Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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Viertes Gebot.

Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein Werk tun …

II,8,28

Der Zweck dieses Gebotes ist: wir sollen unseren eigenen Begierden und Werken absterben, nach Gottes Reich trachten und uns in diesem Trachten nach den Regeln, die er uns gab, üben. Da nun aber das Gebot einen besonderen und von den anderen geschiedenen Gegenstand behandelt, so erfordert es auch eine ganz besondere Aus legungsweise. Die Alten nennen es gewöhnlich „schattenhaft“, weil es ja die äußere Heilighaltung eines Tages zum Inhalt hat, der durch Christi Ankunft mit den üb rigen Vorbildern abgeschafft wurde. Das ist sehr richtig gesagt, erschöpft aber die Sache nur zur Hälfte. Deshalb muß die Auslegung noch tiefer gehen; dabei sind denn drei Vorschriften zu bedenken, die dieses Gebot nach meiner Ansicht enthält. Erstens wollte der himmlische Gesetzgeber unter der Ruhe am siebenten Tage dem Volke Israel ein Bild der geistlichen Ruhe geben, also dies, daß die Gläubigen von allen eigenen Werken feiern und Gott in sich wirken lassen sollen. Zweitens sollte nach seinem Gebot ein bestimmter Tag da sein, an dem man zum Hören des Gesetzes und zum Vollzug der gottesdienstlichen Ge bräuche zusammenkommen sollte, oder der wenigstens der besonderen Betrachtung seiner Werke gewidmet war; diese Betrachtung sollte der Übung in der Frömmig keit dienen. Und drittens wollte Gott den Knechten und denen, die unter anderer Leute Herrschaft standen, einen Ruhetag gönnen, damit sie sich ein wenig von ihrer Arbeit erholen könnten.


II,8,29

Daß die Vorbildung der geistlichen Ruhe die wichtigste Aufgabe des Sabbats war, erfahren wir auf vielerlei Weise. Fast kein Gebot hat der Herr so streng befolgt sehen wollen wie dies (Num. 15,32-36). Will er durch die Propheten die völlige Zerstörung der Gottesfurcht andeuten, so klagt er, daß seine Sabbate befleckt, verletzt, nicht gehalten, nicht geheiligt sind: fehlt hier der Gehorsam – will er andeuten —, dann bleibt nichts, womit er geehrt werden könnte! (Ez. 20,12; 22,8; 23,38; Jer. 17,21.22; 17,27; Jes. 56,2). Anderseits findet das Halten des Sabbats höchstes Lob. Deshalb rühmen die Gläubigen auch die Offenbarung des Sabbats als eine besondere Tat Gottes. So sprachen die Leviten im Nehemiabuche in feierlicher Versammlung: „Du hast deinen heiligen Sabbat ihnen kundgetan und Gebote, Sitten und Gesetz ihnen geboten durch deinen Knecht Mose“ (Neh. 9,14). So wurde also das Sabbatgebot unter allen Geboten des Gesetzes besonderer Ehre gewürdigt. Dies alles dient dazu, die hohe Würde dieses Geheimnisses anzuzeigen, das Mose und Ezechiel so herrlich darstellen. So lesen wir im Buche Exodus: „Sehet zu, haltet meinen Sabbat; denn derselbe ist ein Zeichen zwischen mir und euch auf eure Nachkommen, daß ihr wisset, daß ich der Herr bin, der euch heiliget. Darum haltet meinen Sabbat, denn er soll euch heilig sein“ (Ex. 31,13.14; 35,2). „Darum sollen die Kinder Israel den Sabbat halten, daß sie ihn auch bei ihren Nachkommen halten zum ewigen Bund; er ist ein ewiges Zeichen …“ (Ex. 31,16f.). Ausführ licher redet Ezechiel vom Sabbat; ihm ist die Hauptsache, daß der Sabbat für Israel ein Zeichen sei, an dem es erkennen solle: Gott ist es, der da heiliget (Ez. 20,12). Besteht unsere Heiligung in der Abtötung des eigenen Willens, so zeigt sich schon die Ähnlichkeit zwischen dem äußeren Zeichen und der Sache selbst, die ja innerlich ist. Wir müssen gänzlich ruhen, damit Gott in uns wirke, wir müssen von unserem Willen abstehen, unser Herz hingeben, allen Lüsten des Fleisches absagen. Endlich müssen wir von allen selbsteignen Werken feiern, damit Gott in uns wirke und wir in ihm ruhen, wie der Apostel sagt (Hebr. 3,11ff.; 4,9).


II,8,30

Dies ewige Ablassen von den eigenen Werken stellte Gott den Juden in der Ge stalt der Heiligung des siebenten Tages dar. Damit dieser Tag noch größere Würde gewinne, hat ihn der Herr mit seinem eigenen Beispiel uns anempfohlen. Denn der Mensch läßt sich doch ganz besonders zum Eifer anspornen, wenn er weiß, daß er dem Beispiel des Schöpfers selber nachleben soll. Manche wollen nun auch in der Siebenzahl eine verborgene Bedeutung fin den, weil ja sieben in der Schrift die Zahl des Vollkommenen, Vollendeten ist; und diese Zahl ist ja auch sicherlich nicht ohne Absicht gewählt, um die beständige Dauer dieses Ruhens der Gläubigen anzudeuten. Dazu stimmt auch, daß Mose mit dem siebenten Tage, an welchem der Herr nach seinem Bericht „ruhete von allen seinen Werken“, die sonst immer vorkommende Bemerkung: „Und es ward aus Abend und Morgen …“ nicht mehr anbringt. Eine andere Deutung der Zahl ist auch nicht zu verwerfen: der Herr hätte andeuten wollen, daß der Ruhetag erst dann vollkommen werden könnte, wenn der letzte Tag da sei. Wir fangen gewiß hier unsere selige Sabbatruhe an und schreiten alle Lage in ihr fort; aber der Kampf mit dem Fleische hört nicht auf und kann nicht zu Ende kommen, ehe jene Verheißung des Jesaja in Erfüllung geht, es solle sich Neumond an Neumond, Sabbat an Sabbat reihen (Jes. 66,23), — ehe eben Gott ist alles in allen (1. Kor. 15,28). Es könnte also der Herr seinem Volke in dem siebenten Tage die künftige Vollendung seines Ruhetages angedeutet haben, damit es durch stetiges Achthaben auf den Sabbat in seinem ganzen Leben nach dieser Vollkommenheit sich ausstrecke.


II,8,31

Will nun jemand diese Deutung der Siebenzahl als allzu spitzfindig verwerfen, so hindere ich ihn nicht, eine einfachere anzunehmen. So etwa die: der Herr hat einen bestimmten Tag angesetzt, an dem sich das Volk unter der Zucht des Gesetzes in der fleißigen Betrachtung der geistlichen Ruhe üben sollte. Den siebenten Tag hat er genommen, weil er diesen schon für genügend hielt, oder auch in der Absicht, durch das eigene Beispiel und Gleichnis das Volk stärker anzuspornen oder es wenigstens daran zu erinnern, daß der Sabbat nur den Sinn hat, daß der Mensch seinem Schöpfer gleichartig werde. Es ist ziemlich gleich, welche Deutung man an nimmt, — wenn nur das vornehmlich angedeutete Geheimnis bestehen bleibt: nämlich daß es sich hier um unser stetiges Ruhen von den eigenen Werken handelt. Darauf zu achten ermahnten auch alle Propheten die Juden, wenn sie sie warnten, nur ja nicht zu meinen, es sei mit fleischlicher Ruhe genug getan. Außer den schon angeführten Stellen wollen wir noch ein Jesajawort nennen: „So du deinen Fuß von dem Sabbat kehrest, daß du nicht tust, was dir gefällt, an meinem heiligen Tage, und den Sabbat eine Lust heißest und den Tag, der dem Herrn der Herrlich keit heilig ist, ehrest, so du ihn also ehrest, daß du nicht tust deine Wege, noch darin gefunden werde, was dir gefällt oder leeres Geschwätz, alsdann wirst du Lust haben am Herrn …“ (Jes. 58,13. 14). Indessen ist durch das Kommen des Herrn Christus alles, was an diesem Gebot äußerliche Übung war, abgetan worden. Denn er ist selbst die Wahrheit, durch deren Gegenwart alle Bilder verschwinden, er ist der Leib, durch dessen Sichtbar werden alle Schattenbilder aufgehört haben. Er ist damit die wahre Erfüllung des Sabbats! Durch die Taufe sind wir mit ihm begraben, Mitgenossen seines Todes geworden, um auch Teilhaber an seiner Auferstehung zu sein und in Neuheit des Lebens zu wandeln (Röm. 6,4). So schreibt der Apostel an anderer Stelle, der Sab bat sei ein Schattenbild der künftigen Dinge gewesen, in Christus aber sei der Leib da (Kol. 2,16.17), das heißt, die eigentliche, wesenhafte Wahrheit, wie er sie an jener Stelle ausführlich darstellt. Und diese Wahrheit ist nicht mit einem einzigen Tage zufrieden, sondern verlangt unser ganzes Leben, bis wir an uns selber gänzlich tot und mit Gottes Leben erfüllt sind! Deshalb sollen die Christen mit der aber gläubischen Einhaltung von Tagen nichts zu schaffen haben!
Simon W.

Der Pilgrim
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II,8,32

Indessen gehören die beiden letzten Vorschriften unseres Gebots (nämlich die Absonderung eines Tages für den Gottesdienst der Gemeinde und der Ruhetag für die Dienstleute!) nicht zu den Abbildern, sondern sie behalten ihre Geltung für alle Zeit. Auch nach und trotz der Abschaffung des Sabbats sollen doch bei uns bestimmte Tage da sein, an denen wir zum Hören des Wortes, zum Brechen des hei­ligen Brotes (ad mystici panis fractionem!) und zum gemeinsamen Gebet zusammenkommen. Auch muß den Knechten und Arbeitern ihre Erholung von der Arbeit zuteil werden! Und für dies beides hat der Herr mit dem Sabbatgebot unzweifelhaft Vorsorge treffen wollen. Das erste hat schon allein im Gebrauch bei den Juden eine ausreichende Bezeugung. Das zweite deutet Mose im Deuteronomium an: „Daß dein Knecht und deine Magd ruhe gleichwie du, denn du sollst bedenken, daß auch du Knecht in Ägyptenland warst“ (Deut. 5,14f.). Ähnlich auch im Buche Exodus: „Auf daß dein Ochse und Esel ruhe und deiner Magd Sohn sich erquicke“ (Ex. 23,12). Das betrifft uns beides unleugbar genau so wie die Juden. Gottes Wort schreibt uns ja vor, daß die Kirche zusammenkommen soll, und wie nötig das ist, wird uns schon durch die gewöhnliche Erfahrung im Leben ausreichend klar. Wie soll man aber solche Zusammenkünfte der Kirche aufrechterhalten ohne bestimmte Ordnung und festgesetzte Tage? Nach der Anweisung des Apostels soll doch bei uns alles schicklich und ordentlich zugehen (1. Kor. 14,40). Nun kann aber diese Schicklichkeit und Ordnung ohne solche öffentliche Regelung nicht erhalten werden, so daß im anderen Falle der Kirche unmittelbar die größte Verwirrung und Auflö sung drohte. Wir stehen also unter der gleichen Not, zu deren Überwindung der Herr den Juden den Sabbat gegeben hat, und deshalb soll keiner sagen, mit dem hätten wir nichts zu schaffen. Denn der Vater wollte in seiner herrlichen Vorsehung und Freundlichkeit unserer Not nicht weniger abhelfen als der der Juden. Nun könnte man aber fragen: Warum kommen wir denn nicht alle Tage zusammen, um jene Unterscheidung der Tage (die doch nicht sein soll) zu vermeiden? Ja, wenn es nur so wäre! Denn die geistliche Weisheit wäre wohl wert, daß wir ihr alle Tage ein Stück unserer Zeit widmeten! Aber die Schwachheit vieler läßt solche tagtäglichen Zusammenkünfte nicht möglich werden, und wir können von ihnen auch nicht mehr verlangen, ohne lieblos zu werden. Weshalb sollen wir uns da nicht in die Ordnung fügen, die Gottes Wille uns selber gewiesen hat?


II,8,33

Ich muß hier gezwungenermaßen etwas länger verweilen; denn heutzutage er heben unruhige Geister wegen des Herrntages (Sonntages) viel Lärm. Sie beklagen sich heftig, die Christenheit werde durch die Beobachtung bestimmter Tage im Judentum festgehalten! Ich antworte demgegenüber: es hat gar nichts mit dem Juden tum zu schaffen, wenn wir solche Tage feiern, denn wir unterscheiden uns in dieser Hinsicht von den Juden sehr beträchtlich. Wir behandeln doch den Herrntag nicht wie eine Zeremonie, die wir mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit einhielten, etwa weil uns darin ein geistliches Geheimnis abbildlich vor Augen gestellt würde, sondern wir ver stehen ihn als ein Mittel, das zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Kirche notwendig ist! Aber man erwidert weiter: Paulus sagt doch, man solle dem Christen wegen der Beobachtung „bestimmter Feiertage“ kein „Gewissen machen“, weil die doch nur Schatten der zukünftigen Dinge sind (Kol. 2,16.17), ja er fürchtet, an den Galatern vergebens gearbeitet zu haben, weil diese noch bestimmte Tage beobachteten (Gal. 4,10.11); auch schreibt er den Römern, es sei Aberglaube, wenn jemand zwischen Tag und Tag einen Unterschied mache (Röm. 14,5). — Aber wer — außer diesen wilden Männern! — sieht denn nicht, was Paulus hier im Auge hat, wenn er vom Halten bestimmter Tage spricht? Die Leute hatten damals als Ziel nicht die rechte öffentliche, kirchliche Ordnung vor Augen, sondern sie hielten die Tage als Schattenbilder der geistlichen Dinge bei und verdunkelten insofern Christi Ehre und das Licht des Evangeliums. So feierten sie nicht deshalb von ihrer Berufsarbeit, weil diese sie heiligem Eifer, heiliger Betrachtung entzog, sondern in einer gewissen religiösen Scheu, weil sie nämlich träumten, mit ihrem Feiern das Gedächtnis einst hochgerühmter Geheimnisse zu wahren. Gegen diese verkehrte Unterscheidung von Tagen geht der Apostel vor, nicht aber gegen die rechtmäßige Ordnung, die dem Frieden der christlichen Gemeinde (societas christiana) dient. Denn auch in den von ihm selbst geordneten Gemeinden wurde in diesem Sinne der Sabbat gehal ten. Er verordnet den Korinthern ja selbst diesen Tag, damit sie an ihm die Bei steuer zur Hilfe für die Brüder in Jerusalem einsammelten (1. Kor. 16,2). Fürchtet man den Aberglauben: da waren die jüdischen Feiertage gefährlicher als der Herrn tag, den die Christen feiern! Denn weil es zur Abschaffung des Aberglaubens erfor derlich war, wurde den Juden ihr heiliger Tag genommen — und weil es zur Wahrung der guten Sitte, der Ordnung und des Friedens in der Kirche nötig war, wurde ein anderer Tag an seine Stelle gesetzt!


II,8,34

Die Alten haben den Herrntag, wie wir ihn nennen, mit voller Absicht an die Stelle des Sabbats gesetzt. Denn die wahre Ruhe, die der alte Sabbat vorbildete, ist ja in der Auferstehung des Herrn zum Ziel und zur Erfüllung gelangt; und so erinnert schon dieser Tag, der allen Schattenbildern ein Ende setzte, die Christen daran, daß sie sich bei solchen schattenhaften Zeremonien nicht aufhalten sollen. Übrigens ist mir die Siebenzahl nicht so wichtig, daß ich die Kirche zwingen würde, sie anzuwenden; ich will auch keine Gemeinde verdammen, die zu ihren Zusammen künften andere Tage wählt, wenn es nur ohne Aberglauben geschieht. Den vermeidet man am besten, wenn man die Feiertage ausschließlich der Aufrechterhaltung von Zucht und rechter Ordnung dienen läßt. Die Hauptsache ist: wie den Juden einst die Wahrheit unter Schattenbildern dargeboten wurde, so tritt sie uns ohne Schatten herrlich entgegen. So sollen wir denn erstens unser ganzes Leben lang nach der völligen sabbatlichen Ruhe von allen eigenen Werken trachten, damit der Herr in uns wirke durch seinen Geist. Zweitens soll sich jeder, sooft er Zeit hat, in der frommen Erkenntnis der Werke Gottes üben; wir sollen aber auch alle miteinander die rechtmäßige Ordnung der Kirche wahren, die dazu eingerichtet ist, daß wir das Wort hören, die Sakramente üben und öffentlich miteinander beten. Und zum dritten sollen wir unsere Untergebenen nicht unmenschlich bedrücken. Von dieser Freiheit schreibt Sokrates in der „Historia tripartita“ (Hist. trip. XI, 38). Damit verschwinden denn auch die Redereien der Lügenpropheten, die in den vergangenen Jahrhunderten das Volk mit jüdischem Wahn erfüllt haben. Sie stell ten nämlich den Satz auf, an diesem Gebot sei einzig und allein das „Zeremonielle“ abgeschafft — sie nannten es die „Schätzung des siebenten Tages“ —, es bleibe da gegen das Moralische bestehen, das heißt, man müsse einen Tag in der Woche feiern. Das bedeutet dann also gar nichts anderes, als daß man den Juden zum Är ger einen anderen Tag nimmt, dagegen die abergläubische Heilighaltung des Tages in gleicher Weise beibehält wie sie. Auf diese Weise bliebe uns dann die gleiche geheimnisvolle Unterscheidung der Tage, wie sie bei den Juden stattfand. Und man kann ja auch wirklich sehen, was die Lügenpropheten mit ihrer Lehre erreicht haben: die Leute, die in ihren Anordnungen befangen sind, gehen in ihrem groben, fleischlichen Sabbataberglauben noch dreimal weiter als die Juden selber, so daß die Strafreden des Jesaja (Jes. 1,13; 58,13) ihnen ebenso gelten wie den Zeitgenossen des Propheten! Wir wollen aber unterdessen als allgemeine Lehre wohl beachten: damit die Frömmigkeit in uns nicht zerfalle oder erschlaffe, sollen wir die Versammlungen der Kirche fleißig besuchen und uns überhaupt um all die äußerlichen Hilfen recht Mühe geben, die dazu dienen, die Verehrung Gottes zu erhalten.
Simon W.

