Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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III,7,7

Dieses Ersterben (des alten Menschen) wird also in uns erst dann statthaben, wenn wir die Liebespflicht gegen unseren Nächsten erfüllen. Diese Erfüllung findet sich noch nicht da, wo ein Mensch bloß alle Werke der Liebe ableistet – selbst wenn er keines unterläßt! Sie ist erst da vorhanden, wo einer das aus aufrichtiger Liebesgesinnung heraus tut! Denn es kann vorkommen, daß einer, soweit es die äußeren Pflichten betrifft, alles ohne Ausnahme leistet, was er leisten soll, daß er aber doch von der rechten Art und Weise solcher Leistung noch weit entfernt ist. Man kann Leute sehen, die für sehr freigebig gelten wollen und die doch nichts geben, ohne durch hoffärtige Blicke oder gar überhebliche Worte dem Beschenkten Vorhaltungen zu machen. In unseren unglücklichen Zeiten ist es dabei zu solchem Jammer gekommen, daß wenigstens die meisten Menschen kaum Almosen geben können, ohne dabei (den Armen) zu schmähen. Das ist eine Niedertracht, die nicht einmal bei den Heiden geduldet werden sollte, von den Christen nämlich wird doch noch ganz etwas anderes gefordert, als daß sie einen freundlichen Blick an den Tag legen und ihre Dienstleistung durch gütige Worte angenehm machen. Sie sollen zunächst die Person dessen, den sie ihrer Hilfe bedürftig sehen, annehmen und sich sein Unglück ebenso zu Herzen gehen lassen, als ob sie es selber erführen und durchmachten; so sollen sie dazu gebracht werden, ihm aus der Empfindung der Barmherzigkeit und der Menschlichkeit heraus ebenso zu Hilfe zu kommen, wie sie es sich selber zugut tun würden. Wer in dieser Gesinnung daran geht, seinen Brüdern zu helfen, der wird seine Dienstleistung nicht mit Anmaßung oder mit Vorhaltungen beschmutzen, er wird zugleich auch den Bruder, dem er wohltut, nicht als Hilfsbedürftigen verachten oder ihn als einen, der ihm etwas schuldig ist, unter ein Joch zwingen – ebensowenig, wie wir doch ein krankes Glied grob anfahren, wenn der übrige Leib sich darum müht, es wieder zum Leben zu bringen, oder wie wir etwa meinen, dieses kranke Glied sei den übrigen nun in besonderer Weise verpflichtet, weil es ja mehr Hilfe auf sich gezogen als geleistet habe! Denn wir glauben doch nicht, daß die Dienstgemeinschaft unter den Gliedern für ein unverdientes Geschenk zu halten ist; sie ist doch vielmehr die Erfüllung einer Verpflichtung, die aus dem Gesetz der Natur stammt und deren Verleugnung ungeheuerlich wäre. Daraus ergibt sich nun aber auch, daß ein Mensch, der eine bestimmte Dienstleistung vollbracht hat, nun nicht denken soll, er sei frei – es kommt ja allgemein immer wieder vor, daß ein reicher Mann etwas von seinem Besitz hingibt und dann andere Lasten auf andere abschiebt, als ob sie ihn nichts angingen. Nein, es soll vielmehr jeder bei sich bedenken, daß er mit allem, was er ist und hat, seines Nächsten Schuldner ist – und daß sein Wohltun gegenüber dem Nächsten erst dann sein Ende findet, wenn sein Vermögen dazu aufhört; denn soweit sein Vermögen reicht, muß es auch nach der Regel der Liebe bestimmt sein!



III,7,8

Vornehmlich aber richtet sich unsere Selbstverleugnung, wie ich bereits ausführte, auf Gott. Darüber will ich jetzt wiederum, und zwar ausführlicher sprechen. Vieles ist hierüber allerdings bereits gesagt, und es wäre überflüssig, das zu wiederholen. Es muß uns genügen, mit unserer Betrachtung soweit zu gehen, wie es dazu dient, uns zu Gleichmut und Geduld zu führen. Zunächst also: wenn wir Mittel und Wege suchen, unser gegenwärtiges Leben angenehm und ruhig zu gestalten, so ruft uns die Schrift dazu auf, uns selber und alles, was unser ist, dem Ermessen des Herrn hinzugeben und ihm alle Regungen unseres Herzens auszuliefern, damit er sie zähme und unter sein Joch nehme. Wir sind ja voll wilder Lust und unendlicher Gier, Reichtum und Ehre zu erstreben, nach Macht ehrgeizig zu verlangen, Reichtümer aufzuhäufen und all die anderen Narreteien zu sammeln, die uns zu Prunk und Prahlerei zu dienen scheinen! Auf der anderen Seite haben wir eine seltsame Furcht vor Armut, Verachtung und Niedrigkeit, einen merkwürdigen Haß gegen das alles – und dadurch werden wir angestachelt, es uns mit allen Mitteln vom Halse zu schaffen. Daraus läßt sich erkennen, wie unruhig ein Mensch in seinem Wesen ist, der sein Leben nach eigenem Gutdünken gestaltet, wieviel Künste er versucht, mit wieviel Eifer er sich müde macht! Und das alles, um zu erlangen, wonach seine ehrgeizige und habgierige Gesinnung ausgeht, und um andererseits der Armut und Niedrigkeit zu entkommen! Damit nun also der Fromme sich nicht in dergleichen Stricke verfängt, muß er folgenden Weg einschlagen. Zunächst soll er von keiner anderen Seite ein Mittel zum Wohlergehen zu gewinnen trachten oder hoffen oder bedenken, als allein aus dem Segen des Herrn heraus. Auf diesen Segen also soll er sich ruhig und vertrauensvoll verlassen und stützen. Denn mag auch das Fleisch meinen, es habe an sich selber voll und ganz genug, indem es mit eigenem Mühen nach Ehre und Reichtum strebt und sich mit eigenem Eifer darum anstrengt oder auch durch die Gunst der Menschen dazu verholfen bekommt – so ist doch sicherlich das alles nichts, und wir können auch mit Verstand und Mühe nichts erreichen, als sofern uns der Herr zu beidem das Gedeihen schenkt! Auf der anderen Seite aber findet sein Segen allein auch durch alle Hindernisse hindurch den Weg und schenkt uns, daß uns alles fröhlich und glücklich ausgehe. Aber weiter: wir könnten uns wohl auch allenfalls ohne Gottes Segen allerhand Ruhm und Reichtum verschaffen – wir sehen ja, wie die Gottlosen alle Tage große Ehren und Reichtümer aufhäufen -; aber ein Mensch, auf dem Gottes Fluch lastet, kann ja doch nicht das geringste Stücklein Glück kosten, und deshalb werden wir ohne Gottes Segen nur Dinge erlangen, die uns zum Bösen ausschlagen. Nun sollen wir aber doch unter keinen Umständen nach etwas trachten, das den Menschen nur mehr ins Elend stürzen kann!



III,7,9

Wir glauben also, daß es allein auf Gottes Segen beruht, wenn unsere Sachen gut fortschreiten und es uns ergeht, wie wir es wünschen; geht uns aber sein Segen ab, so haben wir Elend und Not aller Art zu gewärtigen. Ist es aber so, dann haben wir uns weder auf unsere eigene Klugheit noch auf unseren eigenen Fleiß zu verlassen, auch nicht auf Menschengunst zu stützen oder auf den leeren Wahn des Glücks zu vertrauen und mit alledem gierig nach Reichtum und Ehre zu streben, nein, wir sollen stets auf den Herrn schauen, um durch seine Leitung zu dem Los geführt zu werden, das er uns vorgesehen hat, wie es auch aussehen mag. Dann wird es erstens geschehen, daß wir nicht mit Frevel, List und falschen Künsten, mit Raubsucht oder mit Unrecht gegen unseren Nächsten darauf los rennen Reichtümer zu erraffen oder Ansehen an uns zu reißen; sondern wir werden einzig nach solchen Gütern trachten, die uns nicht von der Unschuld wegführen! Wer sollte denn unter Betrug und Raub und sonstigen bösen Praktiken hoffen wollen, Gottes Segen werde ihm Hilfe leihen? Denn der Segen Gottes folgt nur dem, der rein denkt und recht handelt, und deshalb ruft er alle, die ihn erflehen, von unaufrichtigem Denken und bösem Tun ab! Weiter wird uns auch ein Zügel angelegt, damit wir nicht in maßloser Gier entbrennen, reich zu werden, und uns nicht ehrsüchtig an äußeres Ansehen hängen. Denn woher soll ein Mensch die Frechheit nehmen, darauf zu vertrauen, Gott werde ihm helfen, um Dinge zu erlangen, die er im Widerspruch mit seinem Worte begehrt? Denn das sei ferne, daß Gott mit der Hilfe seines Segens begleite, was er doch mit eigenem Munde verflucht! Und endlich: wenn es uns nicht nach Wunsch und Erwartung gelingt, so werden wir doch vor der Ungeduld zurückgehalten, auch vor der Verwünschung unserer Lage – sei sie nun, wie sie wolle. Denn wir wissen, daß dies Murren wider Gott wäre, nach dessen Ermessen Reichtümer und Armut, Verachtung und Ehren ausgeteilt werden. Ich fasse zusammen: wer sich in der beschriebenen Weise auf Gottes Segen stützt, der wird nicht mit üblen Künsten nach solchen Dingen haschen, die die Menschen gewöhnlich wild begehren – denn er wird bedenken, daß ihm solcherlei Künste doch nichts nützen werden. Er wird aber auch, wenn ihm etwas recht gelingt, diesen Erfolg nicht sich selber zuschreiben, auch nicht seinem Fleiß, seiner Geschäftigkeit oder seinem Glück; nein, er wird in Dankbarkeit anerkennen, daß Gott der Geber ist. Wenn andere Leute in ihren Sachen blühenden Erfolg haben, er selbst aber nur wenig vorwärtskommt, ja, gar zurückgeworfen wird, so wird er doch seine Armut mit größerer Gelassenheit und größerer Sanftmut des Herzens tragen, als irgendein Weltmensch einen mittelmäßigen Erfolg, der nur seinen Wünschen nicht entspricht. Er hat nämlich einen Trost, bei dem er sich zuversichtlicher zufriedengeben kann, als bei der größten Fülle des Reichtums und der Macht: er bedenkt, daß der Herr sein Ergehen so ordnet, wie es seinem Heil zuträglich ist. So war David gesinnt, wie wir sehen: er folgte Gott nach und überließ sich seiner Führung, und er bezeugte dabei, daß er einem „entwöhnten Kinde“ gleich sei und nicht in „Dingen wandelte“, die hoch oder für ihn zu wunderbar waren (Ps. 131,1f.).



III,7,10

Jedoch soll ein frommer Sinn nicht nur in solchem Fall Ruhe und Geduld bewahren; nein, solche Ruhe und Geduld muß auch in allen anderen Wechselfällen herrschen, denen dies gegenwärtige Leben unterworfen ist. Es übt also nur der die rechte Selbstverleugnung, der sich dem Herrn ganz hingegeben hat, so daß er sein Leben in allen einzelnen Stücken der Führung durch seinen Ratschluß unterstellt. Wenn einer diese Gesinnung in seinem Herzen trägt, so wird er, was auch kommen mag, sich weder für elend halten, noch auch im Haß gegen Gott über sein Los Klage erheben. Wie notwendig aber diese Gesinnung ist, das wird uns deutlich werden, wenn wir bedenken, wieviel Unfällen wir doch unterworfen sind. Krankheiten aller Art plagen uns immer wieder; bald wütet die Pestilenz, bald bringen Kriegsnöte grausame Qualen über uns, bald raffen Frost oder Hagel die Hoffnung des Jahres dahin und bringen uns Mißwachs, der uns dem Mangel aussetzt; oder der Tod raubt uns Weib oder Eltern oder Kinder oder Verwandte; oder unser Haus fällt einer Feuersbrunst zum Opfer. Das sind Ereignisse, unter deren Wirkung wohl Menschen ihr Leben verfluchen, den Tag ihrer Geburt vermaledeien, Himmel und Tageslicht verwünschen, Gott dreinreden und ihn – da sie nicht um Worte verlegen sind, wenn es zu lästern gilt! – der Ungerechtigkeit und wilden Grausamkeit beschuldigen. Der Gläubige dagegen soll auch in solchen Geschehnissen Gottes Milde und väterliche Nachsicht anschauen. Sind ihm also (z.B.) die nächsten Verwandten weggenommen und sieht er sein Haus vereinsamt, so wird er doch nicht aufhören, den Herrn zu preisen, nein, er wird vielmehr bei sich bedenken: Es wird trotz allem die Gnade des Herrn, die in meinem Hause wohnt, dies Haus nicht vereinsamt bleiben lassen! Hat der Reif die Saaten erstarren lassen, hat der Frost sie vernichtet, hat der Hagel sie zu Boden geschlagen, und sieht der Gläubige über dem allen den Hunger drohen – so wird er doch nicht den Mut verlieren, er wird sich auch nicht mit Haß gegen Gott wenden, sondern er wird zuversichtlich dabei bleiben: „Wir aber sind dennoch unter dem Schutz des Herrn und Schafe, die er auf seiner Weide erzogen hat“ (Ps. 79,13; nicht Luthertext); er wird uns also auch in der größten Mißernte Nahrung verschaffen! Oder wird er mit Krankheit geplagt, so wird ihn selbst die größte Bitterkeit des Schmerzes nicht zerbrechen, so daß er etwa in Ungeduld verfiele und so mit Gott haderte, nein, er wird in der Geißel Gottes doch Gerechtigkeit und Milde erkennen und sich so zur Geduld aufrufen! Kurz, was ihm auch zustoßen mag – er weiß doch, daß es durch die Hand des Herrn so verordnet ist, und er wird es deshalb sanftmütig und dankbaren Herzens auf sich nehmen, um nur nicht halsstarrig der Leitung dessen zu widerstreben, in dessen Gewalt er einmal sich und alles, was sein ist, begeben hat. Vor allem muß sich ein Christenmensch in seinem Herzen von jenem törichten und jämmerlichen Trost der Heiden fernhalten: diese wollten ihr Herz gegen das Unglück wappnen und haben es deshalb dem „Schicksal“ zugeschrieben; sie erklärten dann aber, gegen das „Schicksal“ sich zu ereifern, sei töricht, da es blind und unberechenbar sei und mit verbundenen Augen Schuldige und Unschuldige gleichermaßen verwunde. Die Frömmigkeit hat genau die umgekehrte Regel: Gottes Hand allein regiert und waltet Glück und Unglück, und zwar stürmt sie nicht unbedacht daher, sondern teilt uns in herrlich geordneter Gerechtigkeit Gutes wie Böses zu!
Simon W.

Der Pilgrim
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Achtes Kapitel: Vom Tragen des Kreuzes als einem Stück der Selbstverleugnung


III,8,1

Ja, ein frommer Sinn muß noch höher dringen, nämlich dahin, wohin Christus seine Jünger ruft: daß jeder sein Kreuz auf sich nehme (Matth. 16,24). Denn wen der Herr zum Kind angenommen und der Gemeinschaft mit den Seinen gewürdigt hat, der muß sich auf ein hartes, mühseliges, unruhiges Leben gefaßt machen, das von gar vielen und vielerlei Übeln erfüllt ist. So ist es der Wille des himmlischen Vaters, die Seinigen auf diese Weise zu üben, damit er gewißlich erprobt, wie es mit ihnen steht. Bei Christus, seinem eingeborenen Sohne, hat er den Anfang gemacht, und gegenüber allen seinen Kindern folgt er der gleichen Ordnung. Denn Christus war zwar Gottes Sohn, den er mehr als alle anderen liebte (Matth. 3,17; 17,5) und auf dem das Wohlgefallen des Vaters ruhte; und doch sehen wir, wie er so gar nicht nachsichtig oder weichlich behandelt worden ist; man kann deshalb wirklich sagen, daß er nicht nur während seines ganzen Erdenwandels mit beständigem Kreuz geplagt worden ist, sondern daß sein ganzes Leben nichts war als das Bild solchen beständigen Kreuzes. Der Apostel zeigt uns die Ursache dafür: er mußte „an dem, was er litt“, Gehorsam lernen! (Hebr. 5, 8). Weshalb sollen wir nun uns von diesem Geschick ausnehmen, das doch Christus, unser Haupt, auf sich nehmen mußte – besonders, wo er das doch um unsertwillen getan hat, um uns an sich selber ein Beispiel der Geduld vor Augen zu stellen? Deshalb lehrt auch der Apostel, daß allen Kindern Gottes das Ziel gesetzt ist, Christus gleichgestaltet zu werden (Röm. 8,29). Daraus ergibt sich für uns ein herrlicher Trost: ergeht es uns hart und rauh und meinen wir, darin Unglück und Böses zu erleben, so haben wir (in Wirklichkeit) Anteil an Christi Leiden; denn wie er aus einem Labyrinth aller Übel in die himmlische Herrlichkeit eingegangen ist, so sollen auch wir „durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen“ (Apg. 14,22). So gibt uns Paulus an anderer Stelle selbst die Lehre: wenn wir „die Gemeinschaft seiner Leiden“ lernen, dann erfahren wir zugleich auch die „Kraft seiner Auferstehung“, und wenn wir „seinem Tode ähnlich werden“, so werden wir dadurch zur Teilnahme an der herrlichen Auferstehung bereitet! (Phil. 3,10f.). Wie sehr kann es zur Linderung aller Bitterkeit des Kreuzes dienen, daß wir, je mehr uns Unglück anficht, auch eine desto gewissere Bekräftigung unserer Gemeinschaft mit Christus erlangen! Durch die Gemeinschaft mit ihm werden uns die Leiden selber gesegnet, ja, sie bieten uns auch viel Beistand zur Förderung unseres Heils!



III,8,2

Zudem hatte unser Herr nur insofern nötig, das Kreuz auf sich zu nehmen, als es galt, dem Vater seinen Gehorsam zu bezeugen und zu beweisen. Für uns dagegen ist es aus vielen Gründen vonnöten, unser Leben unter beständigem Kreuz zuzubringen. Zunächst sind wir ja von Natur nur allzu geneigt, unserem Fleische alles zuzuschreiben, und deshalb kommen wir, wenn uns unsere Schwachheit nicht handgreiflich gewissermaßen vor die Augen gestellt wird, leicht dazu, unsere Kraft über das rechte Maß zu schätzen und nicht zu zweifeln, sie werde gegenüber allen Schwierigkeiten ungebrochen und unbesiegt bleiben – komme, was da wolle. So geraten wir denn in ein törichtes und eitles Vertrauen auf unser Fleisch; darauf verlassen wir uns und kommen zu einer halsstarrigen Hoffart gegen Gott selber, als ob wir an unseren eigenen Fähigkeiten ohne seine Gnade genug hätten. Diese Vermessenheit kann Gott nicht besser dämpfen, als wenn er uns durch die Erfahrung beweist, an wieviel Schwachheit, ja, auch an wieviel Gebrechlichkeit wir leiden. Deshalb plagt er uns mit Schande oder Armut oder mit dem Verlust unserer Lieben oder mit Krankheit oder mit anderen Nöten – und das auszuhalten, sind wir viel zu schwach; was an uns ist, so müssen wir bald unterliegen! So gedemütigt, lernen wir, seine Kraft anzurufen, die uns allein unter der Last unserer Trübsal standhalten läßt. Auch die heiligsten Menschen, die gewiß erkannt haben, daß sie durch Gottes Gnade und nicht durch eigene Kraft Bestand haben, auch sie sind trotzdem ihrer Tapferkeit und Standhaftigkeit sicherer, als es recht ist – wenn sie Gott nicht durch die Prüfung des Kreuzes zu tieferer Selbsterkenntnis führt. Solche falsche Sorglosigkeit hat sich auch bei David eingeschlichen: „Ich sprach, da mir’s wohlging: Ich werde nimmermehr darniederliegen. Denn, Herr, durch dein Wohlgefallen hattest du meinen Berg stark gemacht; aber da du dein Antlitz verbargest, erschrak ich“ (Ps. 30,7f.). Er bekennt hier, wie unter glücklichen Verhältnissen seine Sinne in Trägheit abgestumpft waren, so daß er Gottes Gnade, von der er abhängen sollte, hintanstellte und sich stattdessen auf sich selber stützte, ja sich dauerndes Standhalten versprach. Wenn das aber solch einem Propheten zugestoßen ist – wer unter uns müßte sich dann nicht fürchten, um sich in acht zu nehmen? Haben sich Menschen unter ruhigen Verhältnissen ihrer Beständigkeit und Geduld geschmeichelt und sie für gar groß gehalten, so lernen sie, unter den Widerwärtigkeiten gedemütigt, erkennen, daß es lauter Heuchelei war. Durch dergleichen Beweise, meine ich, werden die Gläubigen an ihre Gebrechen erinnert und schreiten so zur Demut fort, so daß sie alles verkehrte Vertrauen auf das Fleisch von sich ablegen und zu Gottes Gnade ihre Zuflucht nehmen. Haben sie dann das getan, so erfahren sie auch die Gegenwart der göttlichen Kraft, in der Hilfe genug und übergenug zu finden ist.



III,8,3

Eben hiervon redet nun Paulus, wenn er uns lehrt, daß „Trübsal Geduld bringt, Geduld aber bringt Erfahrung …“ (Röm. 5,3f.). Gott hat den Gläubigen verheißen, ihnen in der Trübsal beizustehen – und sie „erfahren“ die Wahrheit dieser Verheißung, wenn sie, von seiner Hand gestützt, „geduldig“ standhalten, was sie aus eigener Kraft keineswegs vermöchten! Die „Geduld“ bringt also den Heiligen die „Erfahrung“, daß Gott die Hilfe, die er ihnen verheißen hat, auch wirklich erzeigt, wenn es nötig ist. Das dient dann wieder zur Bekräftigung ihrer Hoffnung; denn es wäre ja eine gar zu große Undankbarkeit, wenn sie die Wahrheit Gottes, die sie als beständig und kräftig erfahren haben, nicht auch für die Zukunft erwarteten. Wir sehen bereits, wieviel Gutes hier in einem einzigen Zusammenhang aus dem Kreuz uns zukommt. Das Kreuz stürzt nämlich unseren Wahn um, in dem wir uns der eigenen Kraft fälschlich vermessen haben, es macht unsere Heuchelei, die uns soviel Genuß bereitet, offenbar, es schlägt unser gefährliches Vertrauen auf unser Fleisch zu Boden; hat es uns aber solchermaßen gedemütigt, so lehrt es uns, uns allein auf Gott zu verlassen, und so kommt es, daß wir nicht unterdrückt werden und nicht unterliegen. Dem Siege aber folgt die Hoffnung; denn der Herr hat doch dadurch, daß er seine Verheißung erfüllte, auch für die Zukunft seine Wahrheit bestätigt. Wahrlich, selbst wenn diese Ursachen allein stünden, so wäre doch deutlich, wie sehr uns die Übung unter dem Kreuze nottut. Denn es ist nicht von geringer Bedeutung, daß uns unsere blinde Selbstliebe weggenommen wird und wir uns so unserer Schwachheit recht bewußt werden, – daß wir die eigene Schwachheit zu Herzen nehmen, um uns selber mißtrauen zu lernen, – daß wir uns selber mißtrauen, um unser Vertrauen auf Gott zu setzen, – daß wir das Vertrauen unseres Herzens auf Gott ruhen lassen, um auf seine Hilfe zu bauen und so unbesiegt bis ans Ende zu beharren, – daß wir durch seine Gnade festbleiben, damit wir erkennen, daß er wahrhaftig ist in seinen Verheißungen, – daß wir die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen erfahren, um dadurch eine Stärkung unseres Glaubens zu empfangen!



