“ - der Wille tritt ein; „und sie nahm von seiner Frucht und aß“ - all das führte schließlich zur Ausführung der Handlung.
Die Gnade Gottes wirkt über die verstandesmäßige Wahrnehmung durch den Glaubens; dadurch werden die Gefühle erwärmt und diese wiederum beeinflussen und bewegen den Willen. Am rettenden „zu Christus Kommen“ sind alle drei Bereiche der Seele aktiv beteiligt. „Zu Christus kommen“ ist unmittelbar eine Handlung des Willens (siehe Joh 5,40), doch der Wille neigt sich erst dann Christus zu, wenn der Verstand erleuchtet und die Gefühle erweckt worden sind. Der Heilige Geist tut folgendes:
1.) Er führt den Sünder zur Erkenntnis, wie dringend er Christus braucht. Dazu zeigt er ihm, in welch schrecklicher Rebellion er sich gegen Gott befindet und dass niemand als nur Christus diese Rebellion sühnen kann.
2.) Er erweckt im Herzen ein Sehnen nach Christus, und zwar indem er dem Menschen die Sünde überdrüssig macht und ihm Liebe zur Heiligkeit gibt.
3.) Wenn der Heilige Geist der erweckten und erleuchteten Seele gegeben hat, die Herrlichkeit und Vorzüglichkeit Christi zu sehen, und zu erkennen, dass nur Christus dem verlorenen Sünder retten kann, dann zieht der Heilige Geist den Willen dahin, Christus den höchsten Wert beizumessen, ihn mehr als alles andere zu lieben und sich auf ihn einzulassen.
So wie es bei der Planung aus Ausführung der Errettung eine göttliche Ordnung unter den Personen Gottes gibt, so gibt es eine solche Ordnung auch bei der Anwendung der Errettung. Gott, dem Vater, hat es gefallen, die Seinen vor ewigen Zeiten zum Heil zu erwählen, was der völlig hinlängliche ursächliche Grund für ihre Errettung ist und in jeder Hinsicht zum Erfolg führen wird. Es war Gott, der fleischgewordene Sohn, dessen Gehorsam und Leiden der verdienstliche Grund für ihre Errettung ist. Nichts kann seinem Werk hinzugefügt werden. Doch allein genommen rettet weder die Erwählung des Vater noch die Versöhnung des Sohnes irgendeinen Sünder in der Realität, außer wenn der Heilige Geist Christus auf den Sünder anwendet: Sein Werk ist die wirksame und unmittelbare Ursache ihrer Errettung. Ebenso wird der Sünder nicht errettet, wenn nur sein Verstand erleuchtet und seine Gefühle erweckt sind; denn auch der Wille muss bewegt und dahin gebracht werden, sich Gott zu ergeben und Christus zu ergreifen.
Die Reihenfolge der Wirkungen des Heiligen Geistes entspricht den drei großen Ämtern Christi, des Mittlers, als Prophet, Priester und König:
1.) Als Prophet wird er zuerst vom Verstand erfasst, wenn die Wahrheit Gottes von seinen Lippen empfangen wird.
2.) Als Priester nimmt ihn Herz und Gefühl des Sünders an und vertraut ihm, wenn seine glorreiche Person der Seele vorgestellt und liebgemacht wird durch das Werk der Gnade, das er für diesen Menschen vollbracht hat.
3.) Als Herrn und König muss sich unsere Wille ihm unterwerfen, sodass wir seiner Herrschaft untergeordnet sind, uns seinem Regiment ergeben und seine Gebote halten.
Der Herr Jesus wird sich mit nichts weniger zufrieden geben als unserem Herzensthron. Um das zu tun, wird der Heilige Geist unsere fleischlichen „Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, und jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam Christi“ (2Kor 10,4-5). Dann werden wir freiwillig und gern sein Joch auf uns nehmen, dieses Joch, das - wie ein alter Puritaner es ausdrückte - sanft, da mit Liebe gepolstert.
„Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht“ (Joh 6,44). Dieses „Ziehen“ bewirkt der Heilige Geist: erstens, indem er den Verstand erleuchtet; zweitens, indem er die Gefühle erweckt; drittens, indem er den Willen von der Knechtschaft der Sünde befreit und ihn Gott zuneigt. Durch das unwiderstehliche Werk der Gnade wendet der Heilige Geist die Neigung dieses Willens, die sich zuvor nur der Sünde und Eitelkeit zuwandte, und kehrt ihn zu Christus. „Dein Volk ist voller Willigkeit am Tage deiner Macht“ (Ps 110,3). Doch obgleich Gottes Macht auf einen Menschen wirken mag, verstößt der Heilige Geist nicht gegen das Vorrecht des Willens, frei zu handeln: Er überzeugt ihn moralisch. Er bezwingt die sündige Widerspenstigkeit des Willens. Er überwindet dessen Voreinstellung und gewinnt und zieht ihn durch die liebreizende Anziehungskraft der Gnade. C.H. Spurgeon sagt in einer Predigt über Johannes 6,37:
Gott behandelt den Menschen niemals so, als wäre der Mensch ein Tier; er zerrt ihn nicht mit Wagenseilen; er behandelt die Menschen als Menschen; und wenn er sie mit Seilen bindet, dann sind es Seile der Liebe und menschliche Taue. Ich mag Macht über den Willen eines anderen ausüben, und dennoch ist der Wille dieses anderen vollkommen frei, weil der Zwang ausgeübt wird in einer Art und Weise, die mit den Gesetzen des menschlichen Denkens übereinstimmt. Wenn ich jemandem zeige, dass eine bestimmte Handlungsweise vorteilhaft für ihn ist, wird er sich verpflichtet fühlen, sie zu befolgen, aber darin ist er vollkommen frei. Würde der Wille eines Menschen durch einen natürlichen Vorgang unterworfen oder gebunden - sollte beispielsweise das Herz des Menschen durch einen chirurgischen Eingriff von ihm genommen und herumgedreht werden - dann wäre das völlig unvereinbar mit menschlicher Freiheit, oder sogar mit der menschlichen Natur. Und denken einige vermutlich, das sei es was wir meinen, wenn wir von der Unwiderstehlichkeit der göttlichen Gnade sprechen. Doch wir meinen nichts dergleichen; wir meinen, dass Jehova-Jesus weiß, wie der ganze Mensch unterworfen werden kann: durch unwiderstehliche, an den Verstand gerichtete Argumente, durch mächtige, an die Gefühle appellierende Gründe, und durch den geheimnisvollen Einfluss des Heiligen Geistes, der auf alle Kräfte und Leidenschaften der Seele wirkt. Dann wird, wo einst Rebellion war, Gehorsam sein, wo einst Entschlossenheit gegen den Allerheiligsten herrschte, der Mensch die Waffen seiner Rebellion strecken und schreien: „Ich ergebe mich! Ich ergebe mich! Bezwungen von der souveränen Liebe und durch die Erleuchtung, die du mir erteilt hast, ergebe ich mich deinem Willen!“
Die vollkommene Übereinstimmung zwischen dem freien geistlichen Handeln eines Wiedergeborenen und der wirksamen Gnade Gottes, die ihn dorthin bewegt, wird deutlich aus 2. Korinther 8,16.17: „Gott aber sei Dank, der denselben Eifer für euch in das Herz des Titus gegeben hat; denn er nahm zwar das Zureden an, doch weil er noch eifriger war, ist er aus eigenem Antrieb zu euch gegangen.“ Titus wurde durch die Ermahnung des Paulus zu diesem Werk bewegt und war „aus eigenem Antrieb“ willens, es auszuführen; und doch war es „Gott, der denselben Eifer für euch in das Herz des Titus gegeben hat“. Gott beherrscht die inneren Gefühle und Handlungen des Menschen, ohne dabei ihre Freiheit oder Verantwortung anzurühren. Der Eifer des Titus entsprang spontan seinem eigenen Herzen und offenbarte seinen Charakter; dennoch war es Gott, der Titus dazu brauchte, seinen Wohlgefallen sowohl zu wollen als auch zu vollbringen (Phil 2,13).