Der Pilgrim
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Fünftes Gebot.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt.



II,8,35

Was ist der Zweck dieses Gebots? Gott, der Herr, will seine Ordnung erhalten, und deshalb sollen die von ihm festgesetzten Stufen der Überordnung für uns un verletzlich sein. Die Hauptsache ist also: wir sollen die, welche uns der Herr zu Vorgesetzten gemacht hat, annehmen und ihnen mit Ehrfurcht, Gehorsam und Dank barkeit begegnen. Dem entspricht denn auch das Verbot: wir sollen ihrer Würde nichts abbrechen, weder durch Verachtung, noch durch Halsstarrigkeit oder Undank barkeit. Denn das Wort „Ehre“ hat in der Schrift einen sehr weiten Geltungsbe reich. Wenn der Apostel zum Beispiel sagt: „Die Ältesten, welche wohl vorstehen, halte doppelter Ehre wert“ (1. Tim. 5,17), so denkt er dabei nicht nur an die ihnen zustehende Ehrfurcht, sondern auch an die Belohnung, die ihnen für ihren Dienst gebührt. Nun liegt aber dieses Gebot, das ja Gehorsam verlangt, mit der mensch lichen Vernunft und ihrer Bosheit sehr im Streite; denn der Mensch ist dermaßen aufgeblasen in seiner Herrschsucht, daß er sich nicht gern unterordnen läßt! Deshalb wird hier die Obrigkeit als Beispiel genommen, die von Natur am lieblichsten und am wenigsten verhaßt ist (nämlich Vater und Mutter); denn sie könnte uns innerlich noch am leichtesten erweichen und zur Untertänigkeit bewegen. Der Herr will uns also von dieser Art der Unterordnung aus, die noch die leichteste und trag barste ist, an alle rechtmäßige Folgsamkeit gewöhnen; denn die Dinge liegen überall gleich. Wem er Würde zugeteilt hat, dem gibt er auch, soweit es zur Erhaltung seines Ansehens erforderlich ist, Anteil an seinem Namen. Die Benennungen „Va ter“, „Gott“ und „Herr“ haben dies gemeinsam, daß wir, sooft wir eine davon hören, notwendig empfinden: wir haben es mit Gottes Majestät zu tun. Gibt er also einem Menschen Anteil an der Würde seines Namens, so erleuchtet und ver herrlicht diesen auch ein Fünklein von seinem Glanz, damit er an Gottes Statt Achtung gebiete! Wir haben also an dem, der unser Vater ist, etwas Göttliches anzuerkennen; denn er führt diesen göttlichen Titel („Vater“) nicht ohne Grund! Und wer „Fürst“ und „Herr“ ist, der hat gewissermaßen an Gottes Ehre teil!


II,8,36

Aus diesem Grunde kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Herr hier eine allge meine Regel aufstellt: wir sollen nämlich jedem, der nach unserer Kenntnis uns durch Gottes Ordnung als Vorgesetzter gegeben ist, mit Ehrfurcht, Gehorsam, Dankbar keit und jedem uns möglichen Dienste begegnen. Dabei ist es ganz gleich, ob die, denen solche Ehre übertragen werden soll, würdig oder unwürdig sind: denn sie mö gen sein, wer sie wollen, so haben sie doch ihren Platz nicht ohne Gottes Vorsehung eingenommen, und deshalb will der Gesetzgeber sie geehrt wissen. Ausdrücklich gibt er dies Gebot hinsichtlich der Eltern, die uns dies Leben gegeben haben — zu seiner Befolgung muß uns eigentlich schon das natürliche Empfinden hinziehen! Denn wer der väterlichen Gewalt Halsstarrigkeit und Widerstand entgegensetzt, der ist ein Ungeheuer und kein Mensch! Deshalb gebietet der Herr auch, alle Men schen, die ihren Eltern Widerstand leisten, zu töten, als solche, die das Leben nicht verdienen, weil sie nicht einmal anerkennen, durch wessen Dienst sie es empfangen haben. Aus verschiedenen Zusätzen zum Gesetz läßt sich ersehen, daß tatsächlich, wie wir erwähnten, die hier gebotene Ehre dreierlei Pflichten umfaßt, nämlich Ehrerbietung, Gehorsam und Dankbarkeit. (1.) Die Ehrerbie tung macht der Herr zur unverletzlichen Pflicht, indem er den, der Vater oder Mutter flucht, zu töten befiehlt (Ex. 21,17; Lev. 20,9; Spr. 20,20). Damit ver dammt er Verachtung und Halsstarrigkeit gegenüber den Eltern. (2.) Den Gehorsam fordert Gott, indem er für ungehorsame und widerspenstige Kinder gleichfalls die Todesstrafe androht (Deut. 21,18-21). (3.) Zur Dankbarkeit mahnt uns Jesu Auslegung dieses Gebots in Matth. 15, wo er die Forderung ableitet, wir sollten unseren Eltern wohltun (Matth. 15,4-6). Paulus findet in diesem Ge bot, sooft er von ihm redet, den Gehorsam gefordert (Eph. 6,1-3; Kol. 3,20).


II,8,37

Die angefügte Verheißung soll uns dies Gebot besonders ans Herz legen und uns noch besser zeigen, wie wohlgefällig Gott diese hier geforderte Unterord nung ist. Auch Paulus benutzt diese Verheißung als Ansporn für unsere Trägheit und weist darauf hin: „Dies ist das erste Gebot, das Verheißung hat“ (Eph. 6,2). Er hat recht: denn die allgemeine Verheißung vor der ersten Tafel des Gesetzes be zieht sich nicht auf ein besonderes Gebot, sondern auf das ganze Gesetz. Wir werden die hier gegebenen Verheißungen so zu verstehen haben: der Herr redet besonders zu den Israeliten von dem Lande, das er ihnen als Erbe verheißen hatte. Ist also das Innehaben des Landes ein Unterpfand der Freundlichkeit Gottes, so ist es nicht verwunderlich, wenn der Herr hier seine Gnade durch die Zusage eines langen Le bens bezeugen läßt; denn so kam es zu längerem Genießen der Frucht seiner Wohl tat. Dem Sinne nach ist also zu lesen: Ehre Vater und Mutter, damit du ein langes Leben hindurch den Besitz des Landes genießen kannst, das ich dir als Unterpfand meiner Gnade geben werde. Weil indessen für die Gläubigen die ganze Erde gesegnet ist, so zählen wir mit Recht das gegenwärtige Leben zu den Segnungen Gottes. Deshalb geht auch uns diese Verheißung an, sofern uns ja ein langes Le ben auf Erden ein Erweis göttlicher Freundlichkeit ist. Denn dies lange Leben auf Erden wird uns ja nicht verheißen, ist auch den Juden einst nicht verheißen worden, weil es etwa in sich selber die Seligkeit trüge, sondern weil es für die Frommen ein Merkzeichen der Freundlichkeit Gottes sein sollte! Wenn deshalb ein gehorsamer Sohn seinen Eltern vor der Reife seines Lebens entrisse wird, was ja nicht selten vorkommt, so bleibt doch der Herr bei der Erfüllung seiner Verheißung, und zwar so sehr, als ob er jemand hundert Joch Land schenkte, dem er doch nur eines versprochen! Es liegt ja alles daran, daß uns ein langes Leben nur soweit verheißen wird, als es ein Segen Gottes ist, daß es aber nur ein Segen ist, so fern es Erweis der göttlichen Gnade ist. Diese Gnade aber bezeugt der Herr seinen Knechten durch den Tod unendlich reichlicher und unvergänglicher, ja er zeigt sie ihnen durch die Tat!


II,8,38

Wenn nun der Herr den Kindern, die ihre Eltern mit dem schuldigen Gehorsam ehren, die Segnung des gegenwärtigen Lebens verheißt, so kündigt er damit zugleich allen Widerspenstigen und Ungehorsamen den sicher drohenden Fluch an. Diesen Fluch verwirklicht er auch: er läßt sie durch sein Gesetz des Todes schuldig sprechen und ordnet den Vollzug der Strafe an! Entgehen sie aber dem irdischen Gericht, so ahndet er selbst ihren Ungehorsam auf allerlei Weise, viele derartige Leute kommen in Kriegen und Streithändeln um, andere geraten in schwere Drangsal — aber fast alle erfahren es in ihrem eigenen Leben, daß diese Drohung kein leeres Wort ist. Mag sein, daß einige auch ein hohes Alter erreichen; aber sie sind in diesem Leben ohne den Segen Gottes und quälen sich hindurch, gehen ja auch noch schwereren Strafen entgegen — und so sind sie trotz ihres langen Lebens nicht etwa der Ver heißung teilhaftig, die gehorsamen Kindern gegeben ist! Wir wollen aber im Vorbeigehen doch auch noch anmerken, daß wir den Eltern nur „im Herrn“ gehorchen sollen (Eph. 6,1); das ergibt sich ja eigentlich schon aus der Grundlage, die wir oben fanden; denn der Vorrang der Eltern beruht ja darauf, daß der Herr sie eingesetzt und ihnen ein Stücklein von seiner Ehre über tragen hat! Die Unterordnung, die wir ihnen erzeigen, ist also selbst nur eine Stufe, um zu der Verehrung Gottes als des höchsten Vaters zu führen. Wollen sie uns also zur Übertretung des Gesetzes verleiten, so sollen wir sie mit Recht nicht für Eltern, sondern für Fremde halten, die uns vom Gehorsam gegen unseren wahren Vater abzubringen suchen. Genau so verhält es sich im entsprechenden Falle mit Fürsten und Herren und allen uns übergeordneten Ständen. Es wäre deshalb un würdig und unsinnig, wenn ihre hohe Stellung zur Minderung der Erhabenheit Gottes sich geltend machen sollte; denn sie hängt ja doch selbst von dieser ab und muß uns darum auch zu ihr hinleiten!
Simon W.

Der Pilgrim
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Sechstes Gebot.

Du sollst nicht töten.



II,8,39

Zunächst der Zweck dieses Gebotes: Der Herr hat das Menschengeschlecht ge wissermaßen zu einer Einheit verbunden, und deshalb muß jedem einzelnen die Erhaltung und das Wohlergehen aller angelegen sein. Daher denn auch der Hauptinhalt: es wird uns jede Gewalttat, jeder Frevel, überhaupt alles Scha dentun untersagt, wodurch der Leib unseres Nächsten verletzt würde. Dementspre chend erhalten wir das Gebot, getreulich alles zu tun, was in unserer Macht steht, um das Leben unseres Nächsten zu schützen, alles daranzusetzen, um ihm zum Wohl ergehen zu verhelfen und Schaden von ihm abzuwenden, und ihm in aller Not und Gefahr beizustehen. Bedenkt man aber, daß hier Gott als Gesetzgeber zu uns spricht, so wird man auch beachten: er will unsere Seele mit diesem Gebot re gieren! Denn es wäre ja lächerlich, wenn er, der die tiefsten Gedanken des Herzens vor Augen hat und dem es auf das Herz in besonderer Weise ankommt, nun doch nur den Leib zur wahren Gerechtigkeit erziehen wollte. So wird auch der Mord hier verboten, der im Herzen geschieht, und es wird anderseits der innerliche Trieb verlangt, dem Bruder das Leben zu erhalten. Gewiß wird der Mord durch die Tat der Hand zur Welt gebracht; aber sein Keim liegt im Herzen, wenn es Zorn und Haß in sich trägt! Man soll doch zusehen, ob man denn wirklich gegen den Bru der zürnen kann, ohne in schadenbringender Gier zu entbrennen! Ist solch Zürnen verboten, so erst recht der Haß; denn der Haß ist ja nur ein eingewurzelter Zorn! Man mag das leugnen und sich mit allerlei Ausflüchten frei zu machen suchen — aber wo Zorn und Haß ist, da wohnt auch die Gesinnung, die zur bösen Tat führen kann! Will man eine Ausflucht suchen, so ist doch zu bedenken, daß der Mund des Heiligen Geistes es ausgesprochen hat: „Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger“ (1. Joh. 3,15), und daß der Herr Christus gesagt hat: „Wer seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig, und wer zu seinem Bruder sagt ‚Racha!’, der ist des Rats schuldig, wer aber sagt ‚du Narr’, der ist des höllischen Feuers schul dig!“ (Matth. 5,22).


II,8,40

Nach der Schrift ist nun dieses Gebot auf zwei Rechtssachen begründet. Der Mensch ist einerseits Gottes Ebenbild, anderseits unser Fleisch und Blut. Soll also Gottes Bild unverletzt bleiben, so muß uns der andere Mensch hei lig und unverletzlich sein; soll nicht alle Menschlichkeit in uns zugrunde gehen, so müssen wir doch unser eigen Fleisch und Blut schützen und erhalten! Was aus der Erlösung und aus Christi Gnade für eine Mahnung in dieser Richtung zu ziehen ist, wird an anderer Stelle behandelt werden. Jene beiden Grundtatsachen aber will der Herr von Natur aus im Menschen beachtet wissen, damit wir dadurch zur Er haltung des Menschen kommen, also das ihm eingeprägte Ebenbild Gottes ehren und unser eigenes Fleisch lieben! Deshalb braucht der, der kein Blut vergossen hat, durchaus nicht von Blutschuld frei zu sein. Wer etwas mit der Tat vollbringt oder auch nur versuchsweise ins Werk setzt oder gar nur wünscht oder plant, was dem Heil seines Nächsten zuwidergeht, der ist des Mordes schuldig! Trachtet man an dererseits nicht danach, den Nächsten nach allen Kräften und bei jeder Gelegenheit zu schützen, so ist bereits diese Härte eine Übertretung des Gebots! Sollen wir uns aber schon das leibliche Wohlergehen unseres Nächsten so angelegen sein lassen — wieviel Eifer und Mühe ist dann erst an das Heil der Seele zu wenden, die doch bei dem Herrn unendlich viel mehr gilt!
Simon W.

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Siebentes Gebot.

Du sollst nicht ehebrechen.



II,8,41

Auch hier zunächst der Zweck des Gebots: Gott liebt Keuschheit und Reinheit, und deshalb soll alle Unreinigkeit ferne von uns sein! Daraus ergibt sich als Hauptinhalt: Wir sollen uns von aller Befleckung durch Unzucht und unmäßige Gier des Fleisches frei halten. Dementsprechend wird uns also geboten, unser ganzes Leben in Keuschheit und Zucht zu führen. Ausdrücklich verbietet Gott den Ehebruch; denn alle Gier richtet sich auf ihn hin, und er ist ja auch beson ders abscheulich, weil er am gröbsten und am deutlichsten wahrnehmbar ist, da er ja selbst dem Leibe sein Brandmal aufdrückt; deshalb soll er uns aber auch sonst alle und jede böse Gier widerwärtig machen. Der Mensch ist ja nach der Ordnung (hac lege) geschaffen, daß er sein Leben nicht allein führen, sondern die Hilfe des anderen Menschen brauchen soll, der ihm beigegeben ist. Dann ist er durch den Fluch über die Sünde noch mehr in diese Not wendigkeit versetzt worden. Da hat nun der Herr ausreichende Hilfe geschaffen und den Ehestand eingesetzt, hat solche Verbindung unter seiner Autorität beginnen lassen und durch seinen Segen geheiligt. Deshalb ist aber auch offenkundig jede an dere Verbindung zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe vor ihm verflucht; der Ehestand ist ja von ihm selbst als Notmittel verordnet, damit wir nicht in zügelloser Gier alle Grenzen überrennen! Es gibt also keine Beschönigung, wenn wir doch hören, daß ein Verkehr zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe notwendig Gottes Fluch mit sich bringt!


