Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

Moderatoren: Der Pilgrim, Leo_Sibbing

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II,6,4

Diese Weissagungen sollten die Juden nach Gottes Willen so in sich aufnehmen, daß sie ihre Augen stracks auf Christum richteten, wenn sie nach Befreiung begehr ten. Und obwohl sie schändlich aus der Art schlugen, konnte doch die Erinnerung an die Hauptlehre nicht verlöschen, daß nämlich Gott, wie er dem David verheißen hatte, durch die Hand Christi die Kirche befreien werde und daß der Gnadenbund, in den Gott seine Erwählten aufgenommen hatte, auf diese Weise erst zu rechtem Bestand kommen werde. So kam es, daß bei Jesu Einzug in Jerusalem kurz vor seinem Sterben im Munde der Kinder der Gesang erscholl: „Hosianna dem Sohne Davids“ (Matth. 21,9). Denn wenn es schon die Kinder sangen, so muß es doch all gemein bekannt und gerühmt gewesen sein, daß das einzige Unterpfand der Barmherzigkeit Gottes auf die Ankunft des Erlösers aufbehalten sei! Deshalb gebietet auch Christus selber den Jüngern, um sie zum klaren und vollkommenen Glauben an Gott zu führen: „Glaubet an Gott — und glaubet an mich!“ (Joh. 14,1).

Gewiß gelangt eigentlich der Glaube durch Christus zum Vater; aber Christus will doch andeuten: selbst wenn der Glaube sich an Gott hält, muß er doch allmählich zunichte werden, wenn er nicht ins Mittel tritt und ihn in rechter Beständigkeit er hält. Auch ist ja Gottes Majestät viel zu erhaben, als daß sterbliche Menschen, die doch wie Würmlein am Boden kriechen, zu ihr hindurchdringen könnten. Die allgemeine Redeweise, daß der Glaube sich allein an Gott halte, nehme ich an, doch so, daß sie einer Verbesserung bedarf, weil ja Christus nicht umsonst das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ heißt (Kol. 1,15); wir werden doch eben durch die sen Lobpreis Christi daran gemahnt: erst wenn Gott uns in Christus begegnet, können wir ihn zu unserem Heil erkennen. Obwohl die Schriftgelehrten bei den Juden die Verheißungen der Propheten über den Erlöser mit falschen Erdichtungen verfinstert hatten, betrachtete es Christus doch als gewiß und sozusagen anerkannt, daß in dem allgemeinen Verderben keine andere Arznei da sei, auch kein anderer Weg zur Befreiung der Kirche, als die Erscheinung des Mittlers. Was Paulus lehrt: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Röm. 10,4), war zwar im Volke nicht nach Gebühr bekannt, aber doch geht gerade aus dem Gesetz und den Propheten aufs deutlichste hervor, wie wahr und gewiß es ist. Ich rede hier aber noch nicht näher über den Glauben, weil das besser an anderer Stelle geschieht. Nur soll der Leser dies unbedingt festhalten: Der erste Schritt zur Gottesfurcht ist es, Gott als unseren Vater anzuerkennen, der uns schützt, lenkt und erhält und uns schließlich zur ewi gen Erbschaft seines Reiches versammelt; hieraus aber wird offenbar, was wir be reits ausführten, nämlich: es gibt keine heilbringende Erkenntnis Gottes ohne Christus, und deshalb ist seit Anbeginn der Welt er allen Erwählten vor Augen ge stellt worden, daß sie auf ihn schauten und ihr Vertrauen auf ihn setzten.

In diesem Sinne schreibt Irenäus: der Vater, der ja unendlich ist, sei im Sohne endlich geworden, weil er sich unserem Maße anpaßte, damit nicht die Unermeßlichkeit seiner Herrlichkeit unser Herz ganz verzehre. Diesen nützlichen Ausspruch haben die Schwärmer nicht genügend bedacht, und deshalb zwängen sie ihn in ihre gott lose Phantasterei hinein, wonach in Christus bloß ein Teil der Gottheit sich befinde, der aus der ganzen Vollkommenheit Gottes herabflösse. Und dabei wollte doch Ire näus nichts anderes sagen, als daß Gott einzig in Christus begriffen werden könne. Es ist allezeit das Wort des Johannes wahr gewesen: „Wer den Sohn nicht hat, der hat auch den Vater nicht“ (1. Joh. 2,23). Denn es haben sich zwar viele Men schen gerühmt, die höchste Gottheit oder den Schöpfer Himmels und der Erden zu verehren; aber weil ihnen der Mittler fehlte, so konnten sie Gottes Barmherzigkeit nicht recht erkennen und darum auch nicht zu der Gewißheit gelangen, daß Gott ihr Vater sei. Sie hatten das Haupt nicht, nämlich Christus — und darum war die Erkenntnis Gottes bei ihnen leer und nichtig; daher kommt es, daß sie in groben und schändlichen Aberglauben verfallen sind und damit ihre Unwissenheit ans Licht brachten. So verkündigen heutzutage die Türken mit vollen Backen, ihr Gott sei der Schöpfer Himmels und der Erden, und doch setzen sie an des wahren Gottes Statt einen Götzen, weil sie mit Christus nichts zu tun haben wollen!

Siebentes Kapitel: Das Gesetz ist nicht dazu gegeben, um das Volk des Alten Bundes bei sich selbst festzuhalten, sondern um die Hoffnung auf das Heil in Christus bis zu seinem Kommen zu bewahren.

II,7,1

Das Gesetz ist etwa vierhundert Jahre nach dem Tode des Abraham (Anklang an Gal. 3,17) hinzugetan; aber es kam, wie man aus der langen Reihe von Zeugnissen, die wir anführten, ersehen kann, nicht, um das erwählte Volk von Christus wegzuführen, sondern vielmehr um sein Herz bis zu dessen Ankunft in Erwartung zu halten, sein Verlangen immer neu zu entfachen und es im Warten zu stärken, damit es nicht bei dem langen Verzug vom Wege abkomme! Unter „Gesetz“ verstehe ich nicht bloß die zehn Gebote, welche die Richtschnur bilden, wie man fromm und gerecht leben soll, sondern die ganze Gestalt der Gottesverehrung, wie sie Gott durch Moses Hand eingerichtet und gelehrt hat. Auch ist Mose als Gesetzgeber nicht dazu eingesetzt worden, die dem Abraham gewordene Verheißung des Heils aufzuheben. Ja, wir sehen, wie er immer wieder die Juden an jenen Gnadenbund erinnert, der einst mit ihren Vätern geschlossen war und dessen Erben sie waren; so war er gewissermaßen zur Erneuerung dieses Bundes gesandt. Das wurde vor allem aus den Zeremonien deutlich. Was konnte denn nichtiger und frevelhafter sein, als daß Menschen, um sich mit Gott zu versöhnen, ihm den garstigen Geruch vom Fett ihrer Tiere darbrachten, daß sie, um den Unflat ihrer Seele abzuwaschen, zur Be sprengung mit Wasser oder gar mit Blut ihre Zuflucht nahmen? Kurzum, der ganze gesetzliche Gottesdienst wäre doch — wenn man ihn an sich betrachtete und er nicht Schatten und Bilder enthielte, mit welchen die Wahrheit tatsächlich übereinstimmte — geradezu eine Lächerlichkeit! Deshalb wird nicht ohne sachlichen Grund in der Rede des Stephanus (Apg. 7,44) und auch im Hebräerbrief (8,5) mit so besonde rer Aufmerksamkeit jene Stelle in Betracht gezogen, in welcher Gott dem Mose ge bietet, alles zur „Stiftshütte“ Gehörige nach dem Urbild zu gestalten, das ihm auf dem Berge gezeigt worden war (Ex. 25,40). Hätte den Juden nicht ein geist liches Ziel sich dargeboten, nach dem sie sich ausrichten sollten, so hätten sie mit ihrem Gottesdienst ebensosehr Possenspiel getrieben wie die Heiden in ihren törich ten Unternehmungen! Unfromme Menschen, die sich nie ernstlich um rechte Frömmigkeit bemüht haben, können nur mit Verdruß von soviel verschiedenen gottesdienst lichen Gebräuchen hören; und sie wundern sich nicht nur, warum denn Gott das Volk des Alten Bundes mit einer solchen Menge von Zeremonien geplagt habe, sondern sie verachten sie und machen sich über sie lustig wie über kindisches Spiel! Das ist ver ständlich: sie achten ja nicht auf das Ziel, ohne das die im Gesetz gegebenen Bilder notwendig dem Urteil verfallen müssen: sie sind nichtig!

Aber jenes Urbild zeigt, daß Gott die Opfer nicht geboten hat, um seinen Verehrern mit irdischen Verrichtungen zu schaffen zu geben, sondern um ihr Herz emporzurichten. Das läßt sich schon aus Gottes Wesen ganz klar ersehen: es ist geist lich, und darum hat er auch nur an geistlicher Verehrung Wohlgefallen. Das bezeugen soviel Prophetenworte, welche den Juden ihre Torheit vorhalten, weil sie wähnen, vor Gott hätten irgendwelche Opfer irgendeinen Wert. Oder wollten die Propheten etwa dem Gesetz sein Ansehen rauben? Nicht im geringsten: sondern sie waren vielmehr seine rechten Ausleger und wollten auf diese Weise die Augen auf den eigentlichen Sinn und den entscheidenden Gesichtspunkt richten, von dem das Volk abirrte. Schon aus der den Juden dargebotenen Gnade kann man mit Sicherheit entnehmen, daß das Gesetz nicht ohne Christus gewesen ist. Denn Mose stellte ihnen als Zweck ihrer gnädigen Annahme eben dies vor Augen, daß sie „ein priesterlich Königreich“ sein sollten (Ex. 19,6), und das konnten sie doch gewiß nur erreichen, wenn eine stärkere und wirksamere Versöhnung zustande kam als aus dem Blut von Tie ren! Denn was wäre sinnloser, als daß Adamskinder, die doch in erblicher Verderb nis allesamt als Knechte der Sünde zur Welt kommen, zur Königswürde erhoben und solchermaßen Teilhaber der Herrlichkeit Gottes würden — wenn ihnen solch ein herrliches Gut nicht von ganz anderer Seite zukäme? Wie sollte auch die priesterliche Würde Menschen zuteil werden können, die doch im Unflat ihrer Laster Gott wider wärtig waren — sofern sie nicht in dem heiligen Haupte geweiht worden wären? Sehr fein kehrt daher Petrus diese Stelle bei Mose um, um zu zeigen, wie die Fülle der Gnade, von der die Juden unter dem Gesetz einen Vorgeschmack empfangen hatten, in Christus offenbar geworden ist: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum“ (1. Petr. 2,9). Die Umkehrung der Wörter („priesterliches Königreich“ — „königliches Priestertum“) soll zeigen, daß die, welchen Christus durch das Evangelium erschienen ist, mehr empfangen haben als ihre Väter, weil sie ja alle der priesterlichen und königlichen Würde teilhaftig geworden sind, so daß sie also im Vertrauen auf ihren Mittler frei vor Gottes Angesicht erschei nen dürfen!

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II,7,2

Hier ist noch beiläufig zu erwähnen, daß ja auch das Königtum, das schließlich im Geschlechte Davids aufgerichtet wurde, ein Teil des Gesetzes und unter dem Amt des Mose mit beschlossen war. So ergibt sich, daß Christus im ganzen levitischen Gesetz wie auch unter den Nachkommen des David dem Alten Volke wie in einem doppelten Spiegel vor die Augen gestellt war. Denn ohne ihn hätten sie ja, wie ich schon sagte, vor Gott gar nicht als Könige oder Priester dastehen können, da sie doch Knechte der Sünde und des Todes waren, befleckt von ihrer Verderbnis. Pau lus selbst bezeugt, daß dieser Satz wahr ist, wenn er sagt, die Juden seien gewisser maßen unter der Aufsicht eines „Zuchtmeisters“ gehalten worden (Gal. 3,24), bis der „Same“ gekommen sei, dem die Verheißung galt. Denn weil Christus den Män nern des Alten Bundes noch nicht näher bekannt war, so waren sie noch Kindern gleich, die in ihrer Schwachheit die volle Kunde von den himmlischen Dingen noch nicht ertragen konnten. Wie sie aber mittels der Zeremonien zu Christus geführt wurden, das wurde bereits ausgeführt und läßt sich außerdem aus sehr vielen Zeug nissen der Propheten noch besser erkennen. Die Leute mußten zwar alle Tage mit neuen Opfern vor Gott treten, um ihn zu versöhnen — und doch verheißt Jesaja, all ihre vergehen würden mit einem einzigen Opfer gesühnt werden (Jes. 53,5). Dieser Verheißung stimmt auch Daniel bei (Dan. 9,26f.). So gingen zwar die Hohenpriester aus dem Stamme Levi, die dazu verordnet waren, ins Allerheiligste; aber von dem einen Hohenpriester heißt es einmal, daß er durch einen Eid Gottes erkoren sei zu einem Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks (Psalm 110,4). Damals geschah die Salbung äußerlich, mit Öl — Daniel dagegen weissagt auf Grund eines Gesichts, die künftige Salbung werde anders aussehen! Ich will nicht mehr aufzählen: der Verfasser des Hebräerbriefes bringt ja vom vierten bis zum elften Kapitel seines Briefes den völlig ausgeführten und klaren Nachweis, daß die Zeremonien nichtig und leer waren, ehe man zu Christus kam.

Was die Zehn Gebote angeht, so müssen wir hier die entsprechende Aussage des Paulus festhalten. Er sagt nämlich: „Christus ist des Gesetzes Ende, wer an ihn glaubt, der ist gerecht“ (Röm. 10,4) und „Der Herr ist der Geist“ (2. Kor. 3,17), der den Buchstaben „lebendig macht“, der doch an sich tödlich wäre (2. Kor. 3,6). An der ersteren Stelle zeigt er: die Gerechtigkeit, die in den Geboten zum Ausdruck kommt, lehrt man solange vergeblich, bis sie uns Christus durch gnädige Zurechnung und durch den Geist der Wiedergeburt zuteil werden läßt. Deshalb nennt er Christus mit Recht die „Erfüllung“ oder auch das „Ende“ des Gesetzes; denn es würde uns ja gar nichts helfen, zu wissen, was Gott von uns verlangt, wenn uns nicht Christus, während wir unter untragbarem Joch und niederdrückender Last uns zerarbeiten und zu Boden gedrückt werden, zu Hilfe käme. An anderer Stelle lehrt Paulus, das Gesetz sei „um der Übertretungen willen“ gegeben (Gal. 3,19), nämlich um die Menschen ihrer Verdammnis zu überführen und sie demütig zu machen. Da nun dies die wahre und einzige Vorbereitung ist, um Christus zu suchen, so stimmen die Aus drücke, die Paulus braucht, trotz ihrer Verschiedenheit tadellos zusammen. Aber weil er mit verkehrten Lehrern zu kämpfen hatte, die so taten, als verdienten wir uns die Gerechtigkeit durch Gesetzeswerke, so mußte er, um ihrem Irrtum entgegenzu treten, zuweilen das bloße Gesetz streng für sich nehmen, obwohl es sonst von dem Bunde, der uns aus Gottes Gnaden die Kindschaft verleiht, nicht zu trennen ist.

II,7,3

Jetzt ist es aber der Mühe wert, zu überdenken, wie wir gerade dadurch, daß wir im Sittengesetz (lex moralis) unterwiesen sind, nur um so unentschuldbarer werden, damit uns unsere eigene Schuldverhaftung dazu antreibt, Vergebung zu suchen. Ist es wahr, daß uns im Gesetze vollkommene Gerechtigkeit gelehrt wird, so folgt daraus, daß nur dessen gänzliche Erfüllung vor Gott vollkommene Gerechtigkeit ist, kraft deren der Mensch vor dem himmlischen Gericht als gerecht gilt und behan delt wird. So ruft Mose nach der Verkündung des Gesetzes ohne Bedenken Him mel und Erde zu Zeugen darüber an, daß er Israel vorgelegt habe „Leben und Tod, Gut und Böse“ (Deut. 30,19). Auch läßt sich nicht leugnen, daß der rechte Gesetzes-gehorsam die ewige Seligkeit als Belohnung erwarten kann, so wie sie der Herr verheißen hat. Aber auf der anderen Seite müssen wir dann auch zusehen, ob denn wir solchen Gehorsam irgendwie leisten, auf dessen Verdienst sich jene Zuversicht auf eine Belohnung gründen ließe. Denn was soll es uns helfen, wenn wir sehen, daß auf der Erfüllung des Gesetzes der Lohn des ewigen Lebens liegt — wenn nicht auch klar ist, ob wir denn auf diesem Wege zum ewigen Leben gelangen können!

Aber an dieser Stelle zeigt sich die Schwachheit des Gesetzes — denn es wird ja in keinem von uns jene Erfüllung des Gesetzes gefunden, und deshalb sind wir von den Verheißungen des Lebens ausgeschlossen und dem Fluch preisgegeben. Ich sage dabei nicht, was nur tatsächlich geschieht, sondern was notwendig ist; denn das, was das Gesetz lehrt, geht weit über Menschenkraft — und so kann der Mensch wohl von ferne die dem Gesetz beigelegten Verheißungen erschauen, aber keinerlei Frucht aus ihnen ziehen. Da bleibt also allein dies, daß er aus der Größe dieser Verheißungen sein eigenes Elend besser erkenne, indem er erwägt, daß ihm alle Hoffnung auf die Seligkeit abgeschnitten ist und der Tod ihm unausweichlich droht. Und dann stehen da auf der anderen Seite die furchtbaren Drohungen, die nicht einzelne von uns, sondern uns alle rettungslos binden und umstricken — sie stehen da und verfolgen uns mit unerbittlicher Härte, so daß wir im Gesetz den Tod unmittelbar vor Augen haben!