III,8,4

Wenn der Herr den Seinen Trübsal schickt, so hat er dabei auch noch einen anderen Zweck im Auge: er will ihre Geduld erproben und sie zum Gehorsam erziehen. Freilich nicht, als ob sie ihm einen anderen Gehorsam leisten könnten als den, den er ihnen selber gegeben hat; aber er hat sein Wohlgefallen daran, auf solche Weise die Gnadengaben, die er seinen Heiligen geschenkt hat, mit vortrefflichen Beweisen bezeugen und verherrlichen zu lassen, damit sie nicht untätig im Inneren verborgen bleiben. Wenn er also die Kraft und Beständigkeit zum Dulden, mit der er seine Knechte ausgerüstet hat, offen zutage treten läßt, dann heißt es: er erprobt ihre Geduld. Daher kommen denn solche Aussagen wie die, Gott habe den Abraham „versucht“ (Gen. 22,1) und er habe nun erfahren, daß er „Gott fürchte“, weil er sich ja nicht geweigert habe, seinen eigenen, einzigen Sohn zu opfern (Gen. 22,12). Deshalb lehrt auch Petrus, unser Glaube werde durch die Trübsale ebenso erprobt, wie das Gold im Ofen mit Feuer bewährt werde (1. Petr. 1,7). Wer wollte es aber nicht für förderlich erklären, daß die herrliche Gabe der Geduld, die der Gläubige von seinem Gott empfangen hat, auch in Gebrauch gesetzt und auf diese Weise sicher und offenbar werde? Auf andere Weise würden die Menschen sie ja nie und nimmer nach Gebühr schätzen! Gott tut also durchaus recht daran, wenn er seinen Gläubigen Ursache gibt, die Kräfte zu erwecken, die er ihnen hat zuteil werden lassen – damit sie nicht im Dunklen verborgen bleiben oder gar unnütz daliegen und verderben! Ist es aber so, dann besteht für die Trübsale der Heiligen, ohne die ja ihre Geduld nichts wäre, eine sehr gewichtige Ursache. Das Kreuz erzieht, so sage ich, die Gläubigen auch zum Gehorsam, und zwar deshalb, weil sie auf diese Weise gelehrt werden, nicht nach ihren eigenen Wünschen, sondern nach Gottes Willen zu leben. Wahrlich, wenn ihnen alles nach Wunsch gelänge, so wüßten sie ja gar nicht, was es heißt: Gott nachfolgen! Wie uns Seneca berichtet, gab es ein altes Sprichwort, mit dem man einen Menschen zum Ertragen des Unglücks ermunterte: Folge Gott nach! (Vom glückseligen Leben 15,5). Damit gab man nämlich zu verstehen, daß der Mensch sich erst dann recht unter Gottes Joch beuge, wenn er seiner Rute Hand und Rücken darbiete! Es ist doch die billigste Forderung, daß wir uns dem himmlischen Vater in allen Dingen gehorsam zu erweisen haben, – dann aber dürfen wir uns auch dem nicht entziehen, daß er uns auf allerlei Weise daran gewöhnt, ihm solchen Gehorsam zu leisten.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,8,5

Wie sehr uns solcher Gehorsam nottut, das können wir indessen erst ganz durchschauen, wenn wir zugleich in Betracht ziehen, wie sehr unser Fleisch geneigt ist, Gottes Joch mutwillig abzuwerfen, sobald es etwas weichlicher und nachsichtiger behandelt wird. Es geht ihm genau wie widerspenstigen Pferden: hat man sie einige Tage lang müßig stehen lassen und dabei gut genährt, dann lassen sie sich hernach vor Wildheit nicht mehr bändigen, erkennen auch ihren Reiter nicht mehr an, dessen Befehl sie zuvor doch gehorcht haben! Von uns gilt immerfort und allgemein, was Gott an dem Volke Israel beklagt: wenn wir dick und fett geworden sind, dann schlagen wir gegen den aus, der uns doch aufgezogen und ernährt hat! (Deut. 32,15). Gottes Wohltätigkeit sollte uns dazu verlocken, seine Güte zu betrachten und ihr mit heißer Liebe zu danken. Aber unsere Bosheit ist so groß, daß wir gerade im Gegenteil durch seine Nachsicht stets verdorben werden, und deshalb ist es für uns hoch vonnöten, daß wir gewissermaßen in Zucht gehalten werden, um uns nicht in solchem Übermut gehen zu lassen. Damit wir nun nicht durch maßlosen Überfluß an Gütern ungebärdig werden oder unter hohen Ehren in Hoffart geraten oder uns von anderen Gütern der Seele, des Leibes oder des Besitzes aufblasen und zum Übermut verführen lassen, – so tritt dem der Herr selber, je wie er es für förderlich hält, entgegen und bändigt und zügelt die Wildheit unseres Fleisches durch das Heilmittel des Kreuzes! Er tut das auf verschiedenerlei Weise, nämlich so sehr es für jeden einzelnen heilsam ist. Denn wir leiden ja nicht alle gleich schwer an den gleichen Gebrechen, bedürfen auch nicht alle gleich harter Heilbehandlung. Deshalb kann man auch wahrnehmen, wie der eine mit dieser, der andere mit jener Art von Kreuz geplagt wird. Wenn aber der himmlische Arzt den einen zarter behandelt, den anderen mit schärferer Arznei zur Genesung bringt – denn er ist ja um die Gesundheit aller besorgt! -, so läßt er doch keinen frei und unberührt davonkommen; denn er weiß ja, daß alle ohne Ausnahme krank sind!



III,8,6

Nun hält es der Vater in seiner großen Freundlichkeit aber nicht bloß für nötig, unserer Schwachheit zuvorzukommen, sondern er muß auch öfters unsere vergangenen Missetaten strafen, um uns im gebührenden Gehorsam gegen sich zu erhalten. Wenn wir also Trübsal erleiden, so muß uns jedesmal alsbald die Erinnerung an unser voriges Leben in den Sinn kommen: dann werden wir ohne Zweifel finden, daß wir etwas begangen haben, was solche Züchtigung verdient hat. Allerdings sollten wir die Ermahnung zur Geduld nicht in erster Linie von der Erkenntnis der Sünde herleiten. Denn die Schrift gibt uns eine weit bessere Betrachtungsweise an die Hand: sie sagt, wir würden im Unglück „von dem Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht samt der Welt verdammt werden!“ (1. Kor. 11,32). So schickt es sich, daß wir gerade in der Bitterkeit der Trübsale die Güte und Freundlichkeit unseres Vaters gegen uns erkennen; denn er läßt auch dann nicht davon ab, unser Heil zu fördern. Er schickt uns die Trübsal nicht, um uns zu verderben oder zugrundezurichten, sondern vielmehr, um uns von der Verdammnis der Welt freizumachen. Diese Erwägung wird uns zu dem führen, was die Schrift an anderer Stelle lehrt: „Mein Kind, verwirf die Zucht des Herrn nicht und sei nicht ungeduldig über seine Strafe. Denn welchen der Herr liebt, den straft er, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn“ (Spr. 3,11f.). Wenn wir die Rute unseres Vaters verspüren – ist es dann nicht unsere Aufgabe, uns als gehorsame, gelehrige Kinder zu erzeigen, statt es in Halsstarrigkeit so zu machen wie verlorene Leute, die sich in ihren Übeltaten verhärtet haben? Gott läßt uns verlorengehen, wenn er uns nicht nach unserem Abfall von ihm durch Züchtigung wieder zu sich ruft – und der Apostel muß recht behalten, wenn er sagt: „Seid ihr aber ohne Züchtigung, … so seid ihr Bastarde und nicht Kinder!“ (Hebr. 12, 8). Wir sind also gänzlich verkehrt, wenn wir ihn nicht ertragen können, wo er uns sein Wohlwollen gegen uns und seine Sorge um unser Heil deutlich macht. Nach der Lehre der Schrift besteht zwischen den Ungläubigen und den Gläubigen der Unterschied: die Ungläubigen werden, gewissermaßen als Sklaven ihrer eingewurzelten und eingebrannten Bosheit, durch Schläge nur schlimmer und halsstarriger; den Gläubigen dagegen ist die aufrichtige Gesinnung von Kindern zuteil geworden, und deshalb schreiten sie zur Buße fort. Nun mag jeder wählen, zu welcher Gruppe er lieber gehören will. Ich habe aber hierüber schon an anderer Stelle gesprochen, und deshalb will ich mich mit dieser kurzen Erwähnung begnügen und jetzt schließen.



III,8,7

Ein herrlicher Trost ist es weiter, wenn wir um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden. Denn dann muß uns der Gedanke kommen, welch hoher Ehre uns Gott würdigt, daß er uns auf diese Weise mit dem besonderen Zeichen seines Kriegsdienstes auszeichnet. Wenn ich vom Erleiden der Verfolgung um der Gerechtigkeit willen spreche, so denke ich nicht nur an solche Menschen, die um der Verteidigung des Evangeliums willen, sondern auch an solche, die über irgendwelchem Eintreten für die Gerechtigkeit in Not geraten. Wenn wir nun, sei es dadurch, daß wir Gottes Wahrheit gegen die Lügen des Satans verteidigen, oder dadurch, daß wir die Guten und Unschuldigen gegen die Ungerechtigkeiten der Bösen in Schutz nehmen, der Welt Ungunst und Haß auf uns ziehen müssen, und wenn von daher unserem Leben oder unserem Besitz oder unserer Ehre Schaden droht, so soll es uns nicht hart oder beschwerlich sein, uns auch in solchen Dingen Gott zu Dienste zu stellen, wir sollen uns auch nicht jämmerlich vorkommen in einer Lage, in der er uns mit seinem eigenen Munde selig gepriesen hat! (Matth. 5,10). Gewiß ist die Armut, wenn man sie an und für sich betrachtet, ein Elend, auch Verbannung, Verachtung, Gefangenschaft und Schande; und der Tod selber ist schließlich der Gipfel aller Not. Ist aber unseres Gottes Gnade für uns, so kann uns das alles nur zum Glück ausschlagen. Deshalb wollen wir uns an Christi Zeugnis genügen lassen, statt an dem falschen Wahn des Fleisches. Dann wird es geschehen, daß wir jedesmal nach dem Beispiel der Apostel fröhlich sind, wenn er uns würdig befindet, „um seines Namens willen Schmach zu leiden“ (Apg. 5,41). Wieso denn? Wenn wir unschuldig und mit gutem Gewissen durch eine Freveltat der Gottlosen unser Vermögen verlieren, so werden wir zwar vor den Menschen in Mangel versetzt, vor Gott im Himmel aber wächst uns ja gerade dadurch wahrer Reichtum zu! Wenn wir von Haus und Hof verjagt werden, so werden wir desto fester in Gottes Hausgenoffenschaft aufgenommen. Quält oder verachtet man uns, so schlagen wir desto festere Wurzeln in Christus. Bedeckt man uns mit Schmach und Schande, so haben wir im Reiche Gottes einen um so herrlicheren Platz! Mordet man uns hin, so eröffnet sich uns dadurch der Eingang zum seligen Leben! Wir wollen uns schämen, solche Widerfahrnisse, denen der Herr so hohen Wert beigelegt hat, geringer zu schätzen, als die schattenhaften, vergänglichen Lockungen des Lebens!



III,8,8

Mit solchen und ähnlichen Ermahnungen bietet uns die Schrift also reichlichen Trost für alle Schmach und Widerwärtigkeit, die wir in der Verteidigung der Gerechtigkeit auf uns zu nehmen haben. Was ist es da für eine große Undankbarkeit, wenn wir solche Nöte nicht gern und fröhlich aus Gottes Hand annehmen, zumal diese Art Kreuz den Gläubigen am meisten eigen ist und Christus durch sie in uns verherrlicht werden will, wie auch Petrus lehrt (1. Petr. 4,12ff.). Edlen Naturen ist es nun bitterer, Schmach zu tragen, als hundertmal den Tod zu erleiden, und deshalb ermahnt uns Paulus ausdrücklich, daß unser nicht bloß Verfolgungen warten, sondern auch Schmähungen, weil „wir auf den lebendigen Gott gehofft haben“ (1. Tim. 4,10). An anderer Stelle ermahnt er uns ja auch, unseren Wandel „durch böse Gerüchte und gute Gerüchte“ zu führen (2. Kor. 6,8). Es wird nun aber von uns keine Freudigkeit gefordert, die jedes Empfinden der Bitterkeit und des Schmerzes aufhöbe; sonst, wenn die Gläubigen nicht vom Schmerz gequält und von der Not geängstigt würden, gäbe es ja für sie auch gar keine Geduld unter dem Kreuz! Wäre die Armut nicht hart, die Krankheit nicht schmerzvoll, die Schmach nicht peinigend, der Tod nicht schrecklich – was wäre es dann für eine Tapferkeit und Geduld, sich nichts daraus zu machen? Alle diese Nöte quälen natürlicherweise mit der ihnen innewohnenden Bitterkeit unser aller Herz; aber gerade darin zeigt sich die Tapferkeit des Gläubigen, daß er, wenn ihn das Empfinden solcher Bitterkeit anficht, dennoch wacker Widerstand leistet und den Sieg erringt, mag der Kampf auch schwer sein! Seine Geduld erweist sich darin, daß er sich, wenn er hart aufgestachelt wird, dennoch von der Furcht Gottes zügeln läßt, nur nicht in irgendwelche Ungehaltenheit zu verfallen. Seine Freudigkeit leuchtet daraus hervor, daß er, wenn ihn Traurigkeit und Kummer verwunden, doch in Gottes geistlichem Troste Ruhe findet!



III,8,9

Die Gläubigen fechten also einen Kampf gegen ihr natürliches Schmerzempfinden aus, wenn sie sich der Geduld und Mäßigung befleißigen. Diesen Widerstreit beschreibt uns Paulus sehr fein, wenn er sagt: „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um …“ (2. Kor. 4,8f.). Da sehen wir, daß geduldiges Kreuztragen nicht etwa Abstumpfung bedeutet, daß es nicht etwa bedeutet, daß wir jedes Schmerzempfinden verlieren. So haben die stoischen Philosophen in ihrer Torheit einst den einen hochgemuten Menschen genannt, der alles menschliche Gefühl von sich tut und dem Glück innerlich so gegenübersteht wie dem Unglück, traurigen Erlebnissen genau so wie freudigen, ja, der sich wie ein Stein von nichts erregen läßt. Und was haben sie nun mit ihrer hochtrabenden Weisheit zuwege gebracht? Sie haben ein Bild der Geduld gemalt, das man unter den Menschen weder je gefunden hat noch je wird finden können. Im Gegenteil: während sie eine allzu vollkommene und übertriebene Geduld haben wollen, haben sie die Kraft der Geduld aus dem Menschenleben weggenommen! Heutzutage gibt es auch unter den Christen wieder Stoiker: die halten nicht nur Seufzen und Weinen, sondern auch Traurigkeit und Besorgnis für ein Laster. Dergleichen Widersinnigkeiten kommen nun gemeinhin von müßigen Leuten, die sich mehr im Spekulieren als im Handeln üben und uns dann bloß solche widersinnigen Sachen hervorbringen können. Wir wollen jedoch mit jener eisernen Philosophie nichts zu tun haben, die unser Meister und Herr nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit seinem Beispiel verdammt hat. Er hat über seine eigenen und anderer Leute Bedrängnisse geseufzt und Tränen vergossen, hat auch seine Jünger nicht anders unterwiesen. „Ihr werdet weinen und heulen“, sagt er, „die Welt aber wird sich freuen“ (Joh. 16,20). Ausdrücklich hat er die Traurigen selig gepriesen, – damit niemand aus der Traurigkeit ein Laster machte! (Matth. 5,4). Es ist auch kein Wunder, daß er so verfährt. Sollen nämlich alle Tränen verdammt werden – was für ein Urteil wollen wir dann über den Herrn selber fällen, von dessen Leib blutige Tränen herabrannen? (Luk. 22,44). Soll jede Angst als Zeichen des Unglaubens gelten – was wollen wir dann mit dem Zittern und Beben anfangen, das ihn nach dem Bericht der Evangelien schwer zu Boden geworfen hat? (Matth. 26,37). Erregt alle Traurigkeit unser Mißfallen – wie wollen wir es dann billigen, daß er von sich selbst bekennt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“? (Matth. 26,38).
Simon W.

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III,8,10

Was ich eben gesagt habe, das war dazu bestimmt, um fromme Herzen vor der Verzweiflung zurückzuhalten, damit sie nicht jedes Trachten nach der Geduld gänzlich fahren lassen, weil sie doch das natürliche Schmerzempfinden nicht ablegen können. Denn wenn einer aus der Geduld Empfindungslosigkeit, aus einem tapferen und standhaften Menschen einen Klotz macht, dann muß ihm solche Verzweiflung notwendig zustoßen! Die Schrift nämlich erteilt den Heiligen das Lob der Geduld dann, wenn sie von der Härte der Not angefochten werden und doch darüber nicht zerbrechen und zu Boden fallen, wenn die Bitterkeit sie quält und sie dennoch von geistlicher Freude erfüllt sind, wenn die Angst sie bedrückt und sie dennoch aufatmen, weil Gottes Trost sie fröhlich macht. Unterdessen ist in ihrem Herzen ein harter Widerstreit lebendig: ihr natürliches Empfinden flieht und scheut sich vor dem, von dem es fühlt, daß es ihm zuwider geht, die fromme Gesinnung dagegen dringt auch durch diese Schwierigkeiten hindurch zum Gehorsam gegen Gottes Willen. Diesen Widerstreit hat der Herr zum Ausdruck gebracht, als er zu Petrus sprach: „Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest. Wenn du aber alt wirst, … wird ein anderer dich gürten und führen, wohin du nicht willst“ (Joh. 21,18). Es ist nicht anzunehmen, daß sich Petrus, wenn es nötig war, Gott durch den Tod zu verherrlichen, widerwillig und widerstrebend hätte zum Sterben schleppen lassen; sonst verdiente sein Martyrium wenig Lob. Aber obwohl er auch mit der größten Freudigkeit seines Herzens der göttlichen Weisung gehorchte, so hatte er doch seine menschliche Art nicht abgelegt, und deshalb wurde er von einem zwiespältigen Willen auseinandergezerrt. Betrachtete er jenen blutigen Tod, den er erleiden sollte, an und für sich, so überwältigte ihn das Grausen vor ihm, und er wäre ihm gern entflohen. Bedachte er aber auf der anderen Seite, daß ihn Gottes Befehl in jenes Sterben hineinrief, so war die Furcht besiegt und zu Boden getreten, und er nahm den Tod gern und fröhlich auf sich. Wollen wir also Christi Jünger sein, so müssen wir danach trachten, in unserem Herzen von solcher Ehrerbietung, solchem Gehorsam gegen Gott erfüllt zu werden, daß alle widerstrebenden Regungen dadurch gezähmt und ihrer Herrschaft unterworfen werden können. So wird es dazu kommen, daß wir auch in den größten Ängsten des Herzens standhaft an der Geduld festhalten – was für Kreuz uns auch quälen mag! Denn das Unglück selber wird immer seine Härte haben, die uns peinigt. Ficht uns Krankheit an, so werden wir seufzen und unruhig werden und nach Heilung begehren, drückt uns Armut, so wird uns der Stachel der Sorge und der Traurigkeit peinigen, ebenso werden wir bei Schmach, Verachtung und Unrecht Schmerz empfinden, wir werden beim Tode unserer Lieben, wie es die Natur erfordert, bittere Tränen weinen – aber der Schluß wird immer sein: Der Herr hat es so gewollt, deshalb wollen wir seinem Willen folgen. Ja, mitten unter der Pein des Schmerzes, unter Seufzen und Tränen muß doch immer wieder dieser Gedanke in uns aufkommen, der unser Herz dazu geneigt macht, eben das freudig zu tragen, um des willen es sich so ängstigen läßt!



III,8,11

Den besten Weg aber, das Kreuz geduldig zu ertragen, finden wir dann, wenn wir Gottes Willen betrachten. Deshalb muß ich noch mit kurzen Worten klarstellen, was für ein Unterschied zwischen der philosophischen und der christlichen Geduld besteht. Denn es sind wahrlich unter den Philosophen nur ganz wenige zu solcher Einsicht gelangt, daß sie erkannten: in der Trübsal werden wir durch Gottes Hand geübt, und daß sie zu dem Urteil kamen, man müsse in diesem Stück Gott Gehorsam leisten. Aber selbst diese führen als Ursache nur die Auskunft an, es sei nun einmal so notwendig. Das heißt aber nun nichts anderes, als daß man behauptet: wir müssen Gott nachgeben, weil es nun einmal vergebens wäre, gegen ihn anzukämpfen. Denn wenn wir Gott bloß gehorchen, weil es notwendig ist, so hat unser Gehorsam ein Ende, wenn wir einmal entrinnen können. Die Schrift dagegen heißt uns, etwas ganz anderes am Willen Gottes ins Auge zu fassen, nämlich zunächst seine Gerechtigkeit und Billigkeit und dann auch seine Sorge um unser Heil. In diesem Sinne sind also die christlichen Ermahnungen zur Geduld zu verstehen. Ob uns nun Armut plagt oder Verbannung oder Gefangenschaft oder Schmach oder Krankheit oder der Verlust unserer Lieben oder sonst etwas dergleichen: immer sollen wir bedenken, daß uns nichts von alledem begegnen kann ohne den Willen und die Vorsehung Gottes. Weiter müssen wir aber im Auge behalten, daß er stets nur nach völlig gerechter Ordnung handelt. Wieso nun – verdienen nicht unsere unzähligen und tagtäglichen Missetaten strenger und mit härteren Ruten gestraft zu werden, als er sie uns in seiner Güte zu fühlen gibt? Ist es nicht durchaus billig, daß unser Fleisch gebändigt und ins Joch gespannt wird, damit es nicht nach seiner Art in wilder Gier seinen Übermut treibe? Ist Gottes Gerechtigkeit und Wahrheit etwa nicht wert, daß wir um ihretwillen Not leiden? In unseren Trübsalen wird doch Gottes unbezweifelbare Gerechtigkeit kund, und deshalb können wir nicht murren oder uns widersetzen, ohne damit ungerecht zu werden. Jetzt hören wir schon nicht mehr jenes frostige Gerede: Man muß Gott weichen, weil es nun einmal notwendig ist. Nein, wir vernehmen eine lebendige und wirksame Weisung: Wir sollen gehorchen, weil es vor Gott unrecht ist, zu widerstreben; wir müssen es geduldig tragen, weil Ungeduld Widerspenstigkeit gegen Gottes Gerechtigkeit ist. Nun ist uns aber nur das lieblich, wovon wir wissen, daß es zu unserem Heil und zu unserem Besten dient. Deshalb reicht uns unser lieber Vater auch an diesem Stück seinen Trost dar, indem er uns sagt, daß er eben durch das Kreuz, welches er uns zu tragen gibt, für unser Heil sorgt. Wenn es nun aber feststeht, daß unsere Bedrängnisse uns heilsam sind, weshalb sollten wir sie dann nicht mit dankbarem und friedsamem Herzen auf uns nehmen? Wenn wir sie also geduldig erleiden, so unterliegen wir nicht einer Notwendigkeit, sondern beruhigen uns bei dem, was uns gut ist. Solche Gedanken, meine ich, machen trotz allem das Herz in geistlicher Freude weit, so sehr es sich auch unter dem Kreuz aus dem natürlichen Empfinden der Bitterkeit heraus zusammengepreßt hat! Daraus ergibt sich denn auch die Danksagung, die nicht ohne Freude sein kann. Das Lob des Herrn und die Dankbarkeit gegen ihn kann nur aus einem freudigen, fröhlichen Herzen kommen; und es gibt nun gar nichts, was diesem Lobpreis Eintrag tun dürfte. Daraus wird ersichtlich, wie notwendig es ist, daß die Bitterkeit des Kreuzes durch geistliche Freude gemildert werde.



Neuntes Kapitel

Vom Trachten nach dem zukünftigen Leben



III,9,1

Welcherlei Trübsal uns aber auch drücken mag, so müssen wir immer ihren Zweck ins Auge fassen: wir sollen uns daran zu gewöhnen lernen, das gegenwärtige Leben zu verachten, und so zum Trachten nach dem zukünftigen gereizt werden. Gott weiß aber nun sehr wohl, wie sehr wir von Natur zu einer unsinnigen Liebe zu dieser Welt geneigt sind, und deshalb wendet er das beste Mittel an, um uns da herauszuziehen und uns die Schläfrigkeit auszutreiben, damit wir nicht allzu beharrlich in solcher Liebe festhängen bleiben! Wir möchten zwar alle gern den Anschein erwecken, als ob wir uns unser ganzes Leben hindurch nach der himmlischen Unsterblichkeit sehnten und ausstreckten. Denn wir schämen uns, die unvernünftigen Tiere in keiner Hinsicht zu übertreffen, und deren Zustand wäre tatsächlich keineswegs geringer als der unsere, – wenn wir nach dem Tode keine Hoffnung auf das ewige Leben mehr hätten! Prüft man nun aber die Überlegungen, das Sinnen und Trachten und das Handeln der Menschen, so wird man da nichts anderes finden als die Erde! Daher aber kommt jene Stumpfheit, daß unser Verstand sich von dem leeren Glanz des Reichtums, der Macht und der Ehre derart überwältigen und blenden läßt, daß er nicht mehr weiterblicken kann. Auch unser Herz wird von der Habgier, dem Ehrgeiz und der Lust dermaßen mit Beschlag belegt und beschwert, daß es sich nicht mehr höher zu erheben vermag. Kurz, unsere ganze Seele ist in die Lockungen des Fleisches verstrickt und sucht deshalb ihr Glück auf der Erde. Diesem Übel will der Herr entgegenwirken und belehrt die Seinen durch fortgesetzte Beweise des Elendes über die Eitelkeit des gegenwärtigen Lebens. Damit sie sich also von diesem Leben keinen ungestörten, sicheren Frieden versprechen, läßt er es zu, daß sie oft von Krieg oder Aufruhr oder Räuberei oder anderem Frevel beunruhigt und angefochten werden. Damit sie nicht allzu gierig nach dem vergänglichen, zerbrechlichen Reichtum jagen oder sich über den Reichtum, den sie besitzen, beruhigen, bringt er bald durch Verbannung, bald durch Unfruchtbarkeit des Bodens, bald durch eine Feuersbrunst oder auf andere Weise Mangel über sie oder hält sie wenigstens auf einem mittelmäßigen Stand. Damit sie es sich in den Freuden der Ehe nicht allzu wohl sein lassen, läßt er sie durch Bosheit der Ehegattin plagen oder demütigt sie durch üble Nachkommenschaft oder betrübt sie durch den Verlust der Liebsten. Aber selbst wenn er in allen diesen Dingen Nachsicht gegen sie walten läßt, so sorgt er doch dafür, daß sie sich nicht in törichtem Selbstruhm blähen oder aus Selbstvertrauen übermütig werden: er stellt es ihnen durch Krankheiten und Gefahren vor Augen, wie unbeständig und vergänglich alle Güter sind, die der Sterblichkeit unterliegen. Wir kommen erst dann unter der Zucht des Kreuzes recht voran, wenn wir lernen: dies Leben ist, wenn man es an und für sich betrachtet, unruhig, stürmisch und auf gar vielerlei Weise jämmerlich, dagegen in keiner Hinsicht wirklich glücklich, und alles, was man als Güter dieses Lebens ansieht, ist unbeständig, flüchtig, eitel, mit vielen Übeln untermischt und durch sie verdorben. Erst dann sind wir in der Schule des Kreuzes vorangekommen, wenn wir aus solcher Einsicht zugleich den Schluß ziehen, daß wir hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten haben als Kampf und daß wir unsere Augen zum Himmel erheben müssen, wenn wir eine Krone gewinnen wollen! Wir haben also festzuhalten: unser Herz wird sich nie und nimmer ernstlich zum Verlangen und zum Trachten nach dem zukünftigen Teben erheben, wenn es nicht zuvor mit der Verachtung des gegenwärtigen erfüllt ist!