II,8,42

Wir sind also durch die Anlage unserer Natur und dann erst recht wegen der Begierde, die nach dem Fall wild entbrannt ist, in doppelter Weise der ehelichen Verbindung mit der Frau bedürftig — abgesehen von denen, die Gott von dieser Regel durch einen besonderen Gnadenakt ausgenommen hat. So mag nun ein jeg licher zusehen, was ihm geschenkt ist! Gewiß ist, das gebe ich zu, die Ehelosigkeit nicht zu verachten. Aber sie ist dem einen versagt und auch dem anderen nur eine Zeitlang ermöglicht; und deshalb soll der, den die Fleischeslust quält, und der im Kampfe gegen sie nicht Sieger bleibt, in der Ehe Hilfe suchen und so in seinem Stand und Beruf einen zuchtvollen Wandel führen. Denn wer dieses Wort nicht erfaßt und seiner Maßlosigkeit nicht mit dem dargebotenen Mittel entgegen tritt, der streitet mit Gott und widerstrebt seiner Ordnung. Da soll mir auch keiner hineinreden — wie das heutzutage viele tun! —, mit Gottes Hilfe sei er zu allem fähig! Denn Gottes Hilfe steht nur denen bei, die in seinen Wegen gehen — und das heißt: in ihrem Beruf leben! (Ps. 91,1.14). Wer das Mittel verschmäht, das ihm Gott darreicht, und in nichtiger Vermessenheit allein seine Nöte überwin den und zu Boden zwingen will, der entzieht sich seinem Beruf! Der Herr betont ja selber, daß die Enthaltsamkeit eine besondere Gabe Gottes ist und zu den Gottesgaben gehört, die nicht allgemein an die ganze Kirche, sondern nur an wenige Glie der verteilt werden! Denn er spricht von einer ganz besonderen Art Menschen, „die da verschnitten sind um des Himmelreichs willen“ (Matth. 19,12); das sind also Leute, die diese Gabe besitzen, um sich unabhängiger und freier den Dingen des Himmelreichs widmen zu können. Aber er will doch die Irrmeinung verhindern, solche Verschneidung stehe in der Gewalt des Menschen, deshalb zeigt er kurz vor her, dazu seien nicht alle fähig, sondern nur die, denen es vom Himmel gegeben wird (Matth. 19,11) — und dann schließt er: „Wer es fassen kann, der fasse es!“ (V. 12). Noch deutlicher schreibt Paulus, ein jeglicher habe seine Gabe von Gott, der eine so, der andere so! (1. Kor. 7,7).


II,8,43

So weist uns also die Schrift sehr deutlich darauf hin, daß nicht jeder in Ehe losigkeit die Keuschheit zu wahren vermag, auch wenn er sich noch so eifrig darum bemüht, sondern daß es eine außergewöhnliche Gnade ist, die der Herr nur beson deren Menschen zuteil werden läßt, um sie so zu seinem Werk freier zu machen. Ist es nun da nicht Widerstand gegen Gott und die von ihm uns anerschaffene Na tur, wenn wir unsere Lebensgestaltung nicht nach dem Maß unseres Vermögens einrichten? Hier jedenfalls verbietet der Herr alle Hurerei; er verlangt also von uns Reinheit und Keuschheit. Der einzige Weg, die Keuschheit zu erhalten, ist der, daß sich jeder an seinem eigenen Maß messe! So soll keiner die Ehe vermessen gering schätzen, als ob sie für ihn unnütz oder überflüssig wäre! Und es soll keiner die Ehelosigkeit wählen außer dem, der ohne Frau leben kann. Auch in ihr aber soll keiner seines Fleisches Ruhe und Bequemlichkeit suchen, sondern allein dies, daß er, von jener Bindung frei, um so leichter und bereitwilliger der Pflicht eines gottge weihten Lebens dienstbar sein kann. Auch wird ja manchen dies Geschenk nur auf Zeit zuteil; deshalb soll jeder nur solange auf die Ehe verzichten, als er zum ein samen Leben fähig ist. Gehen ihm die Kräfte aus, seiner Lust Herr zu werden, so soll er eben daran erkennen, daß der Herr ihm die Pflicht auferlegt hat, ehelich zu werden. Das zeigt auch der Apostel mit seiner Ermahnung: „Um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eigen Weib und eine jegliche ihren eigenen Mann“ (1. Kor. 7,2) oder auch: „So sie aber sich nicht mögen enthalten, so laß sie freien“ (1. Kor. 7,9; Calvin setzt hinzu: „in dem Herrn“). Damit spricht er zunächst aus: Weitaus die meisten Menschen sind dem Laster der Zuchtlosigkeit unterworfen, und zum zweiten: diese alle, die in solcher Lage sind, sollen ohne jede Ausnahme zu dem einzigen Heil mittel ihre Zuflucht nehmen, das der Unkeuschheit Schranken setzt. Wenn also Leute, die sich nicht enthalten können, es doch verschmähen, sich in ihrer Schwachheit mit diesem Heilmittel helfen zu lassen, so sündigen sie, weil sie diesem Gebot des Apostels nicht gehorchen. Aber auch ein Mensch, der nie ein Weib berührt hat, soll nicht in selbstsicherer Verblendung meinen, er sei von dem Vorwurf der Unkeuschheit frei, wenn er doch unterdessen inwendig vor Begierde glüht. Denn Paulus versteht unter Keuschheit die Reinheit des Herzens und zugleich damit auch die Zucht des Leibes. „Welche nicht freiet, die sorgt, was dem Herrn angehört, daß sie heilig sei am Leib und auch am Geist …“ (1. Kor. 7,34). Und so sagt er denn zur Bekräfti gung des oben erwähnten Gebots nicht nur, es sei besser zu heiraten, als sich mit Hurerei zu beflecken, sondern auch, es sei besser zu heiraten, als Brunst zu leiden (7,9).


II,8,44

Wenn nun die Eheleute bedenken, daß ihr Bund von dem Herrn gesegnet ist, so lassen sie sich eben dadurch auch daran mahnen, ihn nicht durch ungebändigte, zü gellose Gier zu beflecken. Gewiß verbirgt die Ehe in ihrer Anständigkeit alle Wol lust vor den Augen der Welt; aber das soll uns doch nun wahrhaftig kein Anreiz zur Ausschweifung sein! Deshalb sollen die Ehegatten wissen, daß sie auch nicht machen können, was sie wollen, sondern es soll der Mann gegenüber der Frau und die Frau gegenüber dem Manne züchtig handeln; sie sollen beide bei allem Tun darauf bedacht sein, nichts aufkommen zu lassen, was der Anständigkeit und Zucht des Ehestandes zuwiderliefe. Der im Herrn geschlossene Ehebund soll so zu Zucht und Maß geführt werden und nicht in tolle Zügellosigkeit ausarten. Für solche un­mäßige Geilheit hat Ambrosius einen sehr ernsten, aber nicht unverdienten Aus druck: er nennt einen Mann, der im ehelichen Leben nicht auf Zucht und Ehrbar keit Bedacht nimmt, einen Ehebrecher am eigenen Weibe! (bei Augustin, Gegen Ju lian II,7; bei Ambrosius nicht). Zum Schluß wollen wir beachten, wer dieser Gesetzgeber ist, der hier alle Unreinigkeit verdammt: er ist doch der, der uns ganz zu eigen haben muß und nach seinem Recht von uns Reinheit der Seele, des Geistes und des Leibes verlangt. Wenn er also Hurerei verwirft, so verbietet er uns zugleich, mit wollüstiger Klei dung, unzüchtigen Gebärden und unreinen Reden der Keuschheit anderer Schlingen zu legen. Es war schon recht, was Archelaus zu einem besonders reich und üppig ge kleideten Jüngling sagte: es sei eigentlich gleich, an welcher Stelle sich ein Mensch als Weichling erwiese. Es gilt, den Blick auf Gott zu richten, der alle Unreinigkeit haßt, wo sie auch an Leib oder Seele in die Erscheinung tritt! Damit das nun keiner in Zweifel zieht, bedenke man, daß Gott hier Keuschheit gebietet. Fordert der Herr aber Keuschheit von uns, so verwirft er damit alles, was ihr entgegen ist. Will man nun da gehorchen, so darf das Herz nicht inwendig vor Gier brennen, dürfen die Augen nicht lüstern sein, soll auch der Leib sich nicht kupplerisch schmücken, die Zunge nicht durch geile Reden unser Gemüt zu entsprechenden Gedanken reizen, so soll auch der Gaumen nicht durch Unmäßigkeit solche Lüste entfachen! Denn alle derartigen Verderbtheiten sind gleich Schandflecken, welche die reine Keuschheit besudeln.
Simon W.

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Achtes Gebot.

Du sollst nicht stehlen.



II,8,45

Der Zweck ist hier: Gott ist jede Ungerechtigkeit zuwider, und deshalb sollen wir jedem geben, was ihm gehört. Der Hauptinhalt ist also: Wir sollen nicht nach fremdem Gut trachten, sondern im Gegenteil jedem zur Erhaltung des Seinen getreulich Hilfe leisten. Wir müssen ja doch bedenken: was ein Mensch besitzt, das hat er nicht von ir gendeinem Zufallsgeschick, sondern durch Zuteilung Gottes, des Herrn aller Dinge; wer sich also an seines Nächsten Vermögen vergreift, der übt Betrug gegen die göttliche Ordnung. Es gibt nun sehr vielerlei Diebstahl. Da ist zunächst gewalt samer Raub: dabei wird das fremde Gut mit Gewalt und Räuberei genommen. Dann ist da der Betrug: da bringt einer auf arglistige Weise den anderen um das Seine. Wieder etwas anderes ist es, wenn man mit List und Tücke das Gut des Nächsten unter dem Schein des Rechts an sich bringt. Und wieder etwas anderes, wenn man den Nächsten mit Schmeichelei umgarnt, ihm einen Vorteil vorspiegelt und so sein Gut erschleicht. Wir wollen aber nun nicht weiter alle Formen des Diebstahls aufzählen. Jedenfalls ist alle falsche Kunst, mit der man des Nächsten Gut und Geld an sich bringt, sofern dabei die Lauterkeit der Liebe verlassen wird und dafür das Begehren sich einstellt, zu täuschen oder irgendwie Schaden zu tun, für Dieb stahl zu halten. Mögen solche versteckten Diebe vor Gericht auch frei ausgehen — vor Gott gelten sie als das, was sie sind: Denn er durchschaut die verschlungenen Ränke, mit denen der Verschlagene den Harmlosen umstrickt, bis er ihn ins Netz gezogen hat. Er sieht auch die harten und unmenschlichen Gesetze, mit denen der Mächtigere den Schwachen bedrängt und zugrunde richtet. Er sieht die Schmeichelei, mit der ein tückischer Mensch den Unerfahrenen wie an der Angel fängt, obwohl das alles dem menschlichen Urteil verborgen ist und nicht zu öffentlicher Kenntnis kommt. Dergleichen Unrecht findet sich auch nicht nur zum betrügerischen Erwerb von Geld oder Waren oder Ackerland, sondern bezüglich aller Rechte, die der andere hat. Wir bringen den Nächsten auch dann betrügerisch um das Seine, wenn wir ihm den Dienst verweigern, der ihm von Rechts wegen zusteht. Läßt ein Verwalter oder Haushalter seines Herrn Gut nachlässig verkommen oder nimmt er die Pflicht gegenüber dem anvertrauten Gut nicht recht wahr, veruntreut oder verschwendet er seines Herrn Besitz, ist ein Knecht frech gegen seinen Herrn oder plaudert er seine Geheimnisse aus, verrät er sein Leben oder sein Gut, behandelt aber anderseits auch ein Herr sein Gesinde grausam oder unmenschlich — so ist das alles in Gottes Augen Diebstahl! Denn wer nicht tut, was sein Beruf den anderen gegenüber erfordert, der vergreift sich an fremdem Gut!


II,8,46

Diesem Gebot werden wir also dann Folge leisten, wenn wir uns mit unserem Besitzstand zufrieden geben und nur ehrenhaften und erlaubten Gewinn erstreben, nicht mit Unrecht reich zu werden trachten, uns auch nicht bemühen, dem Nächsten sein Gut zu entreißen, um dadurch selber den Gewinn zu haben, wenn wir nicht grausam erworbenen Reichtum, der aus anderer Leute Blut ausgepreßt ist, anzu­sammeln suchen, wenn wir nicht rastlos mit Recht oder Unrecht von allen Seiten alles zusammenkratzen, um so unserer Habgier Genüge zu tun oder unsere Ver schwendungssucht zu befriedigen! Wir sollen im Gegenteil unser Sinnen immerzu darauf richten, dem Nächsten mit Rat und Tat das Seine behalten zu helfen. Und wenn wir es mit treulosen und betrügerischen Leuten zu tun haben, so sollen wir lieber unser Gut daransetzen, als mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Aber das nicht allein: Sehen wir den anderen in Not, so sollen wir an seinen Schwierigkeiten An teil nehmen und ihm in seinem Mangel mit unserem Hab und Gut beispringen. Endlich soll jeder darauf achten, was er in seinem Beruf zu tun schuldig ist, und dann das Erforderliche getreulich erfüllen. So soll denn das Volk alle, die ihm vor stehen, in Ehren halten, ihr Herrschen mit Willigkeit ertragen, den Gesetzen und Befehlen gehorsam sein und keinen Dienst verweigern, den es mit Gottes Hilfe leisten kann. Anderseits soll die Obrigkeit für das Wohl des Volkes sorgen, den öffentlichen Frieden aufrechterhalten, die Guten schützen und die Bösen im Zaum halten, kurz alles in dem Bewußtsein regieren, daß sie ja selbst einst Gott für ihre Amtsführung Rechenschaft geben muß! Die Diener der Kirche sollen den Dienst am Wort treu üben und die Lehre des Heils nicht verfälschen, sondern sie dem Volke Gottes rein und lauter verkündigen. Ihre Unterweisung der Gemeinde soll aber nicht allein in der Lehre, sondern auch im Vorbild ihres Lebens bestehen. Kurzum, sie sollen ihr Vorsteheramt als gute Hirten ausfüllen. Das Volk soll aber anderseits die Diener der Kirche als Boten und Apostel Gottes aufnehmen und ihnen die Ehre geben, die der höchste Lehrer der Kirche ihnen zuerteilt hat, ihnen auch darreichen, was sie zum Lebensunterhalt nötig haben. Die Eltern sollen ihre Kinder, die ihnen doch Gott anvertraut hat, nähren, erziehen und unter weisen, sie nicht durch Strenge innerlich verhärten oder von sich abwenden, sondern mit der zu ihrem Amt erforderlichen Sanftmut und Nachsicht tragen und lieben. Welche großen Pflichten anderseits die Kinder gegen ihre Eltern haben, wurde bereits dargelegt. Die Jüngeren sollen das Alter ehren, da der Herr selbst es so will. Dementsprechend sollen auch die Alten die Jugend in ihrer Schwachheit und Unerfahrenheit vermöge ihrer eigenen gereiften Weisheit und größeren Er fahrung leiten und sie nicht mit Härte und Grobheit verschüchtern, sondern ihre Strenge durch Freundlichkeit und Güte mildern. Die Knechte sollen ihren Herren willigen und freudigen Gehorsam leisten, nicht nur vor Augen, sondern von Herzen, als dienten sie Gott selber! Herrenleute sollen aber auch ihre Dienstleute nicht eigensinnig und stolz behandeln, ihnen auch nicht mit Härte oder mit Geringschätzung begegnen; sie sollen vielmehr anerkennen, daß die Dienstleute ihre Brüder sind, ihre Mitknechte vor dem himmlischen Herrn, die sich untereinander lieben und menschlich behandeln sollen. Auf diese Weise kann denn jeder einzelne leicht finden, was er in seinem Stand und an seinem Platze dem Nächsten schuldig ist; und dann soll er seine Schuldigkeit auch tun. Dazu ist es nötig, immer auf den Gesetzgeber selbst zu schauen: da werden wir denn erkennen, daß diese Regel nicht nur unseren Händen, sondern auch unserem Herzen gilt; und so soll jeder danach trachten, mit allen Mitteln den Vorteil und Nutzen seines Nächsten zu wahren und zu fördern.
Simon W.

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Neuntes Gebot.

Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.