II,7,4

Schauen wir also allein auf das Gesetz, so müssen wir unabwendbar verzagen, zuschanden werden und verzweifeln: denn es verdammt und verflucht uns alle und hält uns von der Seligkeit, die es denen verheißt, die es recht halten, gerade weitab! „So treibt also der Herr“, mag vielleicht jemand sagen, „auf diese Weise mit uns Spott? Denn was ist das anders als Spott, uns Hoffnung auf die Seligkeit zu machen, zu ihr einzuladen und zu ermuntern, sie uns zu bezeugen, als ob sie uns be reitet wäre — wo doch währenddessen der Zugang dazu verschlossen und unzugäng lich ist?“ Ich antworte: Gewiß hängen die Verheißungen des Gesetzes, die ja an Bedingungen geknüpft sind, von dem vollkommenen Gesetzesgehorsam ab, der tat sächlich nirgendwo zu finden ist. Aber trotzdem sind sie nicht ohne Absicht gegeben. Haben wir nämlich einmal die Erfahrung gemacht, daß sie an uns ohne Kraft und Wirkung sind, wenn uns nicht Gott selber, abseits von allem Blick auf die Werke, aus lauter Güte in Gnaden annimmt, und haben wir diese Gnade, die uns im Evan gelium dargeboten wird, im Glauben angenommen — so bleiben diese Verhei ßungen mitsamt der an sie geknüpften Bedingung nicht unwirksam. Denn dann lässt uns Gott alles aus freier Gnade zuteil werden und beweist seine Freundlichkeit auch darin, daß er unseren unvollkommenen Gehorsam nicht verwirft, uns erläßt, was an der Erfüllung noch mangelt, und uns, als hätten wir selbst die gestellte Bedingung erfüllt, an der Frucht der Gesetzesverheißungen teilhaben läßt. Aber diese Frage muß bei der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben noch näher behandelt werden, und deshalb wollen wir sie vorerst nicht weiter treiben.

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II,7,5

Wir sagten aber: es ist uns unmöglich, das Gesetz zu erfüllen. Das muß noch mit wenigen Worten näher beleuchtet und zugleich bekräftigt werden. Denn es gilt im allgemeinen als ein ganz widersinniger Satz, so daß Hieronymus ihn gar ohne Bedenken mit dem „Anathema“ (Verfluchungswort) belegt hat. Ich will mich aber nicht mit der Ansicht des Hieronymus aufhalten, sondern nach der Wahrheit fragen. Ich will auch hier keine langen Umschweife machen mit der Frage, wievielerlei Arten von „Möglichkeiten“ es gibt. Ich nenne das „unmöglich“, was nach Gottes Ordnung und Ratschluß weder je hat sein können, noch je wird sein können. Gehen wir auch in die äußerste Vergangenheit zurück, so werden wir doch nie einen Heiligen finden, der — in diesem Todesleibe! — in der Liebe zu solchem Grad von Vollkommenheit gelangt wäre, daß er wirklich Gott liebe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus ganzem Gemüte und aus allen seinen Kräften“, ja wir werden nie einen finden, der nicht mit seiner Begierde zu kämpfen gehabt hätte! Wer will da widersprechen? Ich weiß freilich, was für Heilige uns törichter Aberglaube vor stellen will — denen kommen gewiß die Engel im Himmel an Reinheit kaum gleich! Aber das steht mit der Schrift und der Erfahrung im Widerspruch. Ich behaupte aber weiter: es wird auch in Zukunft keiner zum Ziel der Vollkommenheit ge langen, wenn er nicht der Last des Körpers entledigt ist!

Dafür sind zunächst klare Zeugnisse der Schrift vorhanden. So sagt Salomo: „Es ist kein Mensch auf Erden gerecht, daß er nicht sündige“ (1. Könige 8,46). Und David bekennt: „Vor dir ist kein Lebendiger gerecht“ (Ps. 143,2). Das gleiche be stätigt Hiob an sehr vielen Stellen (z. B. Hiob 9,2; 25,4). Am deutlichsten redet Paulus: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch“ (Gal. 5,17). Den Nachweis dafür, daß alle, die unter dem Gesetze sind, dem Fluch unterworfen sind, führt er damit, daß ja geschrieben steht: „verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in allem dem, was gefordert wird im Buche des Gesetzes, daß er es tue“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Damit deutet er natürlich an, ja, er betrachtet es als allgemein zugestanden, daß niemand darin bleiben kann. Was aber in der Schrift gesagt ist, das muß fortdauernd als bleibend und notwendig gelten. Mit einer ähn lichen Spitzfindigkeit quälten die Pelagianer den Augustin: Gott tue Unrecht, wenn er mehr befehle, als die Gläubigen vermöge seiner Gnade leisten könnten. Augustin gestand ihnen, um dieser Schmähung aus dem Wege zu gehen, zu, der Herr könne gewiß, wenn er wolle, den sterblichen Menschen bis zur Reinheit der Engel erheben, aber er habe es eben nie getan und werde es auch nie tun, weil er es in der Schrift anders ausgesprochen habe. Das leugne ich auch nicht; aber ich füge doch hinzu, daß man nicht die Befugnis hat, unangemessen über Gottes Macht zu reden, um damit seiner Wahrheit sich zu widersetzen. Deshalb ist es ganz unzweideutig geredet, wenn man sagt, unmöglich sei das, was nach dem Zeugnis der Schrift nicht geschehen werde. Wird aber über das Wort selbst gestritten, so bedenke man, daß der Herr seinen Jüngern, die ihn fragen, wer denn überhaupt selig werden könne, zur Ant wort gibt: „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge mög lich (Matth. 19,25f.). Für die Behauptung, daß wir in diesem Fleische Gott nie die Liebe erweisen, die wir ihm schuldig sind, bringt Augustin einen sehr gut begrün deten Beweis: „Die Liebe folgt der Erkenntnis, so daß also niemand Gott vollkom men lieben kann, der nicht zuvor seine Güte voll und ganz erkannt hat. Solange wir aber in der Welt auf der Wanderschaft sind, schauen wir ‚durch einen Spiegel und in einem dunklen Wort’ — und deshalb muß unsere Liebe auch unvollkommen blei ben!“ (Am Ende der Schrift „Vom Geist und Buchstaben“ und auch sonst öfters). Es soll deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß uns in diesem Fleische die Erfüllung des Gesetzes unmöglich ist, sofern wir auf die Ohnmacht unserer Natur schauen. Das werden wir auch an anderer Stelle noch mit den Worten des Apostels Paulus (Röm. 8,3) beweisen.

II,7,6

Aber damit dies alles klarer ins Licht trete, wollen wir das Amt und die Anwen dung des Gesetzes, das man das „sittliche“ nennt, in kurzer Ordnung durchgehen. Es besteht, soweit ich erkennen kann, in drei Stücken.

Die erste Anwendung des Gesetzes besteht darin, daß es uns Gottes Ge rechtigkeit anzeigt, also was vor Gott wohlgefällig ist, und auf diese Weise jeden einzelnen an seine Ungerechtigkeit erinnert, sie ihm zur Gewißheit macht und ihn schließlich überführt und verdammt. So muß der Mensch in seiner Blindheit und im Rausche seiner Selbstliebe zur Erkenntnis und zugleich auch zum Bekenntnis seiner Schwachheit und Unreinigkeit gebracht werden; denn wenn er nicht deut lichst seiner Nichtigkeit überführt wird, so bläht er sich in toller Zuversicht auf seine eigene Kraft auf und läßt sich nie dazu bringen, die Ohnmacht dieser Kraft zu empfinden, da er sie nach seinem eigenen Gutdünken einschätzt. Sobald er aber seine Kraft mit der Schwere des Gesetzes vergleicht, findet er genug Anlaß, seinen Stolz abzulegen. Denn mag er von seiner Kraft auch eine noch so hohe Meinung haben, so merkt er doch, wie sie unter solcher Last alsbald keucht, danach wankt und glei tet und schließlich niedersinkt und ermattet. Hat so das Gesetz an ihm sein Lehramt ausgeübt, so legt er jene Anmaßung ab, die ihn zuvor blendete. So kann er auch von dem anderen Gebrechen, mit dem er, wie wir sagten, zu kämpfen hat, nämlich der Hoffart (superbia), heil werden. Solange er sein eigener Richter sein darf, hält er Heuchelwerke für Gerechtigkeit; damit gibt er sich zufrieden und lehnt sich nun mit wer weiß welcher selbstgemachten Gerechtigkeit gegen Gottes Gnade auf. Wird er aber genötigt, sein Leben auf der Goldwaage des Gesetzes zu prüfen, so zerfällt der Wahn erträumter Gerechtigkeit, und er gewahrt, wie er durch einen unermeßlichen Abstand von der wahren Heiligkeit getrennt und auf der anderen Seite von zahllosen Lastern befleckt ist, von denen er zuvor rein schien. Denn die bösen Begierden sind im Menschen so tief verborgen und so undurchsichtig, daß sie seinen Blick leicht täuschen. So sagt auch der Apostel nicht ohne Grund, er habe von der Lust nichts gewußt, wenn ihm das Gesetz nicht gesagt hätte: Laß dich nicht ge lüsten (Röm. 7,7). Denn wenn das Gesetz die Lust nicht aus ihrem Schlupfwinkel hervorholte, so richtete sie den armen Menschen im verborgenen zugrunde, ehe er ihr tödliches Geschoß bemerkt.

II,7,7

So ist also das Gesetz einem Spiegel gleich, in dem wir unsere Ohnmacht und aus ihr unsere Ungerechtigkeit, wiederum aus diesen beiden unsere Verdammnis erblicken sollen, so wie uns ein Spiegel die Flecken und Runzeln unseres leiblichen Angesichts vor Augen hält. Denn wer nicht befähigt ist, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen, der muß notwendig im Schlamm der Sünde steckenbleiben. Der Sünde aber folgt stets die Verdammnis. Je größer also die Übertretung ist, deren uns das Ge setz zeiht und überführt, desto schwerer ist auch das Gericht, dessen es uns schuldig erscheinen läßt. Hierhin gehört auch das Wort des Apostels: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm. 3,20); denn er beschreibt an dieser Stelle bloß das erste Amt des Gesetzes, insofern es sich an solchen Sündern erzeigt, die noch nicht wiedergeboren sind. Dazu sind auch Stellen zu nehmen wie: „Das Gesetz ist zwischen eingekommen, damit die Sünde mächtiger würde“ (Röm. 5,20), oder auch die Be merkung, es sei ein „Amt des Todes“ (2. Kor. 3,7), das da „Zorn anrichtet“ (Röm. 4,15) und „tötet“. Denn ohne Zweifel wird die Ungerechtigkeit desto größer, je deut licher das Gewissen um sie weiß: denn jetzt kommt zur Übertretung noch der bewußte Widerstand gegen den Gesetzgeber hinzu. So erregt das Gesetz also schließlich Gottes Zorn zum Verderben des Sünders, denn aus sich vermag es ja nichts anders als anzuklagen, zu verdammen und zugrunde zu richten. Es geht, wie Augustin schreibt: „Fehlt die Gnade des Heiligen Geistes, so ist das Gesetz nur da, um anzuklagen und zu töten“ (Von der Züchtigung und Gnade 1,2). Wenn man das sagt, so geschieht damit dem Gesetz kein Eintrag, und es verliert auch nichts von seiner hohen Würde. Ja, wenn unser Wille befähigt und geeignet wäre, ihm gänzlich zu gehorchen, so würde ja seine Kenntnis allein schon voll und ganz zur Seligkeit ausreichen; da aber unsere fleischliche, verderbte Natur mit Gottes geistlichem Gesetze sich in Feind schaft und offenem Streit befindet und auch durch seine Zucht nicht gebessert wird, so kann das Gesetz nur eine Ursache zur Sünde und zum Tode werden, obwohl es — sofern es geeignete Hörer gefunden hätte — doch zum Heil gegeben ist (Vergleiche Ambrosius, Von Jakob und dem seligen Leben, 1). Denn wir werden ja alle als Ge setzesübertreter überführt: je klarer das Gesetz uns also Gottes Gerechtigkeit vor Augen stellt, desto mehr deckt es anderseits unsere eigene Ungerechtigkeit auf; und je gewisser es der Gerechtigkeit Leben und Seligkeit als Lohn verheißt, desto sicherer macht es auch das Verderben der Ungerechten!

Jene Sprüche sind also dem Ansehen des Gesetzes nicht im mindesten abträglich, ja sie dienen sogar in hervorragender Weise dazu, Gottes Wohltat zu loben und zu erheben. Denn gerade aus ihm geht ja klar hervor, daß unsere eigene Bosheit und Verderbtheit uns hindert, die Seligkeit des Lebens zu genießen, die uns im Ge setz öffentlich verheißen wird! Um so herrlicher wird uns die Gnade Gottes, die uns ohne Mitwirkung des Gesetzes zu Hilfe kommt, um so liebenswerter wird uns Gottes Barmherzigkeit, die uns die Gnade zuwendet; aus ihr lernen wir, daß er nimmermehr müde wird, uns Gutes zu tun und uns alle Tage neu mit seiner Gnade zu überschütten.

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II,7,8

Wenn uns nun im Zeugnis des Gesetzes unser aller Ungerechtigkeit und Verdammnis versichert wird, so geschieht das — wenn wir es recht anzuwenden lernen — nicht dazu, daß wir in Verzweiflung versinken und uns trostlos ins Verderben stürzen. Gewiß werden die Gottlosen auf diese Weise verängstigt, aber das geschieht doch wegen ihrer inneren Verhärtung. Bei den Kindern Gottes muß doch wohl eine an dere Erziehungsabsicht bestehen. Wir sind gewiß nach dem Zeugnis des Apostels durch das Urteil des Gesetzes verdammt, „auf daß aller Mund gestopft werde und alle Welt Gott schuldig sei“ (Röm. 3,19). Aber der gleiche Apostel lehrt doch an anderer Stelle: „Gott hat alle verschlossen unter den Unglauben“ — nicht daß er alle zugrunde richte oder umkommen ließe, sondern —, „daß er sich aller erbarme!“ (Röm. 11,32) — nämlich, daß sie alle die törichte Meinung von ihrer eigenen Kraft fahren lassen und einsehen, daß sie allein durch Gottes Hand stehen und Bestand haben — daß sie nackt und bloß zu seiner Barmherzigkeit ihre Zuflucht nehmen, auf sie allein sich stützen, sich in ihr gänzlich bergen, sie allein als Gerechtigkeit und Verdienst für sich in Anspruch nehmen, da sie doch in Christus allen dargeboten wird, die nach ihr im rechten Glauben verlangen und wartend ausschauen. Gott erscheint in den Vorschriften des Gesetzes allein als Vergelter für vollkommene Gerechtig keit, deren wir alle ermangeln — und auf der anderen Seite erscheint er als der strenge Richter für alle Vergehen. In Christus aber ist sein Angesicht voll Gnade und Freundlichkeit und leuchtet elenden und unwürdigen Sündern!

II,7,9

Wieso nun das Gesetz dahin wirkt, daß wir Gott um Hilfe und Gnade anrufen, das beschreibt Augustin häufig. So schreibt er an Hilarius: „Das Gesetz gebietet, damit wir versuchen, das Gebotene zu tun, und in unserer Schwachheit unter dem Gesetz ermatten, um dann die Hilfe der Gnade anrufen zu lernen“ (Brief 157). Wei ter schreibt er an Asellicus: „Der Nutzen des Gesetzes besteht darin, daß es den Menschen von seiner Schwachheit überführt und ihn antreibt, als Heilmittel die Gnade anzurufen, die in Christus ist“ (Brief 196). Ähnlich an den Römer Innocentius: „Das Gesetz gebietet — und die Gnade reicht die Kraft zum Wirken dar!“ (Brief 177). Oder an Valentinus: „Es gebietet Gott, was wir nicht vermögen, da mit wir erkennen, was wir von ihm erbitten sollen“ (Von der Züchtigung und Gnade — tatsächlich „Von der Gnade und dem freien Willen“, 16). Oder: „Das Ge setz ist gegeben, um euch schuldig zu machen; seid ihr schuldig, so sollt ihr euch fürchten, in eurer Furcht aber um Vergebung bitten — und alles Vertrauen auf eigene Kraft verlieren“ (Zu Psalm 70). Auch wieder: „Das Gesetz ist dazu gegeben, das Große klein zu machen, um dir zu zeigen, daß du aus dir selber nicht die Kräfte hast zur Gerechtigkeit, so daß du ohnmächtig, unwürdig und arm deine Zuflucht zur Gnade nimmst.“ Danach richtet er sich an Gott selber: „So laß es geschehen, Herr, so mache es, barmherziger Herr: gebiete, was nicht erfüllt werden kann, ja gebiete, was nur durch deine Gnade erfüllt werden kann, so daß, wenn die Menschen es in eigener Kraft nicht erfüllen können, jeder Mund gestopft werde und niemand sich groß erscheine. So sollen alle ganz klein werden, und alle Welt soll vor Gott schul dig sein!“ (Zu Psalm 118, Predigt 27). Aber es ist eigentlich verkehrt, daß ich so viele Zeugnisse aufführe, wo doch der fromme (sanctus!) Mann (Augustin) ein be sonderes Buch über diese Dinge geschrieben hat, dem er den Titel „Vom Geist und Buchstaben“ gab. In diesem Büchlein macht er indessen die zweite Anwendung des Gesetzes nicht hinreichend deutlich, weil er sie vielleicht von dieser ersten abhängig dachte oder sie auch nicht richtig verstanden oder nicht über die Worte verfügt hat, um sein sonst sichtbares rechtes Verständnis klar und lichtvoll darzustellen.

Indessen vollbringt das Gesetz dies sein erstes Amt auch in den Gottlosen. Sie kommen zwar nicht soweit wie die Kinder Gottes, daß sie ihr Fleisch erniedrigen, am inneren Menschen wiedergeboren werden und neu aufblühen, sondern verfallen auf den ersten Schrecken hin in tiefe Verzweiflung; aber die Gerechtigkeit des gött lichen Urteils tut sich doch darin kund, daß auch ihr Gewissen in solche tiefe Erregung gerät. Sie möchten wohl immer gern gegen Gottes Urteil eine Ausflucht suchen — aber selbst jetzt, wo das Gericht selber noch nicht sichtbar ist, geraten sie doch durch das Zeugnis des Gesetzes und ihres eigenen Gewissens in Schrecken und beweisen an sich selbst, was sie verdient haben!