III,9,2

Wir stehen hier vor einem Entweder-Oder, neben dem es kein Drittes mehr gibt: entweder muß uns die Erde unwert sein – oder aber sie hält uns in maßloser Liebe gefangen! Lebt also in uns irgendwie die Sorge um die Ewigkeit, so müssen wir fleißig darauf dringen, daß wir uns aus diesen üblen Fesseln herauswinden. Nun hat aber das gegenwärtige Leben gar viel Schmeichelndes, mit dem es uns betören, viel scheinbare Anmut und Lieblichkeit und Süßigkeit, mit der es uns locken will, und deshalb tut es uns sehr not, daß wir immer wieder davon weggerufen werden, um nicht von dergleichen Reizen umstrickt zu werden. Ich möchte doch wissen, lieber Leser, was würde geschehen, wenn wir hier eine dauernde Fülle von Gütern und Glück zu genießen bekämen – wo uns doch noch nicht einmal der beständige Stachel des Übels recht dazu aufrütteln kann, das Elend dieses Lebens zu bedenken! Des Menschen Leben ist wie ein Rauch oder ein Schatten – das ist nicht nur gelehrten Leuten wohlbekannt, sondern es gilt auch den Einfältigen als eine allbekannte sprichwörtliche Wahrheit. Man hat auch erkannt, daß es sich dabei um eine Wahrheit handelt, die zu wissen ganz besonders nützlich ist, und darum hat man sie mit vielen trefflichen Aussprüchen angepriesen. Und doch gibt es schier nichts, was wir nachlässiger erwägen und weniger bedenken! Denn bei allem, was wir ins Werk setzen, tun wir so, als wollten wir hier auf Erden unsterblich werden! Wenn ein Leichenzug uns begegnet oder wenn wir zwischen Gräbern einhergehen, so tritt uns da das Bild des Todes vor die Augen, und angesichts dessen – das gebe ich zu – philosophieren wir wohl gewaltig über die Eitelkeit dieses Lebens! Indessen tun wir auch das nicht immer, und meistens macht alles das gar keinen Eindruck auf uns. Aber wo wir ans Philosophieren geraten, da ist das eine Augenblicksweisheit – sobald wir den Rücken wenden, ist sie bereits verflogen, und sie hinterläßt nicht die mindeste Erinnerungsspur. Kurz, sie verweht wie ein Theaterbeifall bei irgendeinem ergötzlichen Spiel! Aber wir schlagen uns nicht nur den Tod aus dem Sinn, sondern auch die Sterblichkeit selber, als ob nie ein Gerücht davon zu uns gedrungen wäre, und wenden uns wieder zu oberflächlicher Sicherheit zurück, als ob wir auf Erden unsterblich wären. Wenn uns einer einmal das Sprichwort hersagt, der Mensch sei ein Eintagstierlein, so geben wir das zwar zu; aber wir achten es doch so wenig, daß der Gedanke, wir hätten hier dauernden Bestand, trotzdem tief im Herzen festsitzt. Wer will da noch leugnen, daß wir es alle aufs höchste nötig haben – ich meine, nicht bloß mit Worten daran gemahnt, sondern – mit möglichst vielen Erfahrungen davon überführt zu werden, wie jämmerlich es um unser irdisches Leben bestellt ist! Denn selbst wenn wir davon überführt sind, so hören wir doch kaum auf, vor falscher, törichter Bewunderung dieses Lebens zu erstarren, als ob es die höchste Vollendung des Guten in sich trüge! Hat es Gott nötig, uns zu erziehen, so ist es wiederum unsere Pflicht, auf ihn zu hören, wenn er uns ruft und uns in unserer Stumpfheit aufstachelt, damit wir die Welt gering achten und uns von ganzem Herzen daran machen, nach dem zukünftigen Leben zu trachten.
Simon W.

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III,9,3


So sollen sich die Gläubigen an die Verachtung des gegenwärtigen Lebens gewöhnen, aber doch so, daß daran weder ein Haß gegen dies Leben entsteht, noch auch Undankbarkeit gegen Gott. Denn mag auch dies Leben mit unendlichem Jammer erfüllt sein, so zählen wir es doch mit Recht zu den Segnungen Gottes, die man nicht verachten darf. Wenn wir in ihm also keinerlei göttliche Wohltat anerkennen, so machen wir uns einer nicht geringen Undankbarkeit gegen Gott selbst schuldig. Besonders für die Gläubigen muß es ein Zeugnis des göttlichen Wohlwollens sein, denn es ist doch ganz dazu bestimmt, der Förderung ihres Heils zu dienen. Gott will sich nämlich, bevor er uns das Erbe der ewigen Herrlichkeit offen enthüllt, durch geringere Beweisstücke als unser Vater erzeigen: solche Beweise sind all die Güter, die er uns tagtäglich zuteil werden läßt. Wenn uns also dieses Leben dazu dient, Gottes Güte kennenzulernen, wie können wir es dann verschmähen, als ob es auch nicht einen Funken Gutes in sich trüge? Diese Empfindung und Gesinnung müssen wir annehmen, um dies Leben zu den Gaben der göttlichen Freundlichkeit zu rechnen, die wir nie und nimmer von uns weisen dürfen. Die Schrift gibt uns dafür sehr viele und völlig klare Zeugnisse. Aber selbst wenn die nicht da wären, so mahnte uns auch die Natur selber, dem Herrn unseren Dank dafür zu sagen, daß er uns an das Licht dieses Lebens gebracht hat, daß er uns dies Leben zum Gebrauch überlassen hat und uns alle erforderlichen Mittel darreicht, um es zu erhalten. Wir haben noch viel mehr Ursache zum Danken, wenn wir erwägen, daß wir in diesem Leben gewissermaßen auf die Herrlichkeit des Himmelreichs vorbereitet werden. Denn der Herr hat es so geordnet, daß die, welche einst im Himmel gekrönt werden sollen, zuvor auf Erden Kämpfe bestehen, damit sie nicht triumphieren, ohne die Schwierigkeiten des Krieges überstanden und den Sieg erfochten zu haben. Dazu kommt noch eine weitere Ursache (zum Danken): wir fangen schon in diesem Leben unter gar vielerlei Wohltaten an, die Süßigkeit der Güte Gottes zu schmecken, und dadurch soll unsere Hoffnung und unser Verlangen geschärft werden, ihre völlige Offenbarung zu erwarten. Es steht also fest, daß unser irdisches Dasein, wie wir es leben, eine Gabe der göttlichen Freundlichkeit ist, um derentwillen wir Gott verpflichtet sind und demgemäß auch an ihn gedenken und ihm dankbar sein müssen. Ist das aber deutlich, dann werden wir auch recht darangehen, den jämmerlichen Zustand dieses Lebens zu betrachten; dadurch werden wir eben auch von der allzugroßen Gier nach ihm frei gemacht, zu der wir, wie gesagt, von Natur ganz von selbst geneigt sind.



III,9,4

Nun muß das, was wir der verkehrten Liebe zu dem gegenwärtigen Leben abziehen, zur Stärkung des Verlangens nach einem besseren dienen. Ich gebe zu, daß die Menschen, welche gemeint haben, am allerbesten sei es, überhaupt nicht geboren zu sein, am zweitbesten, möglichst schnell wieder dahingerafft zu werden – wirklich ganz recht empfunden haben; denn es fehlte ihnen ja Gottes Licht und die wahre Gottesfurcht, und was sollten sie da am Leben anders sehen als Unglück und Häßlichkeit? Andere begingen den Geburtstag der Ihrigen mit Trauern und Wehklagen, Begräbnisse dagegen mit offen zur Schau getragener Fröhlichkeit; auch sie haben nicht ohne Ursache gehandelt, und doch ist ihr Tun ohne Frucht geblieben. Denn sie waren ja der rechten Lehre des Glaubens beraubt und sahen darum nicht, wie das, was an und für sich weder glücklich noch begehrenswert ist, doch den Frommen zum Besten dient; deshalb kamen sie bei ihrem Urteil nicht über die Verzweiflung hinaus. Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, dann soll dabei als Hauptgesichtspunkt folgendes dienen: wenn sie erkennen, daß dies Leben an und für sich nichts anderes als ein Elend ist, so sollen sie mit desto größerer Freudigkeit und Bereitschaft sich ganz dem Trachten nach jenem kommenden, ewigen Leben widmen. Ist es einmal zu diesem Vergleich gekommen, dann kann man das irdische Leben nicht nur ruhig geringschätzen, sondern soll es auch im Vergleich mit dem zukünftigen gänzlich verachten und verschmähen. Denn wenn der Himmel unsere Heimat ist, was ist dann die Erde anders als Verbannung? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anders als ein Grab? Was bedeutet dann das Verweilen in der Welt anders, als daß wir in den Tod versunken sind? Führt uns die Befreiung vom Leibe zu wahrer Freiheit – was ist dann dieser Leib anders als ein Kerker? Wenn die höchste Seligkeit darin besteht, daß wir Gottes Gegenwart genießen, ist es dann nicht ein Elend, sie noch entbehren zu müssen? Wir „wallen“ aber wirklich „ferne vom Herrn“, bis wir von dieser Welt den Abschied genommen haben. Vergleicht man also das irdische Leben mit dem himmlischen, so wird man es ohne Zweifel leichtlich verachten und unter die Füße treten. Jedoch sollen wir es nie und nimmer hassen, es sei denn, sofern es uns der Sünde unterworfen sein läßt; aber auch dieser Haß soll nicht eigentlich auf das Leben selber gerichtet werden. Wie dem aber auch sei, wir sollen jedenfalls diesem Leben gegenüber in der Weise Widerwillen und Haß empfinden, daß wir nach seinem Ende verlangen, zugleich aber auch bereit sind, nach dem Willen des Herrn in ihm zu verbleiben; unser Widerwille soll also fern von jeglichem Murren und aller Ungeduld sein. Das Leben ist eben wie ein Wachtposten, auf den uns der Herr gestellt hat und den wir nicht verlassen dürfen, bis er uns abberuft. So beweint auch Paulus sein Los, weil er länger, als er es wünschen könnte, von den Fesseln des Leibes gebunden gehalten wird, und er seufzt in heißem Verlangen nach Erlösung (Röm. 7,24), und doch will er Gottes Befehl gehorchen und bekennt, daß er zu Leben und Sterben bereit ist (Phil. 1,23f.). Er weiß, daß er es Gott schuldig ist, seinen Namen durch Tod oder Leben zu verherrlichen (Röm. 14, 8), und da ist es Gottes Sache, festzustellen, was am meisten zu seiner Verherrlichung dient. Wenn wir also dem Herrn leben und sterben sollen (Röm. 14, 8), so wollen wir auch seinem Ermessen die Grenze von Tod und Leben überlassen. Aber doch so, daß wir im Sehnen nach dem Tode brennen und fleißig nach ihm trachten, das Leben aber gegenüber der kommenden Unsterblichkeit verachten und wünschen, es um der Sündenknechtschaft willen hinzugeben, wenn es dem Herrn gefällt.



III,9,5

Es ist indessen geradezu ungeheuerlich, daß viele Menschen, die sich für Christen ausgeben, jene Sehnsucht nach dem Tode gar nicht kennen und sich stattdessen dermaßen vor ihm ängstigen, daß sie schon erzittern, wenn sie ihn irgendwie nennen hören, als ob er etwas ganz Verderbenbringendes, Unglückseliges wäre! Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß das natürliche Empfinden in uns erschrickt, wenn es davon hört, daß wir aufgelöst werden sollen. Auf keine Weise zu ertragen ist es aber, daß auch in einem Christenherzen nicht das Licht der Frömmigkeit leuchten sollte, das solcherlei Ängste mit überlegenem Troste überwindet und unterdrückt! Denn wenn wir bedenken, daß diese unbeständige, gebrechliche, vergängliche, baufällige, welke, faule Hütte unseres Leibes abgerissen werden soll, um alsbald in beständige, vollkommene, unvergängliche, himmlische Herrlichkeit verwandelt zu werden – muß dann unser Glaube das nicht heiß ersehnen, wovor unsere Natur zurückschreckt? Wenn wir beachten, daß wir durch den Tod aus der Verbannung heimgerufen werden, um in unserer Heimat, und zwar unserer himmlischen Heimat unsere Wohnstatt zu finden – sollte uns daraus gar kein Trost erwachsen? Aber man wendet ein: es gibt kein Ding, das nicht danach strebt, sich zu erhalten! Das gebe ich durchaus zu, und ich behaupte, daß wir eben deshalb auf die zukünftige Unsterblichkeit schauen müssen; denn da wird uns ein bleibender Zustand zuteil, wie er auf Erden nirgendwo sichtbar ist! Großartig ist es, wenn Paulus uns lehrt, daß die Gläubigen fröhlich in den Tod gehen, nicht weil sie „entkleidet“, sondern weil sie „überkleidet“ zu werden begehren (2. Kor. 5,2). Selbst die unvernünftigen Lebewesen, ja, gar die seelenlosen Geschöpfe bis herunter zu Holz und Steinen wissen ja um ihre gegenwärtige Eitelkeit und schauen nach dem jüngsten Tag, dem Auferstehungstag aus, damit sie mit den Kindern Gottes von der Eitelkeit frei werden! (Röm. 8,19). Sollten da nicht wir, die wir mit dem Lichte der Vernunft begabt, ja, über alle Vernunft hinaus vom Geiste Gottes erleuchtet worden sind, sollten wir nicht, wenn es um unser Sein und Wesen geht, unsere Herzen über diesen Erdenstaub erheben? Aber es ist hier nicht unsere Aufgabe und auch nicht der Ort dazu, gegen eine so furchtbare Verdrehung anzugehen. Ich habe ja schon im Anfang klar ausgesprochen, daß ich mich hier keineswegs auf eine ausführlichere Behandlung der einzelnen Hauptlehrstücke einlassen kann. Jenen furchtsamen Gemütern möchte ich raten, das Büchlein des Cyprian „Von der Sterblichkeit“ zu lesen – sofern sie nicht gar wert wären, an die Philosophen verwiesen zu werden! Bei denen könnten sie wahrnehmen, was sie für eine Verachtung des Todes an den Tag legen – und darüber sollten sie dann doch zu erröten anfangen! Als feststehend wollen wir aber die Tatsache ansehen, daß keiner in Christi Schule rechte Fortschritte gemacht hat, der nicht mit Freuden auf den Tag seines Todes und der letzten Auferstehung wartet! Mit diesem Kennzeichen beschreibt nämlich Paulus alle Gläubigen (Tit. 2,13), und die Schrift hat allgemein die Gepflogenheit, uns dahin zu verweisen, wenn sie uns die Ursache zu vollkommener Freude vor Augen halten will. Der Herr sagt: „Frohlocket und hebet eure Häupter auf, darum daß sich eure Erlösung naht!“ (Luk. 21,28; die ersten beiden Worte sind zugefügt). Ich frage nur: ist es denn zu begreifen, daß in uns bloß Trauer und Entsetzen hervorruft, was doch nach dem Willen des Herrn nur dazu dienen sollte, Frohlocken und Jubel in uns zu erwecken? Wenn es so bei uns steht – weshalb rühmen wir uns dann noch des Herrn als unseres Meisters? Nein, wir wollen einen besseren Sinn in uns aufkommen lassen und gegen allen Widerstand der blinden, stumpfen Fleischesbegierde ohne Zögern das Kommen des Herrn nicht nur herbeiwünschen, sondern es mit Seufzen und Sehnsucht als das glückseligste von allen Ereignissen erwarten! Denn er wird uns als Erlöser kommen, der uns aus diesem unergründlichen Schlund von Übel und Elend herauszieht und uns in das selige Erbe seines Lebens und seiner Herrlichkeit einführt!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,9,6

Es ist doch wirklich so: das ganze Volk der Gläubigen gleicht, solange es auf dieser Erde wohnt, notwendig den Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden; denn es muß Christus, seinem Haupte, gleichgestaltet werden (Röm. 8,36). Die Gläubigen wären also die trostlosesten unter allen Menschen, wenn sie ihr Herz nicht zum Himmel erhöben und dadurch all das, was in dieser Welt ist, überwänden und die gegenwärtige Gestalt der Dinge hinter sich ließen (1. Kor. 15,19). Aber wenn sie einmal ihr Haupt über alles Irdische erhoben haben, dann sehen sie wohl, wie die Gottlosen in blühendem Reichtum und in Ehren leben, sie nehmen es wahr, wie sie ungestörten Frieden genießen, wie sie in allerlei Pracht und Überfluß stolz dahergehen und alle Vergnügungen im Überfluß haben – sie werden auch durch die Bosheit der Gottlosen bedrückt, müssen von ihrem Stolz Verachtung leiden, werden von ihrer Habgier ausgeplündert und von anderlei Willkür geplagt – aber dennoch werden sie auch in solchen Übeln leichtlich standhalten. Denn vor ihren Augen steht der Tag, an dem der Herr seine Gläubigen in die Ruhe seines Reiches aufnimmt, an dem er „alle Tränen abwischen wird von ihren Augen“, an dem er sie mit dem Kleid der Herrlichkeit und der Freude antut, sie mit der unaussprechlichen Süßigkeit seiner Freuden weidet, an dem er sie zur Gemeinschaft an seiner erhabenen Herrlichkeit erhebt und sie endlich des Teilhabens an seiner Seligkeit würdigt! (Jes. 25, 8; Off. 7,17). Jene Gottlosen aber, die auf Erden in hoher Blüte standen, wird er in die äußerste Schmach verstoßen, er wird ihre Vergnügungen in Pein, ihr Lachen, ihre Freude in Heulen und Zähneklappern verwandeln, ihren Frieden wird er durch die bittere Qual des Gewissens stören und ihre Weichheit mit unverlöschlichem Feuer strafen, die Gottesfürchtigen aber, deren Geduld sie mißbraucht haben, wird er über ihre Häupter setzen! Nach dem Zeugnis des Paulus besteht nämlich die Gerechtigkeit darin, daß Gott den Elenden und zu Unrecht Geplagten „Ruhe gibt“, den Gottlosen aber, die den Frommen „Trübsal antun“, Trübsal „vergelten wird“, „wenn nun der Herr Jesus wird offenbart werden vom Himmel …“ (2. Thess. 1,6f.). Das ist wahrlich unser einziger Trost; würde der uns genommen, so müßten wir entweder völlig verzweifeln oder uns aber zu unserem Verderben von den eitlen Trostgründen der Welt beschwichtigen lassen! Auch der Prophet bekennt ja, daß er beinahe gestrauchelt wäre mit seinen Füßen, als er sich bei der Betrachtung des gegenwärtigen Wohlergehens der Gottlosen zu lange aufgehalten hatte; er bekennt, daß er sich nur dadurch wieder hat aufrichten können, daß er in das Heiligtum des Herrn hineinging und seine Augen auf das letzte Ende richtete, das Frommen und Gottlosen bevorsteht (Ps. 73,2. 17). Um zu einem kurzen Schluß zu kommen: Erst dann triumphiert im Herzen der Gläubigen das Kreuz Christi über Teufel und Fleisch, über die Sünde und die Gottlosen, wenn ihre Augen sich auf die Kraft der Auferstehung richten!



Zehntes Kapitel: Wie wir das gegenwärtige Leben und seine Mittel gebrauchen sollen


III,10,1

Mit solchen Grundlinien gibt uns die Schrift zugleich die rechte Unterweisung darüber, welches der rechte Gebrauch der irdischen Güter sei. Es handelt sich dabei um eine Frage, die wir bei der Gestaltung unseres Lebens durchaus nicht beiseitelassen dürfen. Denn wenn wir leben sollen, so müssen wir auch die zum Leben erforderlichen Mittel benutzen. Wir können auch dem nicht aus dem Wege gehen, was mehr dem Genuß als der Notdurft zu dienen scheint. Wir müssen also Maß halten, um jene Mittel mit reinem Gewissen zur Notdurft oder auch zum Genuß zu verwenden. Dieses Maß schreibt uns der Herr in seinem Wort vor: er lehrt uns, daß dieses gegenwärtige Leben für die Seinen gewissermaßen eine Wanderschaft ist, auf der sie zum Himmelreich streben. Wenn wir die Erde also bloß durchwandern sollen, so müssen wir ihre Güter ohne Zweifel dazu verwenden, daß sie unseren Lauf fördern, statt ihn zu hemmen. So gibt Paulus den keineswegs unsachgemäßen Rat, diese Welt zu gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht, und den Besitz in der gleichen Gesinnung zu kaufen, wie man ihn verkauft (1. Kor. 7,30f.). Wir befinden uns aber hier auf schlüpfrigem Boden, und man kann nach beiden Seiten sehr leicht abstürzen, deshalb wollen wir uns befleißigen, festen Fußes dahin zu treten, wo man sicher stehen kann. Es hat nämlich einige sonst gute und heilige Männer gegeben, die sahen, daß Maßlosigkeit und Ausschweifung immerzu in zügelloser Gier über jedes Maß hinausgehen, wenn man sie nicht streng in Zucht hält – und deshalb suchten sie einem derart verderblichen Übel abzuhelfen; dabei aber kam ihnen nur ein einziges Mittel in den Sinn: sie verstatteten dem Menschen den Gebrauch der leiblichen Güter nur insoweit, als dies zur Notdurft erforderlich war. Das ist nun gewiß ein frommer Rat; aber seine Urheber waren doch bei weitem zu streng. Denn sie taten etwas höchst Gefährliches: sie legten dem Gewissen schärfere Fesseln an, als die, mit denen sie des Herrn Wort bindet. Unter „Notdurft“ verstehen sie nun weiter, der Mensch solle sich alles dessen enthalten, was er entbehren kann; nach ihrer Meinung kann man also außer Brot und Wasser kaum etwas genießen. Andere waren noch strenger: so berichtet man von einem Thebaner namens Krates, der alle seine Reichtümer ins Meer warf, weil er meinte, wenn sein Besitz nicht zugrundeginge, so würde er von ihm zugrundegerichtet. Heutzutage gibt es aber viele Leute, die einen Vorwand suchen, um die Schwelgerei des Fleisches im Gebrauch der äußeren Dinge zu entschuldigen, und die dabei seiner Ausgelassenheit einen Weg bahnen wollen; diese nehmen nun – was ich ihnen in keiner Weise zugebe! – als ausgemacht an, diese Freiheit dürfe durch keinerlei gesetztes Maß begrenzt werden, sondern man müsse es dem Gewissen des Einzelnen überlassen, daß er an sich nehme, soviel er für erlaubt halte. Ich gestehe zwar, daß man hier die Gewissen nicht mit feststehenden, genauen Gesetzesformeln binden soll und kann; aber da die Schrift für den rechten Gebrauch (der irdischen Güter) allgemeine Regeln gibt, so sollen wir ihn doch gewiß nach diesen Regeln bemessen.



III,10,2

Der Hauptgrundsatz soll dabei folgender sein: der Gebrauch der Gaben Gottes geht nicht vom rechten Wege ab, wenn er sich auf den Zweck ausrichtet, zu dem uns der Geber selbst diese Gaben erschaffen und bestimmt hat. Er hat sie nämlich zu unserem Besten erschaffen und nicht zu unserem Verderben. Deshalb wird keiner den rechten Weg besser innehalten als der, welcher diesen Zweck fleißig im Auge behält. Wenn wir nun also bedenken, zu welchem Zweck er die Nahrungsmittel geschaffen hat, so werden wir finden, daß er damit nicht bloß für unsere Notdurft sorgen wollte, sondern auch für unser Ergötzen und unsere Freude! So hatte er bei unseren Kleidern außer der Notdurft auch anmutiges Aussehen und Anständigkeit als Zweck im Auge. Kräuter, Bäume und Früchte sollen uns nicht nur mancherlei Nutzen bringen, sondern sie sollen auch freundlich anzusehen sein und seinen Wohlgeruch haben. Wäre das nicht wahr, so könnte es der Prophet nicht zu den Wohltaten Gottes rechnen, daß „der Wein des Menschen Herz erfreut“ und daß „seine Gestalt schön werde vom Öl“ (Ps. 104,15). Dann könnte uns die Schrift auch nicht immer wieder zum Lobpreis seiner Güte daran erinnern, daß er selbst solches alles den Menschen gegeben hat! Auch die natürlichen Gaben der Dinge selbst zeigen uns ausreichend, wozu und wieweit man sie genießen darf. Hat doch der Herr die Blumen mit solcher Lieblichkeit geziert, daß sie sich unseren Augen ganz von selber aufdrängt, hat er ihnen doch so süßen Duft verliehen, daß unser Geruchssinn davon erfaßt wird – wie sollte es dann ein Verbrechen sein, wenn solche Schönheit unser Auge, solcher liebliche Duft unsere Nase berührte? Wie, hat er denn nicht die Farben so unterschieden, daß die eine anmutiger ist als die andere? Wie, hat er nicht Gold und Silber, Elfenbein und Marmorstein solche Schönheit geschenkt, daß sie dadurch vor anderen Metallen und Steinen kostbar werden? Hat er nicht überhaupt viele Dinge über den notwendigen Gebrauch hinaus kostbar für uns gemacht?