II,8,47

Hier ist der Zweck: Da die Lüge Gott, der ja die Wahrheit ist, verhaßt ist, so sollen wir untereinander ohne alles Falsch die Wahrheit lieben und üben! Daher ist der Hauptinhalt dieses Gebots: wir sollen den guten Namen des anderen nicht mit Schmähungen und falschen Beschuldigungen verletzen, ihm auch nicht mit Lügerei Schaden zufügen, auch sollen wir niemand mit Lästerungen und frecher Schmähsucht kränken. Dem Verbot entspricht das Gebot: wir sollen allen Menschen, soviel es uns möglich ist, dazu helfen, die Wahrheit durchzusetzen und das gute Recht ihres Namens zu schützen. Den Sinn dieses Gebots hat der Herr augenscheinlich im 23. Kapitel des Buches Exodus deutlich machen wollen: „Du sollst falscher An klage nicht glauben, daß du einem Gottlosen Beistand tust und ein falscher Zeuge seist“ (Ex. 23,1), oder auch: „Sei ferne von falschen Sachen“ (Ex. 23,7). An anderer Stelle werden wir vor der Lüge nicht nur insofern gewarnt, als wir nicht Angeber und Verleumder in unserem Volk sein sollen (Lev. 19,16), sondern auch insofern, als wir unseren Bruder nicht täuschen sollen (Lev. 19,11). Beides verbietet also Gott in bestimmten Geboten. Und wie er in den vorigen Geboten Härte, Unkeuschheit und Habgier (nämlich die unrechte Gesinnung) untersagte, so verbietet er zweifellos hier auch die Verschlagenheit. Diese äußert sich, wie bereits gesagt, auf zweierlei Weise. Auf der einen Seite steht da die Sünde gegen den guten Ruf des Nächsten, wie sie durch Lästerung oder Verleum dung geschieht. Und dann auf der anderen Seite der Eintrag, der seinem Wohler gehen durch Lüge oder gehässiges Dreinreden widerfährt. Es verschlägt dabei nichts, ob man hierbei an das feierliche Zeugnis vor Gericht oder an die gewöhnliche Aus sage über den anderen denkt, wie sie in privatem Gespräch geschieht. Wir müssen uns nämlich immer wieder den Grundsatz vor Augen halten: aus der Zahl der hier gemeinten Vergehen wird eins in besonderer Weise als Beispiel gesetzt, auf das dann die übrigen zurückgeführt werden sollen; dieses Beispiel bildet aber das Vergehen, das durch Verwerflichkeit besonders auffällt. Wir müssen jedoch das Ge bot allgemeiner fassen und es auch auf die Verleumdungen und falschen Anschuldi gungen beziehen, mit denen wir dem Nächsten Unrecht tun. Denn die falsche Aussage vor Gericht ist ja zugleich stets ein Meineid; dieser aber ist, weil er Gottes Namen entheiligt und verletzt, ja schon im dritten Gebot scharf untersagt! Die rechte Befolgung dieses Gebots besteht also darin, daß die Zunge die Wahrheit ver teidigen und dadurch dem guten Ruf und dem Wohl des Nächsten dienen soll. Wie billig diese Forderung ist, leuchtet unmittelbar ein. Denn der gute Name ist mehr wert als alle Schätze; deshalb ist es ein ebenso schlimmes Verbrechen, einem Men­schen den guten Ruf zu nehmen, wie wenn man ihn bestiehlt. Aber selbst Geld und Gut wird manchem Menschen ebensosehr durch falsches Zeugnis wie durch Raub und Diebstahl entrissen!


II,8,48

Aber es ist doch verwunderlich, mit was für einer Sorglosigkeit an diesem Stück allgemein gesündigt wird, so daß man nur wenige finden kann, die nicht merklich mit diesem Laster behaftet sind. So groß ist die Freude, die wir an der vergifteten Süßigkeit haben, die Fehler anderer aufzusuchen und zu entdecken! Wir sollen uns aber nicht einbilden, es wäre eine Entschuldigung, daß wir dabei sehr oft nicht lügen. Denn Gott, der da verbietet, den guten Namen des Bruders mit Lügen zu schänden, der will auch, daß er unbefleckt erhalten werde, soweit es mit Wahrheit möglich ist. Gewiß, er nimmt ihn ausdrücklich nur gegen die Lüge in Schutz; aber damit gibt er doch zu verstehen, wie wichtig er ihm ist. Daß aber Gott für den guten Namen unseres Nächsten sorgen will, das muß uns doch genügender Anlaß sein, ihn auch unsererseits unverletzt zu lassen. So wird also hier ohne Zweifel jegliche böse Nach rede verboten. Unter böser Nachrede verstehe ich nun freilich nicht den Tadel, der sich um Besserung bemüht, auch nicht die Anklage vor Gericht oder die gerichtliche Anzeige, in der es um Abhilfe gegen die Bosheit geht, auch nicht den öffentlichen Verweis, der die übrigen Übeltäter abschrecken soll, auch nicht die öffentliche War nung vor der Bosheit eines Menschen den anderen gegenüber, deren Wohlergehen solche Warnung erfordert, damit sie nicht in Unkenntnis zu Schaden kommen. Ich verstehe vielmehr unter böser Nachrede die gehässige Anschuldigung, die aus Bos heit und Verkleinerungssucht entspringt. Weiter verbietet uns dies Gebot auch den boshaften Scherz und bitteren Spott, durch den wir die Gebrechen anderer unter dem Schein des Scherzwortes gehässig bespötteln — so geschieht es vor allem von Menschen, die sich aus anderer Leute Schamröte und Seufzen selber den Ruf eines guten Gesellschafters verschaffen möchten, während doch aus derartiger Leichtfertig keit der Bruder oft in bitteren Kummer versetzt wird! Nun sollen wir aber unsere Augen auf den Gesetzgeber richten, der an Ohr und Herz genau so wie an die Zunge sein Anrecht hat. Dann wird es uns deutlich werden, daß es uns ebensosehr verboten ist, Verleumdungen gierig das Ohr zu leihen, als auch selbst der sündhaften Nei gung zu mißgünstigem Urteil zu frönen. Denn es wäre ja eine lächerliche Meinung, wenn einer auf den Gedanken käme, Gott hasse zwar das Laster der bösen Nachrede durch die Zunge, sei aber der ungerechten Gesinnung im Herzen nicht feind! Ist es wirklich so, daß wir Gott fürchten und lieben, so sollen wir uns auch recht Mühe geben, soweit es möglich und nütze ist und die Liebe es erträgt, böser Nach rede und verletzendem Spott weder Zunge noch Ohren zu leihen, auch bösem Arg wohn in unserem Herzen keinen Raum zu geben. Vielmehr wollen wir anderer Leute Worte und Taten gerecht zu verstehen suchen und ihnen in unserem Urteilen, Hören und Reden ihren guten Ruf rein erhalten.
Simon W.

Der Pilgrim
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Zehntes Gebot.

Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses …



II,8,49

Zunächst der Zweck dieses Gebots: Gott will, daß unser ganzes Herz von der Liebe gegen den Nächsten erfüllt sei, und deshalb soll alle Begehrlichkeit, die sich gegen die Liebe richtet, ausgerottet werden. Daher wird der Hauptinhalt darin bestehen, daß in uns keinerlei innere Regung aufkommen soll, die uns zu schadenbringender und dem Nächsten abträglicher Begierde antreiben könnte. Dem entspricht wieder auf der anderen Seite das Gebot: wir sollen bei all unserem Planen, Erwägen, Wollen und Trachten auf unseres Nächsten Wohl und Vorteil bedacht sein. Aber augenscheinlich tritt uns hier eine große und schwere Frage ent gegen. Denn wir haben doch schon weiter oben gesagt, daß uns mit dem Ehebrechen und Stehlen, die ausdrücklich verboten werden, auch die ehebrecherische Lust und die Absicht, dem Nächsten zu schaden oder ihn zu betrügen, untersagt ist. Da könnte es denn überflüssig erscheinen, daß uns nachträglich nun noch verboten wird, uns nach dem Gut anderer gelüsten zu lassen. Um diesen Knoten zu lösen, müssen wir zwischen Vorsatz und Gelüsten unterscheiden. Unter Vorsatz, wie wir ihn bei der Erklärung der vorausgehenden Gebote meinten, ist ein mit Überlegung gefaßter Willenratschluß zu verstehen; da hat die Lust die Seele in Fesseln ge schlagen. Gelüsten aber kann auch ohne solche Erwägung und solche innere Zu stimmung da sein, wenn nämlich das Herz bloß von eitlen, verkehrten Dingen ge kitzelt und gereizt wird. So hat also der Herr bisher geboten, daß die Regel der Liebe bei allem Wollen, Trachten und Wirken die Herrschaft führen soll. Jetzt dagegen gebietet er, daß auch die Neigungen unseres Gemüts sich nach dieser Regel richten sollen, um nicht böse und verkehrt zu werden und uns innerlich in der ver kehrten Richtung zu ziehen. Wie der Herr also jede innere Hinneigung zu Zorn, Haß, Ehebruch, Raub und Lüge verboten hat, so wendet er sich jetzt auch gegen den Reiz und das Gelüsten.


II,8,50

Diese innere Rechtschaffenheit fordert Gott nicht ohne Grund von uns. Denn wer will es nicht für ein gerechtes Verlangen halten, daß unser Herz mit allen seinen Kräften von der Liebe erfüllt sei? Und wer wird es nicht für ein schlimmes Ge brechen halten, wenn es von dem Richtpunkt der Liebe abweicht? Woher kommt es auch, daß im Herzen Gelüste sich breitmachen, die dem Bruder Schaden bringen, als daher, daß man jenes Ziel aus dem Auge verliert und nur an sich selber denkt? Wäre wirklich das Herz ganz von der Liebe in Anspruch genommen, so fände der artiges Gelüste nirgendwo einen Ansatzpunkt! Wo also die falsche Begierde Raum gewinnt, da muß in diesem Maße der Liebe Raum entzogen sein! Nun wird aber vielleicht jemand einwenden, es sei doch nicht angebracht, daß ungeformte Gedanken, die von selbst im Gemüt auftauchen und schließlich wieder verfliegen, als Be gierden, die doch im Herzen ihren Sitz haben, verdammt werden sollten. Ich antworte: hier ist von solchen ungeformten Gedanken die Rede, die zwar im Ge müt aufkommen, aber doch zugleich das Herz mit böser Begierde angreifen und reizen. Denn das Gemüt kann nicht wünschen, ohne daß zugleich das Herz entflammt wird und frohlockt! Gott verordnet also jene wundersame Glut der Liebe, die nach seinem Willen auch nicht die geringste Lust stören soll. Er verlangt jene wunder bare Bereitschaft des Herzens, die sich auch nicht vom kleinsten Stachel gegen das Gebot der Liebe aufbringen läßt. Zu diesem Verständnis hat mir zuerst Augustin den Weg gebahnt, damit man nicht meint, es fehle meiner Behauptung an ge wichtigen Gewährsmännern. Obwohl nun der Herr jedwede böse Begierde verbieten will, nennt er doch als Beispiel besondere Dinge, die uns unter dem trügerischen Schein des Vergnügens besonders gefangennehmen; er will auf diese Weise unserer Begehrlichkeit rein nichts übriglassen, wenn er sie doch von den Dingen weg zieht, die sie am tollsten zu reizen vermögen. So hält uns also die zweite Tafel des Gesetzes alles vor, was wir den Men schen um Gottes willen schuldig sind; allein an der Betrachtung Gottes aber hängt das ganze Wesen der Liebe. Deswegen wird man auch den Menschen alle Pflichten, die uns die zweite Tafel auferlegt, vergebens einschärfen, wenn diese Unterweisung nicht auf die Furcht und Ehrerbietung vor Gott als festen Grund gegründet ist. Wer nun zwei Gebote annimmt, die die böse Begierde verbieten, der reißt, wie der Leser, auch wenn ich nichts davon sagte, selbst einsehen würde, sinnlos auseinander, was doch zusammengehört. Daß der Ausdruck „Laß dich nicht gelüsten“ zweimal vorkommt, besagt nichts dagegen; denn es wird zunächst das Haus in Betracht gezogen, und dann alles, was dazu gehört, von dem Weibe angefangen. So muß denn offenbar dieser ganze Zusammenhang nach dem rechten Vorbild des hebräischen Textes einheitlich verstanden werden. Danach gebietet Gott allgemein, daß wir alles, was der andere besitzt, weder mit Unrecht und Schadgier, noch auch mit der geringsten Lust unseres Herzens antasten sollen.


II,8,51

Jetzt ist es auch nicht mehr schwer zu sagen, was das Gesetz als Ganzes will: nämlich vollkommene Gerechtigkeit; es will des Menschen Leben nach dem Bilde göttlicher Reinheit gestalten. Denn Gott hat im Gesetz sein heiliges Wesen derart deutlich kundgetan, daß der, welcher das Gebotene mit Taten dar stellen würde, gewissermaßen Gottes Ebenbild zum Ausdruck brächte! So sagt auch Mose, um den Israeliten den Hauptinhalt des Gesetzes zusammenzufassen: „Nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn daß du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, daß du in seinen Wegen wandelst und liebest ihn und dienest dem Herrn, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, daß du die Ge bote des Herrn haltest …“ (Deut. 10,12.13). Und jedesmal, wenn er dem Volk das Wichtigste am Gesetz vorhalten wollte, hat er ihm immer wieder das gleiche zugerufen! Die Unterweisung des Gesetzes hat ja zum Ziele, daß es uns in Heilig keit des Lebens mit unserem Gott verbinde und uns — wie Mose an anderer Stelle sagt — an Gott fest hangen lasse (Lev. 19,2). So besteht denn die vollkommene Heiligkeit in den schon erwähnten zwei Stücken: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allem Vermögen“ (Deut. 6,5; 11,13; Calvin zitiert in der 1. Pers. Plur.) und „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Lev. 19,18). Das Entscheidende aber ist es, daß unser Herz ganz und gar von der Liebe zu Gott er füllt werde. Daraus fließt dann die Liebe zum Nächsten ganz von selbst hervor. Das zeigt auch der Apostel: „Die Hauptsumme des Gebotes ist Liebe von reinem Herzen und von gutem Gewissen und von ungefärbtem Glauben“ (1. Tim. 1,5). Da wird also das reine Gewissen und der ungefärbte Glaube gewissermaßen an die Spitze gestellt, das heißt aber mit einem Wort: an erster Stelle steht die wahre Frömmigkeit, und aus ihr folgt die Liebe! Es ist also irrig, wenn man meint, im Gesetz seien uns bloß Anfangsgründe oder Ansätze der Gerechtigkeit mitgeteilt, mit denen die Menschen sozusagen Neulingsunterricht bekämen, aber noch nicht zum wahren Ziel der guten Werke hingeleitet würden. Denn als höchste Vollkommenheit kann man doch nicht mehr verlangen, als es Mose und Paulus in den erwähnten Sätzen ausgesprochen haben. Wo will denn ein Mensch weiter hin, der nicht damit zufrieden ist, in der Furcht Gottes, der geistlichen Anbetung, dem Halten der Ge bote, im Befolgen der rechten Wege des Herrn, in der Reinheit des Gewissens und in lauterem Glauben und reiner Liebe unterwiesen zu werden? So bestätigt sich also jene Auslegung des Gesetzes als richtig, die in seinen Geboten alle Pflichten der Frömmigkeit und der Liebe sucht und findet. Wer dagegen im Gesetz nur dürre und unreife Anfangsgründe sucht, als ob es den Willen Gottes bloß halb lehrte, der hat von seiner wahren Absicht nach dem Zeugnis des Apostels noch nichts be griffen.


II,8,52

Nun übergehen aber Christus und die Apostel bei der Erwähnung der Summe des Gesetzes öfters die erste Tafel; deshalb verfallen nun viele Leute auf die törichte Phantasterei, als ob sich diese Worte auf beide Tafeln zugleich bezögen. So nennt zum Beispiel Christus bei Matthäus die Hauptstücke am Gesetz Gericht, Barmherzigkeit und Treue (Matth. 23,23). Unter „Treue“ scheint mir nun eindeutig die rechtschaffene Gesinnung gegen die Menschen verstanden zu sein. Will man diesen Spruch aber auf das ganze Gesetz beziehen, so versteht man darunter die Treue gegen Gott. Das ist sicher verkehrt; denn Christus redet von solchen Werken, in denen der Mensch sich sichtbar als gerecht erweisen soll. Beachten wir dies, so werden wir uns auch nicht mehr wundern, daß er jenem Jüngling auf die Frage: „Was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben?“ (Matth. 19,16) allein die Antwort gibt: „Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht falsch Zeugnis geben, Ehre Vater und Mutter und Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Matth. 19,18.19). Denn der Ge horsam gegenüber der ersten Tafel des Gesetzes bestand ja in der Gesinnung des Herzens oder in der Erfüllung von Zeremonien. Die Herzensgesinnung trat nicht ins Sichtbare, und die Zeremonien übten auch Heuchler mit großem Eifer; die Werke der Liebe dagegen sind so geartet, daß sie die Echtheit unserer Gerechtigkeit er weisen! Das kommt bei den Propheten so oft vor, daß es einem in ihnen einiger maßen bewanderten Leser wohlbekannt sein muß. Denn fast jedesmal, wo sie zur Buße mahnen, sehen sie von der ersten Tafel ab und dringen auf Treue, Gerechtig keit, Barmherzigkeit und Billigkeit. Dabei gehen sie nicht etwa an der Furcht Gottes vorbei, sondern sie wollen es an klaren Zeichen bestätigt sehen, daß es den Leuten Ernst damit ist! Bekanntlich bestehen sie auch, wenn von der Erfüllung des Gesetzes die Rede ist, zumeist auf den Geboten der zweiten Tafel, weil ja hier das Trachten nach Gerechtigkeit und Reinheit am deutlichsten ins Licht tritt. Dazu brauche ich keine Stellen anzuführen, weil jedermann selbst diese Beobachtung machen kann.
Simon W.