II,7,10

Das zweite Amt des Gesetzes besteht darin, daß Menschen, die nur gezwungen um Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sich kümmern, beim Hören der harten Drohungen in ihm schließlich wenigstens durch die Furcht vor der Strafe im Zaum gehalten werden. Das geschieht aber nicht etwa, weil ihr Herz innerlich bewegt oder berührt würde, sondern weil ihnen gleichsam ein Zügel angelegt ist, so daß sie ihre Hand vom Vollzug des äußeren Werks zurückhalten und ihre Bosheit in sich selbst verschließen, die sie sonst mutwillig würden losbrechen lassen. Sie werden da durch gewiß nicht besser, auch nicht gerechter vor Gott. Denn sie wagen zwar aus Angst und Beschämung nicht auszuführen, was sie in ihrem Herzen bedacht haben, oder ihren wilden Begierden freien Lauf zu lassen — aber ihr Herz ist doch nicht bereit, Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen; ja, je mehr sie sich zurückhalten, desto heftiger entbrennen, glühen, kochen sie inwendig, wären bereit, alles zu tun und zu jeder Tat zu schreiten, wenn der Schrecken des Gesetzes sie nicht zurückhielte. Aber nicht allein dies: sie hassen auch das Gesetz selber aufs heftigste, verfluchen Gott, den Gesetzgeber, und möchten ihn, wenn sie könnten, am liebsten zunichte machen — denn sie können es nicht ertragen, daß er von uns verlangt, zu tun, was recht ist, und daß er den Verächtern seiner Majestät vergilt. Alle, die noch nicht wiederge boren sind, freilich die einen versteckter, die anderen offener, sind so gesinnt, daß sie nicht etwa in freiwilligem Gehorsam, sondern gegen ihren Willen und Widerstand einzig und allein durch die Übergewalt der Angst dazu kommen, sich um das Gesetz Mühe zu geben.

Und doch ist diese erzwungene und herausgepreßte Gerechtigkeit zur Erhaltung der öffentlichen Gemeinschaft der Menschen erforderlich; für ihren Frieden wird hier Vorsorge getroffen, indem verhindert wird, daß alles im Tumult durcheinander kommt; denn dies würde geschehen, wenn jeder tun dürfte, was er wollte. Indessen ist diese Erziehung auch für die Kinder Gottes heilsam, solange sie vor ihrer Be rufung des Geistes der Heiligung ermangeln und sich in der Torheit ihres Fleisches wohl sein lassen. Solange sie nämlich durch die Angst vor der göttlichen Vergeltung vor der größten Leichtfertigkeit bewahrt werden, sind sie zwar im Herzen noch ungezähmt und kommen deshalb zunächst sehr wenig vorwärts, aber sie gewöhnen sich doch gewissermaßen daran, das Joch der Gerechtigkeit zu tragen, so daß ihnen also, wenn sie berufen werden, die Zucht nicht etwas Unbekanntes ist und sie ihr nicht unkundig als Neulinge gegenüberstehen. An dieses Amt des Gesetzes scheint der Apostel zu denken, wenn er sagt, das Gesetz sei nicht dem Gerechten gegeben, „sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, Vatermördern und Muttermördern, Totschlägern, Hurern, Knaben schändern, den Menschendieben, Lügnern, Meineidigen, und so etwas mehr der heil samen Lehre zuwider ist“ (1. Tim. 1,9f.). Damit zeigt er, daß es bestimmt ist, um die wilden und sonst maßlos ausbrechenden Begierden des Fleisches zurückzuhalten.

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Joschie
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II,7,11

Auf die beiden (bisher geschilderten) Ämter des Gesetzes läßt sich der Satz des Paulus anwenden, das Gesetz sei für die Juden „ein Zuchtmeister auf Christum“ ge wesen (Gal. 3,24). Denn es gibt zweierlei Menschen, die es durch seine Zucht zu Christus führt. Von den Menschen der ersten Art haben wir zuerst gesprochen: die sind übervoll vom Vertrauen auf ihre eigene Kraft oder Gerechtigkeit und können Christi Gnade nicht empfangen, wenn sie nicht zuvor zunichte werden. So bringt sie also das Gesetz zur Erkenntnis ihres Elendes und dadurch zur Demut, und so werden sie bereitgemacht, zu erbitten, was ihnen nach ihrer bisherigen Selbst beurteilung gar nicht fehlte. Die zweite Art Menschen brauchen einen Zaum, der sie bändigt, damit sie dem Gelüst ihres Fleisches nicht die Zügel schießen lassen und so gänzlich von allem Trachten nach der Gerechtigkeit abkommen. Denn wo der Geist Gottes noch nicht regiert, da brechen die Begierden zuweilen derart heftig hervor, daß die Seele, die ihnen unterworfen ist, in Gefahr gerät, in Vergessen und Ver achtung Gottes zu versinken — und das würde auch tatsächlich eintreten, wenn der Herr nicht mit dieser Arznei dem entgegenwirkte. Wenn er also die, welche er zu Erben seines Reiches bestimmt hat, nicht gleich zur Wiedergeburt kommen läßt, so bewahrt er sie doch bis zur Zeit seiner gnädigen Heimsuchung durch den Dienst des Gesetzes unter der Furcht — die zwar nicht so zuchtvoll und rein ist, wie sie in seinen Kindern sein soll, aber doch dazu verhilft, daß sie nach dem Maß ihres Verständ nisses zur rechten Gottesfurcht erzogen werden. Dafür gibt es so viele Belege, daß es keiner Beispiele bedarf. Denn alle, die eine Zeitlang ohne Erkenntnis Gottes ge lebt haben, bekennen ja, daß sie durch den Zaum des Gesetzes in einer Art Gottes furcht und Gehorsam gehalten wurden, bis sie dann, durch den Geist wiedergeboren, anfingen, Gott von Herzen zu lieben.



II,7,12

Die dritte Anwendung des Gesetzes ist nun die wichtigste und bezieht sich näher auf seinen eigentlichen Zweck: sie geschieht an den Gläubigen, in deren Herz Gottes Geist bereits zu Wirkung und Herrschaft gelangt ist. Ihnen ist zwar mit Gottes Finger das Gesetz ins Herz geschrieben, ja eingemeißelt; das bedeutet: sie sind durch die Leitung des Geistes innerlich so gesinnt und gewillt, daß sie Gott gern gehorchen möchten. Aber trotzdem haben sie noch einen doppelten Nutzen vom Gesetz.
Denn es ist (1.) für sie das beste Werkzeug, durch das sie von Tag zu Tag besser lernen, was des Herrn Wille sei, nach dem sie ja verlangen, und durch das sie auch in solcher Erkenntnis gefestigt werden sollen. Wenn ein Knecht auch noch so sehr von ganzem Herzen danach trachtet, sich bei seinem Herrn recht zu bewähren, so hat er doch noch immer nötig, die Eigenart seines Herrn genauer zu erforschen und zu beachten, der er sich ja recht anpassen will. So ist es auch bei den Gläubigen, von dieser Notwendigkeit kann sich niemand von uns frei machen; denn keiner ist schon so weit in der Weisheit vorgedrungen, daß er nicht durch die tagtägliche Erzie hungsarbeit des Gesetzes neue Fortschritte zur reineren Erkenntnis des Willens Gottes machen könnte.

Wir bedürfen aber nicht nur der Belehrung, sondern auch (2.) der Ermah nung; und auch den Nutzen wird der Knecht Gottes aus dem Gesetze ziehen, daß er durch dessen häufige Betrachtung zum Gehorsam angetrieben, in ihm gestärkt und von dem schlüpfrigen Weg der Sünde und des Ungehorsams weggezogen wird. Eines solchen Antriebs bedürfen die Heiligen durchaus; denn sie mögen zwar nach dem Geiste mit noch solchem Eifer nach der Gerechtigkeit Gottes sich aus strecken — es belastet sie doch immer noch die Trägheit des Fleisches, so daß sie nicht mit der erforderlichen freudigen Bereitwilligkeit ihren Weg gehen! So ist das Gesetz für das Fleisch gleich einer Geißel, die es wie einen faulen und lang samen Esel zur Arbeit treibt, ja auch für den geistlichen Menschen, der von der Last des Fleisches noch nicht ledig ist, ist es immerzu ein Stachel, der ihm nicht zu ruhen verstattet. Sicherlich dachte David an diese (dritte) Anwendung des Gesetzes, wenn er schrieb: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele; … die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen … (Ps. 19,8f.). Oder auch: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps. 119,105) und unzählige andere Worte in diesem ganzen (119.) Psalm. Diese Worte stehen nicht mit denen des Paulus im Widerspruch. Denn in ihnen ist ja nicht von der Anwendung des Ge setzes gegenüber den Wiedergeborenen die Rede, sondern von der Frage, was das Gesetz dem Menschen an und für sich zu helfen vermöchte. Hier dagegen besingt der Prophet, wieviel Segen uns der Herr zuteil werden läßt, wenn er Menschen, denen er innerlich die Bereitschaft zum Gehorsam eingegeben hat, dadurch erzieht, daß sie sein Gesetz lesen dürfen; und dabei gedenkt er nicht allein der Gebote, sondern auch der ihnen beigegebenen Gnadenverheißung, die allein das Bittere süß machen kann. Denn was ist weniger liebenswert als das Gesetz, wenn es bloß durch Forderungen und Drohen das Herz erschreckt und mit Angst bedrängt? Vor allem aber zeigt David, daß er im Gesetz den Mittler kennengelernt hat, ohne den keine Freude und keine Erquickung aufkommen kann.







II,7,13

Diesen Unterschied kennen einige unerfahrene Leute nicht, und deshalb ver werfen sie grimmig das ganze Gesetz und lassen beide Tafeln fahren; denn es ist nach ihrer Meinung mit dem Wesen eines Christen nicht vereinbar, einer Lehre anzu hangen, die doch das „Amt des Todes“ in sich trägt (Anklang an 2. Kor. 3,7). Aber solch eine gottlose Meinung soll ferne von unserem Herzen sein; denn Mose lehrt selbst sehr klar, daß das Gesetz zwar bei den Sündern nichts als den Tod erzeugen kann, aber bei den Heiligen doch eine besondere und herrlichere Anwendung finden
müsse. So gebot er dem Volke unmittelbar vor seinem Tod: „Nehmet zu Herzen alle Worte, die ich euch heute bezeuge, daß ihr sie euren Kindern befehlet und sie lehret halten und tun alle Worte dieses Gesetzes; denn es ist nicht ein vergebliches Wort an euch, sondern es ist euer Leben“ (Deut. 32,46f.). Wenn wirklich unleugbar im Gesetz ein vollkommenes Urbild der Gerechtigkeit vor uns hintritt, so haben wir notwendig entweder gar keine Richtschnur für ein rechtes, gerechtes Leben — oder aber es ist unrecht, von diesem Gesetz zu weichen. Denn es gibt ja nicht meh rere solche Maßstäbe, sondern nur einen, der dauernd und unwandelbar in Geltung ist. Wenn also David zeigt, wie das Leben des Gerechten in steter Betrachtung des Gesetzes besteht (Ps. 1,2), so sollen wir das nicht auf ein bestimmtes Zeitalter be ziehen, denn das geziemt sich sehr wohl zu allen Zeiten bis zum Ende der Welt! Des halb sollen wir uns nicht von der Unterweisung im Gesetz abwenden oder vor ihr die Flucht ergreifen, etwa unter Berufung darauf, daß es uns ja eine viel voll kommenere Heiligkeit gebietet, als wir sie je zu leisten vermögen, solange wir das Gefängnis unseres Fleisches mit uns herumtragen. Denn es wirkt an uns nicht wie ein harter Treiber, der nur zufrieden ist, wenn das volle Maß erreicht ist, sondern es zeigt uns bei aller Ermahnung zur Vollkommenheit das Ziel, zu dem alle Zeit unseres Lebens zu laufen nützlich und unseres Amtes ist. Lassen wir in diesem Lauf nicht ab, so ist es gut. Denn dies ganze Leben ist ein Lauf auf der Kampfbahn; haben wir diesen Lauf vollendet, so wird uns der Herr schenken, daß wir jenes Ziel, auf welches wir jetzt noch von ferne unser Sinnen und Trachten richten, erreichen!



II,7,14

Nun hat also das Gesetz gegenüber den Gläubigen die Macht, sie zu ermahnen — nicht um ihr Gewissen mit Verdammnis zu binden, fondern um in fleißigem An halten die Trägheit zu bannen und sie an ihre Unvollkommenheit zu erinnern. Des halb behaupten nun viele, um zu zeigen, daß wir von jener Verdammung durch das Gesetz befreit sind, das Gesetz — ich rede noch vom sittlichen Gesetz! — sei für die Gläubigen abgetan, nicht etwa, weil es nicht auch ihnen gebiete, was recht ist, sondern nur, weil es ihnen nicht mehr gegenübersteht wie zuvor, d. h. ihr Gewissen nicht mehr in Schrecken und Wirrnis jagt, sie verdammt und zugrunde richtet. Auch Paulus lehrt die Abschaffung des Gesetzes völlig klar. Der Herr selber aber muß sie auch ver kündigt haben: das zeigt sich daran, daß er jener Meinung, er werde etwa das Gesetz auflösen (Matth. 5,17), wohl nicht entgegengetreten wäre, wenn sie nicht unter den Ju den vorhanden gewesen wäre. Diese Meinung (der Juden) konnte aber nicht von selbst, ohne jeden Anschein aufkommen, und daher muß man annehmen, daß sie aus einer verkehrten Auslegung seiner Lehre stammte — wie ja fast alle Irrtümer ihren An laß an der Wahrheit haben! Damit wir nun aber nicht an denselben Stein stoßen, wollen wir sehr sorgfältig unterscheiden, was denn am Gesetz abgetan ist und was noch Bestand hat. Der Herr bezeugt ja: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz … aufzulösen …, sondern zu erfüllen“, und „Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe … am Gesetz, bis daß es alles ge schehe“ (Matth. 5,17f.). Damit stellt er klar und deutlich fest, daß durch seine An kunft der Beobachtung des Gesetzes nichts entzogen werden sollte. Und das mit vollem Recht: denn er ist doch vielmehr gekommen, um der Übertretung zu wehren! So bleibt also jene Lehre des Gesetzes durch Christus unverletzt, die uns mit Lehren, Ermahnen, Tadeln, Züchtigen zu allem guten Werke bereiten und geschickt machen soll.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,7,15

Was aber Paulus von dem Fluche des Gesetzes sagt, das bezieht sich offen kundig nicht auf dessen Lehramt, sondern allein auf seine Kraft, die Gewissen zu binden. Denn das Gesetz lehrt ja nicht allein: es fordert und befiehlt gebieterisch. Wird das Verlangte nicht geleistet, ja wird es auch nur in irgendeinem Stück verfehlt, so fällt es sogleich das Verdammungsurteil über den Übertreter. Deshalb sagt der Apostel: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, sind unter dem Fluch; denn es stehet geschrieben, verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in alledem
… daß er’s tue“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Unter dem Gesetz stehen aber nach seinen Worten alle, die ihre Gerechtigkeit nicht auf die Vergebung der Sünden gründen, durch die wir der Strenge des Gesetzes entnommen werden. Wir müssen also nach seiner Lehre von den Fesseln des Gesetzes erlöst werden, wenn wir in ihnen nicht jämmerlich umkommen wollen. Aber was sind das für Fesseln? Doch offenbar die harten und feindseligen Forderungen, die von dem vollkommenen An spruch rein nichts nachlassen und keinerlei Übertretung ungestraft lassen. Damit uns Christus von diesem Fluch loskaufte, ist er für uns zum Fluch geworden. Denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jedermann, der am Holze hanget“ (Gal. 3,13; Deut. 21,23). Im darauffolgenden Kapitel bezeugt der Apostel, Christus sei „unter das Gesetz getan“ worden, „auf daß er die, so unter dem Gesetze sind, erlöste“ (Gal. 4,4f.) — aber das sagt er im gleichen Sinne (wie oben), und deshalb setzt er gleich hinzu: „daß wir die Kindschaft empfingen“ (ebenda). Was heißt das nun? Doch wohl dies: daß wir nicht immerdar in solcher Knechtschaft behaftet blieben, die unser Ge wissen immerzu in Todesangst befangen hielt. Indessen ist doch immer noch unbe weglich wahr, daß von dem Ansehen des Gesetzes nichts abgegangen ist, so daß es auch von uns stets mit der gleichen Verehrung und dem gleichen Gehorsam anzu nehmen ist.

II,7,16

Anders verhält es sich freilich mit den Zeremonien: sie sind nicht ihrer Bedeutung, sondern nur ihrem Vollzug nach abgetan. Daß ihnen aber Christus durch seine Ankunft ein Ende gesetzt hat, nimmt ihnen nichts von ihrer Heiligkeit, ja preist und verherrlicht sie nur um so mehr! Denn wie sie einst dem alten Bundesvolk ein eitles Schaubild geboten hätten, wenn in ihnen nicht die Kraft des Sterbens und Auferstehens Christi abgebildet gewesen wäre — so würde jetzt, wenn sie nicht aufgehört hätten, gar nicht mehr zu erkennen sein, warum sie eigentlich eingesetzt worden sind. So will auch Paulus nachweisen, daß ihre Be obachtung für uns nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich wäre, und sagt von ihnen, sie seien „der Schatten von dem, das zukünftig war; aber der Körper selbst ist in Christo“ (Kol. 2,17). Wir sehen also, daß durch ihre Abschaffung die Wahr heit besser aufleuchtet, als wenn sie noch aus der Ferne und wie hinter einem Vor hang verborgen Christum darstellten, der doch öffentlich erschienen ist! So ist ja auch bei dem Tode Christi der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerrissen (Matth. 27,51); denn es war ja schon das lebendige und deutliche Bild der himmlischen Gü ter ans Licht getreten, das zuvor, in den Zeremonien, bloß in undeutlichem Schatten bild da war, wie der Verfasser des Hebräerbriefs sagt (Hebr. 10,1). Hierhin ge hört auch Christi Wort, das Gesetz und die Propheten seien bis auf Johannes da gewesen, aber seither habe man angefangen, das Evangelium zu predigen (Luk. 16,16). Das bedeutet nicht, daß die Väter etwa der Predigt, die die Hoffnung auf das Heil und ewiges Leben in sich trägt, entbehrt hätten; aber sie haben doch nur aus der Ferne und unter Schattenbildern erblickt, was wir heute in vollem Lichte er strahlen sehen. Den Grund aber, weshalb die Kirche von diesen Anfangsgründen aus fortschreiten mußte, zeigt Johannes der Täufer: „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade aber und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden“ (Joh. 1,17). Denn obwohl in den alten Opfern die Versöhnung wahrhaft angekündigt war und obwohl die Lade des Bundes ein sicheres Unterpfand der väterlichen Huld Gottes war, so wäre dies doch alles bloß schattenhaft gewesen, wenn es nicht in Christi Gnade gegründet gewesen wäre, die wirklich ein fester, ewiger Grund ist. Das bleibt also fest bestehen: Obwohl die gesetzlichen Gottesdienstformen aufgehört haben, so wird doch gerade aus deren Ende deutlich, wie wichtig sie vor der Ankunft Christi waren, der ihre Anwendung aufgehoben, aber ihre Kraft und Wirkung durch seinen Tod versiegelt hat.