III,10,3

Deshalb fort mit jener unmenschlichen Philosophie, die uns die Kreaturen nur zur Notdurft will brauchen lassen und uns damit einer erlaubten Frucht der göttlichen Wohltätigkeit beraubt, auch nur da zur Geltung kommen kann, wo sie einem Menschen alle Sinne weggenommen und ihn zum Klotz gemacht hat! Aber nicht weniger fleißig müssen wir auf der anderen Seite der Begierde des Fleisches begegnen; wenn man die nicht in die Ordnung zwingt, dann geht sie ohne Maß über die Ufer, und sie hat, wie gesagt, ihre Fürsprecher, die ihr unter dem Vorwande der uns zugestandenen Freiheit alles und jedes erlauben. Ihr legt man nun zunächst dadurch einen Zügel an, daß man festhält: es ist alles dazu für uns erschaffen, daß wir den Geber erkennen und ihm für seine Güte gegen uns Dank sagen. Wo bleibt aber solche Danksagung, wenn man sich an Speisen und Wein derart maßlos übernimmt, daß man stumpf oder zur Erfüllung der Pflichten der Frömmigkeit oder seines Berufs untüchtig wird? Wo bleibt die Erkenntnis Gottes, wenn das Fleisch vor lauter Überfluß zu schändlicher Gier ausschweift, wenn es mit seiner Unreinigkeit das Herz ansteckt, so daß man nicht mehr sehen kann, was gut und ehrbar ist? Was die Kleider angeht – wo bleibt da die Dankbarkeit gegen Gott, wenn wir sie überreich zieren und uns dann selbst in ihnen bewundern und andere geringschätzen, oder wenn wir uns durch ihren Glanz, ihre Pracht zur Unkeuschheit verleiten lassen? Wo bleibt die Erkenntnis Gottes, wenn unser Herz an die Großartigkeit unserer Kleider gefesselt ist? Viele Leute geben ja alle ihre Sinne dem Genuß dermaßen hin, daß ihr Herz davon erdrückt zu Boden liegt. Viele haben an Marmor oder Gold oder Gemälden solches Vergnügen, daß sie gleichsam selber zu Marmor werden, sich gewissermaßen in Metall verwandeln oder den gemalten Bildern ähnlich werden! Andere werden vom Duft der Küche und von der Süße der Wohlgerüche dermaßen abgestumpft, daß sie nichts Geistliches mehr zu riechen vermögen! Das Gleiche kann man auch in bezug auf andere irdische Güter beobachten. Deshalb wird offenbar schon durch die hier gegebene Erwägung die Freiheit, Gottes Gaben zu mißbrauchen, einigermaßen im Zaum gehalten, und es bestätigt sich hier die Regel des Paulus, wir sollten für unser Fleisch nicht etwa so sorgen, daß es dabei seinen Lüsten leben könnte (Röm. 13,14); denn wenn man den Lüsten zuviel nachgibt, dann treiben sie ihre Ausschweifung ohne Maß und Beherrschung!



III,10,4

Den sichersten und gebahntesten Weg aber finden wir, wenn wir das gegenwärtige Leben verachten und nach der himmlischen Unsterblichkeit unser Trachten richten. Daraus ergeben sich nämlich zwei Regeln. Die erste finden wir in der Anweisung des Paulus: „Die diese Welt gebrauchen, sollen gesinnt sein, als ob sie sie nicht gebrauchten … die da Weiber haben, als hätten sie keine, die da kaufen, als kauften sie nicht …“ (1. Kor. 7,29-31; nicht Luthertext und nicht in der gegebenen Reihenfolge). Die zweite Regel heißt: sie sollen den Mangel mit Friedsamkeit und Geduld und gleicherweise den Überfluß mit Mäßigung zu tragen wissen. Wenn Paulus uns die Weisung erteilt, diese Welt zu gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht, dann tilgt er damit nicht nur alle unmäßige Schlemmerei in Essen und Trinken, nicht nur alle gar zu große Weichlichkeit, alle Ehrsucht, alle Hoffart und Aufgeblasenheit und allen Eigensinn in unserer Nahrung, in Häusern und Kleidern – nein, überhaupt jede Sorge und Sucht, die uns vom Denken an das himmlische Leben und vom Eifer um die Durchbildung unserer Seele abführt oder uns darin hemmt! Es ist aber recht, was einst Cato gesagt hat: wer sich groß um seine äußere Zier mühe, der mühe sich eben sehr wenig um die Tugend. Und ein altes Sprichwort sagt ähnlich: Wer sich viel mit der Sorgfalt um seinen Leib befaßt, der kümmert sich gewöhnlich um seine Seele nicht! So darf man also gewiß die Freiheit der Gläubigen in solchen äußerlichen Dingen nicht an bestimmte Formeln binden; aber einem Gesetz ist sie doch unterworfen, und das heißt: sie sollen sich möglichst wenig selber zugeben, dagegen in beständiger Anspannung ihres Herzens darauf bedacht sein, allen Aufwand an überflüssigem Reichtum zu meiden und vollends die Ausschweifung zu dämpfen. Sie sollen sich fleißig hüten, sich nicht aus Hilfen Hemmnisse zu bereiten!
Simon W.

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III, 10,5

Die zweite Regel heißt (vgl. Sektion 4, Seite 469, Zeile 1): wenn einer in engen und kargen Verhältnissen lebt, so soll er geduldig zu entbehren wissen, um sich nicht in maßloser Begierde nach dem, was ihm fehlt, zu beunruhigen. Wer sich an diese Regel hält, der ist in der Schule des Herrn nicht wenig vorangekommen. Wer andererseits in diesem Stück nicht wenigstens einige Fortschritte gemacht hat, der wird sich schwerlich als Jünger Christi erweisen können. Denn zunächst gesellen sich zum Trachten nach irdischen Dingen vielerlei andere Laster. Und dann wird ja auch der, welcher den Mangel ohne Geduld trägt, beim Überfluß in der Regel das gegenteilige Gebrechen an den Tag legen. Das verstehe ich so: wenn einer sich in geringer Kleidung schämt, dann wird er sich in köstlichem Gewände brüsten; ist einer mit einfachem Mahl nicht zufrieden und läßt er sich von der Begierde nach einem vornehmeren beunruhigen, so wird er auch die Genüsse maßlos mißbrauchen, wenn sie ihm einmal zufallen; wenn jemand eine vor der Öffentlichkeit verborgene und niedrige Stellung einnimmt und das nur schwer und unruhigen Herzens erträgt, so wird er sich, sofern er einmal zu Ehren kommt, schwerlich von aufgeblasenem Stolz zurückhalten. Darum soll jeder, der ohne Heuchelei nach Frömmigkeit trachtet, danach streben, daß er lerne, was der Apostel uns an seinem eigenen Beispiel zeigt: „Ich bin … geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden“ (Phil. 4,12). Außerdem hat die Schrift noch eine dritte Regel, um uns für den Gebrauch der irdischen Dinge das rechte Maß zu geben. Von ihr haben wir schon einiges gesagt, als von den Geboten der Liebe die Rede war. Wir stellten da nämlich fest: all diese irdischen Dinge sind uns dergestalt aus Gottes Freundlichkeit geschenkt und in Nutzung gegeben, daß sie gewissermaßen anvertrautes Gut darstellen, über welches wir einst Rechenschaft ablegen müssen. So sollen wir dies Gut also austeilen und uns dabei stets das Wort in den Ohren klingen lassen: „Tu Rechnung von deinem Haushalten!“ (Luk. 16,2). Zugleich sollen wir auch bedenken, wer das eigentlich ist, der auf diese Weise Rechenschaft von uns fordert: es ist doch der, der uns Enthaltsamkeit, Nüchternheit, Besonnenheit und Mäßigkeit so sehr anempfohlen hat und demgemäß Ausschweifung, Hoffart, Prahlerei und Eitelkeit verflucht. Er billigt keine andere Austeilung unserer Güter als die, bei der auch die Liebe waltet. Er hat alle Vergnügungen, die das Menschenherz von der Keuschheit und Reinheit wegführen oder unseren Sinn mit Finsternis umhüllen, bereits jetzt mit eigenem Munde verdammt.



III,10,6

Zum Schluß ist noch wichtig zu bemerken, daß der Herr jedem einzelnen von uns befiehlt, bei allem Tun und Lassen auf seinen Beruf zu achten. Denn er wußte ja, wieviel brennende Unrast den Menschengeist erfüllt, wieviel unstete Leichtfertigkeit ihn hin- und hertreibt und wie gierig sein Ehrgeiz ist, die verschiedensten Dinge zugleich an sich zu nehmen! Er hat also, damit nicht durch unsere Torheit und Ver-messenheit alle Dinge im Himmel und auf Erden durcheinandergeworfen würden, die verschiedenen Lebensgestalten (vitae genera) eingesetzt und jeder ihre besonderen Pflichten zugeordnet. Und damit keiner unbedacht seine Grenzen überschreite, hat er diese Lebensgestalten Berufe genannt. Für jeden einzelnen von uns ist also unsere Lebensgestalt gewissermaßen ein Wachtposten, den uns der Herr zugewiesen hat, damit wir nicht unser Leben lang umgetrieben werden. Diese Unterscheidung (der Berufe) ist von sehr großer Bedeutung; ja, nach ihr richtet sich die Beurteilung all unseres Handelns vor Gott; und zwar oft wesentlich anders, als unsere Menschenoder Philosophenvernunft urteilen würde. So gilt es z.B. auch bei den Philosophen als die herrlichste aller Taten, wenn einer sein Vaterland von der Tyrannis befreit. Das Wort des himmlischen Richters dagegen spricht gegen den, der als Privatmann die Hand gegen einen Tyrannen erhoben hat, ein klares Verdammungsurteil. Ich will mich aber nicht mit der Aufzählung von Beispielen aufhalten. Die Hauptsache ist, wenn wir wissen, daß die Berufung des Herrn der Ausgangspunkt und die Grundlage für alles rechte Handeln ist; wer sich danach nicht richtet, der wird in (der Stellung zu) seinen Pflichten nie und nimmer den rechten Weg innehalten! Ein solcher Mensch mag wohl zuweilen etwas vollbringen, das dem Anschein nach löblich ist; aber wie es auch vor Menschenaugen aussehen mag: vor Gottes Thron wird es verworfen werden. Zudem wird (bei einem solchen Menschen) auch in den einzelnen Lebensgebieten selber keinerlei Gleichmaß herrschen. Darum wird unser Leben am richtigsten gestaltet werden, wenn wir es nach diesem Gesichtspunkt richten. Denn dann wird sich keiner von seiner eigenen Vermessenheit dazu treiben lassen, mehr zu unternehmen, als es sein Beruf mit sich bringt; dann wird er eben wissen, daß es uns verwehrt ist, unsere Grenzen zu überspringen. Wer ein unbeamteter Mann ist, der wird sein ohne öffentliche Aufgaben dahingehendes („privates“) Leben ohne Verdrießlichkeit führen, damit er nicht den Platz verläßt, an den ihn Gott gestellt hat. Auf der anderen Seite wird es uns in Sorgen, Mühen und Schwierigkeiten und anderen Lasten keine geringe Erleichterung bereiten, wenn jeder Einzelne weiß, daß Gott in all diesen Dingen sein Führer ist. Ist er obrigkeitliche Person, so wird er dann williger sein Amtswerk ausüben, ist er Familienvater, so wird er seine Pflicht fleißig tun – und es wird jeder in seiner Lebensgestalt Unannehmlichkeit, Sorgen, Verdruß und Ängste tragen und herunterschlucken, wenn er gewiß sein darf, daß jedem seine Last von Gott auferlegt ist. Daraus entspringt dann auch ein herrlicher Trost: denn wenn wir nur unserem Beruf gehorchen, so wird kein Werk so unansehnlich und gering sein, daß es nicht vor Gott leuchtet und für sehr köstlich gehalten wird!



Elftes Kapitel: Von der Rechtfertigung durch den Glauben. Was bedeutet der Ausdruck und um was handelt es sich in der Sache?


III,11,1

Ich glaube oben bereits eingehend genug auseinandergesetzt zu haben, wie für die Menschen, die vom Gesetz verflucht sind, nur ein einziges Mittel besteht, das Heil wiederzuerlangen, nämlich der Glaube. Desgleichen hoffe ich genügend gezeigt zu haben, was dieser Glaube selbst ist, welche Wohltaten Gottes er dem Menschen zuteil werden läßt und welche Früchte er in ihm wirkt. Die Hauptsache war dies: Christus ist uns durch Gottes Freundlichkeit gegeben; im Glauben erfassen und besitzen wir ihn. Durch die Gemeinschaft mit ihm empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: einerseits werden wir durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so daß er jetzt nicht mehr unser Richter ist, sondern wir an ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben, und andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens. Von dieser Wiedergeburt, welche die zweite Gnade darstellt, ist nun schon die Rede gewesen, soweit es mir zureichend erschien. Um was es sich bei der Rechtfertigung handelt, das wurde deshalb kürzer berührt, weil die Sache es erforderte, daß wir uns zunächst zweierlei deutlich machten: einerseits ist der Glaube, durch den allein wir die Gerechtigkeit aus Gnaden durch Gottes Barmherzigkeit erlangen, durchaus nicht etwa müßig, ohne alle guten Werke, und andererseits müssen wir auch wissen, wie denn diese guten Werke der Heiligen beschaffen sind, um die sich ja ein Teil dieser ganzen Frage dreht. Jetzt müssen wir diese Frage (nämlich die nach der Rechtfertigung) gründlich durchdenken, und dabei ist stets fest im Auge zu behalten, daß sie den hauptsächlichen Pfeiler darstellt, auf dem unsere Gottesverehrung ruht – Grund genug, hier die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen! Weißt du nicht vor allen Dingen, wie es bei Gott um dich steht und was er für ein Urteil über dich spricht, so gibt es keinen Grund, auf dem dein Heil ruhen könnte und deshalb auch kein Fundament, auf dem du die Frömmigkeit gegen Gott aufrichten könntest! Wie notwendig es ist, hier Erkenntnis zu erwerben, das wird uns noch deutlicher werden, wenn wir uns dieser nun selbst zuwenden.



III,11,2

Wir müssen uns aber hüten, nicht gleich beim ersten Anfang zu straucheln – und das müßte geschehen, wenn wir in die Auseinandersetzung einträten, ohne zu wissen, um was es sich überhaupt handelt! Deshalb wollen wir zunächst untersuchen, was eigentlich gemeint ist, wenn es heißt: „Der Mensch wird vor Gott gerechtfertigt“ oder „er wird durch den Glauben“ oder „durch die Werke“ „gerechtfertigt“. Wenn von einem Menschen gesagt werden kann: „Er wird vor Gott gerechtfertigt“, so bedeutet das: er wird vor Gottes Gericht als gerecht angesehen und ist um seiner Gerechtigkeit willen Gott angenehm. Denn die Ungerechtigkeit ist Gott zuwider, und deshalb kann der Sünder vor seinen Augen keine Gnade finden, sofern er Sünder ist und als solcher angesehen wird. Wo also Sünde ist, da tritt auch Gottes Zorn und Strafvergeltung hervor. Gerechtfertigt wird aber der, der nicht als Sünder, sondern als Gerechter gilt; in dieser Eigenschaft kann er vor Gottes Gericht, vor dem alle Sünder zusammenbrechen müssen, bestehen. Wird ein unschuldiger Mann als Angeklagter vor einen gerechten Richter geführt und geschieht dort der Urteilsspruch seiner Unschuld entsprechend, so heißt es von ihm: er ist vor dem Richter gerechtfertigt worden. Genau so wird der vor Gott grechtfertigt, der aus der Schar der Sünder herausgenommen wird und in Gott den Zeugen und Verteidiger seiner Gerechtigkeit findet. Wenn es also von einem Menschen heißen soll, er sei durch seine Werke gerechtfertigt, so kann das nur dann der Fall sein, wenn sich in seinem Leben eine solche Reinheit und Heiligkeit findet, die vor Gottes Thron das Zeugnis verdient, gerecht zu sein, oder wenn er durch die tadellose Sauberkeit seiner Werke Gottes Urteil entsprechen und Genüge leisten kann. Durch den Glauben dagegen wird der gerechtfertigt, der, von der Werkgerechtigkeit ausgeschlossen, Christi Gerechtigkeit durch den Glauben ergreift; ist er mit dieser Gerechtigkeit Christi umkleidet, so erscheint er vor Gottes Blick nicht als Sünder, sondern gleich als gerecht. Unter „Rechtfertigung“ verstehe ich also schlicht die Annahme, mit der uns Gott in Gnaden aufnimmt und als gerecht gelten läßt. Ich sage nun weiter: sie beruht auf der Vergebung der Sünden und der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,3

Das läßt sich mit vielen klaren Schriftzeugnissen bestätigen. Zunächst läßt sich nicht abstreiten, daß die oben gegebene Erklärung des Wortes „Rechtfertigung“ den eigentlichen Sinn trifft und die gebräuchlichste ist. Es würde aber zu weit führen, hier all die einschlägigen Schriftstellen aufzuzählen und untereinander zu vergleichen; es mag daher genügen, wenn ich den Leser darauf aufmerksam gemacht habe; er wird dann ganz von selbst leicht die entsprechenden Beobachtungen machen. Ich will nur einige wenige Stellen anführen, in denen ausdrücklich von der Rechtfertigung, von der hier ja die Rede ist, gesprochen wird. Wenn uns da zunächst Lukas berichtet, das Volk habe nach dem Anhören der Rede Christi „Gott gerechtfertigt“ (Luther: „recht gegeben“, Luk. 7,29), oder wenn uns Christus sagt, die Weisheit müsse „sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern“ (Luk. 7,35), so bedeutet das an der ersten Stelle nicht, daß der Mensch Gott Gerechtigkeit verschaffe; denn die bleibt unangetastet Gottes Eigentum, mag sich die ganze Welt auch mühen, sie ihm streitig zu machen; es bedeutet bei dem zweiten Wort auch nicht, daß der Mensch die Lehre des Heils erst gerecht mache – denn das ist sie ohnehin. Beide Worte bedeuten vielmehr das gleiche: Gott und seine Lehre bekommen das Lob zugemessen, das sie tatsächlich verdienen. Wenn Christus auf der anderen Seite den Pharisäern vorhält, sie rechtfertigten sich selbst (Luk. 16,15), so versteht er das nicht so, als ob sie wirklich mit rechtem Tun Gerechtigkeit erwürben, sondern er will sagen, sie maßten sich ehrgeizig den Ruf einer Gerechtigkeit an, die sie gar nicht besäßen! Was hier gemeint ist, kann der besser verstehen, der des Hebräischen kundig ist: da heißen nämlich nicht nur die Menschen „Übeltäter“, die sich einer Übeltat bewußt sind, sondern (alle) die, welche unter dem Verdammungsurteil stehen. Wenn z.B. Bathseba sagt: „Ich und mein Sohn Salomo müssen Sünder sein …“ (1. Kön. 1,21), so erkennt sie damit keine Übeltat an, sondern beklagt sich, daß sie mitsamt ihrem Sohne dem Vorwurf ausgesetzt und zu den Verworfenen und Verdammten gerechnet werden würde. Der Zusammenhang macht dabei aber leicht deutlich, daß dies Wort auch im Lateinischen ausschließlich ein über einen Menschen oder eine Sache ergehendes Urteil bedeutet, nicht aber irgendeine Eigenschaft dieser Sache selber bezeichnet. Was aber unseren eigentlichen Gegenstand betrifft: Paulus schreibt: „Die Schrift aber hat es zuvor gesehen, daß Gott die Heiden durch den Glauben gerecht macht“ (Gal. 3, 8); das kann man aber nur so verstehen, daß Gott Gerechtigkeit aus dem Glauben zurechnet. Ähnlich sagt er Röm. 3,26, Gott mache den Gottlosen gerecht, „der da ist des Glaubens an Jesum“; da kann der Sinn nur der sein, daß Gott den Sünder durch das Gnadengeschenk des Glaubens von der Verdammnis freimacht, die er mit seiner Gottlosigkeit verdient hatte. Noch deutlicher zeigt das jenes Schlußwort, wo Paulus ausruft: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher … vertritt uns!“ (Röm. 8,33f.). Das bedeutet doch das gleiche, als wenn er sagte: Wer will die verklagen, die Gott losgesprochen hat? Wer will die verdammen, die Christus mit seinem Schutz verteidigt? Rechtfertigen bedeutet also nichts anderes, als einen Menschen, der unter Anklage stand, gleichsam auf Grund erwiesener Unschuld von der Schuld loszusprechen. Wenn uns nun Gott auf Grund des Eintretens Christi für uns rechtfertigt, so spricht er uns nicht in Anerkennung unserer eigenen Unschuld los, sondern durch Zurechnung der Gerechtigkeit: wir werden also in Christus für gerecht gehalten, obwohl wir es in uns nicht sind. So hören wir es auch Apostelgeschichte 13 in der Rede des Paulus: „… daß euch verkündigt wird Vergebung der Sünden durch diesen und von allem, wovon ihr nicht konntet im Gesetz Mose’s gerecht werden. Wer aber an diesen glaubt, der ist gerecht“ (Apg. 13,38). Hier sieht man, daß im Anschluß an die Vergebung der Sünden die Rechtfertigung gewissermaßen als Erläuterung zugesetzt wird. Man sieht auch deutlich, daß Rechtfertigung klar den Sinn von Freisprechung hat, daß sie den Werken des Gesetzes abgesprochen wird und daß sie eine reine Gnadengabe Christi ist; man gewahrt auch, daß sie durch den Glauben ergriffen wird, und man sieht schließlich, daß da als Bedingung die Genugtuung vorausgesetzt ist: Paulus sagt, wir würden durch Christus von unseren Sünden gerechtfertigt. Wenn so (z.B.) von dem Zöllner gesagt wird: „Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus …“ (Luk. 18,14) – dann können wir doch nicht behaupten, er habe die Gerechtigkeit durch irgendein Verdienst der Werke errungen! Es heißt also: Er hat Vergebung der Sünden erlangt und ist daraufhin vor Gott für gerecht gehalten worden! Er ist also nicht durch Anerkennung seiner Werke, sondern durch den gnädigen Freispruch Gottes gerecht geworden. Es ist deshalb sehr fein, wenn Ambrosius das Bekenntnis der Sünden die rechte Rechtfertigung nennt! (Auslegung des 118. Psalms,10).



III,11,4

Nun wollen wir aber den Streit um das Wort „Rechtfertigung“ fahren lassen und die Sache selber betrachten. Schauen wir sie aber an, so wie sie uns beschrieben wird, so wird kein Zweifel mehr bleiben. Paulus sagt Epheser 1, Vers 5 (und 6). „Und er hat uns verordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch Jesum Christum, nach dem Wohlgefallen seines Willens, zu Lob seiner herrlichen Gnade, durch welche er uns hat angenehm gemacht …“ (Eph. 1,5f.). „Angenehm gemacht“ ist gleichbedeutend mit „angenommen“. Paulus bezeichnet hier also ganz sicher die Rechtfertigung als „Annahme“. Er will nämlich hier eben das gleiche sagen, wie er es sonst gewöhnlich ausdrückt: Gott rechtfertigt uns aus lauter Gnaden (Röm. 3,24). Im vierten Kapitel des Römerbriefs aber nennt er die Rechtfertigung zunächst „Zurechnung der Gerechtigkeit“ (Röm. 4,6), und dann schließt er sie ohne Bedenken mit der Vergebung der Sünden zusammen. Er sagt: „Nach welcher Weise auch David sagt, daß die Seligkeit sei allein des Menschen, welchem Gott (zugute hält oder) zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke, da er spricht: ‘Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind …’” (Röm. 4,6f.; die Klammer ist erläuternder Zusatz Calvins). Hier ist doch ganz sicher nicht von einem Teil der Rechtfertigung die Rede, sondern vom Ganzen! Paulus bezeugt dabei, daß David eine Beschreibung der Rechtfertigung gegeben hat, wenn er die selig preist, denen ihre Sünden aus Gnaden vergeben werden! Daraus wird deutlich, daß diese Gerechtigkeit, von der er redet, einfach das Gegenteil von Schuldzustand bedeutet! In dieser Beziehung ist die klarste Stelle die, wo Paulus die Botschaft des Evangeliums darin zusammenfaßt: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ Denn Gott will uns nach diesem Wort durch Christus in Gnaden annehmen, indem er uns unsere Sünden nicht zurechnet (2. Kor. 5,18ff.). Der Leser muß da den ganzen Zusammenhang gründlich erwägen: Paulus macht gleich nachher den erläuternden Zusatz: „Denn er hat Christus, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5,21, nicht ganz Luthertext); damit will er zeigen, auf welche Weise unsere Versöhnung zustande gekommen ist; der Ausdruck „Versöhnen“ bedeutet also zweifellos nichts anderes als „Rechtfertigen“. Auch der Satz, den uns Paulus an anderer Stelle ausspricht, nämlich daß wir durch Christi Gehorsam gerecht werden (Röm. 5,19), würde gewiß keinen Bestand haben, wenn wir nicht in ihm und außer uns selber vor Gott für gerecht erklärt würden!