Der Pilgrim
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II,8,53

Nun könnte weiter jemand fragen: ist denn nun wirklich der unsträfliche Wandel unter den Menschen zur Gerechtigkeit mehr nütze als die fromme Ehrerbietung gegen Gott? Ganz gewiß nicht! Aber weil niemand leichtlich in allen Stücken die Liebe wahren kann, wenn er nicht Gott ernstlich fürchtet, so kann die Liebe als Erweis der Gottesfurcht dienen. Dazu kommt auch: der Herr weiß ja sehr wohl, daß keine unserer guten Taten bis zu ihm zu dringen vermag — was ja auch der Prophet bezeugt —; und deshalb hat er von uns keinen Dienst für sich verlangt, sondern er übt uns in guten Werken gegen den Nächsten (Ps. 16,2; Vulgata). Deshalb sucht der Apostel auch mit Recht die ganze Vollkommenheit der Heiligen in der Liebe (Eph. 3,19; Kol. 3,14). Es ist auch nicht widersinnig, wenn er an an derer Stelle die Liebe „des Gesetzes Erfüllung“ nennt, wobei er dann zufügt, der habe das Gesetz erfüllt, der seinen Nächsten liebe (Röm. 13,8.10). So sagt er denn auch: „Denn alle Gesetze werden in einem Wort erfüllet, in dem: ,Liebe dei nen Nächsten als dich selbst’“ (Gal. 5,14). Er bringt dabei keine andere Lehre als Christus selber: „Was ihr nun wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matth. 7,12). Ganz gewiß nimmt im Gesetz und in den Propheten den ersten Platz der Glaube ein und alles, was zu Gottes rechter Verehrung gehört, die Liebe folgt erst dann als etwas Untergeordnetes. Aber der Herr versteht es so, daß uns im Gesetz nur vorgeschrie ben werde, unter den Menschen nach Recht und Billigkeit zu trachten; darin sollen wir geübt werden, unsere fromme Ehrfurcht vor Gott, wenn sie anders in uns lebt, auch zu bezeugen!


II,8,54

Wir wollen also festhalten, daß unser Leben erst dann dem Willen Gottes und der Vorschrift des Gesetzes entsprechend gestaltet ist, wenn es sich in allen Stücken unseren Brüdern recht nütze erweist! Im ganzen Gesetz findet sich nicht eine Silbe, in der dem Menschen eine Regel darüber gegeben wird, was er zu Nutz und Frommen seines eigenen Fleisches zu tun oder zu lassen hat! Und wahrlich, wenn doch die Menschen schon von Natur mehr, als recht ist, zur Selbstliebe geneigt sind und diese, wie weit sie sich auch von der Wahrheit entfernen, stets festhalten, so bedurfte es keines Gesetzes, um diese ohnehin maßlose Eigenliebe noch mehr zu entfachen! (vgl. Augustin, Von der christlichen Unterweisung I, 23-25). So ist also, wie vollkommen deutlich ist, nicht unsere Eigenliebe, sondern die Liebe zu Gott und zum Nächsten die Erfüllung der Gebote, und es lebt der am besten und am heiligsten, der am wenigsten sich selber lebt und nach sich selber trachtet, und anderseits lebt keiner mehr in Verkehrtheit und Ungerechtigkeit als der, welcher nur sich selber lebt, nach sich selber trachtet, nur an das Seine denkt und das Seine sucht! Um uns also zu zeigen, wie sehr wir unseren Nächsten lieben sollen, weist der Herr auf unsere Selbstliebe hin, die ja der heftigste und stärkste Trieb in uns ist — und macht sie zum Maßstab für unsere Liebe zu den anderen! (Lev. 19,18). Dabei muß man freilich sehr wohl darauf achten, was der Herr mit dieser Redeweise sagen will; denn er gibt hier nicht, wie einige Klüglinge töricht erträumt haben, der Selbstliebe den ersten Platz und der Nächstenliebe den zweiten. Er überträgt vielmehr den Liebestrieb zu uns selber, den wir von Natur in uns tra gen, eben die Selbstliebe, nun auf die anderen! So behauptet ja auch der Apostel: „Die Liebe sucht nicht das Ihre“ (1. Kor. 13,5). Nicht eines Haares wert ist auch die sophistische Beweisführung, das, was an einem Maßstab gemessen werde, sei stets geringer als dieser Maßstab selber. Denn der Herr macht unsere Selbst liebe gar nicht zu einem Maßstab, dem nun die Liebe zu den anderen unterworfen sein sollte, sondern er zeigt: die Liebe, die aus natürlicher Verderbtheit bei uns selber hängenzubleiben pflegt, die soll nun dem anderen zuteil werden, so daß wir nun nicht weniger flink, hitzig und eifrig bei der Hand sind, dem Nächsten Gutes zu tun, als uns selber!


II,8,55

Nun zeigt Christus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, daß der Aus druck „der Nächste“ auch den Fremdesten umfaßt (Luk. 10,36); deshalb sollen wir dieses Gebot der Nächstenliebe nicht auf unsere nächste Freundschaft und Verwandt schaft einschränken. Ich gebe freilich zu: je näher wir mit einem Menschen verbunden sind, desto größer ist auch unsere Verpflichtung, ihm freundschaftlich beizustehen. Denn es liegt im Wesen der menschlichen Art, daß die Menschen untereinander um so mehr verpflichtet sind, je fester sie durch die Bande der Verwandtschaft, Freund schaft oder Nachbarschaft verbunden sind. Das bedeutet nicht etwa eine Beleidigung Gottes; denn er hat uns in seiner Vorsehung solche Verpflichtungen gewissermaßen auferlegt. Und doch sage ich: diese unsere Liebe muß alle Menschen miteinander umfassen, ohne Ausnahme; hier gibt es keinen Unterschied zwischen Nichtgriechen und Griechen, Würdigen und Unwürdigen, Freund und Feind; denn wir sollen die Menschen ja in Gott und nicht an und für sich selber ansehen! Geben wir freilich diese Blickrichtung auf, so ist es kein Wunder, wenn wir in allerlei Irr tümer uns hineinverstricken. Wollen wir also in unserer Nächstenliebe den rechten Weg finden, so dürfen wir unser Auge nicht zunächst auf den Menschen richten, der uns durch das, was vor Augen ist, vielleicht eher Haß als Liebe einflößen müßte, sondern auf Gott, der da will, daß wir die Liebe, die wir ihm zuteil wer den lassen, auf alle Menschen ausgießen. So soll also dies das beständige Fundament sein: Der Mensch mag sein, wie er will, wir sollen ihn lieben, weil wir Gott lieben!


II,8,56

Deshalb war es eine Unwissenheit und Bosheit wie die Pest, daß die Scholasti ker aus dem Gebot, keine Rache zu nehmen und die Feinde zu lieben, das doch schon einstmals den Juden bekannt war und nun allen Christen miteinander kundgemacht worden ist, sogenannte „evangelische Ratschläge“ gemacht haben, die man halten und auch nicht halten kann, ganz nach Belieben! Diesen „evangelischen Ratschlägen“ zu gehorchen, sollen allein die Mönche gebunden sein, deren höhere Gerechtigkeit gegen über den gewöhnlichen Christen eben schon darin bestünde, daß sie sich freiwillig zur Erfüllung dieser „Ratschläge“ verpflichteten! Daß man diese „Ratschläge“ nicht als Gesetze gelten lassen will, wird damit begründet, sie erschienen doch als zu große Last und zu schwer, zumal für Christen, die doch unter dem Gesetz der Gnade stün den! So will man sich also erdreisten, Gottes ewiges Gesetz, das uns die Näch stenliebe aufträgt, von sich aus abzutun? Ist denn im Gesetz auf einem einzigen Blatt eine derartige Unterscheidung (in „Gesetz“ und „evangelische Ratschläge“) zu finden? Treten uns da nicht immer wieder Gebote entgegen, die uns gar die Feindesliebe aufs strengste abfordern? Oder was soll es heißen, wenn uns befohlen wird, den hungrigen Feind zu speisen (Spr. 25,21), seinen Ochsen oder Esel, der in der Irre geht, auf den rechten Weg zurückzuführen oder ihm die Last leichter zu machen, wenn es ihm zu schwer wird? (Ex. 23,4.5). Sollen wir dem Tier unseres Feindes um seinetwillen Gutes tun — und ihn selber von unserem Wohlwollen ausschließen? Wieso, ist es nicht ewiges Wort des Herrn: „Mein ist die Rache, ich will vergelten“? (Deut. 32,35). Das wird doch an anderer Stelle noch deutlicher gemacht: „Du sollst dich nicht rächen und das Unrecht nicht nachtragen, das dir dein Nächster getan hat“ (Lev. 19,18). Solcherlei Gebote muß man entweder aus der Schrift herausreißen — oder aber man muß anerkennen, daß der Herr uns sein Gesetz gibt, und auf die Lüge verzichten, er erteilte bloß „Ratschläge“!
Simon W.

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II,8,57

Aber was bedeuten denn die Worte, die man mit so ungereimten Bemerkungen hat verfälschen wollen? „Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, segnet, die euch fluchen, auf daß ihr Kin der seid eures Vaters im Himmel …“! (Matth. 5,44.45). Wer will da nicht mit Chrysostomus zu der Folgerung gelangen, daß ein so wichtiger Grund („auf daß ihr Kinder seid …“) schon ein deutliches Zeichen sei, hier Vorschriften und nicht Ermahnungen zu sehen? (In dem Buche De compunctione cordis I). Denn was bleibt uns, wenn wir aus der Zahl der Kinder Gottes getilgt werden? Aber nach den scholastischen Klüglingen werden wohl einzig die Mönche wirklich Kinder Gottes sein, einzig sie es wagen dürfen, Gott als ihren Vater anzurufen! Was soll aber dann die Kirche noch sein? Die wird man mit dem gleichen Recht zu den Heiden und Zöllnern verweisen können! Denn Christus sagt: „So ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?“ (Matth. 5,46; Calvin sagt: „Heiden und Zöllner“). Da muß es ja wahrlich schön um uns stehen, wenn uns bloß der leere Name eines Christen gelassen, die Erbschaft des Himmel reichs aber entrissen wird! Nicht weniger tragkräftig ist auch die Beweisführung Augustins. Er sagt: „Wenn der Herr den Ehebruch verbietet, so untersagt er uns ebensosehr, das Weib eines Feindes, wie das eines Freundes zu berühren, verbietet er uns den Diebstahl, so sollen wir eben rein niemandem etwas entwenden, weder einem Freunde, noch einem Feind!“ (Von der christlichen Unterweisung I). So führt auch Paulus diese beiden Gebote „Du sollst nicht stehlen“ und „Du sollst nicht ehebrechen“ auf das Gebot der Liebe zurück und sagt, auch sie seien in dem Gebot enthalten: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Röm. 13,9). Da muß also Paulus ein verkehrter Ausleger des Gesetzes sein — oder aber es ergibt sich hier wirklich das Gebot, Feinde wie die Freunde zu lieben! Wer nun so mutwillig das Joch abwirft, das den Kindern Gottes aufliegt, der erweist sich damit wirklich als Kind des Satans! Man kann nur zweifeln, ob bei der Aufbringung dieses Dogmas mehr die Dummheit oder mehr die Unverschämtheit das Wort geführt hat. Denn die Alten haben es allesamt ohne Ausnahme als eine gewisse und unbestreitbare Überzeugung ausgesprochen, daß es sich hier um reine Gebote handelt! Es ist, wie sich aus Gregors eigener klarer Bestätigung ergibt, nicht einmal zu seiner Zeit angefochten gewesen; er redet je denfalls, ohne eine Meinungsverschiedenheit in dieser Sache zu erwähnen, von Vorschriften.
Was ist das auch für eine törichte Beweisführung, die die Scholastiker vor bringen! Man sagt, diese Dinge seien für einen Christenmenschen ein zu schweres Joch. Als ob man etwas Schwereres ausdenken könnte als dies, man solle Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und aus allen Kräften! Angesichts dieses Ge bots muß doch alles leicht erscheinen, sogar die Liebe zu den Feinden und die Ent­fernung aller Rachsucht aus unserem Inneren! Für uns in unserer Schwachheit ist gewiß alles zu schwer, selbst das kleinste Tüttelchen am Gesetz! Der Herr aber ist es, der uns kräftig macht: er muß geben, was er befiehlt — und dann mag er be fehlen, was er will (Augustin). Daß der Christenmensch unter dem Gesetz der Gnade steht, bedeutet ja nicht, daß er willkürlich ohne Gesetz daherläuft, sondern daß er in Christus eingepflanzt ist, dessen Gnade ihn vom Fluch des Gesetzes frei macht und dessen Geist ihm das Gesetz ins Herz schreibt! Diese Gnade nannte Paulus uneigentlich ein Gesetz (z. B. Röm. 8,2); er stellt sie damit in Beziehung zum Gesetze Gottes, dem er sie vergleichsweise gegenüberstellt. Die Scholastiker aber treiben mit dem Wort „Gesetz“ ein nichtiges Spiel!


II,8,58

Nicht besser ist es auch, daß die Scholastiker die verborgene Gottlosigkeit, die der ersten Tafel des Gesetzes zuwider ist, und auch die offene Übertretung des letzten Gebotes (also die böse Lust) eine „läßliche“ Sünde nennen (peccatum veniale). Sie stellen die Sache so dar, es handle sich um eine Begierde ohne entschlossene innere Bejahung, die nicht lange im Herzen bleibe. Ich bin dagegen der Überzeugung, daß eine solche Begierde gar nicht ohne Verletzung der Forderungen des Gesetzes im Her zen aufkommen kann. So wird uns verboten, andere Götter zu haben. Wenn nun unsere Seele, von der Tücke des Unglaubens umkämpft, sich nach der anderen Seite umsieht und sie dann plötzlich die Neigung beschleicht, ihr Heil auf etwas anderes zu bauen (als auf Gott allein) — woher kann dann ein solcher törichter Antrieb kom men als daher, daß in unserem Herzen noch Raum ist, der solchen Anfechtungen offen ist? Wir wollen den Beweis nicht in die Länge ziehen; kurz: wir haben ja das Gebot: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüte“; ist nun unser Herz mit allen seinen Kräften nicht ganz auf die Liebe zu Gott gerichtet, so bedeutet das bereits ein Abweichen vom Gehorsam gegen das Gesetz. Denn die Feinde, die sich in unserem Gewissen regen, um Gottes Herrschaft umzustoßen und seine Gebote zu umgehen, beweisen ja damit schon, daß Gottes Thron darin noch nicht fest genug steht! Wie wir gezeigt haben, bezieht sich aber gerade darauf das zehnte Gebot. Da kommt in unserem Herzen ein heftiges Verlangen auf: schon sind wir des bösen Begehrens schuldig und offenbar Übertreter des Gesetzes! Denn der Herr verbietet uns nicht nur, zum Schaden unseres Nächsten etwas zu überlegen oder ins Werk zu setzen, sondern er untersagt uns jede Reizung und Aufwallung der Lust! Auf der Übertretung des Gesetzes aber liegt immer Gottes Fluch! Deshalb haben wir keinerlei Anlaß, diese leisesten Regungen der Begierde dem Todesurteil Gottes zu entziehen. Augustin sagt: „Wir sollen uns bei der Betrachtung der Sünde keiner trügerischen Waage bedienen, auf der wir dann wägen, was wir wollen und wie wir wollen, ganz nach unserem Ermessen, sollen auch nicht sagen: ‚das ist schwer’ — ‚das ist leicht’; nein, wir sollen uns aus der Heiligen Schrift, gewissermaßen aus des Herrn eigener Schatzkammer, die rechte, göttliche Waage nehmen und danach abwägen, was schwerer ist — nein, nicht einmal wägen, sondern anerkennen, wie es der Herr gewogen hat!“ (Von der Taufe, gegen die Donatisten II,6). Wie steht es aber in der Schrift (mit jener angeblichen Unterscheidung in schwerere und leichtere Sün den)? Paulus sagt: „der Tod ist der Sünde Sold“ — und bezeugt damit, daß jeden falls ihm von dieser verwerflichen Unterscheidung nichts bekannt ist! Wir sind ja auch zur Heuchelei nur allzu geneigt, und deshalb war wirklich kein Polster nötig, um unser stumpfes Gewissen noch mehr einzuschläfern!


II,8,59

Wenn man doch beachtete, was Christus sagen will, wenn er spricht: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich“ (Matth. 5,19)! Gehören dazu nicht auch die, welche die Übertretung des Gesetzes so zu verharmlosen wagen, als ob sie nicht des Todes würdig wäre? Man sollte doch bedenken, nicht einfach was da geboten wird, sondern wer da gebietet; denn auch in der mindesten Übertretung des von ihm uns aufge tragenen Gesetzes wird doch seiner Autorität Eintrag getan! Ist es denn jenen Leuten einfach gleichgültig, ob Gottes Majestät in irgendeinem Stück verletzt wird? Auch dies ist zu beachten: wenn uns Gott in seinem Gesetz seinen Willen kund getan hat, so ist ihm doch wohl alles, was dem Gesetz widerspricht, auch selbst zuwider! Will man aber meinen, Gottes Zorn sei so waffenlos, daß nicht auf die Übertretung die Todesstrafe folgen müsste? Auch hat er ja selber — sofern man noch auf sein Wort hören und nicht lieber seine reine Wahrheit mit sinnlosen Spitz findigkeiten entstellen will! — deutlich genug ausgesprochen: „Welche Seele sündigt, die soll sterben!“ (Ez. 18,20). Oder auch, wie ich bereits oben anführte: „Der Tod ist der Sünde Sold“ (Röm. 6,23). Die Klüglinge aber geben zwar die Sünde zu, weil sie sie nicht ableugnen können — aber daß sie den Tod bringe, das wollen sie be streiten! Ich meine, jetzt hätten sie genug getollt — und nun sollten sie endlich klug werden! Wollen sie aber ihren Wahnsinn weiter treiben, so wollen wir uns nicht mehr um sie kümmern. Die Kinder Gottes sollen jedenfalls daran festhalten, daß alle Sünde zum Tode führt, weil sie Aufruhr wider Gottes Willen ist, der notwendig seinen Zorn hervorruft, und weil sie Übertretung seines Gesetzes ist, auf der ausnahmslos Gottes Gericht steht! Daß aber die Verfehlungen der Heiligen „läßlich“ sind, hat seinen Grund nicht in diesen Verfehlungen selber, sondern in Gottes Erbarmen, das ihnen Vergebung gewährt!
Simon W.