II,7,17

Etwas schwieriger ist folgende Beweisführung des Paulus: „Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, da ihr tot wäret in den Sünden und in eurem unbe schnittenen Fleisch, und hat uns geschenkt alle Sünden und ausgetilgt die Hand schrift, so wider uns war, welche durch Satzungen entstand und uns entgegen war, und hat sie aus dem Mittel getan und an das Kreuz geheftet …“ (Kol. 2,13.14). Hier scheint Paulus die Abschaffung des Gesetzes so weit auszudehnen, daß wir über haupt nichts mehr mit seinen Vorschriften zu tun hätten. Denn es ist irrig, wenn einige die Stelle einfach auf das sittliche Gesetz beziehen, obwohl sie erklären, es sei eher dessen unerbittliche Strenge, als seine Lehre selbst abgeschafft. Andere erwägen diesen Ausspruch des Paulus sorgfältiger und kommen zu der Einsicht, daß die Stelle sich eigentlich auf das Zeremonialgesetz bezieht; sie zeigen auch, daß der Ausdruck „Satzung“ bei Paulus häufig das Zeremonialgesetz meint. Denn Paulus spricht zu den Ephesern: „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines hat ge macht …. indem er wegnahm … das Gesetz, so in Satzungen gestellet war, auf daß er aus zweien einen neuen Menschen in ihm selber schüfe…“ (Eph. 2,14.15). An dieser Stelle redet er ohne Zweifel von den Zeremonien: denn er nennt sie eine Scheidewand, die zwischen Juden und Heiden schied. Deshalb werden nach mei ner Ansicht die Vertreter der ersteren Auffassung der Stelle von denen der letzteren mit gutem Recht getadelt; aber auch diese scheinen mir die Absicht des Apostels noch nicht gut zu erläutern. Denn es geht keineswegs an, diese beiden Stellen für völlig gleich zu erklären. Paulus wollte die Epheser von ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft des Volkes Israel überzeugen, und deshalb belehrt er sie, daß das Hindernis, das sie einst fernhielt, nun abgetan sei. Dies Hindernis waren die Zere monien. Die Übung von Waschungen und Opfern, durch welche die Juden dem Herrn geheiligt wurden, sonderte sie von den Heiden ab. Aber wer bemerkt nicht, daß im Kolosserbrief ein noch tieferes Geheimnis berührt wird? Denn da geht der Streit um die Beobachtung des Gesetzes Moses, zu der die falschen Apostel die Christenheit zu führen versuchten; und wie Paulus im Galaterbrief diese Frage in größere Tiefe führt und sie sozusagen bis an die Quelle verfolgt, so geschieht es auch hier. Will man nämlich unter den Gebräuchen bloß eine Nötigung zu ihrem Vollzug verstehen, wie kann dann von einer „Handschrift“ die Rede sein, „so wider uns“ ist? Und wie sollte erst recht beinahe unsere ganze Erlösung damit gegeben sein, daß sie außer Geltung gesetzt würde? So bezeugt doch die Sache selber laut genug, daß es sich hier um etwas Tieferes handeln muß.

Ich glaube aber den rechten Sinn der Worte des Paulus verstanden zu haben, wenn man mir nur die Wahrheit dessen zugesteht, was Augustin sehr richtig ge schrieben hat, ja was er aus deutlichen Worten des Apostels selber schöpft: in den jüdischen Zeremonien habe es sich mehr um ein Bekenntnis der Sünden als um deren Tilgung gehandelt (Hebr. 7.9.10). Was taten die Juden denn mit ihren Opfern anders, als daß sie sich als todesschuldig bekannten, indem sie an ihrer Statt die Opfertiere hingaben? Was bezeugten ihre Reinigungen anders als eben ihre Un reinigkeit? So wurde jedesmal die „Handschrift“ ihrer Schuld und Unreinigkeit er neuert; eine Befreiung aber bot dieses Bekenntnis nicht. Aus diesem Grunde schreibt der Apostel, erst durch den Tod Christi sei die Erlösung von den Übertretungen geschehen, die unter dem Alten Bunde bestehen geblieben waren (Hebr. 9,15). Mit vollem Recht nennt Paulus die Zeremonien „eine Handschrift“, die den Verehrern des Gesetzes „entgegen war“; denn durch sie bescheinigten sie ja öffentlich ihre Ver dammnis und Unreinigkeit.
Gewiß spricht das nicht dagegen, daß auch die Alten mit uns zusammen an der gleichen Gnade Anteil hatten. Dazu sind sie aber in Christo gekommen, nicht durch die Zeremonien, die Paulus ja an dieser Stelle gerade von Christus unterscheidet, da sie ja — wenn man sie jetzt wieder in Übung kommen ließe — Christi Herrlich keit verdunkelten. Also werden die Zeremonien, sofern man sie an und für sich be trachtet, sehr gut und passend als „Handschrift“ bezeichnet, welche dem Heil der Menschen entgegenstand; denn sie waren ja feierliche Beweisakte (solennia instrumenta), die ihre Verschuldung bezeugen sollten. An diese Zeremonien wollten die falschen Apostel die christliche Kirche wieder verknechten, und so erinnert Paulus, nachdem er ihre Bedeutung noch einmal dargestellt hat, die Kolosser nicht ohne Grund daran, wohin sie geraten müßten, wenn sie sich dieses Joch wieder auf den Hals bringen ließen! Denn damit müßte ihnen die Gnadengabe Christi geraubt werden: der einmalige Vollzug der ewigen Versöhnung hat die täglichen Zeremonien abgetan, die ja doch nur dazu taugten, die Sünde öffentlich zu bezeugen, aber keine Kraft hatten, sie zu tilgen.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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Achtes Kapitel: Auslegung des sittlichen Gesetzes (der Zehn Gebote).

II,8,1

Hier, meine ich nun, wird es am Platze sein, die Zehn Gebote mit einer kurzen Auslegung einzufügen. Daraus wird nämlich erstens deutlicher werden, daß — wie ich schon andeutete — die Verehrung Gottes, die er selbst einst vorgeschrieben hat, noch heute in Geltung ist. Zweitens wird sich daraus auch eine Bestätigung des weiteren Hauptpunktes ergeben, wonach die Juden aus dem Gesetz nicht bloß gelernt haben, wie die rechte Frömmigkeit beschaffen sei, sondern auch, da sie sich zur Erfüllung ungeeignet fanden, durch den Schrecken vor dem Gericht Gottes dazu genötigt wurden, sich gegen ihren Willen zum Mittler hinziehen zu lassen. Weiter: als ich auseinandersetzte, was alles zur wahren Erkenntnis Gottes gehört, da lehrte ich auch, daß Gott in seiner Größe von uns gar nicht erfaßt werden kann, ohne daß uns seine Majestät sogleich entgegentritt und in seinen Dienst zwingt. Und bei unse rer Selbst-Erkenntnis ist es nach meiner Überzeugung das Wichtigste, daß wir ohne alles Vertrauen auf eigene Kraft, frei von aller Zuversicht auf eigene Gerechtigkeit, dagegen zerbrochen, zermalmt von dem Bewußtsein unserer Armut, die rechte Demut lernen und jene rechte Selbst-Erniedrigung. Dies beides will der Herr mit seinem Gesetz schaffen. Denn da eignet er sich erstens selbst alle ihm ja auch zustehende Befehlsgewalt zu und fordert uns zur Ehrerbietung gegen seine göttliche Majestät auf, gebietet uns auch, wie sich diese Ehrerbietung zu erweisen habe. Und zwei tens verkündet er die Regel seiner Gerechtigkeit, deren gerechter Forderung wir nach unserer Art, die ja böse und verkehrt ist, immerzu widerstreben und deren Voll kommenheit unser Vermögen, das ja schwach ist und zum Guten gänzlich untüchtig, nicht von ferne erreicht; so überführt er uns unserer Ohnmacht und Ungerechtigkeit.



Eben das, was wir aus den beiden Tafeln des Gesetzes lernen sollen, sagt uns gewissermaßen jenes innere Gesetz, das nach unserer obigen Darstellung allen Men schen ins Herz geschrieben und sozusagen eingeprägt ist. Denn unser Gewissen läßt uns nicht immerzu ohne Empfinden schlafen, sondern es ist in unserem Innern ein Zeuge und Mahner an das, was wir Gott schuldig sind, es hält uns den Unterschied zwischen Gut und Böse vor und klagt uns an, wenn wir vom Wege abweichen. Der Mensch ist indessen von einer solchen Finsternis des Irrtums umhüllt, daß er vermöge dieses natürlichen Gesetzes kaum eine geringe Ahnung von der Verehrung bekommt, die Gott wohlgefällig ist, jedenfalls aber weit von deren wirklichem Sinne entfernt bleibt. Dabei ist der Mensch aber von seiner Anmaßung und Hoffart der maßen aufgeblasen, in seiner Selbstliebe derart verblendet, daß er sich gar nicht ohne weiteres recht anschauen oder in sich gehen kann, um Gehorsam und Selbst verleugnung zu lernen und sein Elend offen zu gestehen. Deshalb hat also der Herr — und das war angesichts unserer Schwachsichtigkeit wie auch unserer Halsstarrig keit nötig! — uns sein geschriebenes Gesetz gegeben: dies bezeugt uns genauer, was im natürlichen Gesetz zu dunkel blieb, und es vertreibt uns auch die Faulheit und erfüllt Herz und Gemüt mit frischerer Bewegung!


II,8,2

Nun können wir auch gleich sehen, was wir aus dem Gesetz lernen sollen. Eben dies: Gott ist unser Schöpfer und deshalb hat er auch Vater- und Herrenrecht an uns. Darum gebührt ihm von uns aus Ruhm, Ehrfurcht, Liebe und Furcht. Wir sind also nicht unsere eigenen Herren, sollen nicht der Lust folgen, wohin sie uns treibt, sondern allein von seinem Winke abhängen und in dem bleiben, was ihm wohlgefällt. Er liebt ja Gerechtigkeit und Heiligkeit von Herzen und haßt die Un gerechtigkeit; so sollen wir denn, wollen wir nicht in frevlerischer Undankbarkeit von unserem Schöpfer abfallen, unser Leben lang auf die Gerechtigkeit unser Sinnen und Trachten richten. Denn wir beweisen ihm ja dadurch erst die gebührende Ehr furcht, daß wir seinen Willen über den unseren stellen, und deshalb gibt es nur eine rechte Gottesverehrung, nämlich das Trachten nach Gerechtigkeit, Heiligkeit und Reinheit. Da darf auch nicht die Entschuldigung vorgebracht werden, dazu fehle uns die Fähigkeit und wir wären ja gleich zahlungsunfähigen Schuldnern nicht in der Lage, das zu leisten. Denn Gottes Ehre läßt sich nicht nach unserem Ver mögen bemessen — wir mögen sein, wer wir wollen, so bleibt er doch sich selber gleich: ein Freund der Gerechtigkeit und ein Feind der Ungerechtigkeit! Was er auch von uns fordert — denn er kann nur das Rechte fordern! —: auf uns liegt kraft natürlicher Gebundenheit die Pflicht zum Gehorchen; vermögen wir etwas nicht, so ist das unser eigener Mangel. Werden wir von der eigenen Begehrlichkeit, in der die Sünde die Herrschaft führt, in Fesseln gehalten, so daß wir unserem Vater nicht den freien Gehorsam leisten können, so können wir uns nicht mit der auf uns lastenden Notwendigkeit entschuldigen — denn das Übel liegt in uns und ist uns zuzurechnen.


II,8,3

Sind wir nun durch das Gesetz bis zu dieser Erkenntnis vorgedrungen, so müssen wir nun auch wiederum unter seiner Leitung zu uns selber kommen; und daraus folgt für uns zweierlei. Erstens gewahren wir, wenn wir die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, mit unserem Leben vergleichen, daß wir bei weitem nicht dem Willen Gottes entsprechen, ja daß wir deshalb unwürdig sind, noch zu seinen Geschöpfen zu zählen, geschweige denn zu seinen Kindern. Und wenn wir dann zweitens unsere Kräfte betrachten, so finden wir, daß diese nicht etwa zu schwach, sondern gänzlich untüchtig sind, das Gesetz zu erfüllen. Aus solcher Einsicht folgt notwendig das Mißtrauen gegenüber der eigenen Kraft, zugleich auch innere Angst und Bangigkeit. Denn das Gewissen kann die Last der Ungerechtigkeit nicht ertra gen, ohne sich alsbald vor Gottes Gericht gestellt zu sehen. Dies aber ist nicht mög lich, ohne daß die Todesangst über uns kommt. In gleicher Weise aber wird das Gewissen durch die Beweise unserer Ohnmacht überführt und gerät so notwendig in die völlige Verzweiflung an den eigenen Kräften. Jede von diesen beiden Widerfahrnissen (Todesangst und Verzweiflung an der eigenen Kraft) bringt uns nun zu Demut und Selbstverwerfung, — und so kommt der Mensch endlich unter dem Empfinden des ewigen Todes, dem er um seiner Ungerechtigkeit willen mit Recht entgegensieht, doch dazu, zu der Barmherzigkeit Gottes als dem einzigen Hafen des Heils seine Zuflucht zu nehmen, zu fühlen, daß es nicht in seiner Macht steht, der Forderung des Gesetzes Genüge zu tun, an sich selbst zu verzweifeln und dann nach einer Hilfe zu verlangen, die er von anderswoher erflehen und erwarten muß!
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,8,4

Aber der Herr gibt sich nicht damit zufrieden, seiner Gerechtigkeit die gebührende Ehrfurcht zu verschaffen; er will uns auch die Liebe zur Gerechtigkeit und zugleich den Haß gegen die Ungerechtigkeit ins Herz senken und hat dazu die Verheißungen und Drohungen dem Gesetz beigegeben. Unser inneres Auge ist ja so verfinstert, daß es von der Schönheit des Guten nicht mehr berührt wird; und darum hat der Vater in seiner großen Güte und Barmherzigkeit uns durch die Süßigkeit der Belohnungen dazu reizen wollen, ihn zu lieben und nach ihm zu verlangen. Er ver kündet also, daß das rechte Tun bei ihm Belohnungen zu erwarten habe und daß keiner, der seinen Geboten folgt, sich umsonst gemüht haben soll. Er läßt aber ander seits auch wissen, daß die Ungerechtigkeit ihm abscheulich ist und auch nicht unge straft davonkommen soll, ja, daß er selber für die Verachtung seiner Majestät als strenger Vergelter auftreten wird. Und um keine Ermunterung zu unterlassen, ver spricht er denen, die seine Gebote halten, Segnungen im zeitlichen Leben wie auch die ewige Seligkeit, den Übertretern aber droht er ebenso gegenwärtige Not und auch die Strafe des ewigen Todes. Die Verheißung: „Wer das tut, der wird dadurch leben“ (Lev. 18,5) entspricht der Drohung: „Welche Seele sündiget, die soll sterben“ (Ez. 18,4.20), und diese beiden Sprüche beziehen sich zweifellos auf die zu künftige und immerwährende Unsterblichkeit, bzw. auf den künftigen und nicht en denden Tod! Freilich wird überall, wo Gottes Wohlwollen oder Gottes Zorn er wähnt wird, zugleich damit auch das ewige Leben oder der ewige Tod umfaßt. Was aber die gegenwärtigen, zeitlichen Segnungen und Strafen betrifft, so gibt uns das Gesetz eine lange Aufzählung (Lev. 26,3-39; Deut. 28,1-68). So bewährt sich in den Strafen Gottes unendliche Heiligkeit, welche die Ungerechtigkeit nicht zu ertragen vermag, in den Verheißungen aber seine höchste Gerechtigkeitsliebe, die es nicht an Belohnung fehlen läßt, und erst recht seine wundersame Güte. Denn wir sind doch seiner Majestät mit allem, was wir haben, verpfändet, und er hat volles Recht, alles, was er von uns fordert, als Schuld zurückzufordern — die Rück erstattung einer Schuld aber ist keiner Belohnung wert! Er läßt also sein eigenes Recht fahren, wenn er unserem Gehorsam Lohn darreicht, obwohl dieser doch gar nicht freiwillig geschieht — als ob wir nicht ohnehin dazu verpflichtet wären! Was uns aber die Verheißungen und Drohungen selbst nützen, das wurde zum Teil be reits gesagt, zum Teil wird es an seiner Stelle noch klarer werden. Vorerst ist es genug, wenn wir festhalten und bedenken, daß in den Verheißungen des Gesetzes die Gerechtigkeit ganz besonders gerühmt wird, damit wir desto besser erkennen, wie sehr Gott der Gehorsam gefällt. Ferner wollen wir nicht vergessen, daß die Stra fen dazu dienen sollen, daß die Ungerechtigkeit desto fluchwürdiger erscheine, da mit der Sünder sich von der Schmeichelei des Lasters nicht betören lasse, das ihm bereitete Gericht des Gesetzgebers zu vergessen!