III,11,5

Nun hat aber Osiander wer weiß was für ein Ungeheuer von „wesenhafter Gerechtigkeit“ (essentialis iustitia) aufgebracht. Er hatte gewiß nicht im Sinn, die Gerechtigkeit aus Gnaden abzutun; aber er hat sie dermaßen mit Finsternis umhüllt, daß er fromme Gemüter damit in Dunkelheit versetzt und sie des ernstlichen Empfindens der Gnade Christi verlustig gehen läßt. Ich muß also, bevor ich zu anderen Fragen übergehe, dieses Wahngebilde widerlegen. Zunächst: diese Spekulation ist lauter unnützer Vorwitz. Osiander häuft zwar viele Schriftzeugnisse auf, um zu beweisen, daß Christus mit uns eins wird und wir mit ihm – was doch keines Beweises bedarf! -; aber er achtet nicht auf das Band dieser Einheit und deshalb verstrickt er sich selber. Es ist uns aber leicht, alle seine Knoten aufzulösen, da wir daran festhalten, daß unsere Einung mit Christus durch die verborgene Kraft seines Geistes erfolgt. Dieser Mann hat einen Gedanken gefaßt, der den Lehren der Manichäer verwandt ist: er will nämlich Gottes Wesen in den Menschen übergehen lassen. Daraus ist ihm dann noch ein zweites Hirngespinst entsprungen: Daß Adam zum Bilde Gottes gestaltet worden ist, soll seinen Grund darin haben, daß Christus bereits vor dem Fall zum Urbild der menschlichen Natur bestimmt war. Ich will mich aber kurz fassen und deshalb bei der hier vorliegenden Frage bleiben. Osiander behauptet, wir seien mit Christus eins. Das geben wir zu; dagegen bestreiten wir, daß Christi Wesen mit dem unseren vermischt werde. Weiterhin stellen wir aber fest, daß jener Ausgangspunkt (nämlich das Einssein Christi mit uns!) dann verkehrterweise so gedreht wird, daß Osiander folgendes Blendwerk herausbekommt: Christus ist unsere Gerechtigkeit, weil er ewiger Gott, weil er die Quelle der Gerechtigkeit, ja, weil er Gottes Gerechtigkeit selber ist. Nun muß der Leser verzeihen, wenn ich hier solche Dinge, die nach den Erfordernissen rechter Unterweisung auf später verschoben werden müssen, bloß berühre. Osiander entschuldigt sich freilich, er habe mit dem Ausdruck „wesenhafte Gerechtigkeit“ bloß im Sinn, dem Satz entgegenzutreten, wir würden um Christi willen (propter Christum) als gerecht angesehen. Aber er erklärt doch ganz deutlich, daß er mit der Gerechtigkeit, die uns aus Christi Gehorsam und Todesopfer zugekommen ist, nicht zufrieden ist und deshalb vorgibt, wir wären wesensmäßig in Gott gerecht, und zwar durch Eingießung seines Wesens und seiner Eigenart. Das ist nämlich der Grund, weshalb er so scharf behauptet, in uns wohne nicht allein Christus, sondern auch der Vater und der Heilige Geist! Ich gebe zwar zu, daß dies stimmt, aber ich behaupte, daß er es unsinnig verdreht. Er hätte nämlich besser überlegen sollen, in welcher Weise solche „Einwohnung“ stattfindet! Vater und Geist sind doch in Christus, und wie in ihm „wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol. 2,9), so besitzen wir in ihm Gott ganz! Was er also vom Vater und vom Heiligen Geist für sich allein vorbringt, führt nur zu dem Ziel, schlichte Leute von Christus abzuziehen. Dann behauptet er eine wesensmäßige Vermischung: danach ergießt sich Gott in uns hinein und macht uns gewissermaßen zu einem Stück von ihm selber. Die Tatsache nämlich, daß es durch die Kraft des Heiligen Geistes zu solchem Zusammenwachsen mit Christus kommt, daß er dadurch unser Haupt wird und wir seine Glieder werden – die gilt ihm schier gar nichts, wenn sich nicht sein Wesen mit uns vermischt! Aber, wie gesagt, kommt seine eigentliche Meinung noch besser zum Vorschein, wenn er vom Vater und vom Heiligen Geiste redet: wir werden danach nicht einzig und allein durch die Gnade des Mittlers gerechtfertigt, auch wird uns die Gerechtigkeit nicht schlicht und vollkommen in seiner Person dargeboten, sondern wir werden der göttlichen Gerechtigkeit teilhaftig, wenn sich Gott wesenhaft mit uns eint.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,6

Behauptete nun Osiander bloß, wenn Christus uns rechtfertige, so würde er durch wesenhafte Verbindung der unsere, und er sei unser Haupt nicht allein, sofern er Mensch sei, sondern lasse auch das Wesen seiner göttlichen Natur in uns überfließen – dann könnte er sich mit geringerem Schaden an seiner Liebhaberei weiden, dann brauchte man vielleicht auch wegen eines solchen Wahngebildes nicht einen so großen Streit zu erheben. Aber tatsächlich ist dieser Grundsatz wie ein Tintenfisch, der durch Ausscheidung schwarzen, durcheinanderwirbelnden Blutes seine vielen Fangarme verbirgt. Wenn wir also nicht mit Wissen und Wollen ertragen möchten, daß uns jene Gerechtigkeit entrissen wird, die uns allein die Zuversicht verleiht, uns unseres Heils zu rühmen, dann müssen wir hier hart widerstehen. Denn in dieser ganzen Erörterung verwendet er das Dingwort „Gerechtigkeit“ und das Tätigkeitswort „rechtfertigen“ in doppeltem Sinne: Rechtfertigen bedeutet danach nicht allein, daß wir durch gnädige Vergebung mit Gott versöhnt werden, sondern zugleich auch, daß wir gerecht gemacht werden; dementsprechend ist Gerechtigkeit nicht gnädige Zurechnung, sondern Heiligkeit und Reinheit, wie sie uns Gottes Wesen, das in uns seinen Sitz hat, einflößt! Er behauptet dann auch weiter mit Nachdruck, Christus sei nicht insofern unsere Gerechtigkeit, als er unsere Sünden als Priester sühnte und den Vater so mit uns versöhnte, sondern vielmehr, insofern er ewiger Gott und das Leben ist! Um den ersteren Satz zu beweisen, nämlich um zu zeigen, daß uns Gott nicht bloß durch seine Vergebung, sondern durch die Wiedergeburt rechtfertige, stellt er die Frage, ob denn Gott die Menschen, die er rechtfertige, nun lasse, wie sie von Natur wären, ohne an ihren Lastern etwas zu verändern. Darauf ist aber sehr leicht eine Antwort zu geben: wie nämlich Christus nicht in Stücke zerrissen werden kann, so sind auch diese zwei, die wir miteinander und in fester Verbundenheit in ihm empfangen, nämlich Gerechtigkeit und Heiligung voneinander untrennbar! Wenn also Gott einen Menschen in Gnaden annimmt, dann beschenkt er ihn auch mit dem Geiste der Kindschaft und erneuert ihn durch dessen Kraft zu seinem Ebenbilde. Man kann auch die Helligkeit der Sonne nicht von ihrer Wärme abtrennen – aber sollen wir deswegen behaupten, die Erde werde durch das Licht der Sonne erwärmt und durch ihre Wärme erhellt? Gibt es etwas passenderes für unsere Sache hier als diesen Vergleich? Die Sonne gibt der Erde durch ihre Wärme Leben und Fruchtbarkeit, mit ihren Strahlen erleuchtet und erhellt sie sie; hier liegt eine wechselseitige und untrennbare Verbundenheit vor – aber schon die Vernunft verbietet es uns, das, was dem einen eigen ist, auf das andere zu übertragen! Eine ähnliche Sinnwidrigkeit liegt aber in der Vermischung der zwiefachen Gnade, die Osiander so nachdrücklich vollzieht, weil Gott nämlich tatsächlich die, welche er aus Gnaden für gerecht erklärt, auch zum Dienste der Gerechtigkeit erneuert, vermischt Osiander dieses Geschenk der Wiedergeburt mit jener gnädigen Annahme und behauptet, das sei beides ein und dasselbe! Die Schrift dagegen verbindet diese beiden Gaben auch, zählt sie aber trotzdem getrennt auf, damit uns Gottes vielfältige Gnade noch deutlicher entgegentrete. Es ist nämlich nicht überflüssig, wenn Paulus sagt, Christus sei uns gegeben zur „Gerechtigkeit und zur Heiligung …“ (1. Kor. 1,30). Wie oft folgert er auf Grund des uns zugekommenen Heils, auf Grund der väterlichen Liebe Gottes, auf Grund der Gnade Christi, daß wir nun auch zu Heiligkeit und Reinheit gerufen sind! Wenn er das aber tut, so zeigt er damit ganz deutlich, daß es zwei verschiedene Dinge sind, ob wir der Rechtfertigung teilhaftig werden oder ob wir neue Kreaturen werden! Was nun aber die Schrift angeht, so verfälscht Osiander genau alle Stellen, die er heranzieht. Wenn Paulus sagt: „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen rechtfertigt, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit“ (Röm. 4,5, nicht ganz Luthertext) – so legt das Osiander so aus, als ob Paulus vom Gerecht machen spräche. Mit der gleichen Leichtfertigkeit verdreht er das ganze vierte Kapitel des Römerbriefs. Ja, er schämt sich auch nicht, die oben von mir angeführte Stelle in diese falsche Beleuchtung zu rücken: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht!“ (Röm. 8,33). Und dabei ist es doch sonnenklar, daß hier einfach von Schuld und Freispruch die Rede ist und daß die Meinung des Apostels auf der Gegenüberstellung beruht. So läßt sich Osiander sowohl bei jener Beweisführung als auch bei seiner Heranziehung der Schriftzeugnisse bei übler Unzuverlässigkeit ertappen! Ebensowenig richtig ist auch seine Darstellung über das Wort „Gerechtigkeit“: er behauptet, dem Abraham sei sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden, nachdem er Christus – der Gottes Gerechtigkeit und Gott selber sei – angenommen und dadurch kraft herrlicher Tugenden eine hervorragende Stellung gewonnen habe. Wir merken daraus deutlich, wie er aus zwei unverdorbenen Dingen in verkehrter Weise ein einziges verdorbenes macht. Denn die Gerechtigkeit, von der hier die Rede ist, bezieht sich nicht etwa auf den ganzen Gang der Berufung des Abraham; nein, der Geist bezeugt uns, daß Abrahams Tugenden zwar herrlich und hervorragend waren und er sie in langer Beharrlichkeit immer größer gemacht hat – daß er aber Gottes Wohlgefallen einzig und allein erlangt hat, weil er die ihm in der Verheißung angebotene Gnade im Glauben annahm. Daraus folgt, daß bei der Rechtfertigung, wie es Paulus so trefflich behauptet, keinerlei Raum für die Werke übrig bleibt.



III,11,7

Hier macht nun Osiander die Einrede, die rechtfertigende Kraft komme dem Glauben nicht etwa an sich selbst zu, sondern nur insofern, als er Christus annimmt. Das gebe ich gern zu. Denn wenn der Glaube aus sich selbst heraus oder, wie man sagt, zufolge der ihm innewohnenden Kraft rechtfertigte, so würde er das bloß teilweise fertig bekommen, da er ja stets schwach und unvollkommen ist; unsere Gerechtigkeit wäre dann verstümmelt, und sie würde uns deshalb auch bloß ein Stücklein vom Heil verschaffen. Wir aber verfallen nun auch in keiner Weise in solcherlei Einbildungen, sondern behaupten, daß im eigentlichen Sinne Gott einzig und allein uns rechtfertigt. Dann übertragen wir eben dies auf Christus, weil er uns ja zur Gerechtigkeit gegeben worden ist; den Glauben dagegen vergleichen wir gewissermaßen mit einem Gefäß; denn wir können Christi nur dann teilhaftig werden, wenn wir selber gar ausgeleert sind und mit dem offenen Munde unserer Seele herzutreten, um Christi Gnade zu begehren. Daraus ergibt sich: wenn wir behaupten, daß man Christus selbst im Glauben eher empfängt als seine Gerechtigkeit, so nehmen wir ihm damit die Kraft, uns zu rechtfertigen, durchaus nicht weg. Indessen kann ich die gewundenen Vergleiche dieses Klüglings nicht anerkennen. So sagt er z.B., der Glaube sei Christus – als ob ein irdener Topf ein Schatz wäre, weil in ihm Gold verborgen liegt! Daß unser Glaube, obwohl ihm an und für sich keinerlei Würde noch Wert zukommt, uns doch dadurch rechtfertigt, daß er eben Christus zu uns bringt – das ist ganz genau so, wie dies, daß ein mit Geld gefüllter Topf einen Menschen reich macht. Ich behaupte also, daß es töricht ist, wenn man den Glauben, der doch bloß ein Werkzeug ist, durch das wir die Gerechtigkeit erlangen, mit Christus vermischt, der die tatsächliche (materiale) Ursache, ja, der der Geber und zugleich der Diener dieser Wohltat ist! Damit ist auch schon der Knoten aufgelöst, wie man das Wort „Glaube“ im Zusammenhang mit der Rechtfertigung zu verstehen habe.



III,11,8

Noch mehr übersteigt sich Osiander dann bei der Behandlung der Frage, auf welche Weise wir Christus annehmen. Er erklärt nämlich, durch den Dienst des äußeren Wortes nähmen wir das innere an, (und das sagt er,) um uns von dem hohepriesterlichen Amt Christi und von der Person des Mittlers auf Christi ewige Gottheit zu führen. Wir aber teilen Christus nicht, sondern wir bekennen, daß eben der, der uns in seinem Fleische mit dem Vater versöhnte und uns dadurch die Gerechtigkeit schenkte, auch das ewige Wort Gottes ist; zugleich aber bekennen wir, daß er das Amt des Mittlers nicht hätte erfüllen und uns die Gerechtigkeit nicht hätte erwerben können, wenn er nicht ewiger Gott wäre. Das Fündlein des Osiander besagt demgegenüber: da Christus Gott und Mensch ist, so ist er uns nicht im Hinblick auf seine menschliche Natur, sondern im Blick auf die göttliche zur Gerechtigkeit gemacht worden. Bezieht sich dies aber im eigentlichen Sinn auf Christi Gottheit, so kommt es ihm folgerichtig nicht in besonderer Weise (ausschließlich) zu, sondern er hat es mit dem Vater und dem Heiligen Geiste gemeinsam; denn der eine hat keine andere Gerechtigkeit als der andere. Zudem wäre es unangemessen, wenn wir sagten, er sei uns zugut zu etwas gemacht worden, was er doch von Natur seit aller Ewigkeit gewesen ist! Aber selbst wenn ich zugebe, Gott sei uns zur Gerechtigkeit gemacht worden – wie reimt sich dann der dazwischengesetzte Ausdruck, nämlich: er sei „von Gott gemacht …?“ (1. Kor. 1,30). Nein, wir haben es hier ganz gewiß mit einer besonderen Eigentümlichkeit der Mittlerperson zu tun; diese faßt gewiß die göttliche Natur in sich, wird aber hier mit einem eigenen Titel benannt, durch den sie sich vom Vater und vom Heiligen Geiste unterscheidet. Es ist aber lächerlich, wie Osiander dabei triumphierend auf das eine Wort des Jeremia verweist, der uns verheißt, der Herr werde unsere Gerechtigkeit sein (Jer. 51,10). Es ergibt sich doch aus dieser Stelle nur dies, daß Christus, der unsere Gerechtigkeit ist, Gott ist, geoffenbaret im Fleisch (Anklang an 1. Tim. 3,16). Wir haben an anderer Stelle aus einer Rede des Paulus das Wort herangezogen, Gott habe sich die Gemeinde „durch sein eigen Blut erworben“ (Apg. 20, 28). Wenn nun einer daraus schließen wollte, das Blut, mit dem unsere Sünden getilgt wurden, sei göttliches Blut gewesen und göttlicher Natur – wer sollte einen solch abscheulichen Irrwahn ertragen? Trotzdem meint Osiander, mit solch kindischer Spitzfindigkeit alles erreicht zu haben, und nun ist er gewaltig stolz, jubiliert und stopft viele Seiten voll mit seinem Wortschwall! Und dabei ist die Lösung ganz einfach und leicht zu erlangen: es soll allerdings heißen, der Herr werde, wenn er zu Davids Sproß geworden sei, unsere Gerechtigkeit sein; aber Jesaja lehrt uns, in welchem Sinne das gemeint ist: „Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen“ (Jes. 53,11). Wir bemerken: hier redet der Vater; er teilt dem Sohne das Amt der Rechtfertigung zu; er fügt auch die Ursache bei: der Sohn ist gerecht -, und er gibt auch die Art und Weise oder, wie man sagt, das Mittel an, nämlich die Lehre, durch die Christus erkannt wird. Es ist nämlich angebrachter, den Ausdruck „daath“ passiv zu verstehen (also: die Erkenntnis, die man von ihm hat, nicht die er selber besitzt). Daraus ziehe ich nun die Folgerung, daß uns Christus zur Gerechtigkeit gemacht wurde, als er Knechtsgestalt annahm, zweitens, daß er uns rechtfertigte, sofern er dem Vater Gehorsam leistete, und daß er uns also solche Gerechtigkeit nicht nach seiner göttlichen Natur zuteil werden läßt, sondern auf Grund der Amtsaufgabe, die ihm aufgetragen war. Denn Gott ist zwar allein die Quelle der Gerechtigkeit, und wir sind nur durch Teilhaben an ihm gerecht; aber wir haben uns in unglückseligem Abfall von seiner Gerechtigkeit entfremdet, und deshalb müssen wir trotzdem auf das untergeordnete Heilmittel (inferior remedium) zurückgehen, daß uns Christus durch die Kraft seines Sterbens und Auferstehens rechtfertigt.



III,11,9

Er mag nun aber den Einwand erheben, dies Werk gehe in seiner Herrlichkeit über die Natur des Menschen hinaus, und deshalb könne es nur der göttlichen Natur zugeschrieben werden. Da gebe ich das erste zu, dagegen behaupte ich, daß er bei dem zweiten in törichte Wahnvorstellungen verfällt. Gewiß hätte Christus nämlich unsere Seelen nicht mit seinem Blut reinigen, gewiß hätte er den Vater nicht mit seinem Opfer versöhnen und uns von der Schuld losmachen können, auch das Priesteramt hätte er überhaupt nicht zu führen vermocht – wenn er nicht wahrer Gott gewesen wäre; denn das Vermögen des Fleisches vermag solche Last nicht zu tragen. Aber doch ist es sicher, daß er all dies nach seiner menschlichen Natur vollbracht hat! Fragt man, wie wir gerechtfertigt worden sind, so antwortet Paulus: Durch Christi Gehorsam! (Röm. 5,19). Leistete er aber solchen Gehorsam anders als durch Annahme der Knechtsgestalt? Daraus folgern wir, daß uns seine Gerechtigkeit im Fleische entgegentritt. Dementsprechend hat Paulus auch in anderen Worten die Quelle der Gerechtigkeit nirgendwo anders gesehen als im Fleische Christi – ich wundere mich nur sehr, wieso Osiander sich nicht schämt, eben diese Worte mehrmals anzuführen. „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit Gottes“ (2. Kor. 5,21; Schluß nicht Luthertext). Den Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ rühmt Osiander mit vollen Backen, und er erhebt schon seinen Siegesgesang, als ob er erwiesen hätte, daß es sich dabei um sein Hirngespinst, nämlich die „wesenhafte Gerechtigkeit“ handle! Und dabei lauten die Worte doch ganz anders, sie sagen uns, daß wir um der durch Christus geschehenen Versöhnung willen gerecht sind! Daß man unter der „Gerechtigkeit Gottes“ die „Gerechtigkeit“ verstehen muß, „die vor Gott gilt“ (wie es Luther übersetzt!) – das sollte selbst Anfängern bekannt sein. In der gleichen Weise wird doch bei Johannes die „Ehre bei Gott“ der „Ehre bei den Menschen“ gegen- übergestellt (Joh. 12,43). Ich weiß wohl, daß unter der Gerechtigkeit Gottes zuweilen auch die Gerechtigkeit verstanden wird, deren Geber er selber ist und mit der er uns beschenkt. Daß aber an dieser Stelle nichts anderes gemeint ist, als daß wir, auf das Sühnopfer des Todes Christi gegründet, vor Gottes Richterstuhl bestehen – das begreifen vernünftige Leser auch, wenn ich schweige.Indessen ist an dem Ausdruck nicht viel gelegen; wenn doch Osiander nur darin mit uns einig wäre, daß wir in Christus gerechtfertigt werden, insofern er für uns zum Sühnopfer gemacht worden ist – was allerdings zu seiner göttlichen Natur durchaus nicht paßt! In diesem Sinne stellt uns auch Christus, wenn er uns die Gerechtigkeit und das Heil versiegeln will, die er uns hat zuteil werden lassen, in seinem Fleische ein sicheres Unterpfand dafür vor Augen. Er nennt sich zwar das „lebendige Brot“ (Joh. 6,51), aber er fügt doch zu näherer Erläuterung hinzu: „Mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank“ (Joh. 6,55). Diese Lehrweise wird bei den Sakramenten anschaulich: diese richten zwar unseren Glauben auf den ganzen, ungeteilten Christus, aber sie zeigen uns zugleich, daß die wesentliche Ursache unserer Gerechtigkeit und unseres Heils in seinem Fleische ruht. Nicht als ob ein bloßer Mensch aus sich selbst heraus rechtfertigte oder lebendig machte – sondern weil es Gott gefallen hat, das, was an und für sich verborgen und unbegreiflich war, in dem Mittler offenbar zu machen! Deshalb pflege ich zu sagen: Christus ist uns gewissermaßen eine offengelegte Quelle, aus der wir schöpfen können, was sonst ohne Frucht in jenem verborgenen, tiefen Brunnquell versteckt bliebe, der uns in der Person des Mittlers aufquillt! Auf diese Weise und in diesem Sinne leugne ich nicht, daß uns Christus als Gott und Mensch rechtfertigt, daß dieses Werk zugleich auch dem Vater und dem Heiligen Geiste mit zukommt, ja, daß überhaupt die Gerechtigkeit, deren uns Christus teilhaftig macht, des ewigen Gottes ewige Gerechtigkeit ist – Osiander muß nur den sicheren und klaren Beweisgründen Raum geben, die ich angeführt habe!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,10

Damit nun aber Osiander mit seiner Sophisterei die Unerfahrenen nicht täusche, so gebe ich zu, daß wir dieses unvergleichlichen Schatzes beraubt sind, ehe Christus unser eigen wird. Bei uns steht also jene Verbindung des Hauptes mit den Gliedern, jene Einwohnung Christi in unseren Herzen, kurz, jene verborgene Einung (mystica unio) an höchster Stelle, daß also Christus unser eigen wird und uns der Güter, die er selber inne hat, teilhaftig macht! Wir schauen ihn also nicht außer uns, von ferne an, damit uns seine Gerechtigkeit zugerechnet werde; nein, weil wir ihn angezogen haben und in seinen Leib eingefügt sind, kurz, weil er sich herabgelassen hat, uns mit sich eins zu machen, darum rühmen wir uns, daß wir Gemeinschaft der Gerechtigkeit mit ihm haben. So widerlegt sich der Vorwurf des Osiander, wir hielten den Glauben für Gerechtigkeit. Gewiß, wir sagen, daß wir im Glauben leer zu ihm kommen, damit wir seiner Gnade Raum geben und er ganz allein uns mit ihr erfülle – aber es ist doch nicht so, als ob wir dadurch Christus seines Rechtes beraubten! Osiander dagegen verachtet diese geistliche Verbundenheit (mit Christus) und will eine grobe Vermischung Christi mit den Gläubigen haben. Wer nun diesen fanatischen Irrtum von der wesenhaften Gerechtigkeit nicht unterschreiben will, den beschimpft er als „Zwinglianer“, weil er nicht der Meinung sei, daß wir im Abendmahl Christus fleischlich genössen! Ich sehe es aber als den höchsten Ruhm an, wenn ich von seiten dieses hoffärtigen und seinen Gaukeleien ergebenen Menschen solch eine Schmähung zu hören bekomme. Freilich trifft er damit nicht allein mich, sondern auch der ganzen Welt wohlbekannte Schriftsteller, die er eigentlich bescheiden verehren sollte. Mir aber macht es nichts aus, weil ich nicht meine eigene Sache betreibe; so kann ich denn in dieser Sache um so lauterer vorgehen, da ich von jeder bösen Absicht frei bin. Daß also Osiander so unangemessen auf die wesenhafte Gerechtigkeit und die wesenhafte Einwohnung Christi in uns drängt, hat folgenden Sinn: Erstens soll sich Gott in grober Vermischung in uns überfließen lassen – wie Osiander auch beim Abendmahl von einem fleischlichen Genießen träumt! -, zweitens soll uns Gott seine Gerechtigkeit einhauchen, durch die wir mit ihm wesenhaft gerecht werden sollen – wie denn nach Osiander diese Gerechtigkeit einerseits Gott selber ist, anderseits aber zugleich Gottes Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Reinheit. Die Schriftzeugnisse, die Osiander anführt und die vom himmlischen Leben handeln, verdreht er alle und bezieht sie so auf den gegenwärtigen Zustand. Ich will mir mit ihrer Zurückweisung nicht sehr viel Arbeit machen. So sagt Petrus: durch Christus sind uns „die teuren und allergrößten Verheißungen geschenkt, nämlich daß wir dadurch teilhaftig werden der göttlichen Natur“ (2. Petr. 1,4; Anfang und Schluß ungenau zitiert). Diese Stelle zieht Osiander heran – als ob wir schon jetzt in dem Zustand wären, den wir nach der Verheißung des Evangeliums bei Christi endlichem Kommen erlangen sollen! Dann werden wir allerdings, wie Johannes uns sagt, Gott sehen, wie er ist, weil wir ihm dann gleich sein werden! (1. Joh. 3,2; nicht genau zitiert). Ich wollte den Lesern nur einen entfernten Geschmack geben und damit zeigen, daß ich mich nun absichtlich von diesem Geschwätz abwende, nicht weil es schwer wäre, es zu widerlegen, sondern weil ich mich nicht mit unnützer Arbeit abmühen will!