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Neuntes Kapitel: Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt; er tritt uns aber erst im Evangelium klar entgegen.


II,9,1

Nicht umsonst hat sich Gott in der alten Zeit durch Reinigungen und Opfer als Vater bezeugen wollen, nicht vergebens hat er sich sein erwähltes Volk zum Eigentum genommen. Denn er hat sich unzweifelhaft schon damals in demselben Ebenbilde zu erkennen gegeben, in dem er uns jetzt in vollem Glanze erscheint! Wir können das bei Maleachi sehen. Er gebietet zunächst den Juden, sich an das Gesetz Moses zu halten und es fort und fort mit Eifer zu bewahren — denn nach seinem Tode sollte ja das Prophetenamt eine Zeitlang aufhören! Dann aber kündigt er an, es werde bald „aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal. 4,2 = 3,20). Damit bezeugt er, daß das Gesetz seine Kraft daran beweise, die Frommen in der Erwar tung auf das Kommen Christi zu halten, daß aber durch Christi Ankunft noch ein viel helleres Licht aufgehen werde. So sagt auch Petrus, die Propheten hätten eif rig geforscht nach dem Heil, das nun offenbar geworden sei; kundgemacht sei ihnen aber eine solche Botschaft, die sie nicht für sich oder für ihr Zeitalter, sondern für uns aussprechen sollten und die ja doch das meint, was uns im Evangelium ver kündigt wird! (1. Petr. 1,10.12). Gewiß war ihre Lehre auch für das Volk des Alten Bundes nicht ohne Nutzen, ist auch an ihnen selbst nicht wirkungslos geblie ben; aber sie haben eben das köstliche Kleinod, das uns Gott durch ihre Hand zu kommen ließ, selbst nicht empfangen! Denn heute tritt uns jene Gnade, von der sie gezeugt haben, nahe vor die Augen; und während sie nur einen kleinen Vorge schmack davon hatten, dürfen wir sie reichlicher genießen. So hat auch Christus selber versichert, daß wir nach dem Maße der Gnade hoch über den Juden stehen — obwohl er selbst doch auch sagt, Mose habe von ihm Zeugnis abgelegt! (Joh. 5,46). Denn er ruft seinen Jüngern zu: „Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet; selig sind die Ohren, die da hören, was ihr höret. Denn viele Propheten und Könige haben begehrt zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört“ (Matth. 13,16.17; Luk. 10,23.24). Das ist gewiß keine geringe Lobeserhebung der Offenbarung im Evangelium wenn uns Gott sogar über die heiligen Väter stellt, die doch durch besondere Gottes furcht sich auszeichneten. Daß Christus anderseits auch sagt: „Abraham sah meinen Tag — und freute sich!“ (Joh. 8,56), widerspricht dem in keiner Weise. Denn war es auch nur ein trüber, unklarer Blick in weite Ferne, so war doch die Gewißheit rechter Hoffnung vorhanden; daher kam denn auch die Freude, die den heiligen Erzvater bis an den Tod begleitet hat! Auch das Wort Johannes des Täufers: „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn aber, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt“ (Joh. 1,18), schließt die Frommen, die vor her verstorben waren, nicht von der Gemeinschaft des Erkennens und der Erleuch tung aus, wie es uns beides in der Person Christi entgegenstrahlt! Er vergleicht unsere Lage mit der ihrigen und zeigt, wie die Geheimnisse, die sie nur im Schatten undeutlich erschaut haben, nun uns offenbart sind. In ähnlicher Weise spricht das auch sehr schön der Verfasser des Hebräerbriefs aus: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat… durch die Propheten, hat er am letz ten… zu uns geredet durch den Sohn!“ (Hebr. 1,1.2). Denn dieser Eingeborene, der uns ja heute der „Glanz der Herrlichkeit“ und „das Ebenbild des Wesens“ Gottes ist (Hebr. 1,3), der war einst auch den Juden bekanntgemacht; er ist, wie wir bereits aus Paulus angeführt haben, der Führer auch des alten Bundesvolks in die Freiheit gewesen! (gedacht ist wohl an 1. Kor. 10,4). Und doch bleibt es auch wahr, was derselbe Paulus an anderer Stelle ausspricht: „Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, auf daß durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes im Angesichte Jesu Christi“ (2. Kor. 4,6). Denn indem Gott in diesem seinem Eben bilde erschien, wurde er gewissermaßen sichtbar, während sein Bild zuvor dunkel und schattenhaft gewesen war! Um so übler und abscheulicher ist es aber, wenn heutzutage Menschen in ihrer Undankbarkeit am hellen Mittage blind dastehen! So sagt auch Paulus, diesen Menschen sei der „Sinn“ von dem Satan „verblendet“ worden, daß sie die Herrlichkeit Christi nicht sehen, obwohl sie ohne jeden Vorhang im Evan gelium uns entgegenstrahlt! (2. Kor. 4,4).


II,9,2

Unter dem Evangelium verstehe ich also die klare Enthüllung des Geheim nisses Christi. Da nun Paulus das Evangelium als „Lehre des Glaubens“ bezeich net (1. Tim. 4,6), so gebe ich zu, daß zum Evangelium auch jene immer wieder im Gesetz vorkommenden Verheißungen von der Vergebung der Sünden aus freier Gnade gehören, durch die Gott die Menschen mit sich versöhnt. Denn Paulus stellt den Glauben in Gegensatz zu der Angst, die das Gewissen in die Enge treibt und quält, wenn der Mensch sich mit eigenen Werken das Heil verdienen soll. Daher umfaßt also „Evangelium“ im weiteren Sinne alle Zeugnisse göttlicher Barmherzig keit und väterlicher Freundlichkeit, die Gott einst den Vätern gegeben hat; in besonderer Weise bezeichnet aber „Evangelium“ die Offenbarung der in Christus uns dargebotenen Gnade; dafür spricht nicht nur der all gemeine Gebrauch des Wortes, sondern es gründet sich auf die Autorität Christi und seiner Apostel (Matth. 4,17-23; 9,35). Deshalb heißt es von dem Herrn ja auch zur Bezeichnung seines besonderen Berufs, er habe das „Evangelium vom Reich“ gepredigt. Und Markus beginnt sein Evangelium mit der Überschrift: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (Mark. 1,1). Es ist auch nicht nötig, noch weiter Stellen aufzuführen: die Sache ist zu bekannt. So hat also Christus nach Paulus in seinem Kommen „Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2. Tim. 1,10). Da meint nun Paulus nicht, die Väter seien bis zur Fleischwerdung des Sohnes Gottes in Finsternis und Todesschatten gewesen. Er will aber die hohen Vorzüge des Evangeliums bemerkbar machen und erklärt, daß es eine neue und bis dahin unbekannte Botschaft gewesen sei, in der Gott seine Verheißung erfüllte, so daß also in der Person des Sohnes die Wahrheit der Verheißung ans Licht kam. Gewiß haben die Gläubigen zu allen Zeiten die Wahrheit des Paulus wortes erfahren: „Alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und Amen in ihm“ (2. Kor. 1,20); denn die Verheißungen waren ja in ihrem Herzen versiegelt. Aber er hat doch in seinem Fleische alles vollbracht, was zu unserem Heil gehört, und des halb mußte die Kundmachung der Sache selbst auch in einer besonderen Botschaft erfolgen. Daher auch das Wort Christi: „Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn“ (Joh. 1,51). Dabei scheint er an jene Leiter anzuspielen, die einst dem Erzvater Jakob im Gesicht gezeigt wurde, aber er deutet doch die besondere Herrlichkeit seines Kom mens mit der Bemerkung an, daß er uns das Tor des Himmels aufgetan hat, so daß wir freien Zugang haben!


II,9,3

Hier muß man sich aber vor dem teuflischen Wahn des Servet hüten; der will die Größe der Gnade Christi gewaltig erheben, gibt wenigstens vor, es zu wollen — und tut deshalb alle Verheißungen gänzlich ab, als ob sie mit dem Gesetz zusam men ihr Ende erreicht hätten. Er behauptet, mit dem Glauben an das Evan gelium werde uns die Erfüllung aller Verheißungen zuteil. Als ob zwischen uns und Christus kein Unterschied wäre! Gewiß, ich habe selbst oben be tont, daß Christus unser Heil so vollständig uns erworben hat, daß nichts mehr übrig ist. Aber es wäre verkehrt, daraus zu schließen, wir wären nun schon im vollen Besitz der von ihm uns geschenkten Wohltaten — als ob das Wort des Paulus falsch wäre, wonach all unsere Seligkeit in der Hoffnung verborgen ist (Röm. 8,24; Kol. 3,3)! Gewiß, wir gehen durch den Glauben an Christus vom Tode zum Leben hinüber; aber wir dürfen dabei doch die Worte des Johannes nicht übersehen: „Wir sind nun Gottes Kinder; aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Joh. 3,2). Christus bietet uns also gewiß die gegenwärtige Fülle aller geistlichen Güter im Evangelium an; aber der Genuß dieser Güter bleibt doch stets unter der Wacht der Hoffnung, bis wir dieses verwesliche Fleisch ausziehen und in die Herrlichkeit unseres Herrn verwandelt werden, der uns vorausgegangen ist! Inzwischen sollen wir nach der Weisung des Heiligen Geistes an den Verheißungen festhalten — und dessen Autorität gilt uns mehr als alles Gebell jenes unsauberen Hundes! Denn nach dem Zeugnis des Paulus hat die „Gottseligkeit“ die „Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens“ (1. Tim. 4,8). Und deshalb nennt sich auch Paulus einen Apostel Christi „nach der Verheißung des Lebens in Christo Jesu“ (2. Tim. 1,1). An anderer Stelle (2. Kor. 7,1; vgl. 6,16-18!) erinnert er uns daran, daß wir die gleichen Verhei ßungen haben, wie sie einst den Vätern gegeben worden sind! Und schließlich faßt er unsere ganze Seligkeit darin zusammen, daß wir mit dem Heiligen Geiste als dem „Geiste der Verheißung“ versiegelt sind (Eph. 1,13). Wir können an Christus nur soweit Anteil haben, als wir ihn in seinen Verheißungen erfassen! So kommt es, daß er zwar selber in unserem Herzen wohnt — und wir doch „ferne wallen von dem Herrn“; „denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen!“ (2. Kor. 5,7). Dies beides, daß wir in Christus alles haben, was zur Vollkommenheit himmlischen Lebens gehört — und daß der Glaube doch ein Schauen von Gütern ist, die man nicht sieht (vgl. Hebr. 11,1), paßt nicht schlecht zusammen. Doch muß man am Wesen und der Art der Verheißungen den Unterschied beachten: denn das Evangelium weist mit dem Finger auf das, was das Gesetz nur schatten haft unter Vorbildern uns abbildet!
Simon W.

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II,9,4

Von hier aus läßt sich auch der Irrtum widerlegen, daß man Gesetz und Evan gelium ausschließlich so gegenüberstellt, wie Werkgerechtigkeit und gnädig zugerech nete Gerechtigkeit. Diese Gegenüberstellung ist an sich keineswegs verwerflich; Pau lus versteht ja oft unter dem Gesetz jene Richtschnur für das Leben, in der Gott von uns fordert, was ihm zukommt, uns nur dann eine Lebenshoffnung macht, wenn wir in allen Stücken gehorsam sind, und anderseits mit dem Fluche uns droht, wenn wir im geringsten abweichen; das sind die Stellen, an denen Paulus davon spricht, wie wir Gottes Wohlgefallen aus reiner Gnade erlangen und in verge bender Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden, weil ja von solchem Halten des Gesetzes, dem der Lohn verheißen ist, doch keine Rede sein kann! So ist es durchaus angemessen, wenn Paulus die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und die Gerechtigkeit aus dem Evangelium gegensätzlich einander gegenüberstellt (z. B. Röm. 3,21ff.; Gal. 3). Aber das Evangelium tritt nicht in der Weise an die Stelle des Gesetzes, daß es etwa einen anderen Weg zum Heil eröffnete, sondern es sollte vielmehr die Ver heißungen des Gesetzes beglaubigen und in Wirksamkeit setzen, zum Schatten den Körper selbst fügen! Wenn doch Christus sagt: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11, 13; Luk. 16,16), so liefert er damit nicht die Väter dem Fluch aus, dem die Knechte des Gesetzes ja gar nicht entgehen können, sondern er zeigt nur, daß sie noch in den Anfangsgründen steckten und deshalb die Höhe der Lehre des Evangeliums nicht erreichten. Daher nennt auch Paulus das Evangelium eine „Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben“ (Röm. 1,16) und setzt dann nicht lange danach noch hinzu, dieses Evangelium sei „bezeugt vom Gesetz und den Propheten“ (Röm. 3,21). Und am Ende des Römerbriefs nennt er die „Predigt von Jesu Christo“ eine Offenbarung des „Geheimnisses, das von der Welt her verschwiegen gewesen ist“ (Röm. 16,25), setzt aber dann zur Erklärung mildernd hinzu: „auch kundgemacht durch der Propheten Schriften“! (Röm. 16,26). Daraus wird deutlich, daß sich beim Vergleich mit dem ganzen Gesetz das Evan gelium nur durch klarere Bezeugung hervorhebt; indessen heißt es wegen des un­schätzbaren Reichtums der Gnade, die uns in Jesus Christus dargeboten wird, nicht ohne Grund, daß durch sein Kommen Gottes himmlisches Reich auf Erden aufge richtet ist!


II,9,5

Zwischen Gesetz und Evangelium steht Johannes der Täufer; sein Amt steht in der Mitte, und es hat mit beiden Verwandtes! Einerseits nennt er Christus „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“, und spricht damit den Hauptinhalt des Evangeliums aus. Aber anderseits hat er doch die unendliche Kraft und Herrlichkeit, die sich hernach in Christi Auferstehung erwiesen hat, noch nicht verkündigt, und darum stellt ihn Christus nicht den Aposteln gleich (Matth. 11,11). Denn das ist der Sinn der Worte des Herrn: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei denn Johannes der Täufer — der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer denn er!“ Er rühmt hier nicht die Person von Menschen; vielmehr stellt er zunächst den Johan nes über alle Propheten und hebt dann doch die Verkündigung des Evangeliums auf den allerhöchsten Platz; sie heißt ja sonst auch „das Himmelreich“! Johannes selber gibt auch gelegentlich die Auskunft, er sei nur eine „Stimme“ (Joh. 1,23); es scheint, als ob er sich damit unter die Propheten stellte; er tut das aber nicht aus erheuchelter Demut, sondern er will zeigen, daß ihm keine eigene Botschaft aufgetragen ist, sondern daß er nur das Amt eines Vorläufers hat, wie es Maleachi geweissagt hatte: „Siehe, ich sende den Propheten Elia, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt“ (Mal. 4,5 = 3,23). Er tut ja auch in seiner ganzen Amtsführung nichts, als daß er Christus Jünger zubereitet! Und er be weist auch selbst aus dem Propheten Jesaja (40,3), daß ihm Gott dies als Beruf zugewiesen habe. In diesem Sinne nennt ihn Christus „ein brennendes und schönes Licht“ (Joh. 5,35) — denn der volle Tag war noch nicht aufgegangen! Trotzdem kann man ihn ohne Bedenken zu den Verkündern des Evangeliums rechnen; auch hat er die gleiche Taufe geübt, wie sie dann später auch den Aposteln aufgetragen wurde. Aber was er begann, das ist dann erst später, nach Christi Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit, in freierem Fortschreiten von den Aposteln vollendet worden!


Zehntes Kapitel: Von der Ähnlichkeit des Alten und Neuen Testaments.