II,8,5

Indem uns der Herr die Regel vollkommener Gerechtigkeit vorlegt, führt er sie in allen Stücken immer wieder auf seinen Willen zurück und bezeugt dadurch, daß ihm nichts wohlgefälliger ist als der Gehorsam. Darauf muß um so genauer geachtet werden, als die Zuchtlosigkeit des Menschengeistes immerzu allerhand Gottes dienst sich erdenkt, um damit vor Gott sich etwas zu verdienen. Zu allen Zeiten hat sich diese unfromme Frömmigkeitsmacherei, die ja dem Menschengeiste von Natur innewohnt, offenbart, und sie tut es noch heute: es zeigt sich nämlich, daß die Men schen immer eine ganz besondere Neigung haben, sich abseits von Gottes Wort eine eigene Art zu erdenken, um gerecht zu werden. Deshalb finden bei den sogenannten „guten Werken“ die Gebote des Gesetzes wenig Raum, weil ja dieser gewaltige Schwarm menschlicher „Gebote“ den ganzen Platz einnimmt! Mose aber wollte gerade diesem Mutwillen wehren; und deshalb redet er nach der Verkündigung des Gesetzes das Volk an: „Sieh zu und höre alle diese Worte, die ich dir gebiete, auf daß dir’s wohlgehe und deinen Kindern nach dir ewiglich, weil du getan hast, was recht und gefällig ist vor dem Herrn, deinem Gott“ (Deut. 12,28). Und: „Alles, was ich euch gebiete, das sollt ihr halten … Ihr sollt nichts dazutun noch davontun“ (Deut. 13,1). Zuvor hatte er ausgesprochen, das sei des Volkes Weisheit und Verstand vor allen Völkern, daß es von dem Herrn die Urteile, Rechte und Zeremonien empfangen hätte; da fügt er denn gleich zu: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl, daß du nicht vergessest der Geschichten, die deine Augen gesehen haben, und daß sie nicht aus deinem Herzen kommen…“ (Deut. 4,9). Gott sah ja voraus, daß die Israeliten sich mit dem Empfang des Gesetzes nicht zu frieden geben, ja daß sie, wenn ihnen nicht gewehrt würde, immer neue, eigene Wege erfinden würden, um Gott zu dienen, und deshalb verkündet er ihnen: Hier ist die vollkommene Gerechtigkeit beschlossen! Das mußte notwendig ein sehr starkes Hemm nis sein — und doch haben sie sich von dieser so streng verbotenen Vermessenheit nicht abbringen lassen! Und wir? Auch für uns ist dieses Wort bindend; denn daß der Herr seinem Gesetz allein das Recht gibt, uns vollkommene Gerechtigkeit zu lehren, das ist doch ewig gültig! Wir indessen sind damit nicht zufrieden und machen uns eine abergläubische Mühe, immer neue gute Werke zu ersinnen und zusammenzuschmieden! Das beste Mittel, um dies Gebrechen zu heilen, wird es sein, wenn wir immer daran denken: Das Gesetz hat uns Gott gegeben, damit es uns die voll kommene Gerechtigkeit lehre, hier wird keine andere Gerechtigkeit von uns ver langt, als daß wir uns nach der Vorschrift des Willens Gottes richten sollen, und deshalb ist es umsonst, neue Arten von Werken zu erdenken, um damit vor Gott ein Verdienst zu erwerben; denn er will nach seinem Recht einzig durch Gehorsam verehrt sein. Ja, ein Eifer nach guten Werken, der über Gottes Gesetz hinausgeht, ist sogar eine unerträgliche Entheiligung der göttlichen, wahren Gerechtigkeit. Es ist sehr recht, wenn Augustin den Gehorsam gegen Gott bald die Mutter und Wächterin aller Tugenden, bald auch deren Wurzel nennt (Vom Gottesstaat, XIV,12 u.a.).



II,8,6

Ist uns aber das Gesetz des Herrn erklärt, so wird sich auch recht und mit besse rer Wirkung bestätigen, was ich oben von dem Amt und der Anwendung des Ge setzes ausgeführt habe. Bevor wir aber dazu übergehen, das Gesetz in seinen einzel nen Stücken auszulegen, muß zunächst noch einiges gesagt werden, was zu seinem allgemeinen Verständnis erforderlich ist. Da muß zunächst festgestellt wer den, daß das Gesetz unser menschliches Leben nicht etwa bloß zu einer äußeren Ehrbarkeit erzieht, sondern zu einer inneren, geistlichen Gerechtigkeit. Das kann zwar niemand ab streiten, aber nur sehr wenige beachten es nach Gebühr. Das geschieht, weil sie ihren Blick nicht auf den Gesetzgeber richten, nach dessen Wesen und Geist auch die Natur des Gesetzes zu beurteilen ist. Wenn ein König Hurerei, Mord oder Diebstahl verbietet und nun jemand bloß in seinem Herzen die Begierde hat, zu huren, zu mor den oder zu stehlen, aber nichts von alledem tatsächlich vollführt hat, so wird ihn sicherlich keine Strafe treffen. Denn die Maßnahmen des irdischen Gesetzgebers gehen ja nur auf die Erhaltung der äußeren bürgerlichen Ordnung (civilitas), und deshalb werden seine Verordnungen auch nur durch wirkliche Übeltaten übertreten. Gottes Auge aber entgeht ja nichts, und er bleibt nicht bei äußerem Schein stehen, sondern sieht auf wirkliche Reinheit des Herzens; wenn er also Hurerei, Mord und Diebstahl verbietet, so ist damit zugleich auch die Begierde, der Zorn, der Haß, das Begehren nach fremdem Gut, die böse Absicht und alles dergleichen untersagt! Denn er ist ja ein geistlicher Gesetzgeber, und darum gilt sein Wort der Seele wie dem Leibe. Denn schon Zorn und Haß ist ein Mord der Seele, böses Begehren und Habgier ist bereits Diebstahl, böse Lust bereits Hurerei! Nun wird jemand einwen den: Die menschlichen Gesetze haben doch auch auf Absicht und Willen Bezug und nicht nur auf das zufällige Ergebnis. Das gebe ich zu, aber es gilt doch nur, sofern diese äußerlich sichtbar werden! Sie ziehen in Betracht, in was für einer Absicht diese oder jene Tat geschehen ist, aber sie erforschen doch nicht die geheimsten Ge danken! Deshalb wird ihnen Genüge getan, wenn jemand seine Hand bloß von der Übertretung fernhält. Aber da das himmlische Gesetz unserer Seele gegeben ist, so gehört zu dessen rechter Beobachtung vor allem die innere Zucht. Der gewöhnliche Mensch dagegen, auch wenn er tapfer leugnet, ein Verächter des Gesetzes zu sein, stellt wohl Augen, Füße, Hände und alle Körperteile gewissermaßen in den Dienst der Beobachtung des Gesetzes — nur sein Herz bleibt weit vom Gehorsam entfernt und meint schon genug getan zu haben, wenn es vor den Menschen recht ver heimlicht, was es doch vor Gottes Auge tut. Solche Menschen hören: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen — und sie recken auch das Schwert nicht zum Morde, halten ihren Leib rein vom Umgang mit Dirnen, lassen ihre Hand von fremdem Gut. Bis dahin ist also alles recht und gut. Aber in ihrem Herzen sind sie voller Mordgedanken, glühen sie vor Lust, schauen aller Leute Hab und Gut mit schiefen Augen an und verschlingen es vor Begehrlichkeit!Es fehlt ihnen eben an dem, was am Gesetz die Hauptsache ist. Denn woher kann dieser große Unverstand anders kommen als daher, daß sie am Gesetzgeber vorbei gehen und ihre Gerechtigkeit mehr nach ihrem eigenen Wesen einrichten? Diesem Wahn widersteht Paulus und behauptet: „Das Gesetz ist geistlich“ (Röm. 7,14). Das heißt: es fordert nicht nur den Gehorsam der Seele, des Gemüts und des Willens, sondern Engelsreinheit, befreit von allen Befleckungen des Fleisches, die nach nichts trachtet als nach dem, was geistlich ist.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,8,7

Wenn wir dies für die Absicht des Gesetzes erklären, so bringen wir damit nicht von uns aus eine neue Auslegung vor, sondern folgen dem besten Ausleger des Ge setzes: Christus! Die Pharisäer hatten dem Volke die verkehrte Meinung bei gebracht, das Gesetz erfülle der, welcher nichts Gesetzwidriges getan hätte. Gegen diesen verderbenbringenden Irrtum ging Christus an und verkündigte: „Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“, be zeugte auch: „Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger.“ Ja, er erklärt den des Gerichts schuldig, der in seinem Herzen dem Zorn Raum gibt, und den des Rates schuldig, der durch Murmeln und Griesgram ein Zeichen gibt, daß er beleidigt sei, und den gar des höllischen Feuers schuldig, der mit Lästerworten und Schelten offen seinen Zorn ausbrechen läßt (Matth. 5,21f.28.43ff.). Leute, die das nicht ver standen haben, haben aus Christus einen zweiten Mose gemacht, der das „Evan gelische Gesetz“ gegeben hätte, das den Mangel des mosaischen Gesetzes ausgefüllt hätte. Daher kommt denn auch der bekannte Satz von der Vollkommenheit des „Evangelischen Gesetzes“, das weit über das alte Gesetz emporrage — ein in vieler Beziehung sehr gefährlicher Satz! Denn aus dem Gesetz Moses selber wird sich bei unserer noch folgenden Feststellung seines Hauptinhaltes ergeben, was für eine unwürdige Schmähung jener Satz ihm aufbrennt. Er bringt wenigstens die Heilig keit der Väter in den Verdacht der Heuchelei und führt uns zugleich von jener ein zigen und bleibenden Richtschnur der Gerechtigkeit ab. Indessen ist dieser Irrtum sehr leicht zurückzuweisen: man glaubte nämlich, Christus füge dem Gesetz etwas hinzu, während er es doch tatsächlich nur in seiner ursprünglichen Reinheit wieder herstellte, indem er es von dem Lügenwerk und dem Sauerteig der Pharisäer frei machte und säuberte.



II,8,8

Zweitens wollen wir beachten, daß in den Geboten und Verboten stets mehr enthalten ist, als mit Worten ausgedrückt wird; dabei müssen wir jedoch Maß hal ten und das Gesetz nicht als Lesbische Regel behandeln, auf Grund deren man die Schrift nach seiner Willkür auslegen und aus allem alles machen könnte. Einige Leute gehen in ihrer Anmaßung derart zügellos über den Inhalt hinaus, daß nun das Ansehen des Gesetzes bei manchen ganz verfällt und andere wiederum daran verzweifeln, es je begreifen zu können. Man muß also, soweit wie möglich, auf einen Weg zu kommen suchen, der uns in geradem und festem Gang zur Erkenntnis des Willens Gottes führt. Es muß eben nach meiner Ansicht untersucht werden, inwie fern die Erläuterung über die Worte hinausgehen darf, so daß also offensichtlich nicht etwa das göttliche Gesetz einen Anhang von menschlichen Anmerkungen erhält, sondern der reine und klare Sinn des Gesetzgebers selbst getreu wiedergegeben wird. Gewiß gibt es beinahe in allen Geboten Ausdrücke, die offenbar vieles Weitere mitumfassen (manifestae sunt synekdochae), so daß es also lächerlich wäre, wenn jemand den Sinn des Gesetzes auf den engen Raum der Wörter zusammen drängen wollte.

Daß man also bei einer verständigen Auslegung des Gesetzes über die Wörter hinausgehen darf, liegt auf der Hand; aber wie weit das möglich ist, bleibt dunkel, wenn nicht irgendein Maß und Ziel gesetzt wird. Dazu dient aber nach mei ner Ansicht am besten die Überlegung über die Ursache und den Zweck des Gebotes; bei jedem Gebot müssen wir also erwägen, wozu es uns gegeben sei. Als Beispiel:Jedes Gebot ist entweder ein Gebot oder ein Verbot. Der wahre Inhalt zeigt sich nun in jedem Falle sogleich, wenn wir auf die Ursache oder die Absicht unser Au genmerk richten. So ist zum Beispiel die Absicht des fünften Gebots: es soll denen Ehre zuteil werden, denen Gott sie beigelegt hat. Der wesentliche Inhalt (summa) dieses Gebots ist also der: es ist recht und Gott wohlgefällig, daß wir die Menschen ehren, denen er irgendwie eine besondere Würde verliehen hat; bringen wir ihnen Verachtung oder Ungehorsam entgegen, so ist das dem Herrn ein Greuel. Die Ab sicht des ersten Gebots ist: Gott soll allein geehrt werden. Daher wird der Haupt inhalt dieses Gebots sein: Wahre Frömmigkeit, das heißt Verehrung seiner gött lichen Majestät ist nach Gottes Herzen, Unfrömmigkeit ist ihm ein Greuel. So muß bei jedem Gebot zunächst zugesehen werden, wovon es eigentlich handelt, dann ist die Absicht aufzusuchen — bis wir finden, was denn hier nach des Gesetzgebers Kundmachung ihm gefällt oder mißfällt. Zum Schluß müssen wir dann auf das Ge genteil schließen, etwa so: Wenn dies oder jenes Gott gefällt, so mißfällt ihm das Gegenteil, mißfällt ihm dies oder das, so gefällt ihm das Gegenteil, gebietet er das eine, so verbietet er damit das Entgegengesetzte, verbietet er dies, so verordnet er damit das Gegenteil!

II,8,9

Was jetzt bloß etwas undeutlich berührt ist, das wird bei der Erklärung der Gebote selbst aus der Übung völlig klar werden. Deshalb genügt im allgemeinen die bloße kurze Erwähnung; nur der letzte Satz, der sonst entweder gar nicht be griffen oder aber selbst dann im Anfang vielleicht als recht widersinnig erscheinen könnte, muß doch noch kurz bewiesen und bekräftigt werden. Der Satz: Wenn das Gute geboten wird, so ist damit das Gegenteil, nämlich das Böse, verboten — be darf keines Beweises; seine Richtigkeit gesteht jedermann zu. Auch daß mit dem Ver bot des Bösen das Gegenteil als Pflicht befohlen wird, wird man allgemein ohne Widerspruch annehmen. Daß Tugenden dadurch gepriesen werden, daß ihr Gegen teil als Laster verdammt wird, ist gewöhnliche Meinung. Aber wir verlangen noch etwas mehr, als diese Redensarten gemeinhin bedeuten. Denn unter der Tugend, die dem Laster entgegensteht, begreift man gemeinhin bloß die Enthaltung von dem betreffenden Laster; nach meiner Meinung ist darunter aber mehr zu ver stehen: nämlich die tatsächliche Leistung der (dem Laster entgegengesetzten) pflichtmäßigen Aufgabe! So versteht der gewöhnliche Menschenverstand unter der Forderung des Gebotes: „Du sollst nicht töten“ nur dies, daß man sich von jeder Freveltat und auch der Lust dazu zu enthalten habe. Ich meine aber, daß außerdem noch damit gesagt ist: wir sollen unseres Nächsten Leben mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln erhalten. Das soll nicht ohne Begründung ausgesprochen sein. Denn Gott verbietet, den Bruder unbillig zu verletzen oder ihm Gewalt anzutun, weil nach seinem Willen dessen Leben uns teuer und wert sein soll; also fordert er zugleich auch den Dienst der Liebe zur Erhaltung dieses Lebens! Und so werden wir immer aus der Absicht eines Gebotes erkennen können, was wir zu tun oder zu lassen haben!

II,8,10

Wie kommt es nun, daß Gott auf solche Weise die Gebote eigentlich bloß zur Hälfte nennt und insofern seinen Willen weniger ausdrücklich kundmacht, als viel mehr unter stillschweigender Hinzunahme weiterer Forderungen (per synecdochas) bloß andeutet? Dafür pflegt man mancherlei Gründe anzuführen; besonders aber gefällt mir einer: Das Fleisch gibt sich ja immer Mühe, die Abscheulichkeit der Sünde, wenn sie nicht mit Händen zu greifen ist, zu verkleinern und mit gewaltig scheinenden Vorwänden zu schmücken; deshalb hat Gott gerade die schrecklichste und frevelhafteste Art der Übertretung des betreffenden Gebots als Beispiel deut lich ausgesprochen; da soll nun unsere Empfindung schon beim Hören erschaudern und unserem Herzen eine um so größere Abscheu gegen die Sünde in jeder Ge­stalt eingeflößt werden. Wenn wir ein Laster beurteilen, so täuscht uns oft die Neigung, es leichter zu nehmen, wenn es weniger offen sich zeigt. Dergleichen Täuschung verhütet der Herr, indem er uns daran gewöhnt, alle Laster miteinander auf diese Hauptlaster zurückzuführen, die am deutlichsten darstellen, was in der betreffenden Hinsicht Gott zuwider ist. Ein Beispiel: Zorn und Haß gelten nicht als besonders abscheuliche Sünde, wenn sie unter ihrem eigenen Namen auftreten; werden sie aber als Mord untersagt, so sehen wir klarer, wie sehr sie Gott zu wider sind, dessen Wort sie mit einer solchen Untat auf eine Stufe stellt, und wir lassen uns durch dies Urteil Gottes daran gewöhnen, die Schwere dieser vergehen, die wir zuvor geringschätzten, ernster zu nehmen.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,8,11

Dann müssen wir drittens bedenken, was die Einteilung des göttlichen Gesetzes in zwei Tafeln bedeutet; diese ist so oft feierlich erwähnt, und jeder vernünf tige Mensch sieht doch ein, daß dies nicht ohne Grund oder ins Blaue hinein ge schieht. Der Grund ist aber schnell bei der Hand, so daß wir hier nicht länger zu zweifeln brauchen. Denn Gott hat sein Gesetz in der Weise in zwei Teile geteilt — die nun alle Gerechtigkeit umschließen! — daß der erste Teil die (eigentlichen) Pflichten der Gottesverehrung, die also in besonderer Weise die Verehrung seiner göttlichen Majestät betreffen, der zweite dagegen die Pflichten der Liebe um faßt, die sich also auf die Menschen beziehen.Die vornehmste Grundlage aller Gerechtigkeit ist gewiß die Verehrung Gottes; ist diese zerstört, so fallen alle anderen Stücke der Gerechtigkeit wie die auseinandergerissenen und zerbrochenen Teile eines Gebäudes zusammen. Denn was soll das für eine Gerechtigkeit sein, wenn einer zwar den Menschen mit Steh len und Rauben in Ruhe läßt, aber unterdessen Gott in greulichem Frevel seine Majestät, seine Ehre raubt, wenn einer seinen Leib nicht mit Hurerei verunreinigt, aber mit Lästerungen Gottes heiligen Namen entheiligt — oder wenn einer zwar keinen Menschen ums Leben bringt, aber jeden Gedanken an Gott zu ertöten und auszulöschen sucht? Ohne Gottesverehrung ist es umsonst, sich der Gerechtigkeit zu rühmen: es ist genau so unsinnig, wie wenn man einen Rumpf ohne Kopf als Bild der Schönheit darstellen wollte! Denn die Frömmigkeit ist nicht nur das vornehmste Stück der Gerechtigkeit, sondern geradezu ihre Seele, die selbst alles durchweht und belebt; und ohne Gottesfurcht können die Menschen auch unter sich nicht Gerechtig keit und Liebe bewahren. Wir nennen daher die Verehrung Gottes den Anfang und die Grundlage der Gerechtigkeit; ist sie nämlich nicht mehr da, so ist alles, was die Menschen unter sich an Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit, Mäßigkeit noch haben, vor Gott nichtig und unnütz! Wir nennen die Verehrung Gottes die Quelle und den Geist der Gerechtigkeit; denn die Menschen lernen nur dann in Zucht und ohne Übeltat untereinander zu leben, wenn sie Gott als den Richter über Recht und Un recht verehren. Deshalb hat uns Gott in der ersten Tafel in der Frömmigkeit unterwiesen und in den eigentlichen Pflichten der Religion, mit denen seine göttliche Majestät verehrt werden soll. Die zweite Tafel schreibt uns dann vor, wie wir uns um der Furcht seines Namens willen in der Gemeinschaft der Menschen ver halten sollen. So hat auch unser Herr (Christus) nach dem Bericht der Evangelisten das ganze Gesetz in zwei Hauptstücken zusammengefaßt: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und von allen deinen Kräften — und deinen Nächsten als dich selbst“ (Matth. 22,37ff.; Luk. 10,27). Da läßt er also das Gesetz in zwei Stücken bestehen und bezieht das erste auf Gott, das zweite auf die Menschen.