III,11,11

Mehr Gift ist indessen noch in dem zweiten Gliede (der obigen Behauptung) enthalten, also in Osianders Lehre, wir seien mit Gott zusammen gerecht (vgl. oben). Aber selbst wenn diese Lehre nicht so verderbenbringend wäre, so ist sie – das meine ich bereits zureichend bewiesen zu haben! – doch kalt und inhaltlos, ja sie zerfließt über ihrer Eitelkeit, und deshalb muß sie vernünftigen und frommen Lesern mit Recht abgeschmackt vorkommen! Unter keinen Umständen aber ist das gottlose Unterfangen zu dulden, unter dem Vorwand einer „zwiefachen Gerechtigkeit“ die Heilszuversicht ins Wanken zu bringen und uns über die Wolken emporzuheben, damit wir die Gnade der Versöhnung nicht im Glauben erfassen und Gott nicht mit fröhlichem Herzen anrufen sollen! Osiander lacht die Leute aus, die die Lehre vertreten, „Rechtfertigen“ sei ein vom gerichtlichen Brauch hergenommenes Wort (verbum forense); denn nach seiner Ansicht müssen wir ja tatsächlich gerecht sein! Er verwirft auch nichts mehr als die Behauptung, wir würden durch gnädige Zurechnung (der Gerechtigkeit Christi) gerechtfertigt. Nun, wenn uns Gott nicht durch Freisprechung und Verzeihung rechtfertigt – dann weiß ich nicht, was das Wort des Paulus bedeuten soll: „Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu … Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!“ (2. Kor. 5,19. 21). Hier wird mir zunächst bestätigt, daß die für gerecht erklärt werden, die mit Gott versöhnt werden. Dann wird zwischendurch auch die Art und Weise dargetan: Gott rechtfertigt uns durch Verzeihung! Im gleichen Sinne wird auch an anderer Stelle (Röm. 8,33) die Rechtfertigung in einen Gegensatz zur Beschuldigung gestellt, eine Gegenüberstellung, die uns klar zeigt, daß die Redeweise vom gerichtlichen Brauch hergenommen ist. Auch wer nur einigermaßen in der hebräischen Sprache bewandert ist, der weiß – wenn er nur ein ruhiges Hirn hat! – sehr wohl, daß der Ausdruck daher (vom richterlichen Brauch) kommt, er weiß auch, was für einen Sinn und was für eine Bedeutung er hat. Ich erinnere ferner an die Behauptung des Paulus, nach welcher David die Gerechtigkeit ohne Werke mit den Worten beschreibt: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind …“ (Röm. 4,7; Ps. 32,1). Da soll mir nun Osiander antworten, ob die Rechtfertigung damit vollständig beschrieben ist oder nur halb! Paulus führt den Propheten doch gewiß nicht als Zeugen an, als ob er lehrte, die Vergebung der Sünden sei bloß ein Teil der Gerechtigkeit oder sie leiste zur Rechtfertigung des Menschen bloß einen Beitrag! Nein, er faßt unter der Vergebung aus Gnaden die ganze Gerechtigkeit zusammen, wenn er sagt: „Selig ist der Mann, dem die Sünden bedeckt sind, dem Gott die Übertretungen vergeben hat, dem der Herr die Missetat nicht zurechnet!“ (Ps. 32,1f.; in lockerer Wiedergabe). Nach der Meinung und dem Urteil des Propheten kommt so die Seligkeit solchen Mannes nicht daher, daß er tatsächlich gerecht ist, sondern durch Zurechnung!Osiander macht da den Einwand, es bringe Gott Schande und sei seiner Natur zuwider, wenn er Menschen rechtfertige, die tatsächlich gottlos blieben. Da müssen wir aber im Gedächtnis behalten, was ich oben ausgeführt habe: die Gnade, kraft deren wir gerechtfertigt werden, kann von der Wiedergeburt nicht abgetrennt werden, obwohl es zwei verschiedene Dinge sind! Aber es ist uns doch aus der Erfahrung mehr als hinreichend bekannt, daß in den Gerechten stets Überbleibsel der Sünde bleiben, und deshalb muß die Rechtfertigung ganz anders erfolgen, als die Umgestaltung zu neuem Leben. Denn dies zweite fängt Gott in seinen Auserwählten an, er führt es auch während ihres ganzen Lebenslaufs allmählich, zuweilen auch langsam, weiter – aber stets so, daß sie vor seinem Richterstuhl des Todesurteils schuldig sind! Die Rechtfertigung aber geschieht nicht teilweise, sondern vielmehr so, daß die Gläubigen, gleichsam mit Christi Reinheit bekleidet, freien Herzens im Himmel erscheinen! Ein Stück Gerechtigkeit würde auch die Gewissen nicht beruhigen, ehe es feststünde, daß wir Gott wohlgefällig sind, weil wir ohne Einschränkung vor ihm gerecht sind! Die Lehre von der Rechtfertigung wird also verdreht und von Grund auf umgestoßen, wenn Zweifel ins Herz hineindringt, wenn die Heilszuversicht erschüttert wird und die freie, unerschrockene Anrufung (Gottes) Verzug erleidet, ja, wo nicht Ruhe und Friede samt geistlicher Freude fest aufgerichtet werden. Darum schließt auch Paulus aus der Unrichtigkeit des Entgegengesetzten, „das Erbe“ werde nicht „durch das Gesetz erworben“ (Gal. 3, 18); denn dann wäre der Glaube nichts (Röm. 4,14); er müßte ja ins Wanken geraten, wenn er auf die Werke achtete, weil da auch unter den Heiligsten niemand etwas findet, worauf er sein Vertrauen setzen könnte!Zwischen Rechtfertigung und Wiedergeburt, die Osiander durcheinanderwirft und dann zusammen als „zwiefache Gerechtigkeit“ bezeichnet, besteht also ein Unterschied. Den drückt Paulus sehr treffend aus. Spricht er von seiner wirklichen (realen) Gerechtigkeit oder von der ihm geschenkten Reinheit – also von dem, was Osiander mit dem Titel „wesenhafte Gerechtigkeit“ bezeichnet! – so ruft er wehklagend aus: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!“ (Röm. 7,24). Nimmt er aber seine Zuflucht zu der Gerechtigkeit, die allein in Gottes Barmherzigkeit gegründet ist, so trotzt er hochgemut gegen Leben und Tod, gegen Schmach und Hunger, gegen Schwert und alle Widrigkeit: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht! … Denn ich bin gewiß, daß nichts mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist …“ (Röm. 8,33. 38f.; zusammenfassend). Er verkündet uns deutlich, daß er eine Gerechtigkeit besitzt, die allein und vollkömmlich vor Gott zum Heil genügt, so daß jene jämmerliche Knechtschaft, deren er sich bewußt ist und angesichts deren er zuvor sein Los beweint hat, doch der Zuversicht des Rühmens nichts abbricht und kein Hindernis bereitet! Diese Zwiefältigkeit ist allen Heiligen wohlbekannt, ja gewohnt: sie seufzen unter der Last ihrer Ungerechtigkeiten, und doch tauchen sie in sieghafter Zuversicht unterdessen über alle Ängste empor!Wenn aber Osiander einwendet, das sei der Natur Gottes zuwider, so fällt der Einwand auf ihn selbst zurück. Denn obgleich er die Heiligen mit seiner „zwiefachen Gerechtigkeit“ wie mit einem Pelzrock kleidet, muß er doch notgedrungen zugeben, ohne die Vergebung der Sünden sei niemand Gott wohlgefällig. Ist das aber wahr, so soll er doch schließlich auch zugeben, daß wir – wie man sagt – hinsichtlich des Teils, der uns zugerechnet wird, für gerecht erklärt werden, ohne es tatsächlich zu sein! Wieweit soll der Sünder dann aber von dieser gnädigen Annahme Gebrauch machen, die an die Stelle der (fehlenden!) Gerechtigkeit treten soll? Zu elf Zwölfteln oder nur zu einem Zwölftel? Da wird er sicherlich unsicher und unstet hin- und herschwanken: denn soviel Gerechtigkeit, wie er braucht, um zuversichtlich zu sein, darf er sich (dann!) doch nicht nehmen! Es ist aber gut, daß in dieser Sache nicht der Richter ist, der Gott hier ein Gesetz vorschreiben will! Indessen wird es schon bestehen bleiben: „daß du recht behaltest in deinen Worten und rein bleibest, wenn du gerichtet wirst!“ (Ps. 51,6). Was ist das doch für eine Vermessenheit, den höchsten Richter zu verdammen, wenn er aus Gnaden den Sünder losspricht, – und dabei jene Antwort außer Kraft setzen zu wollen: „Wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich!“ (Ex. 33,19). Und dabei hatte doch Moses Fürbitte, die Gott mit dieser Antwort zum Schweigen brachte, nicht den Sinn, daß Gott keinen verschonen möge, sondern den umgekehrten: daß er aller Schuld gleichermaßen abtun und sie, so sehr sie auch schuldig waren, doch alle freisprechen möge! Wir sagen nun zwar, daß Gott die Sünden der verlorenen Menschen deshalb begräbt und diese Menschen vor ihm gerecht sein läßt, weil er ja die Sünde haßt und deshalb nur die lieben kann, die er rechtfertigt! Aber das ist eine wundersame Art von Rechtfertigung: unter Christi Gerechtigkeit gedeckt, erschrecken die Gläubigen nicht vor dem Gericht, dessen sie schuldig sind, und wenn sie sich selber mit Recht verdammen, so gelten sie doch außer sich selber für gerecht!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,12

Jedoch sind die Leser zu ermahnen, auf das „Geheimnis“, das Osiander ihnen angeblich nicht verheimlichen will, mit Eifer ihre Augen zu richten. Er hält sich nämlich zunächst lange und ausführlich mit der Behauptung auf, wir erlangten Gnade vor Gott nicht allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, denn es sei Gott unmöglich, Menschen für gerecht gelten zu lassen, die es nicht sind – ich benutze seine eigenen Worte! Dann kommt er endlich zu dem Schluß, Christus sei uns nicht nach seiner menschlichen, sondern nach seiner göttlichen Natur zur Gerechtigkeit gegeben, und obgleich diese nur in der Person des Mittlers zu finden sei, so sei sie doch nicht eines Menschen Gerechtigkeit, sondern Gottes! Hier windet er nun nicht sein Stricklein aus den zweierlei Gerechtigkeiten, sondern nimmt der menschlichen Natur Christi das Amt der Rechtfertigung stracks fort. Es ist dabei aber der Mühe wert, den Grund festzuhalten, den er anführt. Er erklärt, an der gleichen Stelle (an der Christus als unsere Gerechtigkeit erscheint, nämlich 1. Kor. 1,30) heiße es auch, Christus sei uns „gemacht … zur Weisheit“ – und das komme doch nur dem ewigen Wort zu! Also sei Christus als Mensch auch nicht unsere Gerechtigkeit! Ich erwidere: gewiß ist der eingeborene Sohn Gottes auch Gottes ewige Weisheit gewesen; bei Paulus aber (nämlich eben 1. Kor. 1,30) wird ihm diese Bezeichnung („Weisheit“) in anderem Sinne zugeschrieben, nämlich weil in ihm „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis!“ (Kol. 2,3). Er hat uns also das, was er bei dem Vater besaß, offenbart; und so bezieht sich das Wort des Paulus nicht auf das Wesen des Sohnes Gottes, sondern auf unsere Erfahrung an ihm; es kommt also wirklich der menschlichen Natur Christi zu! Denn er leuchtete wohl als das Licht in der Finsternis, bevor er Fleisch annahm; aber es war doch ein verborgenes Licht, bis derselbe Christus in der Natur eines Menschen als die Sonne der Gerechtigkeit hervortrat! Deshalb nennt er sich ja das „Licht der Welt“! (Joh. 8,12). Es ist auch ein törichter Einwand, wenn Osiander behauptet, die Kraft zur Rechtfertigung gehe über das Vermögen der Engel wie erst recht der Menschen weit hinaus. Dies hängt doch nicht von der Würdigkeit irgendeiner Kreatur, sondern von Gottes Anordnung ab! Wenn es den Engeln gefallen sollte, Gott Genugtuung zu leisten, so würden sie damit nichts ausrichten, weil sie eben nicht dazu bestimmt sind. Diese Aufgabe war eben dem Menschen Christus eigentümlich, der „unter das Gesetz getan“ wurde, um uns von dem „Fluch des Gesetzes“ zu erlösen! (Gal. 3,13; 4,4). Eine gar zu bösartige Schmähung ist es auch, wenn Osiander denen, die da bestreiten, daß Christus nach seiner göttlichen Natur unsere Gerechtigkeit sei, den Vorwurf macht, sie ließen von Christus bloß ein Stück übrig, ja, was noch schlimmer ist, sie machten zwei Götter, weil sie zwar zugäben, daß Gott in uns wohne, aber doch behaupteten, wir seien nicht durch Gottes Gerechtigkeit gerecht. (Ich antworte darauf:) Wenn wir Christus den Urheber des Lebens nennen, sofern er den Tod erlitt und so „die Macht nahm dem, der des Todes Gewalt hatte“ (Hebr. 2,14) – so rauben wir doch damit dem ganzen Christus, der da „Gott ist, geoffenbaret im Fleisch“, diese Ehre nicht! Wir halten mit dieser Unterscheidung bloß fest, wieso denn Gottes Gerechtigkeit zu uns kommt, damit wir sie genießen. Hier hat also Osiander einen schlimmen Fall getan! Wir leugnen auch nicht, daß das, was uns in Christus offen dargeboten ist, aus Gottes verborgener Gnade und Kraft herkommt; auch streiten wir nicht darüber, daß die Gerechtigkeit, die uns Christus zuteil werden läßt, Gottes Gerechtigkeit ist, die von ihm ausgeht. Und doch halten wir unentwegt daran fest, daß unsere Gerechtigkeit und unser Leben im Tode und in der Auferstehung Christi bestehen! Ich übergehe hier die beschämende Fülle von Schriftstellen, mit denen Osiander ohne verständige Auswahl, ja, ohne gesunden Menschenverstand die Leser belastet hat (und ihnen die Behauptung aufdringen will), überall, wo die Schrift von der Gerechtigkeit spricht, sei darunter die „wesenhafte Gerechtigkeit“ zu verstehen! Es gibt z.B. wohl hundert Stellen, an denen David Gottes Gerechtigkeit um Hilfe anruft – und Osiander schämt sich nicht, sie alle (in seinem Sinne) zu verfälschen! Ebensowenig stichhaltig ist sein weiterer Einwurf, im eigentlichen und rechten Sinne heiße Gerechtigkeit das, was uns zum rechten Handeln treibe, Gott allein aber „wirke in uns das Wollen und das Vollbringen“: (Phil. 2,13). Auch wir bestreiten ja gar nicht, daß uns Gott durch seinen Geist zur Heiligkeit und Gerechtigkeit des Lebens erneuert. Aber man muß doch dabei zusehen, ob er das unmittelbar und von sich aus tut – oder aber durch die Hand seines Sohnes, dem er die ganze Fülle des Heiligen Geistes anvertraut hat, damit er aus seinem Überfluß seinen Gliedern in ihrem Mangel Hilfe leiste. Und weiter: allerdings kommt die Gerechtigkeit aus dem verborgenen Brunnquell der Gottheit zu uns; aber daraus folgt noch nicht, daß Christus, der sich doch im Fleische für uns geheiligt hat (Joh. 17,19), nach seiner göttlichen Natur unsere Gerechtigkeit sei. Nicht weniger leichtfertig ist es, wenn Osiander bemerkt, Christus sei selbst durch die göttliche Gerechtigkeit gerecht gewesen, weil er auch selber dem ihm auferlegten Amte nicht Genüge getan hätte, wenn der Wille des Vaters ihn nicht getrieben hätte. Obwohl ich an anderer Stelle ausgeführt habe, daß alle Verdienste, die Christus selbst erworben hat, aus Gottes reinem Wohlgefallen herfließen, so ergibt sich daraus doch keine Berechtigung für das Gespinst, mit dem Osiander seine eigenen Augen und diejenigen schlichter Leute verblendet. Wer sollte denn den Schluß erlaubt finden: weil Gott die Quelle und der Ursprung unserer Gerechtigkeit sei, darum seien wir wesenhaft gerecht und wohne das Wesen der Gerechtigkeit Gottes in uns? Gewiß, um seine Kirche zu erlösen, zieht Gott nach den Worten des Jesaja seine „Gerechtigkeit an wie einen Panzer“ (Jes. 59,17) – aber tut er das, um Christus der Waffen zu berauben, die er ihm gegeben hat, und um ihn so zu einem unvollkommenen Erlöser zu machen? Dabei will aber doch der Prophet bloß darlegen, daß Gott von außen nichts entlehnt und daß er zu unserer Erlösung keinerlei fremde Hilfe gebraucht hat. Das hat Paulus kurz mit anderen Worten ausgesprochen: Gott habe uns das Heil geschenkt, „damit er seine Gerechtigkeit aufweise …“ (Röm. 3,25; nicht Luthertext). Damit ist aber doch in keiner Weise umgestoßen, was er an anderer Stelle lehrt, nämlich daß wir „durch eines Gehorsam“ gerecht sind! (Röm. 5,19). Kurz, wer eine zwiefache Gerechtigkeit ineinander verwickelt, damit die armen Seelen nicht rein und einzig in Gottes Erbarmen Ruhe finden, der krönt Christus zum Spott mit zusammengeflochtenen Dornen!



III,11,13

Viele Menschen träumen nun von einer Gerechtigkeit, die aus Glauben und Werken zusammengesetzt sein soll. Ich muß also auch das noch erweisen, daß die Gerechtigkeit aus dem Glauben und die Werkgerechtigkeit in solchem Gegensatz zueinander stehen, daß, wo die eine besteht, notwendig die andere umgestoßen wird! Der Apostel sagt: „Ich achte es alles für Kot, auf daß ich Christum gewinne und in ihm erfunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird“ (Phil. 3,8f.). Man sieht, wie Paulus hier entgegengesetzte Dinge miteinander vergleicht und wie er zeigt, daß der, welcher Christi Gerechtigkeit erlangen will, seine eigene Gerechtigkeit fahren lassen muß. Deshalb führt er den Untergang der Juden an anderer Stelle auf die Ursache zurück, daß sie „ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten“ trachteten und deshalb „der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht Untertan“ waren (Röm. 10,3). Wenn wir aber durch Aufrichtung unserer eigenen Gerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes zunichte machen, so ergibt sich daraus deutlich, daß jene voll und ganz abgetan werden muß, damit wir diese erlangen! Das gleiche zeigt Paulus auch, wenn er erklärt, nicht durch das Gesetz werde unser eigener Ruhm ausgeschlossen, sondern durch den Glauben (Röm. 3,27). Daraus folgt: solange eine noch so geringe Gerechtigkeit aus den Werken bleibt, behalten wir auch noch einigen Anlaß zum Rühmen. Nun schließt aber der Glaube alles Rühmen aus, und deshalb kann die Gerechtigkeit aus den Werken unter keinen Umständen mit der Gerechtigkeit aus dem Glauben zusammen bestehen. In diesem Sinne redet Paulus im vierten Kapitel des Römerbriefs mit solcher Klarheit, daß er für keinerlei Sophisterei oder Ausflüchte mehr Raum läßt. Er erklärt: „Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm.“ Aber er setzt gleich hinzu: „Aber nicht vor Gott!“ (Röm. 4,2). Die Schlußfolgerung lautet also: Abraham ist nicht durch die Werke gerechtfertigt worden. Er gibt uns dann noch einen zweiten Beweis, und zwar auf Grund der Unmöglichkeit des Gegenteils: Wenn für die Werke ein Lohn entrichtet wird, so geschieht das „aus Pflicht“ und „nicht aus Gnade“ (Röm. 4,4). Dem Glauben dagegen wird die Gerechtigkeit aus Gnade zugerechnet! Also geschieht es nicht aus dem Verdienst der Werke heraus. Darum fort mit dem Traum solcher Leute, die sich eine aus Glauben und Werken zusammengesetzte Gerechtigkeit erdichten!



III,11,14

Aber die Klüglinge, die sich aus der Verfälschung der Schrift und aus inhaltlosem Geschwätz ein Spiel und ein Vergnügen machen, meinen nun eine scharfsinnige Ausflucht zu haben: sie beziehen die Aussagen des Paulus auf solche Werke, welche noch nicht wiedergeborene Menschen bloß dem Buchstaben nach und durch Anstrengung ihres freien Willens, abseits von der Gnade Christi vollbringen; da-gegen leugnen sie, daß sich diese Worte auf die geistlichen Werke beziehen. So wird also der Mensch nach ihrer Meinung einerseits durch den Glauben, andererseits durch die Werke gerechtfertigt – nur soll es sich dabei nicht um seine eigenen Werke handeln, sondern um Gaben Christi und um Früchte der Wiedergeburt. Paulus hat danach also solche Worte nur deshalb gebraucht, weil er die Juden, die sich auf ihre eigenen Kräfte verließen, davon überführen wollte, daß sie sich törichterweise die Gerechtigkeit anmaßten, wo uns doch einzig und allein Christi Geist solche Gerechtigkeit zuteil werden lasse und nicht etwa der Eifer, der aus der eigenen Regung der Natur herstammt! Aber die Klüglinge ziehen nicht in Betracht, daß Paulus bei der Gegenüberstellung der Gerechtigkeit aus dem Gesetz und der Gerechtigkeit aus dem Evangelium, die er uns an anderer Stelle gibt, jegliche Werke ausschließt, mit was für einem Titel sie auch geschmückt sein mögen! (Gal 3,11f.). Denn nach seiner Lehre besteht die Gerechtigkeit aus dem Gesetz darin, daß der das Heil erlangt, der erfüllt, was das Gesetz gebietet. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben aber besteht darin, daß wir glauben, daß Christus gestorben und auferstanden ist. Zudem werden wir am gegebenen Ort noch sehen, daß Heiligung und Gerechtigkeit verschiedene Wohltaten Christi sind. Daraus folgt: wo die Kraft, uns zu rechtfertigen, dem Glauben zugeschrieben wird, da kommen auch die geistlichen Werke nicht in Betracht! Wenn Paulus – was ich oben bereits angeführt habe – von Abraham erklärt, er habe keinerlei Grund, sich vor Gott zu rühmen (Röm. 4,2), weil er ja nicht durch Werke gerecht sei, so darf man das nicht auf den im Buchstaben begründeten, äußerlichen Schein von Tugenden beschränken, auch nicht auf die Anstrengung des freien Willens; nein, (Paulus will sagen): so geistlich und schier engelgleich das Leben des Erzvaters auch gewesen sein mag, so reichten die Verdienste der Werke doch nicht hin, um ihm vor Gott Gerechtigkeit zu verschaffen.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,15

Die römischen Schultheologen reden hier ein wenig ungeschliffener, indem sie ihre „Vorbereitungen“ (auf den Empfang des Heils, die der Mensch selbst leisten soll!) mit hineinmengen. Trotzdem reden auch jene oben genannten Klüglinge den schlichten und unerfahrenen Leuten eine nicht weniger schlimme Lehrsatzung ein, indem sie unter dem Vorwande des Heiligen Geistes und der Gnade die Barmherzigkeit Gottes, die allein die erschrockenen Seelen zur Ruhe bringen kann, verdecken. Wir dagegen bekennen mit Paulus, daß vor Gott die Täter des Gesetzes gerechtfertigt werden; da wir aber alle weit davon entfernt sind, das Gesetz zu halten, so schließen wir daraus, daß uns auch die Werke, die uns (eigentlich) am allermeisten zur Gerechtigkeit verhelfen sollten, doch gar nichts helfen, weil sie uns eben fehlen! Was nun die gewöhnlichen Papisten oder Scholastiker anbetrifft, so sind sie hier in doppelter Hinsicht einer Täuschung verfallen: Erstens nennen sie den Glauben die Sicherheit des Gewissens, mit der wir von Gott den Lohn für unsere Verdienste erwarten, zweitens verstehen sie unter der Gnade Gottes nicht die Zurechnung der unverdienten Gerechtigkeit, sondern den Heiligen Geist, der uns beim Trachten nach Heiligkeit seinen Beistand leiht. Sie lesen bei dem Apostel: „Wer zu Gott kommen will, der muß zuvor glauben, daß er sei und denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde“ (Hebr. 11,6). Aber sie beachten nicht, wie nun solches „Suchen“ vor sich geht. Welchen Wahnvorstellungen sie hinsichtlich des Wortes „Gnade“ huldigen, wird aus ihren Schriften ganz offenbar. So erläutert Petrus Lombardus die uns von Christus geschenkte Rechtfertigung in zwiefacher Weise. Erstens, sagt er, rechtfertigt uns der Tod Christi dadurch, daß durch ihn in unserem Herzen die Liebe erweckt wird, durch die wir gerecht gemacht werden; zweitens wird durch ihn die Sünde ausgelöscht, in deren Gefangenschaft uns der Teufel begeben hatte – so daß er also jetzt keinen Anlaß mehr hat, uns zu verdammen! (Sentenzen III,19,1). Man sieht, wie er Gottes Gnade in der Rechtfertigung vornehmlich darin erblickt, daß wir durch die Gnade des Heiligen Geistes zu guten Werken angeleitet werden. Er wollte darin natürlich der Meinung Augustins folgen; aber er folgt ihr eben aus weiter Ferne und weicht von der rechten Nachahmung (seines Vorbildes) erheblich ab: denn wenn Augustin etwas klar gesagt hat, so macht es Petrus Lombardus unklar, und was bei Augustin nicht so gar unrein ist, das verderbt er! Die Schultheologie ist dann noch stets zum Schlimmeren abgeirrt, bis sie sich schließlich in jähem Zusammenbruch in eine Art Pela-gianismus verwickelt hat. Freilich ist auch die Ansicht Augustins selber, oder wenigstens seine Ausdrucksweise, nicht in allen Stücken annehmbar. Gewiß, er nimmt in hervorragender Weise dem Menschen jeden Ruhm auf Grund irgendwelcher Gerechtigkeit und schreibt ihn ganz der Gnade Gottes zu; aber dann bezieht er trotzdem die Gnade auf die Heiligung, in der uns der Heilige Geist eine Wiedergeburt zu neuem Leben schenkt.



III,11,16

Wenn dagegen die Schrift von der Gerechtigkeit aus dem Glauben redet, so führt sie uns ganz anderswohin: nach ihrer Weisung sollen wir uns von dem Blick auf unsere eigenen Werke abwenden und allein auf Gottes Barmherzigkeit und Christi Vollkommenheit schauen. Die Ordnung der Rechtfertigung ist nämlich nach der Lehre der Schrift diese: von Anfang an läßt sich Gott aus lauter gnädiger Güte herab, den sündigen Menschen anzunehmen; er sieht dabei nichts an ihm, das ihn zur Barmherzigkeit bewegen könnte, als allein sein Elend. Er gewahrt, wie der Mensch gänzlich nackt und leer ist an guten Werken, aber dann nimmt er aus sich selbst die Ursache, ihm wohlzutun. Dann berührt er den Sünder selber mit dem Empfinden seiner Güte, damit er das Vertrauen auf seine eigenen Werke fahren läßt und sein ganzes Heil auf Gottes Barmherzigkeit gründet. Dies ist das Empfinden des Glaubens, durch den der Sünder in den Besitz seines Heils gelangt, indem er aus der Lehre des Evangeliums erkennt, daß er mit Gott versöhnt ist, da er durch das stellvertretende Eintreten der Gerechtigkeit Christi Vergebung der Sünden erlangt hat und dadurch gerechtfertigt ist, und indem er bedenkt, daß trotz seiner Wiedergeburt durch den Geist Gottes seine Gerechtigkeit immerfort nicht auf den guten Werken beruht, um die er sich müht, sondern allein auf Christi Gerechtigkeit. Wenn man diese Tatsachen alle einzeln erwogen hat, dann ergibt sich daraus eine deutliche Erläuterung unserer Auffassung. Allerdings könnten sie wohl noch besser in anderer Reihenfolge angegeben werden, als es geschehen ist. Aber es liegt wenig daran – wenn nur die einzelnen Stücke im Zusammenhang miteinander stehen, so daß wir den ganzen Tatbestand recht auseinandergelegt und zuverlässig begründet vor uns haben.