II,10,1

Wie sich aus dem Vorigen bereits ergibt, sind alle Menschen, die sich Gott vom Anbeginn der Welt an zu seinem Volke erwählt hat, mit ihm nach dem gleichen Gesetz und durch das gleiche Band der Lehre verbunden gewesen, wie sie auch unter uns noch in Kraft sind. Aber es liegt sehr viel daran, diesen Hauptpunkt der Lehre festzuhalten, und deshalb will ich anhangsweise folgende Frage näher be handeln: Die Väter sind doch mit uns des gleichen Erbes teilhaftig gewesen und haben von der Gnade des gleichen Mittlers das Heil erwartet wie wir — wie aber unterschied sich denn ihr Zustand in jenem alten Bunde von dem unsrigen? Die Beweise, die wir aus dem Gesetz und den Propheten angeführt haben, konnten nun zwar dartun, daß die Richtschnur der Frömmigkeit im Volke Gottes sich nie ver ändert hat. Aber es wird doch bei den kirchlichen Schriftstellern oft und viel vom Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament geschrieben, und das könnte einem weniger klarsehenden Leser allerhand Anstöße bereiten; deshalb wollen wir diese Dinge, wie es zweckmäßig ist, in einem besonderen Abschnitt gründlich durchdenken. Das wäre ohnehin schon recht nützlich; aber dieser merkwürdige Narr Servet und einige andere wildwütige Schwärmer aus der Sekte der Wiedertäufer machen es zur unabweisbaren Notwendigkeit; denn diese Leute denken über das Volk Israel nicht anders als über eine Schweineherde, die von dem Herrn, wie sie spöttisch vorgeben, ohne alle Hoffnung auf ein ewiges Leben gemästet worden sei! Diesen verderblichen Irrtum wollen wir von den Frommen fernhalten; wir wollen auch all die Schwierigkeiten beheben, die mit der Annahme einer Verschiedenheit zwischen Altem und Neuem Testament sogleich zu entstehen pflegen, und deshalb wollen wir im Vorbei gehen zusehen, was Altes und Neues Testament Ähnliches und was sie Verschiedenes an sich tragen, was das für ein Bund war, den der Herr einst vor dem Kommen Christi mit den Israeliten geschlossen hat, und was das für ein Bund ist, den er nun nach der Offenbarung Christi im Fleische mit uns gemacht hat!


II,10,2


Beides kann man nun eigentlich mit kurzen Worten deutlich machen. Der Bund mit den Vätern ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unter scheiden, sondern ein und dasselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung. Aber aus solch kurzem Satz kann niemand eine klare Einsicht gewinnen, und deshalb müssen wir, wenn unsere Untersuchung etwas nützen soll, notwendig in eine nähere Erörterung eintreten. Indessen wird es überflüssig sein, zum Aufweis der Ähn lichkeit oder besser Einheit der beiden Testamente die einzelnen Bemerkungen, die wir bereits anführten, aufs neue zu wiederholen; auch ist es nicht gut, in diese Beweisführung Dinge einzumischen, die noch an anderer Stelle zu bringen sind. Es ist hier wesentlich auf drei Hauptpunkte zu achten. Erstens müssen wir festhalten, daß den Juden nicht fleischliches Wohlleben und Glück als Ziel vor Augen gestellt worden ist, nach dem sie trachten sollten. Sie sind doch vielmehr zur Hoffnung auf das unsterbliche Leben als Kinder angenommen worden, und der Glaube an diese Annahme ist ihnen durch Offenbarung, Gesetz und Prophetie zur Gewißheit gemacht worden. Zweitens: der Bund, zu dem sie der Herr mit sich selber versöhnte, beruhte in keiner Weise auf ihrem Verdienst, sondern einzig und allein auf dem Erbarmen Gottes, der sie berief! Und drittens: sie haben Christus als ihren Mittler gehabt und erkannt, durch den sie mit Gott in Gemeinschaft kamen und seiner Verheißungen teilhaftig wurden. Das zweite Stück ist bisher noch nicht genügend deutlich gemacht und wird deshalb an seinem Platze noch ausführlich behandelt werden. Da werden wir denn aus vielen und deutlichen Zeugnissen der Propheten den Nachweis erbringen, daß alles, was der Herr je seinem Volke Gutes getan und verheißen hat, aus reiner Güte und Barmherzigkeit geschehen ist. Das dritte ist schon hie und da deutlich ans Licht getreten, und das erste haben wir ebenfalls bisher nicht unberührt gelassen.
Simon W.

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II,10,3

Weil aber der erste Punkt in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung ist und aus ihm für uns mancherlei Streitigkeiten entstehen, so wollen wir uns be sondere Mühe um die Lösung der an ihm entstehenden Fragen geben; freilich soll dabei auch gleich mit angemerkt werden, was noch zur Erläuterung der beiden anderen Stücke nötig ist; wir wollen das gelegentlich einfügen. Den Zweifel an allen drei Stücken zugleich behebt Paulus mit seinem Wort: Gott der Vater hat das Evangelium von seinem Sohne, das er zu seiner Zeit offenbarte, „zuvor verheißen durch seine Propheten in der Heiligen Schrift“ (Röm. 1,2). Dazu kommt auch Röm. 3,21: Die Glaubensgerechtigkeit, die das Evangelium doch selber ver kündigt, ist „offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“. Das Evan gelium hält des Menschen Herz nicht bei den Freuden des irdischen Lebens auf, sondern ermuntert es zur Hoffnung auf die Unsterblichkeit; es fesselt uns nicht an Erdenvergnügen, sondern verkündigt uns die Hoffnung, die uns im Himmel beige legt ist, und versetzt uns gewissermaßen dahin! So umschreibt es Paulus auch an anderer Stelle: „… durch welchen ihr auch, da ihr gläubig wurdet, versiegelt wor den seid mit dem heiligen Geist der Verheißung, welcher ist das Pfand unseres Erbes zu unserer Erlösung, daß wir sein Eigentum würden“ (Eph. 1,13f). Oder auch: „Nachdem wir gehört haben von eurem Glauben an Jesum Christum und von der Liebe zu allen Heiligen, um der Hoffnung willen, die euch beigelegt ist im Himmel, von welcher ihr zuvor gehört habt durch das Wort der Wahrheit im Evangelium“ (Kol. 1,4f). Oder: „ …darein er euch berufen durch unser Evange lium zum Teilhaben an der Herrlichkeit unseres Herrn Jesu Christi“ (2. Thess. 2,14; nicht Luthertext, aber richtiger als dieser). Darum heißt das Evangelium auch ein „Wort des Heils“ oder „eine Gotteskraft zu erretten, die daran glauben“ oder das „Himmelreich“. Ist aber die Lehre des Evangeliums geistlich, und öffnet sie den Zugang zu unverweslichem Leben, so dürfen wir nicht meinen, daß die Alten, denen es doch auch verheißen und verkündigt wurde, nun wie das Vieh dahingelebt, jede Sorge um die Seele beiseite geschoben und geringgeschätzt und nur dem Leibe ein gutes Leben zu bereiten im Sinn gehabt hätten! Hier soll mir auch keiner spitz findig einwenden, die Verheißungen, die bezüglich des Evangeliums im Gesetz und in den Propheten niedergelegt sind, seien doch für das Volk des Neuen Bundes be stimmt. Denn Paulus erklärt kurz nach jener Stelle, in der er von der Verheißung des Evangeliums sprach: „Wir wissen aber, daß, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind!“ (Röm. 3,19). Gewiß tut er das zum Zweck einer ganz anderen Beweisführung; aber so vergeßlich war Paulus nun nicht, daß er beim Niederschreiben dieses Verses, in dem er also das Gesetz mit seiner ganzen Lehre in Wirklichkeit den Juden gelten läßt, daß er also beim Niederschreiben dieses Verses vergessen hätte, was er vorher (Röm. 1,2 — dann nachher 3,21) über die Verheißung des Evangeliums im Gesetz gesagt hatte! So hat das Alte Testament nach dem klaren Zeugnis des Paulus besonders auf das zukünftige Leben hingewiesen; denn er sagt ja, es enthalte die Verheißungen des Evangeliums!


II,10,4

Auf die gleiche Weise ist nun zu erkennen, daß der Alte Bund auf Gottes freiem Erbarmen beruht hat und durch Christi Mittlertum bekräftigt worden ist. Denn auch die Verkündigung des Evangeliums macht uns ja kund, daß der Sünder nur durch Gottes väterliche Freundlichkeit und ohne all sein eigenes Verdienst gerecht fertigt wird; und der ganze Inhalt dieser väterlichen Huld Gottes ist in Christus beschlossen! Wer will sich aber erkühnen, die Kenntnis Christi den Juden abzu sprechen, mit denen doch der Bund des Evangeliums geschlossen worden ist, dessen einziger Grund Christus ist? Wer will sie von der Wohltat des uns aus Gnaden zukommenden Heils ausschließen, da ihnen doch die Lehre von der Glaubensgerech tigkeit zuteil geworden ist? Dieser an sich klaren Sache brauchen wir nicht lange nachzugehen; denn da haben wir des Herrn eigenes Zeugnis: „Abraham ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich“ (Joh. 8,56). Und was Christus hier von Abraham sagt, das hat nach dem Zeugnis des Apostels vom Volke der Gläubigen ganz allgemein gegolten: „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8). Denn er spricht an dieser Stelle nicht einfach von Christi ewiger Gottheit, sondern von seiner Kraft, die sich den Gläubigen zu allen Zeiten offenbart hat. Deshalb sprechen es auch die Jungfrau Maria (beata virgo) und Zacharias in ihren Lobgesängen aus, wie in der Heils offenbarung in Christus die Verheißungen eingelöst sind, die der Herr einst dem Abraham und den Erzvätern zuteil werden ließ! (Luk. 1,54f.72f.). Wenn der Herr durch die Offenbarung seines Christus seinen Eid, den er den Vätern ge schworen hatte, einlöste, so muß man bekennen, daß Christus und das ewige Leben allezeit der Zielpunkt gewesen sind!


II,10,5

Nach Paulus haben aber die Juden nicht nur an der gleichen Bundesgnade Anteil wie wir, sondern es sind ihnen auch bereits die gleichen Bundeszeichen (Sakramente) gegeben worden. Da will Paulus die Korinther durch die Anführung jener Strafen, mit denen nach dem Bericht der Schrift die Israeliten einst gezüchtigt worden sind, davon abschrecken, nun ihrerseits in die gleichen Untaten zu verfallen; dazu fängt er folgendermaßen an: Wir hätten gar keinen Grund, uns irgendein Vorrecht herauszunehmen, kraft dessen wir etwa der Strafe Gottes entgehen könn ten, welche Israel einst getroffen hat; denn der Herr hätte ja ihnen die gleichen Wohltaten zuteil werden lassen und ihnen auch durch die gleichen Bundeszeichen die Herrlichkeit seiner Gnade vor Augen geführt (1. Kor. 10,1.11). Damit will er sagen: Wenn ihr meint, außer Gefahr zu sein, weil ihr durch die Taufe versiegelt seid und tagtäglich das Abendmahl empfangt und doch auf beidem herrliche Ver heißungen liegen, und wenn ihr unterdessen Gottes Güte schmählich verachtet und euch leichtsinnig gehen laßt, so wisset, daß auch die Juden solche heiligen Zeichen hatten — und daß der Herr dennoch in furchtbarer Strenge seine Gerichte an ihnen vollzogen hat! Sie haben die Taufe empfangen, als sie durchs Meer gingen, und durch die Wolke, die sie vor der Sonnenglut bewahrte. Man sagt, dieser Durchzug durchs Meer sei eine fleischliche Taufe gewesen, die unserer geistlichen Taufe nur in einer bestimmten Hinsicht ähnele. Wäre das aber wahr, so würde der Beweis des Paulus nicht gelingen können; denn er will hier doch gerade zeigen, daß der Christ auf Grund seiner Taufe keinerlei Vorzugsstellung gegenüber den Juden für sich in Anspruch nehmen kann. Diesem Einwurf steht auch das Nachfolgende entgegen: „Denn sie haben mit uns einerlei geistliche Speise gegessen und einerlei geistlichen Trank getrunken“ — worunter der Apostel Christus ver steht! (1. Kor. 10,3.4).
Simon W.

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II,10,6

Um nun diesem Spruch des Paulus die Beweiskraft zu nehmen, führt man das Wort Christi an: „Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind ge storben. Wer aber isset mein Fleisch …, der wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh. 6,49.54). Aber diese beiden Zitate (1. Kor. 10 und Joh. 6) lassen sich ohne jede Mühe zusammenbringen. Der Herr hat es mit Leuten zu tun, die einzig durch die leibliche Speise meinten satt werden zu können und sich um die Speise für die Seele keine Sorge machten. Da paßt er seine Rede in etwa an ihr Verständnis an und vergleicht besonders, um ihnen faßlich zu werden, das Manna mit seinem Leibe. Sie verlangten ja von ihm, er solle zur Bestätigung seiner Autorität seine Kraft durch ein Wunder beweisen, wie es Mose in der Wüste getan hatte, als er das Manna vom Himmel herabflehte. Unter dem Manna verstanden sie aber nur das Mittel gegen den fleischlichen Hunger, der damals das Volk anfocht; das höhere Geheimnis, das Paulus dahinter sah, bemerkten sie nicht. Nun will ihnen also Christus dartun, daß sie von ihm eine viel herrlichere Wohltat erwarten sollten als die, welche einst nach ihren Worten Mose den Vätern erwiesen hatte — und dazu verwendet er nun diesen Vergleich. „War es nach eurer Meinung schon ein großes und denkwürdiges Wunder, daß der Herr seinem Volke, um es nicht in der Wüste umkommen zu lassen, durch Mose diese Himmelsspeise gab, von der es nun eine Zeitlang bestehen konnte — so denkt doch, wieviel herrlicher die Speise sein muß, die zum ewigen Leben führt!“ Da sehen wir nun, warum der Herr das Wichtigste am Manna hier gar nicht erwähnt und nur seinen geringsten Nutzen nennt! Es geschah eben, weil ihm die Juden, um ihn zu versuchen, den Mose als Beispiel vorhielten, der dem Volke in seiner Not mit dem Manna zu Hilfe gekommen war: da gibt nun der Herr zur Antwort, daß ihm eine viel herrlichere Wohltat anvertraut sei als die fleischliche Erziehung des Volkes, die viel geringer war — und die sie doch allein so hoch achteten! Paulus dagegen war (im Gegensatz zu Jesu Hörern) überzeugt, daß der Herr mit dem Manna, das er vom Himmel regnen ließ, nicht nur den Leib hatte speisen wollen, sondern es als geistliches Geheimnis ausgeteilt hatte, um die in Christus geschehende geistliche Lebendigmachung anzudeuten; und deshalb über ging er diese Bedeutung des Manna, die ja der Betrachtung besonders wert ist, nicht. Daraus ergibt sich dann aber deutlich, daß der Herr den Juden nicht nur die gleichen Verheißungen ewigen und himmlischen Lebens hat zuteil werden lassen, deren er uns heute würdigt, sondern daß diese Verheißungen auch durch die gleichen wahrhaft geistlichen Sakramente ihre Versiegelung empfingen. — Hierüber hat Augustin ausführlich gegen den Manichäer Faustus geschrieben.


II,10,7

Vielleicht möchte aber der Leser Zeugnisse aus dem Gesetz und den Propheten hören, um daraus zu ersehen, daß auch die Väter an dem geistlichen Bunde Anteil hatten — wie uns das ja Christus und die Apostel bereits bezeugten. Diesem Be gehren komme ich gern nach — um so lieber, als ich so meine Gegner noch sicherer widerlegen kann, so daß sie keine Ausflucht mehr haben. Ich will dabei gleich mit einem Beweis anfangen, der zwar den Wiedertäufern in ihrer Hoffart ungenügend und geradezu lächerlich vorkommen, aber bei ver nünftigen und vorurteilsfreien Leuten sicher seine Geltung behaupten wird: ich nehme es dabei als zugestanden an, daß dem Worte Gottes eine solche Lebens kraft innewohnt, daß es alle, denen Gott Anteil daran gibt, innerlich lebendig macht! Denn es ist doch immer anerkannt gewesen, was Petrus schreibt, der es einen „un vergänglichen Samen“ nennt, der „da ewiglich bleibt“ (1. Petr. 1,23). Das beweist er ja auch aus den Worten des Jesaja (Jes. 40,6). Da nun Gott die Juden einst durch dieses heilige Band (nämlich das Wort!) mit sich in Gemeinschaft versetzte, so hat er sie auch unzweifelhaft zur Hoffnung auf das ewige Leben erwählt! Unter dem Wort, das sie empfangen haben und das sie Gott näher brachte, verstehe ich die Art, wie sich uns Gott mitteilt — nicht jene allgemeine, die alle Krea turen im Himmel und auf Erden erfüllt, die alles, je nach seiner Art, belebt, aber es doch nicht vor der Verderbnis sichert, sondern diese besondere Art, welche die Frommen innerlich zur Erkenntnis Gottes erleuchtet und ihnen gewissermaßen die Gemeinschaft mit ihm verleiht. Dieses Wort hat Adam, Abel, Noah, Abraham und die anderen Väter Gott anhangen lassen, und deshalb haben sie unzweifelhaft den Zugang zu Gottes ewigem Reich gehabt! Denn sie hatten wirklich mit Gott Gemeinschaft, und das ist ohne den Anteil am ewigen Leben nicht denkbar.