II,8,12

So besteht zwar das ganze Gesetz eigentlich in zwei Stücken; aber unser Gott wollte uns doch jeden Vorwand für eine Selbst-Entschuldigung nehmen und hat deshalb in zehn Geboten näher bezeichnet, wie wir ihn recht ehren, fürchten und lieben und dann auch die Menschen recht lieben sollen, wie er uns das ja um seinetwillen aufträgt. Es ist auch keine falsch angewandte Mühe, über die Einteilung der Gebote nachzudenken; nur müssen wir dabei erwägen, daß in dieser Hinsicht jeder sein freies Urteil haben muß und man mit dem Andersdenkenden nicht gleich feindlich an einandergeraten soll! Wir müssen auf diese Frage notwendig eingehen, damit der Leser angesichts unserer eigenen Einteilung, die noch folgen muß, nicht etwa ver ächtlich oder verwundert von einer neuen und eben ausgedachten Sache redet.Außer allem Streit steht, daß das Gesetz aus zehn „Worten“ besteht; das be stätigt Gott öfters selber. Deshalb geht die Meinungsverschiedenheit nicht um die Zahl, sondern um die Art der Einteilung. Einige teilen so, daß der ersten Tafel drei, der zweiten die übrigen sieben zufallen; wer das tut, der tilgt das Bilder verbot (2. Gebot) aus der Zahl der Gebote aus oder verbirgt es unter dem ersten, obgleich der Herr es doch unzweifelhaft als besonderes Gebot gegeben hat; ferner muß man dann das 10. Gebot, also „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut …“, unpassenderweise in zwei Gebote zerreißen. Dazu kommt, wie wir bald sehen werden, daß diese Einteilungsweise der Kirche in ihrer unverdorbenen Zeit unbekannt war. Andere zählen mit uns vier Gebote zur ersten Tafel, nennen aber an Stelle des 1. Gebots allein die (dort gegebene) Zusage, ohne Gebot. Ich verstehe aber, sofern ich nicht durch einleuchtende Gründe vom Gegenteil überzeugt werde, die zehn „Worte“ bei Mose als zehn Gebote, und es scheint mir auch, daß sie in solcher Zahl tadellos abgeteilt sind. Ich lasse also den anderen ihre Über zeugung und folge meinerseits der, die mir die richtigste scheint: Was einige zum ersten Gebot haben machen wollen, scheint mir eine Vorrede zum ganzen Gesetz zu sein; dann folgen zunächst vier Gebote der ersten und dann die sechs der zweiten Tafel, in der Reihenfolge, wie sie nachher aufgezählt werden sollen. Von die ser Einteilung berichtet Origenes, daß sie zu seiner Zeit ohne Streit allgemein an genommen war (Predigten über Exodus, 8). Dazu stimmt auch Augustin; er hält bei der Aufzählung der Gebote folgende Ordnung ein: Wir sollen Gott allein dienen und gehorchen, die Götzen nicht verehren, den Namen Gottes nicht unnütz führen —, wobei er vorher für sich allein von dem alten Sabbatgebot gesprochen hat (An Bonifacius, Buch III). Freilich erklärt er an anderer Stelle auch seinen Gefallen an der erstgenannten Einteilung, aber nur aus dem allzu unerheblichen Grunde, bei der Aufteilung der ersten Tafel in drei Gebote komme in der Dreizahl das Ge heimnis der Dreieinigkeit besser zum Ausdruck. Jedoch leugnet er auch an der Stelle nicht, daß ihm von den anderen Einteilungen am meisten die auch von uns vorge­brachte gefalle (Fragen zum Heptateuch). Auch der Verfasser des „unvollendeten Werkes über Matthäus“ ist mit uns einer Meinung. Josephus teilt unzweifelhaft im Anschluß an die allgemeine Ansicht seiner Zeitgenossen jeder der beiden Tafeln fünf Gebote zu. Das widerspricht aber der Vernunft, indem nun die Verehrung Gottes und die Liebe zum Nächsten ungeschieden bleiben. Auch widerspricht ein sol ches Verfahren der Autorität des Herrn selber, der das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren …“ mit zur zweiten Tafel zählt (Matth. 19,19).



Aber jetzt wollen wir Gott selber hören, wie er in seinem Wort zu uns redet:





Erstes Gebot.



Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe; du sollst nicht andere Götter haben neben mir.






II,8,13

Ob man den ersten Satz zu einem Teil des ersten Gebotes macht oder ihn für sich allein liest, ist mir gleichgültig; nur soll man mir nicht abstreiten, daß er eine Art Vorrede auf das ganze Gesetz darstellt. Wenn Gesetze gegeben werden, so ist zu allererst darauf zu sehen, daß sie nicht bald in Verachtung geraten und abgetan werden. So sorgt auch Gott zunächst dafür, daß die Würde seines Gesetzes, wie er es gibt, nicht der Geringschätzung anheimfalle; so macht er es mit einer dreifachen Begründung unverletzlich. Er mißt sich erstens die Macht und das Recht bei, zu befehlen, um das erwählte Volk zu unbedingtem Gehorsam zu verpflichten. Dann gibt er zweitens seine Gnadenverheißung, um durch deren Süßig keit das Volk zum Trachten nach der Heiligkeit zu locken. Und er erinnert drittens an seine bereits geschehene Wohltat, um die Juden ihrer Undankbarkeit zu überführen, wenn sie sich nicht so verhielten, wie es seiner Güte angemessen war. Der Name „Herr“ („Jehova“) bezeichnet sein Herrschaftsrecht und seine Ge walt. Wenn von ihm alle Dinge sind und auch alle Dinge in ihm ihr Dasein haben, so muß auch alles auf ihn bezogen werden, wie Paulus sagt (Röm. 11,36). So werden wir durch dies eine Wort voll und ganz unter das Joch der göttlichen Majestät gebracht; denn es wäre ja ungeheuerlich, wollten wir uns der Gewalt dessen entziehen, außer dem wir gar nicht sein können!
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Beitrag von Joschie »

II,8,14

So hat sich der Herr als den erzeigt, der das Recht hat zu gebieten und dem man gehorchen muß. Aber er will nicht, daß wir uns allein gezwungen fühlen sollen, und deshalb lockt er uns freundlich und nennt sich den Gott seiner Kirche. Denn dieser Satz („Ich bin der Herr, dein Gott …“) bezeichnet eine gegenseitige Beziehung, wie sie in der Verheißung ausgesprochen ist: „Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein“ (Jer. 31,33). So erweist ja auch Christus die Unsterblichkeit Abrahams, Isaaks und Jakobs daraus, daß der Herr sich als ihren Gott bezeugt hat (Matth. 22,32). Es ist also, als ob er spräche: Ich habe mir euch als Volk erlesen, dem ich nicht nur in diesem Leben Gutes tun, sondern auch die Seligkeit des ewigen Lebens zuteil werden lassen will. Wohin das führen soll, bemerkt das Gesetz an verschiedenen Stellen. Hat uns der Herr solcher Barm herzigkeit für wert geachtet, zu seinem Volke zu gehören, so gilt auch, was Mose sagt: „Er hat uns erwählt, daß wir ihm sein sollten ein Volk des Eigentums, ein heiliges Volk, und daß wir halten sollen seine Gebote“ (Deut. 7,6; 14,2; 26,18f.; summarisch). Daraus ergibt sich auch die Mahnung: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (Lev. 19,2). Aus diesen zwei Zeugnissen ergibt sich dann auch der Vor wurf bei dem Propheten Maleachi: „Ein Sohn soll seinen Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre? Bin ich Herr, wo fürchtet man mich?“ (Mal. 1,6).



II,8,15

Ferner gedenkt Gott der Wohltat, die er dem Volke erwiesen hat. Das hat um so größere Kraft, uns zum Gehorsam zu bringen, als selbst unter den Menschen die Undankbarkeit als schlimmer Frevel gilt. Zwar erinnerte Gott das Volk Israel an dieser Stelle an eine ihm neuerdings widerfahrene Wohltat, die aber wegen ihrer wundersamen Größe in alle Zeit denkwürdig und auch noch den Nachfahren gegen über in Kraft bleiben sollte. Sie eignet sich aber zudem auch ganz besonders zur An wendung auf die vorliegende Sache. Denn der Herr deutet an, daß sein Volk von der elenden Knechtschaft dazu frei geworden ist, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre. Um uns bei der rechten Verehrung zu halten, die ihm allein zukommt, pflegt er sich aber auch bestimmte Namen beizu legen, um seine heilige göttliche Majestät (sacrum eius numen) von allen Götzen und allen ersonnenen Göttern zu unterscheiden. Denn wir sind ja — wie ich bereits zeigte — dermaßen zur Eitelkeit und Vermessenheit geneigt, daß wir den Namen „Gott“ gar nicht hören können, ohne notwendig gleich auf irgendein leeres Hirn gespinst zu verfallen. Gegen dies Übel will nun Gott selber Abhilfe schaffen; und deshalb ziert er seine Gottheit mit bestimmten Titeln und setzt uns gewissermaßen einen Zaun, damit wir nicht hin- und herschweifen und uns vermessen irgendeinen neuen Gott erdenken, also den lebendigen Gott verlassen und uns selber ein Götzen bild aufrichten! Wenn deshalb die Propheten Gott besonders bezeichnen wollen, so umkleiden, ja umschließen sie ihn gewissermaßen mit den Kennzeichen, unter denen
er sich dem Volke Israel offenbart hatte. Wenn er der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ genannt wird (Ex. 3,6), wenn man seine Wohnung im Tempel zu Jerusalem unter den Cherubim sucht (Am. 1,2; Hab. 2,20; Ps. 80,2; 99,1; Jes. 37,16), — so binden ihn derartige Ausdrücke nicht etwa an einen Ort oder an ein Volk; sie dienen vielmehr nur dazu, die Gedanken der Gläubigen unbeweglich auf den Gott zu richten, der sich in seinem Bunde, den er mit Israel schloß, der gestalt dargestellt hat, daß man von diesem Bilde unter keinen Umständen mehr abweichen darf.

Das muß indessen festgehalten werden: jene Erlösung (aus der Knechtschaft) wird erwähnt, damit die Juden sich in größerer Bereitwilligkeit Gott hingeben sollten, der sie sich nach seinem Rechte erkauft hatte. Wir sollen indessen nicht meinen, diese Erlösung ginge uns nichts an; und deshalb müssen wir in Betracht ziehen, daß die ägyptische Knechtschaft Israels ein Vorbild der geistlichen Gefangenschaft ist, in der wir alle uns befinden, bis uns der himmlische Befreier durch die Gewalt seines Arms losmacht und in das Reich der Freiheit führt. Wie also Gott einst mals die Israeliten, um sie aus ihrer Zerstreuung zur Anbetung seines Namens zu versammeln, aus der untragbaren Herrschaft des Pharao, die sie bedrückte, heraus riß, so schützt er auch heute alle die, als deren Gott er sich bezeugt, vor der furchtbaren Gewalt des Teufels, für die jene leibliche Knechtschaft ein Abbild war. Des halb müßte doch jeder in seinem Herzen entbrennen, dies Gesetz zu hören, wenn er vernimmt, daß es von dem höchsten Herrn gegeben ist, von dem doch alles seinen Ursprung hat, und in dem nun billigerweise auch alles sein Ziel sehen soll, nach dem es sich bestimmen lassen und ausrichten muß! Da müßte doch jeder von der Liebe zu diesem Gesetzgeber durchdrungen werden, wenn er hört, daß er dazu erwählt ist, seine Gebote zu halten, die Gebote dieses Gesetzgebers, von dessen Freundlichkeit er alles Gute im Überfluß, ja auch die Herrlichkeit des ewigen Lebens erwartet, durch dessen wunderbare Kraft er sich doch aus dem Rachen des Todes gerissen weiß!

II,8,16

Nachdem also Gott die Autorität seines Gesetzes begründet und fest ausgerichtet hat, gibt er das erste Gebot: daß wir keine anderen Götter haben sollen „vor ihm“. Der Zweck dieses Gebotes ist der: Gott will in seinem Volke ganz allein groß sein und sein Recht voll und ganz ausüben. Dazu soll nach seinem Gebot alle Unfrömmigkeit von uns weichen und aller Aberglaube, der die Herrlichkeit seiner gött lichen Majestät mindert oder verfinstert. Und aus dem gleichen Grunde gebietet er uns, ihn mit wahrer Frömmigkeit zu verehren und anzubeten. Das ergibt sich schon aus dem schlichten Wortsinn; denn wir können ihn nicht zum Gott haben, ohne ihm zugleich alles zuzueignen, was ihm gehört. Wenn er uns also verbietet, andere Götter zu haben, so macht er uns damit kund: wir sollen nicht das, was ihm eigen ist, auf einen anderen übertragen. Was wir Gott schuldig sind, ist nun zwar sehr mannigfaltiger Art; aber es läßt sich doch recht gut auf vier Hauptstücke zusammen fassen. Das ist (1.) die Anbetung, zu der gewissermaßen als Zusatz der geistliche Ge horsam im Gewissen kommt, dann (2.) das Vertrauen, (3.) die Anrufung und endlich (4.) die Danksagung. (1.) Unter Anbetung verstehe ich die Huldigung und Ver­ehrung, die wir ihm alle erweisen, wenn wir uns seiner Größe unterwerfen. Des halb ist es auch begründet, wenn ich die Unterwerfung unseres Gewissens unter sein Gesetz zu einem Stück dieser Anbetung machte. (2.) Das Vertrauen ist die ge wisse Zuversicht unseres Herzens zu ihm, wie wir sie gewinnen, wenn wir ihn und seine herrlichen Tugenden recht erkennen, wenn wir bei ihm allein Weisheit und Gerechtigkeit, Macht, Wahrheit und Güte suchen und in der Gemeinschaft mit ihm allein unsere Seligkeit sehen. (3.) Die Anrufung geschieht, indem unser Herz in aller Not, die uns umdrängen mag, zu seiner Treue als einziger Hoffnung sich flüchtet. (4.) Die Danksagung ist der Ausdruck unserer Dankbarkeit, die ihm allein Lob und Preis für all seine Guttaten darbringt. Denn der Herr will dies alles keinem anderen geben und gebietet uns deshalb, es ihm allein darzubringen!
Es ist auch keineswegs genug, uns bloß vor allen fremden Göttern zu hüten, nein, wir sollen ihm wirklich anhangen; es finden sich ja nichtswürdige Gottesver ächter, die über alle und jede Religion in Bausch und Bogen ihren Spott ausgie ßen! Wollen wir dies Gebot recht halten, so muß wahre Gottesverehrung in uns schon da sein, die uns dahin treibt, uns dem lebendigen Gott gänzlich zu ergeben. Ist uns auf solche Weise die Erkenntnis Gottes zuteil geworden, so sollen wir in unserem ganzen Leben nur dies eine als unser Ziel im Auge haben, seine Majestät zu achten, zu ehren, zu verehren, an seinen Gütern teilzuhaben, alle Hilfe bei ihm zu suchen, die Größe seiner Werke zu erkennen und recht zu preisen! Dann sollen wir auch allem bösen Aberglauben aus dem Wege gehen, der das Herz von Gott abbringt und es bald hierhin, bald dorthin zu allerlei Göttern zerrt. Wollen wir wirklich an dem einen Gott unser Genüge haben, so müssen wir, wie gesagt, alle erdichteten Götter fahren lassen und uns hüten, den Gottesdienst, den er sich doch allein vorbehalten hat, zu zertrennen. Denn es darf von seiner Ehre auch nicht das Geringste genommen werden, sondern er muß wirklich empfangen, was ihm zukommt.