Kein Sünder kommt in rettender Weise zu Christus oder nimmt ihn wahrhaft im Herzen an, solange nicht sein Wille frei in die schweren und selbstverleugnenden Bedingungen einwilligt (und nicht nur theoretisch zustimmt), unter denen Christus ihm in den Evangelien angeboten wird. Kein Sünder ist bereit, um Christi willen allem zu entsagen, das Kreuz auf sich zu nehmen und ihm auf dem Weg des unumschränkten Gehorsams zu folgen, solange das Herz ihn nicht wahrhaft wertschätzt als den „Schönsten unter Zehntausend“. Das wird niemand tun, dessen Verstand nicht übernatürlich erleuchtet und dessen Gefühle nicht übernatürlich erweckt worden sind. Offensichtlich würde sich niemand mit ehelichen Zuneigungen an eine Person binden, die er nicht für die beste wählbare hält. Wenn der Heilige Geist uns von unserer Leere überzeugt und uns Christi Fülle zeigt, unsere Schuld und seine Gerechtigkeit, unsere Unreinheit und seine reinigenden Verdienste seines Blutes, unsere Verdorbenheit und seine Heiligkeit, dann wird das Herz gewonnen und das Widerstreben des Willens überwunden.
Die heilige und geistliche Wahrheit Gottes findet in der natürlichen Seele nichts, was ihrer Art entspräche, sondern nur etwas, was ihr zuwider ist (Joh 15,18; Röm 8,7). Die Forderungen Christi sind zu demütigend für unseren natürlichen Stolz, zu durchforschend für das verhärtete Gewissen und zu streng für unsere fleischlichen Lüste. Ein Wunder der Gnade muss in uns gewirkt werden, ehe diese schreckliche Verdorbenheit unserer Natur, dieser furchtbare Zustand der Dinge, geändert wird. Dieses Wunder der Gnade besteht darin, den Widerstand der innewohnenden Sünde zu überwinden und die Wünsche und Sehnsüchte auf Christus hin auszurichten. Dann wird der Wille rufen, wie es in einem Lied heißt:
Nein - ich ergebe mich, ich ergebe mich
Ich kann keinen Widerstand mehr leisten
Ich sinke dahin, durch Liebe bis zum Tod gedrängt
Und ergreife Dich, den Sieger.
Eine wunderschöne Veranschaulichung dafür findet sich in Ruth 1,14-18. Naomi, eine zurückgefallene Gläubige, steht im Begriff, das ferne Land zu verlassen und (im bildhaften Sinne) ins Vaterhaus zurückzukehren. Ihre zwei Schwiegertöchter - alle drei Frauen sind verwitwet - möchten gern mit ihr gehen. Naomi bittet sie verantwortungsbewusst, „die Kosten zu überschlagen“ (Lk 14,28), anstatt sie zu drängen, nach ihrem ersten Impuls zu handeln. Sie weist ihre Schwiegertöchter auf die Schwierigkeiten und Prüfungen hin, die sie erwarten werden. Für Orpha war das zu viel: Ihre „Güte ist wie die Morgenwolke ist und wie der Tau, der früh verschwindet (Hos 6,4). So ist es auch bei denen, die mit dem steinigen Ackerboden verglichen werden und unzähligen anderen. In strahlendem Gegensatz dazu lesen wir von Ruth, dass sie sich an Naomi „hängt“ und sagt: „Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, von dir weg umzukehren! Denn wohin du gehst, dahin will auch ich gehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“
Welch Tiefe und Lieblichkeit der Gefühle sehen wir hier! Welch ganzherzige Selbstergebung! Sehen wir nur, wie Ruth freiwillig und bereitwillig ihre Heimat und Verwandtschaft verlässt und sich von allen natürlichen Bindungen losreißt; sie reagiert mit taubem Ohr auf das Drängen ihrer Schwiegermutter, zu ihren Göttern und ihrem Volk zurückzukehren (V. 15). Sehen wir, wie sie dem Götzendienst entsagt samt allem, was dem Fleisch lieb ist, um dem lebendigen Gott anzubeten und zu dienen. Sie achtet alles für Verlust um Gottes Gunst und Heil willen; und ihr künftiges Verhalten beweist, dass ihr Glaube echt war und ihr Bekenntnis aufrichtig. Ja, nichts als ein Wunder Gottes in ihrer Seele kann das erklären. Es war Gott, der in ihr wirkte „sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,13). Er zog sie mit Seilen der Liebe: Die Gnade triumphierte über das Fleisch. Solcher Natur ist jede echte Bekehrung - eine völlige Auslieferung des Denkens, Herzens und Willens an Gott und seinen Christus; und von solchen Bekehrten wird gesagt: „Diese sind es, die dem Lamm folgen, wohin es auch geht“ (Offb 14,4).