III,11,17

Hier müssen wir noch einmal an die bereits festgestellte Wechselbeziehung zwischen Glaube und Evangelium zurückdenken. Der Glaube, so heißt es, macht uns nämlich deshalb gerecht, weil er die im Evangelium uns dargebotene Gerechtigkeit empfängt und ergreift. Wenn es aber heißt, daß diese Gerechtigkeit durch das Evangelium uns dargeboten wird, so ist damit jede Beachtung der Werke ausgeschlossen. Das zeigt Paulus uns an vielen Stellen, besonders aber an zweien. Zunächst vergleicht er im Römerbrief Gesetz und Evangelium miteinander und erklärt: die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, richtet sich nach dem Wort: „Welcher Mensch dies tut, der wird dadurch leben!“ (Röm. 10,5). Die „Gerechtigkeit aus dem Glauben“ (Röm. 10,6) dagegen verkündet das Heil unter folgender Bedingung: „So man von Herzen glaubt …, und so man mit dem Munde bekennt Jesum, daß er der Herr sei, und daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat …“ (Röm. 10,10.9, miteinander verflochten). Da sieht man es doch ganz deutlich, wie der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium darin sich auswirkt, daß das Gesetz die Gerechtigkeit den Werken zuschreibt, das Evangelium sie dagegen aus Gnaden schenkt, ohne alle Mitwirkung von Werken! Eine gewichtige Stelle! Sie kann uns aus vielen Schwierigkeiten heraushelfen, wenn wir erkennen, daß die Gerechtigkeit, die uns durch das Evangelium geschenkt wird, von den Bedingungen des Gesetzes gelöst ist. Das ist auch der Grund, weshalb Paulus mehrfach unter offenkundiger Aufrichtung eines Gegensatzes Gesetz und Verheißung einander gegenüberstellt, so z.B.: „So das Erbe durch das Gesetz erworben würde, so würde es nicht durch Verheißung gegeben …“ (Gal. 3,18), dazu im gleichen Kapitel noch andere Aussagen in demselben Sinne. Allerdings hat auch das Gesetz seine Verheißungen. Es muß also in den Verheißungen des Evangeliums etwas Besonderes und (vom Gesetz) Verschiedenes liegen, wenn wir nicht zugeben wollen, jene Nebeneinanderstellung sei unangebracht. Dieses Besondere der Verheißungen des Evangeliums besteht darin, daß sie aus lauter Gnade geschehen und einzig auf Gottes Erbarmen gegründet sind, während die Verheißungen des Gesetzes von einer Bedingung abhängig sind, nämlich von den Werken! Nun soll mir aber keiner dazwischenschreien, hier werde doch nur die Gerechtigkeit zurückgewiesen, die die Menschen von sich selbst aus und kraft ihres freien Willens vor Gott zu bringen sich unterstehen! Nein, Paulus lehrt uns ohne jede Einschränkung: das Gesetz erreicht mit seinem Befehlen nichts (Röm. 8,3) – denn es ist ja keiner da, der es erfüllte, weder bei dem großen Haufen, noch auch bei den Allervollkommensten! Gewiß ist die Liebe das wichtigste Hauptstück des Gesetzes; denn der Geist Gottes gestaltet uns zu ihr hin. Aber warum ist auch sie für uns nicht Ursache unserer Gerechtigkeit? Eben darum, weil sie selbst in den Heiligen schwach ist und deshalb an sich keinerlei Lohn verdient!



III,11,18

Die zweite Stelle lautet: „Daß aber durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn ‘der Gerechte wird seines Glaubens leben!\’ Das Gesetz aber ist nicht des Glaubens, sondern der Mensch, der es tut, der wird dadurch leben!\’” (Gal. 3,11f.). Wie sollte diese Beweisführung bestehen können, wenn es nicht feststünde, daß beim Glauben die Werke nicht zur Anrechnung kommen, sondern völlig von ihm zu trennen sind? Paulus sagt uns: das Gesetz ist etwas anderes als der Glaube. Wieso aber? Eben deshalb, weil zur Gerechtigkeit nach dem Gesetz die Werke erforderlich sind! Es ergibt sich also: zur Gerechtigkeit aus dem Glauben sind die Werke nicht erforderlich! Diese Vergleichung läßt offenbar werden, daß der, welcher durch den Glauben gerechtfertigt wird, ohne Verdienst der Werke, ja abseits von allem Verdienst der Werke die Rechtfertigung erlangt – denn der Glaube empfängt ja die Gerechtigkeit, die das Evangelium uns zuteil werden läßt! Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium besteht also darin, daß dieses die Gerechtigkeit nicht an Werke bindet, sondern sie allein auf Gottes Barmherzigkeit gründet. Im gleichen Sinne behauptet Paulus im Römerbrief, Abraham habe keinen Anlaß zum Rühmen, weil ihm sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden sei (Röm. 4,2ff.). Als Begründung führt er an, daß für die Gerechtigkeit aus dem Glauben da Raum ist, wo keine Werke sind, die auf Lohn Anspruch hätten! Wo Werke sind, führt er aus, da wird ihnen der schuldige Lohn zugemessen; was aber dem Glauben geschenkt wird, das geschieht aus lauter Gnade! Denn die Worte, die er an dieser Stelle verwendet, führen in ihrem Sinn zu diesem Ergebnis. Einige Verse später erklärt er, wir empfingen das Erbe aus Glauben, damit wir es aus Gnaden erlangten, und daraus zieht er die Folgerung, dies Erbe sei uns aus Gnaden gegeben, da wir es ja im Glauben empfingen! (Röm. 4,16). Wieso ist das möglich? Einzig deshalb, weil der Glaube, ohne jede Unterstützung durch die Werke, ganz auf Gottes Erbarmen ruht! Im gleichen Sinne ist es auch zweifellos zu verstehen, wenn er an anderer Stelle lehrt, „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, sei zwar „bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“, aber sie sei doch „ohne Zutun des Gesetzes offenbart“! (Röm. 3,21). Denn indem er das Gesetz ausschließt, behauptet er, daß wir keinerlei Hilfe durch die Werke empfangen, auch die Gerechtigkeit nicht durch das Tun von Werken erlangen, sondern ganz leer kommen, um sie zu ergreifen!



III,11,19

Der Leser bemerkt nun, mit was für Fug und Recht heutzutage die Klüglinge unsere Lehre schmähen, weil wir sagen, der Mensch werde „allein“ durch den Glauben gerechtfertigt. Daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, das wagen sie nicht zu bestreiten, weil es ja so oft in der Schrift ausgesprochen wird. Da sich aber das „allein“ nirgendwo ausdrücklich findet, so wollen sie es nicht leiden, daß wir es hinzusetzen! Wirklich? Was wollen sie aber dann auf die Ausführungen des Paulus antworten, der doch behauptet, die Gerechtigkeit komme nur dann aus dem Glauben, wenn sie uns aus reiner Gnade zuteil werde? (Röm. 4,2ff.). Wie soll sich aber dies „aus reiner Gnade“ mit den Werken reimen? Mit was für Schmähungen wollen sie auch den Worten ausweichen, die er an anderer Stelle ausspricht, wenn er sagt, im Evangelium werde uns „geoffenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“? (Röm. 1,17). Wird die Gerechtigkeit im Evangelium offenbart, so ist sie darin nicht zerfetzt oder halb, sondern ganz und vollkommen beschlossen. Das Gesetz hat also in ihr keinen Raum. Es ist aber eine nicht bloß verkehrte, sondern geradezu lächerliche Ausflucht, wenn sie sich so sehr gegen das Wörtlein „allein“ versteifen. Wenn einer den Werken alles wegnimmt – mißt er es nicht damit voll und ganz dem Glauben allein zu? Lieber Leser, was sollen denn eigentlich solche Sätze bedeuten wie: „Die Gerechtigkeit ist ohne Zutun des Gesetzes offenbart“ (Röm. 3,21) oder „der Mensch wird aus Gnaden gerecht“ (Röm. 3,24; ungenau), und zwar „ohne des Gesetzes Werke“ (Röm. 3,28); Aber hier haben die Klüglinge eine ganz schlaue Ausflucht. Sie haben sie freilich nicht selber ausgedacht, sondern aus Origenes und einigen anderen von den alten Kirchenvätern entnommen. Aber sie ist trotzdem völlig unangebracht. Sie schwatzen nämlich, in derartigen Schriftworten würden nur die in Zeremonien geschehenden Gesetzeswerke ausgeschlossen, nicht aber die „sittlichen“. So erreichen sie mit ihrem fortwährenden Gezänk, daß sie nicht einmal die Grundbegriffe der Denkkunst erfassen! Der Apostel zieht doch zur Begründung seiner Lehre die Stellen heran: „Welcher Mensch das tut, der wird dadurch leben“ (Röm. 10,5; Gal. 3,12; Lev. 18,5) und: „Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alledem, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, daß er’s tue!“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Meinen denn nun jene Leute, der Apostel sei von Sinnen, wenn er diese Schriftworte heranzieht? Wenn sie nicht verrückt sind, so werden sie doch nicht behaupten, hier werde denen das Leben verheißen, die die Zeremonien beobachten, oder denen der Fluch gesprochen, die sie nicht recht halten! Wenn aber diese Stellen auf das sittliche Gesetz bezogen werden müssen, so ist es außer Zweifel, daß auch den sittlichen Werken das Vermögen zur Rechtfertigung abgesprochen wird! In der gleichen Richtung gehen auch solche Schlußfolgerungen, wie sie Paulus anstellt: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ – also wird durch das Gesetz „kein Fleisch gerecht!“ (Röm. 3,20). Oder: „Das Gesetz richtet Zorn an“ – also wirkt es nicht die Gerechtigkeit! (Röm. 4,15, im Zusammenhang mit Vers 16). (Ähnlich:) Weil das Gesetz unser Gewissen nicht sicher machen kann, darum taugt es auch nicht dazu, uns Gerechtigkeit zu verschaffen. Weil der „Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ wird (Röm. 4,5), darum ist die Gerechtigkeit keine Belohnung für unsere Werke, sondern sie wird uns unverdientermaßen geschenkt! Weil wir die Gerechtigkeit aus dem Glauben erlangen, darum ist der Ruhm „ausgeschlossen“ (Röm. 3,27). „Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das da könnte lebendigmachen, so käme die Gerechtigkeit wahrhaftig aus dem Gesetz. Aber Gott hat alles beschlossen unter die Sünde, auf daß die Verheißung … werde gegeben denen, die da glauben!“ (Gal. 3,21f.; nicht ganz Luthertext). Nun sollen jene Klüglinge, wenn sie es wagen, ruhig schwatzen, diese Worte bezögen sich auf die Zeremonien und nicht auf die Sitten – es werden doch selbst Kinder eine solche Schamlosigkeit zuschanden machen! Wir wollen also daran festhalten: wenn dem Gesetze das vermögen abgesprochen wird, uns zu rechtfertigen, dann beziehen sich solche Aussagen auf das ganze Gesetz!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,11,20

Vielleicht könnte sich aber jemand verwundern, warum denn Paulus das Gesetz in diese Erörterung hineinzieht und sich nicht einfach damit begnügt, von den Werken schlechthin zu sprechen. Da ist nun der Grund schnell festzustellen. Denn wenn die Werke so hoch geschätzt werden, so haben sie diesen Wert vielmehr aus Gottes Anerkennung, als aus ihrer eigenen Würdigkeit. Wer würde überhaupt wagen, Gott die Gerechtigkeit der Werke anzubieten, wenn Gott solche Gerechtigkeit nicht anerkennte? Wer würde für seine Werke gewissermaßen den verdienten Lohn zu verlangen sich erkühnen, wenn Gott ihn nicht verheißen hätte? Wenn also die Werke für würdig erachtet werden, als Gerechtigkeit zu gelten und demgemäß Lohn zu erlangen, so haben sie dies – aus Gottes Wohltun! Ja, sie haben überhaupt nur in einem Sinne Bedeutung, nämlich wenn der Mensch sie aus der Absicht heraus vollbringt, Gott durch sie seinen Gehorsam zu erzeigen. An einer anderen Stelle will der Apostel beweisen, daß Abraham gar nicht aus den Werken gerechtfertigt werden konnte, und er bringt dazu die Tatsache vor, daß ja das Gesetz erst ungefähr vierhundertunddreißig Jahre nach der Bundschließung (mit Abraham) gegeben worden ist (Gal. 3,17). Unkundige Leute mochten vielleicht über solch einen Beweis lachen, weil doch auch vor der Verkündigung des Gesetzes gerechte Werke möglich gewesen wären. Aber Paulus wußte, daß den Werken ausschließlich aus Gottes Zeugnis und Hochschätzung solche Bedeutung zukommen konnte, und deshalb nahm er es als zugestanden an, daß die Werke vor dem Gesetz keine rechtfertigende Kraft gehabt hätten. Jetzt sehen wir, warum er die Werke, wenn er ihnen die Rechtfertigung absprechen will, ausdrücklich des Gesetzes Werke nennt; denn einzig und allein an ihnen konnte ein Streit entstehen! Zuweilen schließt er freilich auch alle Werke ohne jeglichen Zusatz aus. So zum Beispiel, wenn er erklärt, durch Davids Zeugnis werde die Seligkeit einem solchen Menschen zugesprochen, „welchem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke“ (Röm. 4,6). Die Klüglinge können also mit keinerlei Sticheleien erreichen, daß wir von dem allgemeinen Ausschluß (jenlicher Werke) abgehen! Vergebens ist es weiter, wenn sie in leichtsinniger Spitzfindigkeit vorwenden, wir würden „allein“ durch den Glauben gerechtfertigt, „der in der Liebe tätig ist“ (Gal. 5,6). In diesem Falle stützte sich also unsere Gerechtigkeit auf die Liebe. Wir geben zwar mit Paulus zu, daß uns kein anderer Glaube rechtfertigt als der, „der in der Liebe tätig ist“ (Gal. 5,6). Aber Paulus nimmt die rechtfertigende Kraft des Glaubens nicht aus diesem Tätigsein in der Liebe! Ja, der Glaube rechtfertigt uns nur aus einem einzigen Grunde, nämlich weil er uns an der Gerechtigkeit Christi Anteil gibt. Im anderen Falle würde alles, was Paulus mit solcher Schärfe behauptet, auseinanderbrechen. Er sagt: „Dem aber, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubet aber an den, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit“ (Röm. 4,4f.). Hätte er deutlicher sprechen können als so? Gerechtigkeit des Glaubens – das zeigt er uns – gibt es also nur da, wo keine Werke sind, die auf Lohn Anspruch haben, und der Glaube wird nur da zur Gerechtigkeit gerechnet, wo uns diese Gerechtigkeit aus unverdienter Gnade zuteil wird!



III,11,21

Wir haben nun oben in unserer Begriffsbestimmung gesagt, die Gerechtigkeit aus dem Glauben sei die Versöhnung mit Gott, die einzig und allein in der Vergebung der Sünden besteht. Jetzt wollen wir genauer zusehen, wie wahr das ist. Wir müssen dabei stets auf den Grundsatz zurückgehen, daß Gottes Zorn auf allen Menschen ruht, solange sie darin beharren, Sünder zu sein. Sehr fein hat das Jesaja deutlich gemacht: „Siehe, des Herrn Hand ist nicht zu kurz geworden, daß er nicht helfen könne, und seine Ohren sind nicht hart geworden, daß er nicht höre; sondern eure Untugenden scheiden euch und euren Gott voneinander, und eure Sünden verhüllen sein Angesicht vor euch, daß er euch nicht höre!“ (Jes. 59,1f.; Schluß nicht ganz Luthertext). Da hören wir es: die Sünde ist die Scheidung zwischen Mensch und Gott, sie wendet Gottes Blick von dem Sünder ab. Es kann auch nicht anders sein; denn es ist Gottes Gerechtigkeit fremd, mit der Sünde irgendwelche Gemeinschaft zu haben. Deshalb lehrt uns auch der Apostel, daß der Mensch Gottes Feind ist, bis er durch Christus wieder zu Gnaden kommt. Wenn also der Herr einen Menschen in seine Gemeinschaft aufnimmt, dann heißt es: er rechtfertigt ihn; denn er kann ihn nicht in Gnaden annehmen, kann auch keine Verbindung mit ihm eingehen, wenn er ihn nicht aus einem Sünder zu einem Gerechten macht. Ich setze nun hinzu: Dies geschieht durch die Vergebung der Sünden. Wollte man nämlich die Menschen, die Gott mit sich versöhnt hat, nach ihren Werken beurteilen, so würde man finden, daß sie tatsächlich noch Sünder sind, und dabei müssen sie doch von der Sünde frei und rein sein! Es steht also fest: die Menschen, welche Gott annimmt, können nur dadurch gerecht werden, daß er durch die Vergebung der Sünden alle ihre Makel tilgt und sie reinigt. Solche Gerechtigkeit kann man also mit einem Wort als Vergebung der Sünden bezeichnen!



III,11,22

Diese beiden Tatsachen (Rechtfertigung als Versöhnung und Rechtfertigung als Vergebung der Sünden) ergeben sich nun sehr klar aus den bereits angeführten Worten des Apostels: „Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Kor. 5, 19). Als wesentlichen Inhalt seiner Botschaft fügt er dann zu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!“ (2. Kor. 5,21). „Gerechtigkeit“ und „Versöhnung“ verwendet er hier unterschiedslos: wir merken also, daß eines das andere wechselseitig einschließt. Zugleich zeigt er uns auch, auf welche Weise wir diese Gerechtigkeit erlangen, nämlich dadurch, daß er uns unsere Sünden nicht zurechnet. Deshalb sollst du nicht weiter zweifeln, wieso uns denn Gott rechtfertige; du hörst doch: er versöhnt uns mit sich, indem er uns unsere Sünden nicht zurechnet! So lesen wir es auch im Römerbrief (4,6-8): an dem Zeugnis des David beweist Paulus, daß dem Menschen die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke zugerechnet wird; denn David nennt den Menschen selig, „dem seine Ungerechtigkeiten vergeben sind und dem seine Sünden bedeckt sind, … welchem Gott die Sünde nicht zurechnet.“ „Seligkeit“ setzt er da zweifellos für „Gerechtigkeit“; da diese nun aber nach seiner Versicherung in der Vergebung der Sünden besteht, so ist für uns kein Grund vorhanden, sie anders zu beschreiben. Deshalb sagt auch Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, in seinem Liede, die „Erkenntnis des Heils“ bestehe „in Vergebung ihrer Sünden“ (Luk. 1,77). Dieser Regel ist auch Paulus gefolgt, wenn er die Predigt von der Hauptsumme des Heils, die er bei den Antiochenern hielt, nach dem Bericht des Lukas mit den Worten beschließt: „… daß euch verkündigt wird Vergebung der Sünden durch diesen und von dem allem, wovon ihr nicht konntet im Gesetz Mose’s gerecht werden. Wer aber an diesen glaubt, der ist gerecht“ (Apg. 13,38f.). Da verbindet der Apostel die Vergebung der Sünden in der Weise mit der Gerechtigkeit, daß er zeigt: sie sind gänzlich ein und dasselbe! Daraus folgert er dann mit vollem Recht, daß die Gerechtigkeit, die wir aus Gottes Güte empfangen, unverdient ist. Wenn wir sagen, daß die Gläubigen vor Gott nicht durch ihre Werke, sondern durch Gottes gnädige Annahme gerecht sind, so darf solche Rede nicht ungebräuchlich erscheinen; denn in der Schrift kommt sie gar oft vor, und auch die alten Kirchenväter haben mitunter so geredet. So lesen wir irgendwo bei Augustin: „Die Gerechtigkeit der Heiligen besteht in dieser Welt eher in der Vergebung der Sünden als in der Vollkommenheit der Tugenden“ (Vom Gottesstaat, XIX,27). Dem entsprechen die herrlichen Worte des Bernhard: „Nicht zu sündigen, das ist Gottes Gerechtigkeit; des Menschen Gerechtigkeit aber ist Gottes Güte“ (Predigten zum Hohen Liede,23). Zuvor hatte er noch erklärt, Christus sei für uns die Gerechtigkeit dadurch, daß er uns den Freispruch erwirke, und deshalb sei nur der gerecht, der aus Barmherzigkeit Vergebung der Sünden erlangt habe (22).



III,11,23

Daraus ergibt sich auch, daß wir allein durch das Eintreten der Gerechtigkeit Christi für uns dahin gelangen, vor Gott gerechtfertigt zu werden. Das bedeutet soviel, als wenn wir sagten: der Mensch ist nicht in sich selbst gerecht, sondern nur deshalb, weil ihm Christi Gerechtigkeit durch Zurechnung mitgeteilt wird. Das ist wert, von uns sehr genau beachtet zu werden. Denn damit zerfällt der Wahn, als ob der Glaube den Menschen deshalb rechtfertige, weil dieser durch den Glauben am Geiste Gottes teilhabe, durch den er (tatsächlich) gerecht gemacht würde; diese Ansicht steht zu der oben entwickelten Lehre in einem schlechthin unversöhnlichen Gegensatz. Denn der Mensch muß doch wohl zweifellos ohne jede eigene Gerechtigkeit dastehen, wenn er gelehrt wird, seine Gerechtigkeit außerhalb seiner selbst zu suchen! Eben dies aber behauptet der Apostel mit größter Deutlichkeit, wenn er schreibt: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zum Sühnopfer für die Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ (2. Kor. 5,21; Mittelstück nicht Luthertext). Da sieht man: unsere Gerechtigkeit liegt nicht in uns, sondern in Christus; uns kommt sie nur aus dem Rechtsgrunde zu, daß wir an Christus Anteil haben, wie wir ja mit ihm alle seine Reichtümer besitzen! Dem steht nicht entgegen, daß Paulus an anderer Stelle erklärt, die Sünde sei „der Sünde halben“ in Christi Fleisch verdammt worden, „auf daß die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde …“ (Röm. 8,3). Denn die „Erfüllung“, die Paulus hier meint, ist keine andere als die, welche wir durch Zurechnung erlangen! Denn der Herr Christus gibt uns an seiner Gerechtigkeit mit dem Recht Anteil, daß er dabei auf wundersame Weise – soweit es Gottes Urteil betrifft! – seine Kraft in uns übergehen läßt! Nichts anderes hat Paulus gemeint; das ergibt sich aus einer anderen, kurz vorher befindlichen Stelle mehr als deutlich: „Denn gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder wurden, so auch durch eines Gehorsam werden viele Gerechte!“ (Röm. 5,19). Hier gründet also Paulus unsere Gerechtigkeit auf den Gehorsam Christi – aber was heißt das anders, als daß er behauptet: allein deshalb gelten wir als gerecht, weil Christi Gehorsam uns so zugute kommt, als ob er unser eigen wäre? Es scheint mir deshalb sehr richtig zu sein, wenn Ambrosius ein Beispiel dieser Gerechtigkeit in dem Segen findet, den Jakob erlangte. Jakob hatte ja das Erstgeburtsrecht nicht aus sich selber verdient, und doch verbarg er sich in dem Gewand seines Bruders, zog seinen Rock an, der so sehr guten Geruch von sich gab, und schlich sich solchermaßen bei seinem Vater ein, um unter einer fremden Person zu seinem Nutzen den Segen zu empfangen. So verbergen auch wir uns – führt Ambrosius aus – unter der kostbaren Reinheit Christi als unseres erstgeborenen Bruders, um vor Gottes Angesicht das Zeugnis der Gerechtigkeit zu erwirken. Wörtlich sagt Ambrosius: „Daß Isaak ‘den Geruch der Kleider roch’ (Gen. 27,27), hat vielleicht die Bedeutung, daß wir nicht durch unsere Werke gerechtfertigt werden, sondern durch den Glauben; denn die Schwachheit des Fleisches ist ein Hemmnis für unsere Werke, die Klarheit des Glaubens aber setzt den Irrtum unserer Werke in den Schatten, und solcher Glaube verdient Vergebung der Sünden“ (Von Jakob und dem seligen Leben, II,2,9). Es verhält sich wirklich so; denn wenn wir vor Gottes Angesicht zu unserem Heil erscheinen sollen, so müssen wir notwendig nach seinem Wohlgeruch duften, und unter seiner Vollkommenheit müssen unsere Laster verdeckt und begraben werden!
Simon W.