II,10,8

Das ist aber vielleicht noch nicht deutlich genug; nun, so wollen wir uns jetzt die Form des Bundes selbst ansehen; die wird nicht nur die verständigen Leser voll befriedigen, sondern auch die Torheit derer ans Licht bringen, die so gern widersprechen! Denn wenn der Herr mit seinen Knechten einen Bund machte, so ge schah das immer in der Weise: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ (Lev. 26,12) — und auch die Propheten haben immer wieder dargetan, daß in diesen Worten Leben, Heil und höchstes Glück enthalten ist! Es ist nämlich nicht ohne Grund, wenn David mehrfach ausruft: „Wohl dem Volk, des Gott der Herr ist!“ (Ps. 144,15), „Selig das Volk, das er zum Erbe erwählt hat!“ (Ps. 33,12) — und das nicht irdischen Wohlergehens wegen, sondern weil er die, welche er zu seinem Volke angenommen hat, aus dem Tode herausreißt, immerdar beschirmt und mit ewigem Erbarmen überschüttet. So hören wir es auch bei anderen Propheten: „Du bist unser Gott, und du wirst uns nicht sterben lassen“ (Hab. 1,12; nicht Luthertext). Oder: „Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König, der hilft uns!“ (Jes. 33,22). Oder: „Wohl dir, Israel … das du durch den Herrn selig wirst!“ (Deut. 33,29). Aber es wäre überflüssig, noch immer weitere Beweise aufzuhäufen; ich will mich darum nicht weiter damit abmühen. Immer wie der erinnern die Propheten daran, daß uns an allem Gut, ja zur Gewißheit des Heils nichts abgeht, wenn nur der Herr unser Gott ist. Und das mit Recht. Denn sein heiliges Angesicht ist uns, wenn er es nur leuchten läßt, eine sichere Bürgschaft des Heils. Und wie soll dann ein Mensch, dem er sich als sein Gott offenbart hat, nicht auch Zugang zu allen Schätzen haben? Wenn Gott unser Gott ist, so will er unter uns wohnen, wie er es durch Mose bezeugt hat (Lev. 26,12). Solcher Gegenwart Gottes kann man aber nicht teilhaftig werden, ohne zugleich das Leben zu haben! Und wäre ihnen nichts weiter gesagt worden, so hätten sie doch eine vollgültige Verheißung des geistlichen Lebens an dem einen Wort gehabt: „Ich bin euer Gott“ (Ex. 6,7). Denn er hat sich nicht allein für unseren Leib zum Gott gegeben, sondern in besonderer Weise für die Seele; diese müßte aber von ihm ferne, im Tode verbleiben, wenn er sie nicht in Gerechtigkeit mit sich ver bände! Ist aber diese Verbindung da, so bringt sie ewiges Heil mit sich!


II,10,9

Außerdem hat Gott den Vätern des Alten Bundes nicht nur verkündigen lassen, er sei ihr Gott, sondern er werde es immer bleiben! Ihre Hoffnung sollte sich nicht mit den gegenwärtigen Gütern zufrieden geben, sondern sich nach der Ewigkeit ausstrecken! Daß sie aber diese Verheißung Gottes in die Zukunft hinein auch richtig verstanden haben, zeigen uns viele Worte, in denen sich die Gläubigen nicht nur im gegenwärtigen Unglück, sondern auch für alle Zukunft damit trösten, daß Gott sie nie verlassen werde. Ja, er selber hat sie noch — und das ist das zweite Stück der Verheißung! — in der Gewißheit bestärkt, daß sein Segen über die Grenzen des Lebens hinausginge: „Ich will euer Gott sein und eures Samens nach euch!“ (Gen. 17,7; eigentlich Singular). Gott wollte ihnen also die Zusicherung geben, er werde ihnen auch nach ihrem Tode noch seine Wohltaten erweisen, da durch, daß er die Nachkommen segnete; dann aber konnte noch viel weniger ihnen selbst seine Güte fehlen! Denn Gott ist nicht wie die Menschen: die wenden ihre Liebe den Kindern ihrer Freunde deshalb zu, weil sie der Tod dieser Freunde außerstande setzt, diesen selbst noch ihr Wohlwollen zu bezeigen. Gott aber wird in seinem Wohltun nicht durch den Tod gehindert, und er nimmt den Toten nicht die Frucht seines Erbarmens, das er ja um ihretwillen auf tausend Geschlechter ausdehnt! (Ex. 20,6). Er wollte ihnen eben die Größe und den Reichtum seiner Güte, die sie noch nach ihrem Tode verspüren sollten, dadurch besonders herrlich erweisen daß er die Verheißung gab, sie sollte auch noch ihre Nachkommen mit umfassen! Die Wahrheit dieser Verheißung hat der Herr besiegelt und geradezu als in Erfüllung gegangen dargestellt, als er sich lange nach dem Tode der Erzväter als den „Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs“ bezeichnete (Ex. 3,6). Wäre das nun nicht eine ganz lächerliche Zusicherung, wenn diese Männer aufgehört hätten zu sein? Es wäre dann ja geradezu so, als hätte er gesagt: „Ich bin der Gott derer, die nicht sind!“ Deshalb konnte Christus nach dem Bericht der Evangelisten mit diesem einen Beispiel die Sadduzäer überführen, so daß sie nicht mehr leugnen konnten, daß be reits Mose die Auferstehung der Toten bezeugt habe! (Matth. 22,23-32; Luk. 20,27-38). Dazu wußten sie doch auch aus Mose: „Alle seine Heiligen sind in deiner Hand!“ (Deut. 33,3). Wie wir hier deutlich sehen, kann nicht einmal der Tod die auslöschen, die der in seinen Schutz, seine Obhut, seine Wacht genommen hat, der der Herr über Leben und Tod ist!
Simon W.

Der Pilgrim
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II,10,10

Jetzt kommen wir zum Angelpunkt der ganzen Untersuchung. Wir müssen die Frage entscheiden, ob denn auch die Gläubigen selbst von dem Herrn so weit unter wiesen waren, daß sie um ein anderes Leben wußten, so daß sie das Irdische geringschätzten und ihr Sinnen und Trachten auf dieses andere Leben richteten. Zu nächst: die Lebensweise, die ihnen Gott verordnet hatte, war doch für sie eine immer­währende Prüfung, die sie sehr wohl darüber belehrte, daß sie die elendesten Wesen wären, wenn sie allein in diesem Leben ihr Glück gesucht hätten. Adam war doch allein schon durch die Erinnerung an das verlorene Glück der unglückseligste Mensch; hart und mühevoll war die Arbeit, mit der er sein Leben fristen mußte; aber nicht nur auf der Arbeit seiner Hände ruhte schwer lastend Gottes Fluch (Gen. 3,17), nein, gerade von da, woher er einigen Trost hätte erwarten können, kam ihm schwerstes Herzeleid. Von seinen beiden Söhnen entriß ihm schrecklicher Brudermord den einen (Gen. 4,8), und der andere, der ihm blieb, bereitete ihm beim bloßen Anblick Kum mer und Abscheu! Abel, den in der Blüte der Jahre grausame Untat dahinstreckt, ist geradezu ein Beispiel menschlicher Not und Hinfälligkeit. Und Noah brachte ein gut Teil seines Lebens in mühevoller Arbeit damit zu, die Arche zu erbauen, während um ihn herum die ganze Welt unbekümmert ihren Freuden lebte (Gen. 6,22). Daß er dem Tode entging, brachte ihm mehr Not und Mühe, als wenn er tausendmal dem Tode verfallen gewesen wäre! Denn seine Arche war ihm ja durch zehn Monate hindurch geradezu ein Grab — und dann befand er sich auch in einer wahr haft peinvollen Lage mitten unter dem Unflat der Tiere. Kaum ist er dieser Not entronnen, da kommt neuer Kummer über ihn: sein eigener Sohn übt seinen Mut willen an ihm, und er muß selbst den Fluch über ihn sprechen, obwohl er ihn durch Gottes große Güte heil aus der Flut gerettet hat! (Gen. 9,24f.).


II,10,11

Abraham kann uns mehr gelten als viele Tausende, wenn wir auf seinen Glauben blicken, der uns als höchstes Vorbild vor Augen steht: und wir müssen, um Kinder Gottes zu sein, zu seinem Geschlecht gehören (Gen. 12,3). Was wäre widersinniger, als Abraham den „Vater aller Gläubigen“ zu nennen und ihm dann doch unter diesen nicht einmal den untersten Platz anzuweisen? Ihn kann man nicht aus der Zahl der Gläubigen, ja von seinem hohen Ehrenplatz unter ihnen verdrängen, ohne die ganze Kirche zu zerstören. Aber wie sah sein Leben aus? Als ihn Gottes Befehl berief, da wurde er aus seinem Vaterlande, aus seiner Verwandtschaft, aus dem Kreis seiner Freunde herausgerissen, also aus dem, was dem Menschen im Leben am köstlichsten erscheint — gerade als hätte ihn der Herr absichtlich aller Lebensfreude berauben wollen! Und kaum ist er in dem Land, in dem er wohnen soll, da treibt ihn eine Hungersnot schon wieder hinaus. Er nimmt seine Zuflucht zu einem Land, in dem er seine eigene Frau preisgeben muß, um selber am Leben zu bleiben (Gen. 12,11ff.) — und das war wohl bitterer als vielfacher Tod! Kaum ist er wieder in das Land gekommen, das ihm als Wohnstatt angewiesen war, da wird er abermals von einer Hungersnot vertrieben! Und was ist das für eine Seligkeit, in einem Lande wohnen zu müssen, in dem man so oft Hunger leiden, ja Hungers sterben kann, wenn man nicht flieht? — Und da kommt er bei Abimelech wieder in die gleiche furchtbare Not hinein, sein Leben mit dem Verlust seines Weibes lösen zu müssen. Unstet zieht er durch manche Jahre im Lande umher, bis ihn der unauf hörliche Streit der Hirten zwingt, sich von seinem Neffen, der ihm wie ein Sohn war, zu trennen. Und dieses Scheiden hat er sicherlich so empfunden, als hätte man ihm ein Glied von seinem Leibe abgeschlagen! Kurz darauf hört er, daß ihn Feinde verschleppt haben! Wohin er auch wandert — überall findet er rohe und wilde Nachbarn, die ihm gar das Wasser aus den von ihm selbst mühsam ausgehauenen Brunnen verwehren wollen! Denn er hätte sich das Recht dazu von dem Könige zu Gerar nicht durch Vertrag erkauft, wenn es ihm vorher nicht verweigert worden wäre. Schon hat er ein hohes Alter erreicht, und er muß fürchten, das zu erleben, was in solchem Alter das Widerwärtigste und Bitterste ist: ohne Kinder dazu stehen! Da wird ihm wider alle Hoffnung Ismael geboren. Aber das bringt ihm neuen Kummer; denn Sara macht ihm bittere Vorwürfe, als habe er den Stolz der Magd genährt und dadurch selbst den Hausfrieden gestört! Schließlich kommt Isaak zur Welt, aber das führt wieder zur Wegtreibung des erstgeborenen Ismael, der um seinetwillen als Ausgestoßener geradezu verjagt wird. Dann ist ihm also allein Isaak übriggeblieben, des frommen Mannes Freude in seinen alten Tagen. Und da emp fängt er den Befehl, eben diesen Isaak zu opfern! Was läßt sich Furchtbareres er denken, als daß ein Vater sein eigenes Kind töten soll? Hätte ihn eine Krankheit dahingerafft, so hätte jedermann den alten Mann als den elendesten aller Menschen bedauert, dem ja ein Sohn wie zum Spott gegeben worden sei, um ihm den Schmerz der Kinderlosigkeit zu verdoppeln! Hätte ihn fremde Hand ums Leben gebracht, so hätte diese Untat den Kummer vielfältig vergrößert. Aber daß ihn nun der Vater mit eigener Hand zu Tode bringen soll — das übersteigt alle Beispiele von Elend und Jammer! So hat ihn während seines ganzen Lebens die Not geplagt und geschunden, und wenn einer ein besonders trauriges Dasein malen wollte, so hätte er hier den geeignetsten Vorwurf. Da soll auch keiner einwenden, so gar un glücklich wäre Abraham nicht gewesen, weil er doch durch all diese Stürme glücklich hindurchkam und ihnen entrann! Denn wer durch so lange Zeit mit unendlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, der kann nicht als einer gelten, der ein glückliches Leben führte; das könnte man doch nur von einem Menschen sagen, der ohne Berührung mit dem Übel das irdische Gut in Frieden genießen kann!


II,10,12

Den Isaak haben weniger Anfechtungen heimgesucht; aber auch er hat von irdischem Glück kaum einen leichten Vorgeschmack gehabt. Denn er hat Qualen durch machen müssen, die einen Menschen auf Erden nicht zum Glück kommen lassen. Auch ihn treibt der Hunger aus dem Lande Kanaan hinaus, auch ihm wird sein Weib vom Busen gerissen, auch ihn beunruhigen die Nachbarn gehörig und schädigen ihn auf allerlei Weise, so daß er gar um das Trinkwasser streiten muß. Zu Hause machen ihm seine Schwiegertöchter viel Herzeleid (Gen. 26,34f.). Großen Kummer bereitet ihm der Streit seiner Söhne, und diesem Übel ist nur dadurch abzuhelfen, daß er den Sohn, den er gesegnet, in die Fremde schickt! (Gen. 28,1.5). Und nun ist Jakob gar das Urbild furchtbarsten Elendes. Unruhig ist seine Jugend daheim — unter dem Drohen des erstgeborenen Bruders, das ihn schließlich zur Flucht zwingt. So war er denn ein Flüchtling, und es ist schon allein bitter ge nug, fern von Eltern und Vaterland leben zu müssen; aber bei seinem Onkel, dem Laban, wird er keineswegs freundlicher und menschlicher aufgenommen. Daß er sie ben Jahre so harten und rauhen Dienst tut (Gen. 29,20), wäre noch ein Geringes, wenn er nicht mit böser List noch um die Frau betrogen würde! So muß er denn um des zweiten Weibes willen abermals in den Dienst hinein, und da dörrt ihn nach seiner eigenen Klage am Tage die Sonne mit ihrer Glut, und des Nachts quält ihn schlaflos die Kälte! (Gen. 31,40). Zwanzig Jahre trägt er dies harte Leben, und alle Tage erlaubt sich sein Schwiegervater neue Ungerechtigkeiten gegen ihn. Auch zu Hause hat er keine Ruhe: seine Weiber zerreißen und zerstören ihm mit Haß und Streit und Eifersucht das ganze Hauswesen. Dann trifft ihn der Befehl, in die Heimat zurückzuziehen. Aber sein Abschied sieht eher schnöder Flucht ähnlich; und sein Schwiegervater treibt das Unrecht gegen ihn so weit, daß er ihn noch mitten auf dem Wege mit Vorwürfen quält! (Gen. 31,23). Aber bald droht ihm noch größere Not. Denn er zieht ja seinem Bruder entgegen — und er sieht den Tod vielfältig vor Augen, weil Esau in seiner Grausamkeit und seinem Haß ihn eben vielfältig bedroht. Furcht und Bangigkeit macht ihm das Herz schwer, solange er auf das Kommen seines Bruders wartet (Gen. 32,12). Und als er ihm gegen übertritt, da fällt er ihm wie halbtot zu Füßen — bis er merkt, daß Esau versöh nungsbereiter ist, als er zu hoffen gewagt! Aber dann wird ihm Rahel, sein einzig geliebtes Weib, gleich beim Betreten des Landes durch den Tod entrissen (Gen. 35,16-20). und dann erhält er bald die Botschaft, daß der Sohn, den Rahel ihm ge geben und den er mehr liebte als die anderen alle, von einem wilden Tier zerrissen sei (Gen. 37,32). Wie furchtbar sein Schmerz über den Tod des Sohnes war, das sagt er uns selber: er weinte lange Zeit um ihn und wollte sich nicht trösten lassen, hatte auch nichts anderes mehr vor, als „mit Leid hinunterzufahren in die Grube zu seinem Sohn“. Unterdessen nimmt einer seiner Tochter die Ehre (Gen. 34,2), und seine Söhne üben grausame Rache an dem Übeltäter. Dadurch kommt nun der Vater in Verruf bei allen Landesbewohnern, und die Gewalttat der Söhne droht ihn selbst ins Unglück zu stürzen! Was für Angst und Not und Herzeleid macht ihm das alles! Dann erlebt er die unerhörte Freveltat seines erstgeborenen Sohnes Ruben — furchtbarste Schande! (Gen. 35,22). Denn es ist an sich schon schrecklich, die eigene Frau entehrt zu sehen — was soll man aber sagen, wenn der eigene Sohn solchen Frevel begeht? Aber bald darauf besudelt neue Blutschande die Familie (Gen. 38,18); es müßte gar ein Mann, den alle Not sonst nicht hätte beugen und knicken können, unter soviel Schande zusammenbrechen! Und gegen Ende seines Lebens, als er dem Hunger der Seinen Abhilfe tun will, da streckt ihn eine neue Unglücksbot schaft zu Boden: der eine Sohn liegt in Fesseln — und um ihn wiederzubekommen, soll er seinen Liebling Benjamin fremden Händen überlassen! (Gen. 42,34). Wie soll er in so viel Kummer und Not auch nur einen Augenblick fröhlich aufgeatmet haben? Er selbst ist dafür der beste Zeuge: er versichert dem Pharao: „wenig und böse ist die Zeit meines Lebens“ (Gen. 47,9). Ist er aber nach seinem eigenen Zeugnis alle Lage seines Lebens in Jammer und Elend gewesen, so bezeugt er damit klar, daß er das Glück noch nicht empfangen hatte, das ihm der Herr verheißen. So war denn Jakob entweder ein böser, undankbarer Mensch, der Gottes Gnade nicht zu schätzen vermochte — oder er gab mit diesen Worten ein wirkliches Zeugnis für sein Elend auf Erden ab. War es aber ein wirkliches Zeugnis, so folgt daraus, daß er seine Hoffnung nicht an das Irdische geheftet hat!
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