Die Beziehung zwischen der Erleuchtung unseres Verstandes und der Erweckung unserer Gefühle durch Gott einerseits und der Einwilligung unseres Willens andererseits wird deutlich aus Psalm 119,34: „Gib mir Einsicht, und ich will dein Gesetz bewahren und es halten von ganzem Herzen.“ C.H. Spurgeon sagt:
Eine Wiedergeburt - und echte Erkenntnis - führt sicher dazu, dass das fromm verehrt und ehrfürchtig im Herzen bewahrt wird. Der Geist Gottes bewirkt, dass wir den Herrn erkennen und etwas verstehen von seiner Liebe, Weisheit, Heiligkeit und Majestät; und das Ergebnis ist, dass wir das Gesetz ehren und unsere Herzen unter den Glaubensgehorsam ergeben. Der Verstand wirkt auf die Gefühle; er überzeugt das Herz von der Schönheit des Gesetzes, sodass die Seele das Gesetz mit all ihrer Kraft liebt; und dann offenbart es die Majestät des Gesetzgebers und die ganze Natur beugt sich vor seinem höchsten Willen. Nur der gehorcht Gott, der sagen kann: „Mein Herr, ich will dir dienen und das von ganzem Herzen tun“; und das kann niemand sagen, solange er nicht die innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist als freie Gabe empfangen hat.
Bevor wir zu unserem letzten Abschnitt kommen, müssen wir noch kurz auf 1. Petrus 2,4-5 eingehen: „Zu ihm kommend als zu einem lebendigen Stein ... lasst euch auch selbst als lebendige Steine aufbauen, als ein geistliches Haus ...“ Hat die souveräne Gnade Gottes mich dazu geneigt, zu Christus zu kommen? Dann ist es meine Pflicht und mein Interesse, in ihm zu „bleiben“ (Joh 15,4) - bei ihm zu bleiben in einem Leben des Glaubens, und seinen Geist in mir wohnen zu lassen, ohne ihn zu betrüben (Eph 4,30) oder sein Wirken zu unterdrücken (1Thes 5,19). Es ist nicht genug, dass ich einmal an Christus geglaubt habe; ich muss täglich in ihm und für ihn im Glauben leben (Gal 2,20). Wenn wir so beständig zu ihm kommen, werden wir „aufgebaut als ein geistliches Haus“. Auf diese Weise wird das Leben der Gnade erhalten, bis es ins Leben der Herrlichkeit übergeht. Der Glaube muss ständig aus seiner Fülle „Gnade um Gnade“ empfangen (Joh 1,16). Wir müssen uns täglich erneut ihm weihen und das Herz von ihm in Besitz nehmen lassen.
 
(Kapitel 10)

Auf Echtheit prüfen

Zu denen, die nie in rettender Weise zu Christus gekommen sind, wird er einst sagen: „Geht von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!“ (Mt 25,41). Diese schreckliche Aussage sollte uns fast das Blut in unseren Adern gefrieren lassen und uns motivieren, unsere Gewissen zu erforschen und unsere Herzen zu prüfen. Doch es ist sehr zu befürchten, dass bei vielen Lesern die stechende Kraft dieser Worte dadurch abgestumpft wird, da sie meinen, dass sie bereits zu Christus gekommen seien und denken, es sei töricht, das auch nur einen Augenblick lang zu bezweifeln.
Aber wer einsieht, dass nichts weniger auf dem Spiel steht als seine unsterbliche Seele, und dass die Entscheidung, ob man die Ewigkeit im Himmel bei den Glückseligen oder in der Hölle unter den Verdammten verbringt, davon abhängt, ob man wirklich und wahrhaftig „zu Christus gekommen ist“, der sollte die folgenden Abschnitte mit um so größerer Sorgfalt lesen.