Der Pilgrim
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Zwölftes Kapitel: Soll uns die Rechtfertigung aus Gnaden zur ernsten Gewißheit werden, so müssen wir unser Herz zu Gottes Richterstuhl erheben



III,12,1

Gewiß, es ist aus sonnenklaren Zeugnissen offenbar, daß dies alles wahr ist; aber wie notwendig es ist, wird uns erst dann klar, wenn wir uns das vor Augen stellen, was die Grundlage der ganzen Auseinandersetzung sein muß. Zunächst muß uns also gegenwärtig sein: hier ist nicht von der Gerechtigkeit nach dem Maßstab menschlicher Gerichte die Rede, sondern von der, die vor Gottes Richterstuhl gilt. Wir dürfen also nicht nach unserem Maß beurteilen, welche Reinheit der Werke dazu gehört, damit Gottes Urteil Genüge geleistet werde. Es ist aber seltsam, mit welchem Vorwitz, welcher Anmaßung man das durchweg bestimmt. Ja, man kann auch wahrnehmen, daß keiner vermessener und – wie man so sagt – mit volleren Backen von der Gerechtigkeit der Werke schwatzt, als solche Leute, die ungeheuerlich unter handgreiflichen Gebrechen leiden oder vor verborgenen Lastern schier bersten! Das kommt daher, daß sie Gottes Gerechtigkeit nicht bedenken; denn wenn sie von ihr auch nur die geringste Erfahrung hätten, dann würden sie nicht dermaßen mit ihr Spott treiben! Man achtet sie aber gewiß nicht einen Pfifferling wert, wenn man nicht anerkennt, daß sie von solcher Art und Vollkommenheit ist, daß ihr nur das wohlgefällt, was in jeder Hinsicht rein und vollkommen und von keinem Schmutz befleckt ist! Das aber hat man noch nie bei einem Menschen finden können und wird es auch nicht finden. Es ist allerdings leicht und jedermann geläufig, in den Lehrräumen der (päpstlichen) Schulen von dem Wert der Werke für die Rechtfertigung des Menschen zu fabeln. Aber wenn man vor Gottes Angesicht tritt, dann muß solches Vergnügen zergehen; denn da wird mit Ernst vorgegangen, da wird kein kurzweiliges Wortgezänk geübt! Hierauf, hierauf müssen wir also unseren Sinn richten, wenn wir mit Nutzen nach der wahren Gerechtigkeit forschen wollen: wir müssen fragen, wie wir dem himmlischen Richter antworten wollen, wenn er uns zur Verantwortung ruft! Wir wollen uns diesen Richter vor Augen stellen – nicht, wie sich ihn unser Verstand von sich aus erträumt, sondern wie er uns in der Schrift beschrieben wird! Vor seinem Glanz erbleichen die Sterne, vor seiner Kraft zerfließen die Berge, sein Zorn erschüttert die Erde, seine Weisheit erhascht die Klugen in ihrer Schlauheit, gegen seine Reinheit ist alles unrein, seine Gerechtigkeit können auch Engel nicht ertragen; vor ihm wird kein Schuldiger unschuldig, und wenn seine Rache entbrennt, so dringt sie bis in die Tiefen der Hölle! So findet man es besonders im Buche Hiob ausgesprochen (vgl. Hiob 9,5; 25,5; 26, 6). Ich sage: Laß ihn zu Gericht sitzen, um die Taten der Menschen zu prüfen – wer kann sich da zuversichtlich vor seinen Thron stellen? „Wer ist unter uns“, sagt der Prophet, „der bei einem verzehrenden Feuer wohnen möge? Wer ist unter uns, der bei der ewigen Glut wohne? Wer in Gerechtigkeit wandelt und redet, was recht ist …“ (Jes. 33,14f.). Aber der soll doch hervortreten, wer er auch sein mag! Aber nein, gerade diese Antwort hat zur Folge, daß keiner vortritt! Denn auf der anderen Seite ertönt das furchtbare Wort: „So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ (Ps. 130,3). Es müssen also alle sogleich vergehen, wie es auch an anderer Stelle geschrieben steht: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott, oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? Siehe, unter seinen Knechten ist ihm keiner treu, und seine Boten zeiht er der Verkehrtheit: wie viel mehr, die in Lehmhäusern wohnen und auf Erde gegründet sind und werden von den Würmern gefressen! Es währt vom Morgen bis an den Abend, so werden sie zerschlagen …“ (Hiob 4,17-20; nicht durchweg Luthertext). Oder auch: „Siehe, unter seinen Heiligen ist keiner getreu, und die Himmel sind nicht rein vor ihm. Wie viel weniger ein Mensch, der ein Greuel und schnöde ist, der Unrecht säuft wie Wasser?“ (Hiob 15,15f.; nicht ganz Luthertext). Ich gebe allerdings zu, daß im Buche Hiob von einer Gerechtigkeit die Rede ist, die erhabener ist als die Beobachtung des Gesetzes. Es ist wichtig, diese Unterscheidung festzuhalten; denn selbst wenn einer dem Gesetz Genüge täte, so hätte er dann doch keinen Bestand vor der Prüfung der Gerechtigkeit, die all unsere Sinne übersteigt! Daher kommt es, daß Hiob sich zwar keiner Schuld bewußt ist, und daß er trotzdem erschrickt und verstummt! Er sieht eben, daß Gott nicht einmal durch die Heiligkeit der Engel versöhnt werden könnte, wenn er ihre Werke auf die höchste Waagschale legte! Ich will also die damit angedeutete Gerechtigkeit fahren lassen, weil sie unbegreiflich ist. Allein dies sage ich: Wenn unser Leben nach der Richtschnur des geschriebenen Gesetzes geprüft wird, so wären wir doch stumpfer als stumpf, wenn uns nicht so viele Fluchworte mit furchtbarer Angst folterten, mit denen uns Gott aus unserer Schläfrigkeit aufwecken will! Dazu gehört vor allem das ganz allgemeine Fluchwort: „Verflucht sei, wer nicht bleibet in alledem, das geschrieben steht in diesem Buche!“ (Deut. 27,26; nicht Luthertext; tatsächlich nach Gal. 3,10 zitiert). Kurz, diese ganze Erörterung ist abgeschmackt und unklar, wenn sich nicht jeder einzelne als Angeklagter vor den himmlischen Richter stellt und sich vor ihm in der Sorge um seinen Freispruch von selbst niederwirft und demütigt!



III,12,2

Hierher, hierher müssen wir unsere Augen erheben, damit wir erzittern lernen, statt töricht zu jubilieren! Solange wir mit Menschen in Vergleich treten, ist es freilich leicht zu machen, daß jeder etwas zu besitzen meint, was andere nicht geringschätzen dürfen. Aber wenn wir uns zu Gott erheben, dann zerfällt und zergeht solche Zuversicht schneller, als man es ausdrücken kann. Und dabei macht unsere Seele Gott gegenüber die gleiche Erfahrung, wie unser Leib gegenüber dem sichtbaren Himmel. Denn solange unseres Auges Sehkraft damit beschäftigt ist, die uns zunächstliegenden Dinge zu betrachten, empfängt sie einen Beweis ihrer Schärfe. Richten wir unser Auge dagegen auf die Sonne, so wird es von ihrem gewaltigen Glanz überwältigt und geblendet – und so erfährt es beim Anblick der Sonne ebenso sehr seine Gebrechlichkeit, wie es beim Betrachten der Dinge auf dieser Erde seine Kraft gewahrte. Wir wollen uns also nicht von eitler Zuversicht täuschen lassen: selbst wenn wir den übrigen Menschen gleich oder gar überlegen zu sein glauben, so gilt das Gott gegenüber nichts, und das Urteil über diese Frage steht doch seinem Ermessen zu! Läßt sich unser Übermut aber durch Ermahnungen nicht dämpfen, so wird er uns antworten, was er einst zu den Pharisäern sagte: „Ihr seid’s, die ihr euch selbst rechtfertigt vor den Menschen. Aber … was hoch ist vor den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott!“ (Luk. 16,15). Nun magst du hergehen und dich unter den Menschen aufgeblasen deiner Gerechtigkeit rühmen – wo doch Gott sie vom Himmel herab verabscheut! Was sagt aber der Knecht Gottes, der durch seinen Geist in Wahrheit unterwiesen ist? „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 143,2). Und ein anderer sagt uns, freilich in etwas anderem Sinne: „Ja, ich weiß gar wohl, … daß ein Mensch nicht mag recht behalten gegen Gott. Hat er Lust, mit ihm zu hadern, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten!“ (Hiob 9,2f.). Hier hören wir deutlich, was es mit Gottes Gerechtigkeit auf sich hat; sie ist eben so, daß wir ihr durch keinerlei menschliche Werke Genüge tun können: wenn sie uns um tausend Übeltaten verhört, so können wir nicht für eine einzige eine Entschuldigung vorbringen! Diese Gerechtigkeit hatte ohne Zweifel auch Paulus, dieses auserwählte Werkzeug Gottes, in seinem Herzen wohl begriffen, als er sagte: „Ich bin mir nichts bewußt; aber darin bin ich nicht gerechtfertigt“ (1. Kor. 4,4).



III,12,3

Solcherlei Beispiele finden sich nicht bloß in der Heiligen Schrift, sondern alle frommen Schriftsteller zeigen, daß sie so gesinnt waren. So sagt Augustin: „Alle Frommen, die unter dieser Last des vergänglichen Fleisches und in dieser Gebrechlichkeit des Lebens seufzen, haben eine Hoffnung, nämlich daß wir als einigen Mittler Jesus Christus haben, der da gerecht ist und der selber die Versöhnung ist für unsere Sünden“ (An Bonifacius, III,5,15; vgl. 1. Tim. 2,5f.). Was hören wir da? Ist er die einzige Hoffnung der Gläubigen, wo bleibt dann das Vertrauen auf die Werke? Denn wenn Augustin von ihm als unserer „einzigen“ Hoffnung redet, so läßt er daneben keine andere stehen. Bernhard aber sagt: „Und wahrhaftig, wo sollen die Schwachen beständige, feste Ruhe und Sicherheit haben, als allein in den Wunden des Erlösers? Da wohne ich um soviel sicherer, soviel mächtiger er ist, mich zu erlösen! Die Welt tobt, das Fleisch drückt, der Teufel stelle mir nach. Aber ich werde nicht fallen; denn ich bin auf einen starken Fels gegründet! Ich habe schwere Sünde getan. Mein Gewissen ist betrübt, aber es wird nicht in der Betrübnis versinken; denn ich gedenke der Wunden des Herrn!“ (Predigten zum Hohen Liede, 61,3). Später zieht er daraus die Folgerung: „Mein Verdienst ist also das Erbarmen des Herrn. Ich bin nicht ganz ohne Verdienst, solange er nicht ohne Erbarmen ist. Ist das Erbarmen des Herrn so groß, so bin ich auch groß in meinen Verdiensten! Was soll ich von meiner Gerechtigkeit singen? Herr, ich will deiner Gerechtigkeit allein gedenken! Denn deine Gerechtigkeit ist mein! Er (Christus) ist mir ja von Gott zur Gerechtigkeit gemacht!“ (Predigten zum Hohen Liede, 61,5). Ebenso an anderer Stelle: „Das ist das ganze Verdienst des Menschen, daß er seine ganze Hoffnung auf den setzt, der den ganzen Menschen selig macht!“ (zu Psalm 91, Predigt 15,5). Ähnlich auch an einer anderen Stelle, wo er den Frieden für sich behält und Gott die Ehre läßt: „Dir bleibe die Ehre unverkürzt; um mich steht es wohl, wenn ich Frieden habe. Darum schwöre ich dem Ruhm gänzlich ab, damit ich mir nicht anmaße, was mir nicht zukommt, und darüber verliere, was mir dargeboten ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 13,4). Noch offener spricht er sich an anderer Stelle aus: „Was soll sich die Kirche um Verdienste sorgen? Ihr bietet sich doch viel stärkerer, gewisserer Grund, sich des Vorsatzes Gottes zu rühmen! Es ist also kein Grund vorhanden zu fragen, aus welchen Verdiensten wir Gutes erhoffen wollten. Vor allem nicht, wo wir doch bei dem Propheten hören: ‘Ich tue es nicht um euretwillen, sondern um meinetwillen, spricht der Herr’ (Ez. 36,22.32; Schluß ungenau). Zum Verdienst ist es genug, wenn man weiß, daß die Verdienste nicht genügen! Wie es aber zum Verdienst genug ist, sich keiner Verdienste zu vermessen, so ist es zur Verurteilung genug, der Verdienste zu ermangeln“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,1). Daß sich Bernhard dabei der Freiheit bedient, statt „gute Werke“ „Verdienste“ zu sagen, ist der Sitte der Zeit zugute zu halten. Am Schluß (des letzten Zitats) hatte er die Absicht, die Heuchler zu schrecken, die in mutwilligem Sündigen gegen Gottes Gnade dreist werden; in diesem Sinne erläutert er bald darauf seine Aussage: „Selig die Kirche, der es weder an Verdiensten mangelt, deren sie sich nicht vermißt, noch an ‘Vermessenheit’ ohne Verdienst (nämlich an der rechten Vermessenheit des verdienstlosen Glaubens). Sie hat Grund, sich zu ‘vermessen’ – aber der besteht nicht in ihren Verdiensten! Sie hat auch Verdienste, aber nicht um sich ihrer zu vermessen, sondern um sie zu verdienen! Denn bedeutet nicht gerade dies, daß wir uns nicht vermessen, tatsächlich ein Verdienen? Sie ‘vermißt’ sich also um so sicherer, wenn sie sich (im falschen Sinne) nicht vermißt! Denn sie hat ja wirklich eine gewichtige Ursache, sich zu rühmen (im Sinne der rechten ‘Vermessenheit’!), nämlich das große Erbarmen des Herrn!“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,6).
Simon W.

Der Pilgrim
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III,12,4

Es ist wirklich so. Die geplagten Gewissen erfahren es, daß dies der einzige Zufluchtsort des Heils ist, an dem sie sicher aufatmen können, wenn sie es mit Gottes Gericht zu tun haben! Denn wenn die Sterne, die bei Nacht so leuchtend erschienen, bei dem Anblick der Sonne ihren Glanz verlieren – was soll dann wohl aus der erlesensten Unschuld des Menschen werden, wenn sie mit Gottes Reinheit verglichen wird? Denn das wird eine sehr ernste Prüfung sein, die auch in die verborgensten Gedanken des Herzens hineindringt; sie wird, wie Paulus sagt, „ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und das Verborgene der Herzen offenbaren“ (1. Kor. 4,5; nicht ganz Luthertext). Sie wird unser Gewissen, das sich verborgen hält und widersetzt, zwingen, alles ans Licht zu bringen, was jetzt auch unserer Erinnerung entfallen ist. Da wird der Ankläger uns bedrängen, der Teufel, der all die Freveltaten wohl weiß, zu denen er uns angestiftet hat. Da wird uns alles äußerliche Prunken mit guten Werken, das man jetzt allein hochachtet, nichts helfen. Da wird man allein die Reinheit des Willens von uns fordern. Darum wird alle Heuchelei zuschanden werden und zu Boden fallen – nicht nur die, mit der der Mensch vor Menschen so gern groß tut, obwohl er weiß, was er vor Gott Böses getan hat, sondern auch die, mit der sich jeder vor Gott betrügt – wir sind ja so geneigt, uns selbst zu streicheln und zu schmeicheln! Diese Heuchelei wird uns vergehen – wie hoffärtig sie sich auch jetzt in mehr als trunkener Vermessenheit gebärden mag! Wer seinen Sinn nicht auf dieses Schauspiel richtet, der mag sich wohl für den Augenblick in aller Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit eine Gerechtigkeit aufbauen: vor Gottes Gericht wird sie ihm doch bald ausgetrieben werden! Es wird ihm gehen wie einem, der im Traum große Reichtümer aufgehäuft hat: beim Erwachen verwehen sie ihm! Wer aber im Ernste, gleichsam vor Gottes Angesicht, nach der wahren Richtschnur der Gerechtigkeit forscht, der wird sicherlich erfahren, daß alle Menschenwerke, wenn man sie an und für sich betrachtet, nichts als Unflat und Schmutz sind; was man gewöhnlich für Gerechtigkeit hält, das ist bei Gott lauter Ungerechtigkeit, was man für Reinheit hält, lauter Befleckung, was man als Ruhm ausgibt, lauter Schande!



III,12,5

Wir wollen es uns nun nicht verdrießen lassen, von dieser Betrachtung der göttlichen Vollkommenheit herunterzusteigen und uns ohne Heuchelei und ohne blindes Hingenommensein von der (Selbst-)Liebe selber anzuschauen. Es ist nämlich nicht zu verwundern, daß wir in diesem Stück so blind sind; denn keiner von uns nimmt sich ja vor der verderbenbringenden Nachsicht gegen sich selber in acht, die uns nach dem lauten Zeugnis der Schrift allen von Natur anhaftet. „Einen jeglichen dünkt sein Weg recht“, sagt Salomo (Spr. 21,2), oder auch: „Einen jeglichen dünken seine Wege rein“ (Spr. 16,2). Wie aber? Empfängt der Mensch nun etwa wegen dieser seiner Wahnvorstellungen den Freispruch? O nein! Salomo fügt an derselben Stelle gleich hinzu: „Aber der Herr wägt die Herzen“ (Spr. 21,2). Das bedeutet: Während sich der Mensch um der von ihm zur Schau getragenen äußeren Larve der Gerechtigkeit willen streichelt, prüft der Herr auf seiner Waage die verborgene Unreinigkeit des Herzens. Da wir also mit solchen Selbstbeschmeichelungen so gar nichts ausrichten, so wollen wir uns auch nicht aus freien Stücken selber zu unserem Verderben betrügen. Um uns aber nach Gebühr zu erforschen, müssen wir unser Gewissen vor Gottes Richtstuhl zurückrufen. Denn sein Licht ist hoch vonnöten, um alle die Schlupfwinkel unserer Bosheit aufzudecken, die sonst allzu tief verborgen bleiben! Dann werden wir erst recht durchschauen, was es eigentlich bedeutet, wenn wir hören: es ist weit davon entfernt, daß der Mensch gerechtfertigt werde, der Mensch, „der Staub ist und ein Wurm“ (Hiob 25,6), „der Mensch, der ein Greuel und schnöde ist, der Unrecht säuft wie Wasser!“ (Hiob 15,16). „Kann wohl ein Reiner kommen von den Unreinen? Auch nicht einer!“ (Hiob 14,4). Dann werden wir eben das gleiche erfahren, wie es Hiob von sich sagt: „Sage ich, daß ich gerecht bin, so verdammt sein Mund mich doch; bin ich unschuldig, so macht er mich doch zu Unrecht!“ (Hiob 9,20; nicht ganz Luthertext). Denn es gilt nicht nur für eine bestimmte Zeit, sondern für alle Zeiten, was der Prophet einst an Israel beklagte: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe; ein jeglicher sah auf seinen Weg …“ (Jes. 53,6). Denn der Prophet faßt hier alle Menschen zusammen, zu denen die Gnade der Erlösung kommen sollte. Dabei muß die Schärfe dieses Gerichtes so weit gehen, bis sie uns in eine gründliche Bestürzung hineingezwungen und uns solchermaßen zum Empfang der Gnade Christi zubereitet hat. Denn es ist Täuschung, wenn einer meint, er vermöge diese Gnade zu genießen, ohne zuvor alle Hoheit seines Herzens von sich geworfen zu haben! Es ist doch ein bekanntes Wort: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (1. Petr. 5,5).



III,12,6

Wie sollen wir uns denn selber demütigen? Doch so, daß wir ganz arm und leer Gottes Barmherzigkeit Raum geben! Denn ich nenne es nicht Demut, wenn wir meinen, uns bliebe noch etwas übrig. Bisher hat man uns verderbliche Heuchelei gelehrt, indem man zwei Forderungen miteinander verband: wir sollten vor Gott demütig über uns denken, zugleich aber doch auch unsere Gerechtigkeit noch einigermaßen wert achten. Denn wenn wir vor Gott das Gegenteil von dem bekennen, was wir wirklich meinen, so lügen wir ihn schändlich an! Wir können aber nicht die rechte Meinung von uns haben, ohne daß alles zerschmettert wird, was an uns rühmenswert erscheint. Bei dem Propheten hören wir, daß dem elenden Volk Heil bereitet ist, den Augen der Hoffärtigen aber Erniedrigung (Ps. 18,28; nicht Luthertext). Da bedenke man zunächst, daß wir zum Heil keinen Zugang haben, ohne alle Hoffart von uns zu tun und gründliche Demut anzunehmen. Dann aber beachte man auch, daß diese Demut nicht irgendeine Bescheidenheit ist, kraft deren wir dem Herrn ein Haar breit von unserem Recht überlassen. Bei den Menschen gilt ja der als demütig, der sich nicht übermütig aufbläst und andere Leute nicht verachtet, wenn er sich auch trotzdem noch einigermaßen auf das Bewußtsein seiner Vortrefflichkeit stützt. Nein, die hier geforderte Demut ist die ungeheuchelte Niedrigkeit unseres Herzens, das vor dem ernsten Empfinden seines Elendes und seiner Armut erschrocken ist; so wird sie überall in Gottes Wort beschrieben. Bei Zephanja spricht der Herr: „Ich will die übermütigen von dir tun … Ich will in dir lassen übrigbleiben ein armes, geringes Volk; die werden auf den Herrn hoffen“ (Zeph. 3,11f.; nicht ganz Luthertext). Zeigt er da nicht deutlich, wer die Demütigen sind? Es sind doch die, die unter der Erkenntnis ihrer Armut zerschlagen darniederliegen! Die Hochmütigen dagegen nennt er „übermütig“, wie ja die Menschen in der Freude an ihrem Glück stolz zu werden pflegen. Den Demütigen aber, die er selig zu machen sich vorgenommen hat, läßt er nichts übrig, als daß sie „auf den Herrn hoffen“. So steht es auch bei Jesaja: „Ich sehe aber den Elenden an und der zerbrochenen Geistes ist und der sich fürchtet vor meinem Wort“ (Jes. 66,2). Oder ähnlich: „Also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnt, des Name heilig ist; der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen!“ (Jes. 57,15). Wenn man hier so oft von „Zerschlagenheit“ sprechen hört, so muß man darunter eine Verwundung des Herzens verstehen, die den zur Erde niedergeworfenen Menschen nicht mehr aufstehen läßt. Von solcher Zerschlagenheit muß dein Herz verwundet sein, wenn du nach Gottes Worten mit den Niedrigen erhöht werden willst! Geschieht das nicht, dann wird Gottes mächtige Hand dich zu deiner Schmach und Schande demütigen!



III,12,7

Unser großer Meister aber hat sich nicht mit Worten begnügt, sondern uns auch in einem Gleichnis wie auf einem Gemälde das Bild rechter Demut vor Augen gestellt. Er läßt da einen Zöllner vor uns hintreten, der „von ferne steht“, auch nicht wagt, seine Augen gen Himmel zu erheben, und in tiefer Klage betet: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ (Luk. 18,13). Wenn dieser Mann nicht zum Himmel zu blicken und nicht näherzutreten wagt, wenn er an seine Brust schlägt und sich als Sünder bekennt, so sollen wir nicht meinen, das wären Zeichen einer erheuchelten Bescheidenheit, sondern wissen, daß das Zeugnisse innerer Ergriffenheit sind. Auf der anderen Seite stellt er diesem Zöllner den Pharisäer gegenüber, der Gott dankt, daß er „nicht ist wie die anderen Menschen“, daß er kein Räuber, kein Ungerechter, kein Ehebrecher ist, weil er doch „zweimal in der Woche fastet“ und „den Zehnten gibt von allem, was er hat“ (Luk. 18,11). Er erkennt in offenem Bekenntnis an, daß die Gerechtigkeit, die er besitzt, Gottes Gabe ist; aber weil er sich vermißt, gerecht zu sein, darum geht er von Gottes Angesicht fort, unbegnadet und verhaßt! Der Zöllner dagegen wird durch die Erkenntnis seiner Ungerechtigkeit „gerechtfertigt“! (Luk. 18,14). Da kann man sehen, wie hoch unsere Demut bei dem Herrn in Gnaden steht: unser Herz ist gar nicht geöffnet, Gottes Barmherzigkeit anzunehmen, wenn es nicht von jedem Wahn eigener Würdigkeit gänzlich leer ist. Wo dieser Wahn das Herz einnimmt, da verschließt er dem Erbarmen Gottes den Zugang. Damit keiner daran zweifelt, ist Christus vom Vater mit dem Auftrag auf die Erde gesandt worden, „den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß sie erlöst werden … zu trösten alle Traurigen, … ihnen zu schaffen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist …“ (Jes. 61,1-3). Auf Grund dieses Auftrages lädt er bloß „die Mühseligen und Beladenen“ (Matth. 11,28) zum Teilhaben an seiner Freundlichkeit ein. Und an anderer Stelle sagt er: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten!“ (Matth. 9,13).



III,12,8

Wollen wir also dem Ruf Christi Raum geben, so muß alle Anmaßung, alle Selbstsicherheit weit von uns weichen. Die Anmaßung entsteht aus der törichten Einbildung eigener Gerechtigkeit, wo also der Mensch etwas zu besitzen glaubt, durch dessen Verdienst er bei Gott angenehm sei. Die Selbstsicherheit kann auch ohne jede Überzeugung (von dem Wert) der Werke bestehen. Denn viele Sünder werden von der Süßigkeit der Laster trunken, denken nicht an Gottes Gericht, liegen da wie von Schlafsucht erstarrt, so daß sie sich über dem allen gar nicht nach der ihnen angebotenen Barmherzigkeit sehnen. Aber diese Schläfrigkeit müssen wir ebenso von uns werfen, wie wir alles Selbstvertrauen von uns tun müssen, damit wir in rechter Bereitschaft zu Christus eilen, um leer und hungrig mit seinen Gütern erfüllt werden zu können! Wir haben nämlich nie und nimmer genug Vertrauen zu ihm, wenn wir uns selber nicht gänzlich mißtrauen; nie werden wir das Herz genugsam zu ihm erheben, wenn wir nicht zuvor in uns selber niedergeworfen sind, nie werden wir in ihm genug Trost finden, wenn wir nicht in uns selber trostlos sind! Wenn wir nun alles Vertrauen auf uns selber weggeworfen haben und uns allein auf die Gewißheit um seine Güte verlassen, dann sind wir tüchtig, Gottes Gnade zu erfassen und festzuhalten: da vergessen wir – wie Augustin sagt – unserer eigenen Verdienste und ergreifen Christi Gaben (Predigt 174,2); denn wenn er bei uns Verdienste suchte, dann kämen wir nicht zu seinen Geschenken. Dem stimmt Bernhard treffend zu: er vergleicht die hochmütigen Menschen, die sich für ihre Verdienste auch nur das geringste anmaßen, mit ungetreuen Knechten, weil sie das Lob für die Gnade, die durch sie bloß hindurchgeht, in Bosheit zurückhalten – wie wenn eine Wand sich rühmen wollte, sie brächte den Strahl hervor, den sie doch durch das Fenster empfängt! (Predigten zum Hohen Liede, 13,5). Um uns aber hier nicht länger aufzuhalten, wollen wir als kurze, aber allgemeingültige und sichere Regel festhalten: der ist geschickt, an den Früchten der göttlichen Barmherzigkeit Anteil zu haben, der sich aller – ich sage nicht: Gerechtigkeit; denn die ist eben nicht vorhanden; sondern – aller eitlen, aufgeblasenen Einbildung, er besäße Gerechtigkeit, gänzlich entledigt hat. Denn jeder setzt der göttlichen Wohltätigkeit in dem Maße ein Hindernis entgegen, in dem er auf sich selbst sein Vertrauen gründet.
Simon W.

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