Der Zusatz „vor mir“ (Luthertext: „neben mir“) erhöht die Verwerflichkeit des Lasters. Denn wir reizen ihn zum Eifer, wenn wir ersonnene Götter an seine Statt setzen, wie ja auch eine schamlose Frau ihren Mann noch mehr in Zorn ver setzt, wenn sie vor seinen Augen mit ihrem Buhlen umgeht. Gott hat ja verheißen, mit gegenwärtiger Kraft und Gnade bei dem erwählten Volke zu sein und auf es zu achten, um es desto mehr von dem Frevel des Abfalls abzuschrecken, und so erinnert er jetzt daran: es ist unmöglich, zu fremden Göttern überzugehen, ohne daß er solchen Frevel sieht und sein Zeuge ist! Solche Vermessenheit aber wächst zu schrecklicher Gottlosigkeit, wenn man meint, mit seinem Abfall vor Gott verborgen bleiben zu können. Auf der anderen Seite macht uns der Herr kund, daß alles, was wir sinnen, ins Werk setzen und tun, vor sein Angesicht kommt. Des halb muß unser Gewissen auch von dem verborgensten abtrünnigen Gedanken frei sein, wenn unser Gottesdienst dem Herrn gefallen soll. Denn er will seinen Ruhm nicht bloß dadurch rein erhalten und unverdorben wissen, daß wir bloß ein äußer liches Bekenntnis ablegen, sondern er will solch Bekenntnis vor seinen Augen haben, die das Verborgenste unseres Herzens erschauen.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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Zweites Gebot.



Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, noch des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht …


II,8,17

Wie Gott im vorigen Gebot kundtat, daß er der eine ist, außer welchem keiner lei andere Götter zu denken oder zu verehren sind, so gibt er jetzt deutlich zu ver stehen, was für ein Gott er ist und welcher Gottesdienst ihm zu seiner Ver ehrung wohlgefällt, damit wir ihm nicht etwas Fleischliches anzudichten wagen! Die Absicht dieses Gebotes geht dahin, daß er seine rechte Verehrung nicht durch abergläubische Gebräuche entweihen lassen will. Deshalb will er uns — und das ist im wesentlichen der Inhalt des Gebots — von allen fleischlichen Vorstellungen, die unser Sinn, wenn er Gott nach seiner eigenen, groben Art denken will, notwendig aufbringt, gänzlich wegrufen und abziehen und uns zu dem rechtmäßigen Gottes dienst, der da geistlich ist und den er selbst angeordnet hat, bereit machen. Das scheußlichste Laster, das bei der Übertretung dieses Gebots eintreten kann, nennt er mit Namen: den offenen Götzendienst.

Das Gebot zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil wird unser Leichtsinn an den Zügel genommen, damit wir nicht Gott, der doch unbegreiflich ist, unseren Sinnen unterwerfen und unter irgendwelchem Bilde darzustellen wagen. Im zweiten Teil wird uns untersagt, irgendwelche Bilder in gottesdienstlicher Absicht (religionis causa) anzubeten. Dabei nennt Gott in Kürze alle die Arten von Bildern, unter denen er gemeinhin unter unfrommen und abergläubischen Heiden dargestellt wurde. Unter dem, „was oben im Himmel ist“, versteht er Sonne, Mond, andere Gestirne und auch wohl die Vögel; wie er ja bei der Erläuterung des Gesetzes im vierten Kapitel des Deuteronomiums die Vögel wie die Gestirne ausdrücklich nennt (Deut. 4,17.19). Das letztere hätte ich nicht erwähnt, wenn nicht einige, wie ich sehe, diese Stelle auf die Engel bezögen! Die übrigen Stücke sind ja aus sich selbst wohl zu verstehen; deshalb will ich sie hier übergehen. Ich habe ja auch schon im ersten Buche klar genug dargelegt, daß alle sichtbare Gestalt, die der Mensch Gott andichtet, ganz und gar mit Gottes Wesen im Widerspruch steht, und daß jegliche Aufstellung von Götzenbildern die wahre Religion verderbt und verfälscht.

II,8,18

Die Worte der Drohung, die nun zugefügt sind, sollen uns aus unserer Trägheit aufrütteln. Da droht Gott:



Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied derer, die mich hassen, und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich liebhaben und meine Gebote halten.



Das bedeutet soviel, als wenn er sagte: Ich bin der einzige, an dem ihr hangen sollt! Um uns dazu zu bringen, stellt er uns seine Macht vor Augen, die sich nicht ungestraft verachten oder geringschätzen läßt. Er verwendet hier den Gottesnamen „El“, d. h. Gott; indessen ist dieser Name von „Stärke“ abgeleitet, und ich habe, um das deutlicher zum Ausdruck zu bringen, dieses „stark“ ohne Bedenken auch über setzt und in den Zusammenhang eingefügt. Ferner nennt er sich „eifrig“ oder eifersüchtig, d. h. er kann keinen anderen an seiner Seite dulden! Und zum dritten erzeigt er sich als der Rächer seiner Majestät und Herrlichkeit gegen jeden, der diesen Ruhm der Kreatur oder einem Menschengebild zuteil werden läßt, und zwar nicht in einfacher und kurzer Vergeltung, sondern dauernd, bis hin zu den Kindern und Enkeln und Urenkeln, die natürlich die väterliche Gottlosigkeit nachmachen! In gleicher Weise verheißt er denen, die ihn lieben und sein Gesetz halten, auch seine Barmherzigkeit und Freundlichkeit bis auf Kindeskind! Gott vergleicht sich uns gegenüber oft mit einem Ehegatten; denn die Verbindung, die er mit uns durch un sere Aufnahme in den Schoß der Kirche eingegangen ist, ähnelt dem heiligen Ehe­stande, der ja auf gegenseitiger Treue beruht. Wie er selbst allen Gläubigen gegenüber das Amt eines wahrhaften Ehegatten ausübt, so verlangt er wiederum von uns Liebe und eheliche Zucht. Und das heißt: wir sollen unsere Seele nicht dem Satan, der Begierde und den schmutzigen Lüsten des Fleisches zum Ehebruch preis geben. Wenn Gott die Abtrünnigkeit der Juden straft, so klagt er sie an, alle Scham von sich geworfen und sich mit Hurerei befleckt zu haben. Und wie ein Gatte, je rechtschaffener und zuchtvoller er selber lebt, desto heftiger in Zorn gerät, wenn er das Herz seines Weibes zu einem Nebenbuhler sich neigen sieht — so kündigt uns auch der Herr, der sich uns ja „verlobt hat“ in Wahrheit (Anklang an Hos. 2,21f.), seinen eifersüchtigen Zorn an, wenn wir die Reinheit seines heiligen Ehebundes mit uns vergessen und in frevlerischer Lust dem Ehebruch verfallen. Und das geschieht besonders dann, wenn wir die Verehrung seiner göttlichen Majestät, die doch ihm ganz allein zukommt, einem anderen geben oder sonst mit irgendeinem Aberglauben beflecken. Denn solchermaßen verletzen wir nicht nur die schuldige eheliche Treue, sondern verunreinigen den Bund selber in ehebrecherischer Schande.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,8,19

Wir müssen aber noch zusehen, was es bedeutet, wenn es in der Drohung heißt, Gott werde die Missetat der Väter an den Kindern heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied. Denn es liegt doch der göttlichen Gerechtigkeit fern, einen Unschul digen für die Übeltat eines andern zu bestrafen. Und dazu hat doch Gott selber ver sichert: „Der Sohn soll nicht tragen die Missetat seines Vaters“ (Ez. 18,20). Und doch wird der Satz, wie er sich im Gebot findet, mehr als einmal wiederholt, nämlich daß die Strafe für die Missetat der Väter auch auf künftige Geschlechter kommen soll. So redet Mose Gott mehrfach so an: „Herr, Herr, der du heimsuchst die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied“ (Num. 14,18). Und ebenso auch Jeremia: „Der du Barmherzigkeit tust an Tausenden und die Missetat der Väter auf die Söhne bringst, die nach ihnen sind“ (Jer. 32,18). Einige, die auf die Lösung dieses Knotens viel Schweiß verwenden, möchten das nur auf die zeitlichen Strafen bezogen sehen; sie finden es nicht widersinnig, daß die Kinder für die Missetaten der Väter leiden, da sie ja oft zu ihrem eigenen Heil in Trübsal geraten! Das ist an sich wahr; denn Jesaja hat ja dem Hiskia angedroht, seine Söhne würden das Reich verlieren und in die Verbannung gehen müssen, und zwar wegen der Sünde, die er begangen hatte! (Jes. 39,6.7). Es wird ja auch das Haus des Pharao und des Abimelech in Not gebracht — wegen des dem Abraham zuge fügten Unrechts (Gen. 12,17; 20,3) usw. Will man aber diese Tatsachen verwenden, um diese Frage zu lösen, so ist das mehr ein Ausweichen als eine rechte Auslegung. Denn die Vergeltung, die hier und an anderen Stellen angedroht wird, ist doch viel zu schwer, um auf das gegenwärtige Leben eingegrenzt zu werden. Man muß also annehmen, daß des Herrn gerechter Fluch nicht nur auf dem Haupte des Übeltäters selber, sondern auch auf seiner ganzen Familie ruht. Wo aber der Fluch waltet, ist da etwas anderes zu erwarten, als daß der Vater, vom Geiste Gottes verlassen, ein frevelhaftes Leben führt, daß der Sohn, wegen der Bosheit seines Vaters gleichermaßen vom Herrn verlassen, den gleichen verderblichen Weg einschlägt — und der Enkel und Urenkel, verworfener Same verworfener Leute, nun auch nach ihnen ins Unheil stürzt?

II,8,20

Wir wollen zunächst erwägen, ob eine derartige Vergeltung der göttlichen Gerechtigkeit zuwiderläuft. Wenn die ganze menschliche Natur verdammungswürdig ist, so wissen wir, daß denen, die der Herr des Empfangs seiner Gnade nicht wür digt, notwendig der Untergang bereitet ist. Trotzdem gehen sie an ihrer eigenen Ungerechtigkeit, nicht aber an ungerechtem Haß Gottes zugrunde. Hier können sie auch nicht klagen, warum sie denn nicht auch, wie andere, durch Gottes Gnade zum Heil geführt werden. Wenn also Gottlose und Übeltäter wegen ihrer Freveltat die Strafe trifft, daß ihr Haus auf viele Geschlechter hinaus der Gnade Gottes ver lustig geht, wer will dann Gott wegen solcher gerechten Vergeltung zur Rechenschaft ziehen? — „Aber der Herr hat doch anderseits“ — entgegnet man — „kundgetan, daß der Sohn die Missetat des Vaters nicht tragen soll“ (Ez. 18,20)! — Man muß darauf achten, um was es sich hier handelt. Die Israeliten wurden ja lange Zeit und heftig mit allerlei Not geplagt, und da kam unter ihnen das Sprichwort auf: „Unsere Väter haben Herlinge gegessen, und den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Das sollte heißen: unsere Väter haben Sünde getan — und wir, die wir doch gerecht sind und keine Strafe verdient haben, müssen die Strafe er leiden — wobei also Gott unversöhnlich zürnt und nicht mit Maßen Strenge übt! Solchen Leuten verkündet nun der Prophet: so ist es nicht! Denn sie werden ja um ihrer eigenen Sünde willen geplagt, wie er zeigt, und es entspricht der Gerechtigkeit Gottes nicht, daß ein gerechter Sohn für die Übeltat eines verbrecherischen Vaters die Strafe leide; das ist aber bei der hier zur Besprechung stehenden Drohung auch nicht der Fall. Denn diese „Heimsuchung“, von der die Rede ist, kommt ja da durch zustande, daß der Herr der Nachkommenschaft der Gottlosen seine Gnade, das Licht der Wahrheit und alle übrige Hilfe zum Heil entzieht; und eben weil die Söhne in ihrer Verblendung und Gottverlassenheit den Spuren der Väter beharr lich folgen, unterliegen sie der Strafe für die Missetaten der Väter. Daß sie aber zeitlichem Unglück unterworfen werden und schließlich ewig verlorengehen, das ge schieht nach Gottes gerechtem Urteil nicht um fremder Sünde, sondern um ihrer eigenen Bosheit willen.

II,8,21



Auf der anderen Seite steht die Verheißung Gottes, Barmherzigkeit zu tun an vielen Tausenden. Diese findet sich auch häufig in der Schrift, und gar zu dem feier lichen Bundesschluß Gottes mit seiner Kirche gehört sie: „Ich will dein Gott sein — und deines Samens nach dir“ (Gen. 17,7). Darauf nimmt auch Salomo Bezug und schreibt, den Kindern der Gerechten werde es nach deren Tode wohl ergehen (Spr. 20,7). Das hat seinen Grund nicht nur in der rechten Erziehung, die freilich auch an sich keine geringe Bedeutung hat, sondern in der im Bunde Gottes verheißenen Segnung, daß Gottes Gnade über Kindern und Kindeskindern der Frommen ewig lich walte! Das ist für die Frommen ein gewaltiger Trost, für die Gottlosen ein furchtbarer Schrecken; denn wenn selbst nach dem Tode noch bei Gott die Erinnerung an Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Kraft bleibt, so daß also sein Fluch wie sein Segen auch die Nachfahren noch trifft, so muß beides ja noch viel mehr auf den Häuptern derer ruhen, die das Gute oder Böse selbst getan haben! Daß übrigens zuweilen die Kinder Gottloser wohlgeraten, die Kinder von Frommen aber entarten, besagt nichts gegen das eben Ausgeführte; denn der Gesetzgeber hat hier nicht eine undurchbrechliche Regel geben wollen, die seiner freien Erwählung Eintrag tun könnte. Es genügt zum Trost des Gerechten und zum Schrecken des Sünders, daß diese Drohung nicht leer oder unwirksam ist, wenn sie auch nicht immer zur An wendung kommt. Denn die zeitlichen Strafen, die einige wenige Gottlose treffen, sind ja ein Zeugnis des göttlichen Zorns gegen die Sünde und auch des kommenden Ge richts gegen alle Sünder, obwohl viele bis an ihr Lebensende gut davonkommen. Und ebenso: wenn der Herr ein Beispiel dieser Segnung gibt, daß er den Sohn um des Vaters willen mit seiner Barmherzigkeit und Freundlichkeit verfolgen werde, so ist das ein Zeugnis seiner beständigen, dauernden Gnade gegenüber den Seinen. Und wenn er des Vaters Missetat einmal an dem Sohne straft, so zeigt er damit, was für ein Gericht aller Gottlosen wegen ihrer bösen Taten wartet; auf diese Gewißheit kommt es hier vor allem an. Zugleich macht er uns aber auch bei dieser Gelegenheit auf die Größe seiner Barmherzigkeit aufmerksam, die er auf tausend Geschlechter ausdehnt, während seine Rache nur über vier Glieder ergeht!

Drittes Gebot.



Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.






II,8,22

Die Absicht dieses Gebots ist die: Gott will, daß uns die Majestät seines Na mens heilig sei! Der Hauptinhalt wird also sein, daß wir diese Majestät nicht verachten oder durch Unehrbietigkeit entheiligen. Diesem Verbot entspricht nach der von uns aufgestellten Regel das Gebot: wir sollen es uns angelegen sein las sen, Gottes Majestät mit frommer Ehrerbietung zu begegnen. Deshalb müssen wir also Herz und Zunge hüten, nichts über Gott selber und seine Geheimnisse zu denken oder zu reden ohne die schuldige Ehrfurcht und Scheu, und auch bei der Betrachtung seiner Werke in allem unserem Denken ihm die Ehre geben. Daraus ergeben sich dreierlei Pflichten, die wir sehr ernstlich zu beachten haben. Zuerst: was un ser Verstand von ihm denkt, unsere Zunge ausspricht, das muß seine Würde bezeugen, der Herrlichkeit seines heiligen Namens angemessen sein und endlich zur Erhöhung seines Ruhms dienen. Zweitens sollen wir sein heiliges Wort und seine anbetungswürdigen Geheimnisse nicht leichtsinnig oder verkehrt anwenden, etwa zur Befriedigung unseres Ehrgeizes oder unserer Habgier oder auch zum Scherz; vielmehr tragen sie ja seinen Namen mit seiner ganzen Würde an sich und müssen deshalb von uns aller Ehren wert gehalten werden. Und drittens sollen wir seine Werke nicht tadeln oder herabwürdigen, wie ja einige elende Menschen tun, die sie immerzu lästern; sondern sooft wir seiner Werke und Taten gedenken, sollen wir seine Weisheit, Gerechtigkeit und Güte preisen! Das heißt: den Namen Gottes „heiligen“; im anderen Falle wird er durch eitlen und bösartigen Mißbrauch befleckt, weil er ja aus dem von Gott geordneten Gebrauch, für den er allein gehei ligt war, herausgerissen wird und eben dadurch, selbst wenn ihm sonst keine Schmach widerführe, allmählich in Verachtung gerät. Ist aber schon dieser leichtsinnige und unnütze Gebrauch des Namens Gottes etwas so Böses, so natürlich noch viel mehr, wenn man sich des Namens Gottes zu allerlei schändlichen, sündigen Dingen bedient, wie zu abergläubischer Totenbefragung, Flüchen und Verwünschungen, unerlaubten Geisterbeschwörungen und dergleichen gottloser Zauberei.