Irrtum 1: die rechte Lehre
Viele vertrauen auf ihre richtige lehrmäßige Sicht von Christus. Sie glauben fest an seine Gottheit, seine heilige Menschennatur, sein vollkommenes Leben, seinen stellvertretenden Opfertod, seine leibhaftige Auferstehung, seine Himmelfahrt zur Rechten Gottes, seine gegenwärtige Fürsprache bei Gott und seine Wiederkunft. Das glaubten auch viele von denen, an die sich Jakobus in seinem Brief richtete und die er ermahnte, dass „auch die Dämonen glauben und zittern“ (Jak 2,19). Lieber Leser, rettender Glaube an Christus ist viel mehr als ein Zustimmen zu den biblischen Lehren über ihn; rettender Glaube ist das Hingeben der Seele an ihn, um errettet zu werden, und allem anderen zu entsagen und sich völlig ihm zu ergeben.
Irrtum 2: keine Zweifel
Viele verwechseln die Abwesenheit von Zweifel mit einem Beweis, in rettender Weise zu Christus gekommen zu sein. Sie halten etwas für selbstverständlich, wofür sie keine klaren Indizien haben. Lieber Leser, ein Mensch kann Christus nicht so besitzen wie Geld in einem Tresor oder Eigentumsurkunden bei einem Notar, die er höchstens einmal jährlich einsieht. Nein, Christus ist wie „Brot“, von dem man sich ernähren muss, das man kauen und schlucken muss, das im Inneren verdaut werden muss und durch das man ernährt, belebt und gestärkt wird (siehe Joh 6,53). Der leere Bekenner ernährt sich eher von einer guten Meinung von sich selbst als von Christus.
Irrtum 3: fleischliche Gefühle
Viele verwechseln Gefühlswallungen mit der Erweckung der Zuneigungen durch den Heiligen Geist. Wenn die Leute unter der Predigt des Wortes weinen, sind oberflächliche Beobachter sehr ermutigt, und wenn sie dann „nach vorn gehen“ und ein „Bußgebet“ sprechen und über ihre Sünden jammern und klagen, dann wird das als sicheres Zeichen hingenommen, das Gott sie in rettender Weise überführt habe. Aber ein übernatürliches Werk der Gnade Gottes geht viel tiefer als das. Tränen sind auf der Oberfläche und eine Sache der zeitweiligen Verfassung. Auch im natürlichen Bereich ist es so, dass solche, die etwas im intensivsten spüren, am wenigsten äußerlich davon erkennen lassen. Bei Gott ist das Weinen des Herzens erforderlich. Das Kennzeichen für eine Wiedergeburt ist eine gottgemäße Betrübnis über Sünde (2Kor 7,10). Dadurch wird die Herrschaft der Sünde über die Seele gebrochen.
Irrtum 4: Furcht
Viele verwechseln eine Furcht vor dem kommenden Zorn mit einer Abscheu gegen die Sünde. Niemand möchte in die Hölle kommen. Wenn der Verstand davon überzeugt wird, dass es die Hölle wirklich gibt und er auch nur annähernd an das unaussprechliche Grauen der dortigen Qualen glaubt, dann mag dieser Mensch in äußerstes Unbehagen geraten, sein Gewissen in Furcht stürzen und sein Herz in Angst geraten, wenn er die Aussicht auf die Leiden in ewigen Flammen erkennt. Eine solche Furcht mag eine beträchtliche Zeit andauern, ja, vielleicht verschwinden ihre Auswirkungen nie wieder. Ein solcher Mensch mag unter die Verkündigung eines treuen Predigers geraten und hören, wie er das tiefe Pflügen des Geistes Gottes beschreibt, und schlussfolgern, dass er dieses Wirken Gottes braucht, aber hat vielleicht doch nicht diese Liebe zu Christus, die sich in einem Leben zeigt, das in jedem Detail Gott ehren und verherrlichen will.