Besonders aber ist in diesem Gebot der Eid gemeint, in welchem ein Mißbrauch des göttlichen Namens ganz außerordentlich verabscheuenswert ist; dadurch sollen wir nun wieder von jeglicher anderen Entheiligung dieses Namens abgeschreckt werden. Indessen handelt es sich hier um ein Gebot, das Gottes Verehrung und die Ehrfurcht vor seinem Namen betrifft, nicht aber die Billigkeit, die unter den Menschen sein muß; das ergibt sich daraus, daß Gott in der zweiten Tafel des Gesetzes dann den Meineid und das falsche Zeugnis verdammt, die die mensch liche Gemeinschaft zerstören: das wäre eine überflüssige Wiederholung, wenn schon dieses Gebot von der Pflicht der Liebe handelte. Schon die Unterscheidung (der beiden Tafeln) erfordert das; denn Gott hat uns, wie gesagt, das Gesetz nicht grund los in zwei Tafeln gegeben. So ergibt sich, daß dies dritte Gebot die Absicht enthält, Gottes Recht zu schützen und die Heiligkeit seines Namens zu verteidigen, nicht aber die Menschen zu lehren, was sie einander schuldig sind.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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II,8,23

Zuerst müssen wir nun vom Wesen des Eides sprechen. Er ist die Anrufung Gottes als Zeugen, mit welcher wir die Wahrheit unserer Rede bekräftigen wollen. Denn die Verwünschungen enthalten ja eine offene Gotteslästerung und können des halb nicht zu den Eidschwüren gerechnet werden. Wo dagegen solche Anrufung Got tes als Zeugen recht geschieht, da ist sie, wie an vielen Stellen der Schrift sich zeigt, eine Gestalt der Verehrung Gottes. So weissagt Jesaja die Berufung der Assy rer und Ägypter in die Gemeinschaft des Bundes mit Israel. „Sie werden die Sprache Kanaans sprechen und bei dem Namen des Herrn schwören“ (Jes. 19,18). Das heißt: diese Völker legen durch dieses Schwören beim Namen des Herrn das Bekenntnis ab, daß er ihr Gott ist! Ebenso sagt Jesaja auch, um die künftige Aus­breitung des Reiches Gottes zu bezeugen: „Wer sich Heil erfleht, wird es bei dem Gott der Gläubigen tun, und wer schwören wird auf Erden, der wird bei dem wahren Gott schwören“ (Jes. 65,16; nicht Luthertext). Ähnlich auch Jeremia: „Wenn sie von meinem Volk lernen werden, daß sie schwören bei meinem Namen, wie sie zuvor mein Volk gelehrt haben schwören bei Baal, so sollen sie unter mei nem Volk erbaut werden (Jer. 12,16). Und man kann ja auch mit Recht sagen, daß wir durch die Anrufung des Namens des Herrn zum Zeugnis — unsere Ver ehrung dieses Herrn bezeugen. Denn damit bekennen wir: Er ist die ewige und untrügliche Wahrheit, ihn rufen wir nicht nur an als den vor allen anderen ausge zeichneten Zeugen der Wahrheit, sondern auch als deren einzigen Beschützer, der das Verborgene ans Licht bringen kann, kurz als den Herzenskünder! Wo nämlich das Zeugnis der Menschen fehlt, da nehmen wir unsere Zuflucht zu Gott als unserem Zeugen, und zwar eben besonders, wo offenbar werden soll, was im Gewissen ver­borgen liegt. Deshalb entbrennt auch des Herrn Zorn so heftig über die, welche bei anderen Göttern schwören, und er bezeichnet diese Art Eidschwur als Zeichen des offenkundigen Abfalls von ihm. „Deine Kinder verlassen mich und schwören bei denen, die nicht Götter sind“ (Jer. 5,7). Wie schwer dieser Frevel vor ihm wiegt, das kommt in der Strafdrohung zum Vorschein: „Ich will verderben, die bei dem Herrn schwören und zugleich bei Milkom“ (Zeph. 1,5).

II,8,24

Wir sahen, wie nach des Herrn Willen unsere Eidschwüre als ein Stück seiner Verehrung anzusehen sind. Um so mehr müssen wir darauf achthaben, daß sie nicht statt zur Verehrung zur Schmähung, Verachtung und Entweihung seines Namens dienen. So ist es eine Lästerung seines Namens, wenn man bei ihm einen falschen Eid tut; das heißt deshalb im Gesetz auch „Entheiligung“ des Namens Gottes (Lev. 19,12). Denn was bleibt dem Herrn, wenn man ihm seine Wahrheit nimmt? Er hört auf, Gott zu sein! Aber man nimmt ihm doch wirklich die Wahrheit, wenn man ihn zum Zeugen und Bestätiger der Lüge macht! Deshalb sagt auch Josua, um den Achan zum Geständnis der Wahrheit zu bringen: „Mein Sohn, gib dem Herrn, dem Gott Israels, die Ehre!“ (Jos. 7,19); damit deutet er an, daß der Herr aufs schwerste entehrt wird, wenn man bei seinem Namen falsch schwört: Das ist auch kein Wunder, denn von uns aus wird ja auf diese Weise geradezu seinem heiligen Namen der Makel der Lüge eingebrannt! Jene Redeweise, die Josua verwendet, scheint bei den Juden allgemein im Gebrauch gewesen zu sein, wenn man jemanden zur Ablegung des Eides auffordern wollte; das ergibt sich aus der Tat sache, daß sich im Evangelium Johannis auch die Pharisäer dieser Formel bedienen (Joh. 9,24). Zu jener Vorsicht mahnen uns auch andere Redewendungen, die in der Schrift Verwendung finden, wie „So wahr der Herr lebt“ (1. Sam. 14,39), oder „Der Herr tue mir dies und das“ (2. Sam. 3,9), oder „Gott sei Zeuge über meine Seele“ (2. Kor. 1,23). Alle diese Redewendungen beim Eide deuten an: wir können Gott nicht zum Zeugen für unsere Aussage anrufen, ohne ihn zugleich zur Rache für den Meineid aufzufordern, sofern wir falsch schwören.

II,8,25

Herabgewürdigt und gemein gemacht wird Gottes Name auch dann, wenn wir ihn zu überflüssigen, wenn auch nicht unwahren Eidschwüren gebrauchen. Denn auch da bei wird er unnützlich geführt. Deshalb genügt es nicht, den Falscheid zu meiden; wir müssen zugleich bedenken, daß der Eid nicht um der Lust willen oder zum Ver gnügen, sondern um der Not willen erlaubt und eingerichtet ist. Wer also unnöti­gerweise den Eid zur Anwendung bringt, der geht über den erlaubten Gebrauch hinaus. Erforderlich ist aber der Eid dann, wenn es gilt, der Religion oder der Liebe zu dienen. Hierin wird heutzutage sehr leichtsinnig gesündigt, und das ist um so schlimmer, als man infolge der eingerissenen Gewohnheit solches leichtsinnige Schwören gar nicht mehr für Sünde hält, obwohl es doch vor Gottes Richter stuhl gewiß nicht gering angeschlagen wird. So wird der Name Gottes allenthalben auch in albernem Geschwätz leichtsinnig zum Schwur gebraucht; und dabei meint man nicht einmal, etwas Unrechtes zu tun, weil man durch lange geübte und unge straft gebliebene Vermessenheit geradezu rechtmäßig in den Besitz dieses Lasters gekommen zu sein glaubt! Und doch bleibt des Herrn Gebot in Kraft, auch bleibt die Strafdrohung fest bestehen — und sie wird einst zur Wirkung kommen, wenn alle, die seinen Namen mißbrauchen, ihre besondere Strafe erhalten werden.

Man sündigt aber noch in einem anderen Stück: nämlich wenn man beim Schwören an Gottes Stelle seine heiligen Knechte setzt. Das ist offenbare Gottlosigkeit:denn auf diese Weise überträgt man Gottes Ehre auf die Heiligen! (Ex. 23,13). Auch ist es ja nicht ohne Grund geschehen, daß der Herr in besonderem Gebot be fiehlt, bei seinem Namen zu schwören, und uns in besonderem Verbot unter sagt, beim Schwören den Namen anderer Götter hören zu lassen (Deut. 6,13; 10,20). Und der Apostel bezeugt das auch ganz deutlich: er schreibt, die Menschen leiste ten den Eid bei einem Höheren, als sie selber sind, Gott aber, über dem ja in seiner Herrlichkeit niemand steht, habe bei sich selbst geschworen (Hebr. 6,16f.).
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

Der Pilgrim
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Beitrag von Der Pilgrim »

II,8,26

Solches Maßhalten im Gebrauch des Eides genügt den Wiedertäufern nun nicht, sondern sie verwerfen den Eid vollständig, weil ja Christi Verbot des Schwörens von allgemeiner Geltung sei: „Ich aber sage euch, ihr sollt allerdinge nicht schwören … Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel“ (Matth. 5,34-37). Aber auf diese Weise rennen sie unbedacht gegen Christus an, indem sie ihn nämlich dem Vater entgegenstellen — als ob er auf die Erde gekommen sei, die Gebote des Vaters abzuschaffen! Denn der ewige Gott hat in seinem Gesetz den Eid nicht nur als etwas Rechtmäßiges erlaubt — was schon für sich ein aus reichender Beweis für die Zulässigkeit des Schwörens wäre — sondern für den Fall der Not geboten! (Ex. 22,10). Christus aber betont doch seine Einheit mit dem Vater (Joh. 10,30), bezeugt auch, daß er nichts beibringt, als was ihm der Vater aufgetragen (Joh. 10,16), daß seine Lehre nicht sein ist, sondern des, der ihn ge sandt hat (Joh. 7,16) usw. Wie nun? Will man Gott mit sich selber in Wider spruch setzen, daß er also einmal ein Gebot gegeben und dann das zuvor Gebotene verboten und verdammt habe?
Aber in den Worten Christi steckt tatsächlich eine gewisse Schwierigkeit; des halb wollen wir sie kurz erläutern. Wir werden dabei jedoch nie das Richtige erken nen, wenn wir nicht Christi Hauptabsicht und den eigentlichen Inhalt seiner Worte fest im Auge behalten. Er hat ja nicht vor, das Gesetz zu erweichen oder einzuschrän ken, sondern es auf seinen rechten und reinen Sinn zurückzuführen, den die Schrift­gelehrten und Pharisäer mit ihren Phantastereien übel entstellt hatten. Halten wir das fest, so werden wir gar nicht auf den Gedanken verfallen, Christus hätte den Eid gänzlich verworfen: er verwirft nur den Eid, der die im Gesetz gegebene Richt schnur verläßt. Aus seinen eigenen Worten ersieht man, daß das Volk dazumal bloß einige Scheu vor dem Meineid hatte, während doch das Gesetz nicht nur den falschen, sondern auch den leichtfertigen, überflüssigen Eidschwur ver bietet! Der Herr erklärt also als zuverlässigster Ausleger des Gesetzes nicht nur das Falschschwören, sondern jegliches Schwören für Sünde. Aber welches? Offen kundig doch das leichtfertige Schwören! Den Eid, der vom Gesetz empfohlen wird, läßt er unberührt und frei. Die Wiedertäufer aber haben sich, um ihre Lehre zu verteidigen, ganz auf das Wörtlein „allerdinge“ festgebissen; dies gehört aber gar nicht zu „schwören“, sondern es bezieht sich auf die nachfolgenden Beteuerungs formeln. Denn zu dem damals verbreiteten Irrtum gehörte auch die Neigung, bei Himmel und Erde zu schwören, in der Ansicht, damit den Namen Gottes zu um gehen. So schneidet ihnen der Herr außer der hauptsächlichen Übertretung auch alle Ausflüchte ab, so daß sie also nicht wähnen sollen, sie gingen frei aus, wenn sie Gottes Namen verschwiegen und dafür Himmel und Erde zu Zeugen anriefen! Denn hier muß im Vorbeigehen doch bemerkt werden: der Mensch schwört auch dann tatsächlich bei Gott, wenn er seinen Namen nicht ausdrücklich nennt, sondern unter allerlei Formeln versteckt, wie z. B. wenn einer bei dem Lebenslicht, bei dem Brote, das ihn nährt, bei seiner Taufe oder anderen Pfändern der göttlichen Freundlich keit seinen Eid tut. Wenn also Christus in der Bergpredigt das Schwören bei dem Himmel oder der Erde oder der Stadt Jerusalem untersagt, so will er damit nicht, wie einige fälschlich annehmen, dem Aberglauben wehren; er will vielmehr die scheinkluge Spitzfindigkeit der Juden widerlegen, die ja meinten, solche leichtfertigen
Eidschwüre seien nicht so schlimm, wenn sie bei irgendwelchen Dingen, nicht bei Gottes Namen geschehen wären, als ob man also dabei sozusagen Gottes Namen ge schont hätte — der doch all den einzelnen Wohltaten aufgeprägt ist! Eine andere Sache ist es, wenn beim Schwören an Gottes Stelle ein sterblicher Mensch oder ir gendein Toter oder auch ein Engel tritt; so hat man bei den Heiden die üble, schmeichlerische Redeweise erdacht: „Bei dem Leben des Königs“ oder auch: „Bei dem Genius des Königs“. Das ist nun eine falsche Menschenvergötterung und dient dazu, die Ehre des einen Gottes zu verdunkeln oder geringzumachen! Aber auch wo man nur die Absicht hat, von dem Namen Gottes selbst eine Bekräftigung der eigenen Rede zu erwarten, da bedeuten solche leichtfertigen Schwüre — selbst wenn es ohne ausdrückliche Nennung des Namens Gottes zugeht — eine Verletzung seiner Ma jestät. Diesem Leichtsinn nimmt Christus seinen nichtigen Vorwand, indem er „allerdinge“ zu schwören verbietet. Ähnlich ist auch die Absicht des Jakobus, der die oben erwähnten Worte Christi aufnimmt (Jak. 5,12) — denn jener Leichtsinn ist zu allen Zeiten in der Welt groß gewesen, obwohl er doch eine Entheiligung des Na mens Gottes ist. — Würde sich das Wörtlein „allerdinge“ auf den Eid als solchen beziehen, als ob also jedwedes Schwören ohne Ausnahme unzulässig wäre — wozu dann noch die Erklärung, die dann folgt: „weder bei dem Himmel … noch bei der Erde …“? Daraus wird genugsam deutlich, daß Christus hier Ausreden ent gegentritt, mit denen die Juden ihr Vergehen zu verharmlosen suchten.


II,8,27

Vernünftige Beurteiler werden es also völlig eindeutig finden, daß der Herr in der Bergpredigt nur solche Eidschwüre verbietet, die auch durch das Gesetz unter sagt waren. Denn er hat sich ja auch selbst, obwohl er doch in seinem Leben das rechte Vorbild der von ihm gelehrten Vollkommenheit bot, nicht gescheut, zu schwö ren, wenn die Lage es erforderte, und die Jünger, die doch ihrem Meister unzweifel haft in allen Dingen nachgefolgt sind, haben sich diesem Beispiel angeschlossen. Wer würde sagen, Paulus könnte geschworen haben, wenn das Schwören gänzlich verbo ten gewesen wäre? Und doch hat Paulus, wo die Umstände es verlangten, ohne jedes Bedenken geschworen, ja er setzt zuweilen noch eine Formel bei, nach der er verflucht sein will, wenn er falsch aussagt (Röm. 1,9; 2. Kor. 1,23).
Indessen ist unsere Frage noch nicht völlig gelöst. Es gibt nämlich Leute, die von dem Eidesverbot einzig den öffentlichen Eid ausgenommen wissen wollen, also zum Beispiel den Eid, den wir auf Anforderung der Obrigkeit leisten, oder den Schwur, wie ihn Fürsten bei dem Abschluß von Bündnissen anwenden oder wie ihn das Volk leistet, wenn es dem Fürsten Treue schwört, oder auch der Soldat, wenn er dem Kriegsherrn schwört oder dergleichen. Zu dieser Art von Eidschwüren rechnet man dann — und zwar mit Recht! — auch die Eidschwüre bei Paulus, die dazu die nen, die Würde des Evangeliums zu verteidigen. Denn die Apostel sind in ihrem Amt keine Privatleute, sondern öffentlich beglaubigte Diener Gottes! Ich leugne auch nicht, daß man dergleichen Eide mit fester Sicherheit ablegen darf, da sie das un zweideutige Zeugnis der Schrift für sich haben. Die Obrigkeit soll in zweifelhafter Sache den Zeugen unter Eid vernehmen, und dieser soll ihn schwören, wobei der Eid nach dem Wort des Apostels „ein Ende macht alles Haders“ (Hebr. 6,16). In diesem Gebot haben die Obrigkeit, die den Eid fordert, und auch der Mensch, der ihn leistet, eine feste Bestätigung ihres Tuns. So kann man auch bei den alten, heid nischen Völkern sehen, daß sie den öffentlichen, feierlichen Eid in hohen Ehren hiel ten; den privaten dagegen, den sie tagtäglich übten, schätzten sie für nichts oder zum mindesten sehr gering, ganz als ob solches Schwören Gottes Majestät nichts an ginge.
Trotzdem wäre es gefährlich, den außergerichtlichen Eidschwur, sofern er doch in der gebührenden Bescheidenheit, Heiligkeit und Gottesfurcht und nur im Falle der Not geleistet wird, zu verdammen; denn solche Eide lassen sich aus der Vernunft und auch aus allerlei Beispielen rechtfertigen. Wenn doch Einzelpersonen bei wich tigen und ernsten Sachen Gott zum Richter zwischen sich anrufen dürfen, so dür fen sie ihn doch sicher zum Zeugen anrufen! Da wirft dir dein Bruder Treulosig keit vor; du willst dich von diesem Vorwurf um der Liebe willen reinigen; er aber läßt sich durch keinerlei Gründe überzeugen. Wenn nun dein guter Ruf durch seine beharrlichen Verdächtigungen leidet, so kannst du ohne Bedenken Gott als Richter anrufen, er möge deine Unschuld zu seiner Zeit ans Licht bringen. Wollen wir die Worte wägen, so ist es gar etwas Geringeres, Gott bloß zum Zeugen anzurufen. Ich kann also nicht einsehen, was denn bei solcher Anrufung Unzulässiges sein sollte. Es gibt doch auch viele Schriftzeugnisse dafür. Vielleicht daß man behauptet, der Eidschwur des Abraham und des Isaak mit Abimelech trage öffentlichen Charakter (Gen. 21,24; 26,31). Aber Jakob und Laban waren sicher Privatpersonen, und doch haben sie unter beiderseitiger Eidesleistung einen Bund miteinander gemacht! (Gen. 31,53f.). Auch Boas war ein Privatmann, und doch bekräftigte er sein Ehever sprechen an Ruth mit einem Eid (Ruth 3,13). Auch Obadja, ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, der einen Eid tat, er wolle Elias Herz erweichen, war eine Privatperson (1. Kön. 18,10).
Ich weiß also keine bessere Regel als die: unsere Eide müssen wir so in Maß halten, daß wir weder leichtsinnig, noch unnötig, noch in böser Absicht, noch mutwillig schwören. Vielmehr soll unser Eid der gerechten Notdurft dienen, wenn es gilt, des Herrn Ehre zu verteidigen oder unserem Nächsten beizustehen, wie es das Gesetz mit diesem Gebot ja auch will.
Simon W.

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