Irrtum 5: falscher Frieden
Viele verwechseln einen falschen Frieden mit einem echten. Wenn jemand eine natürliche Furcht vor dem Feuersee hat, von seinem eigenen Gewissen geplagt ist und die gehörte Predigt ihn noch mehr erschrecken lässt, ist er dann nicht bereit (wie ein Ertrinkender), jeden Strohhalm zu ergreifen? Wenn einer der heutigen falschen Propheten ihm sagt, er brauche nichts weiter zu tun als Johannes 3,16 zu glauben und das Heil sei ihm sicher, wie eifrig wird er - obgleich mit unverändertem Herzen - solche „Schmeicheleien“ (Jes 30,10; 2Tim 4,3) aufsaugen! In der Gewissheit, es sei nichts weiter erforderlich, als fest zu glauben, dass Gott ihn liebe und dass Christus für ihn starb und seine Last behoben sei, erfüllt ihn nun der Frieden. Und in neunzehn von zwanzig Fällen ist dieser „Frieden“ nichts als das Opium des Teufels, das sein Gewissen benebelt und ihn auf dem Weg zur Hölle betäubt. „Kein Friede den Gottlosen! spricht mein Gott“, und solange ein Mensch kein neues, reines Herz hat, wird er Gott nicht sehen (Mt 5,8).
Irrtum 6: eigene Zuversicht
Viele verwechseln eigene Zuversicht mit geistlicher Gewissheit. Es ist nur natürlich, dass wir optimistisch sind und hoffen, dass uns Gutes geschehe, und wie einst Haman meinen: Ich bin der „Mann, an dessen Ehrung der König Gefallen hat“ (Est 6,6-11). Vielleicht meinen wir: „Das trifft auf mich gewiss nicht zu; ich habe keine hohe Meinung von mir selbst, sondern achte mich als wertlose, sündige Kreatur.“ Ja, so trügerisch ist das Herz des Menschen, und so schnell ist der Teufel bei der Hand, um alles zu seinem eigenen Vorteil zu verdrehen, dass man in solchen demütigen Gedanken schwelgt und auf sie vertraut, um dem Herzen einzureden, dass alles in bester Ordnung sei. Auch der abgefallene König Saul begann mit einer geringen Selbstachtung (1 Samuel 9,21).
Irrtum 7: ungeistlicher Verheißungsglaube
Viele machen eine Verheißung zur alleinigen Grundlage ihres Glaubens und blicken nicht weiter als deren Buchstabe. So täuschten sich die Juden an dem Buchstaben des Gesetzes, denn sie sahen niemals die geistliche Bedeutung von Moses Dienst. In gleicher Weise lassen sich viele durch den Buchstaben solcher Verheißungen wie Apostelgeschichte 16,31; Römer 10,13 etc. täuschen und blicken nicht auf Christus in diesen Verheißungen: Sie sehen, dass er das Juwel in der Schachtel ist, aber vertrauen auf die äußere Überschrift und ergreifen niemals den wahren inneren Schatz. Doch wenn nicht die Person Christi ergriffen wird, wenn man sich nicht wirklich ihm als Herrn ausliefert, wenn nicht er selbst im Herzen angenommen wird, dann wird der Glaube an den Buchstaben der Verheißung nichts nützen.
Dieses Kapitel wurden geschrieben in der Hoffnung, dass es Gott gefallen möge, einige tote Bekenner aus ihrer falschen Sicherheit wachzurütteln. Aber damit niemand von den Kindern Gottes zu Fall gebracht werde, enden wir mit einem Auszug aus John Bunyans Come and Welcome to Jesus Christ:
Wie können wir wissen, wer wirklich zu Christus gekommen ist? Antwort: Schreiet er auf über die Sünde, spürt er deren Last als eine außerordentlich bittere Sache? Flüchtet er davor wie vor dem Angesicht einer tödlichen Giftschlange? Schreit er vor Verzweiflung über die Unzulänglichkeit seiner eigenen Gerechtigkeit, und verlangt er nach Rechtfertigung in den Augen Gottes? Fleht er, dass der Herr Jesus ihn retten möge? Sieht er in einem Tropfen von Christi Blut mehr Wert und Verdienst, ihn zu retten, als in allen Sünden der Welt, ihn zu verdammen? Hat er ein Empfinden dafür, was es bedeutet, gegen Jesus Christus zu sündigen? Gibt er Christus in dieser Welt den Vorrang und verlässt er die Welt um seinetwillen? Und ist er bereit (so Gott ihm hilft), Gefahren um Jesu Namens willen auf sich zu nehmen, aus Liebe zum Herrn? Liebt er die Heiligen? Wenn diese Dinge vorhanden sind, dann ist er zu Christus gekommen.


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