Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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III,18,4

Wir sollen also nicht meinen, durch solcherlei Verheißungen priese der Heilige Geist die Würdigkeit unserer Werke, als ob sie also einen solchen Lohn verdienten. Denn die Schrift läßt uns nichts übrig bleiben, wodurch wir vor Gottes Angesicht erhöht werden könnten. Im Gegenteil: sie legt alles darauf an, unsere Anmaßung zu dämpfen, uns zu demütigen, niederzuwerfen und gar zu Boden zu schlagen! Nein, mit solchen Verheißungen hilft sie unserer Schwachheit auf: die würde ja sonst gar bald zusammenbrechen und zerfallen, wenn sie sich nicht mit dieser Hoffnung aufrechterhielte und sich in ihrem Kummer mit diesem Trost Linderung verschaffte! Es mag doch zunächst jeder einzelne bei sich bedenken, wie hart es ist, nicht nur alles, was man hat, sondern auch sich selber im Stiche zu lassen und zu verleugnen. Und doch ist das der Anfangsunterricht, in dem Christus seine Jünger, das heißt alle Frommen, gleich zu Beginn unterweist. Dann aber erzieht er sie auch weiterhin ihr Leben lang unter der Zucht des Kreuzes, daß sie ihr Herz nicht an die Begierde nach zeitlichen Gütern oder das Vertrauen auf diese hängen. Kurz, er behandelt sie schier so, daß sie sich allenthalben allein der Verzweiflung gegenübergestellt sehen, wohin sie auch ihre Augen wenden und so weit auch die Welt sich breitet! So sagt Paulus: „Hoffen wir allein in diesem Leben …, so sind wir die elendesten unter allen Menschen!“ (1. Kor. 15,19). Damit die Gläubigen nun in solcher Bedrängnis nicht ermatten, steht ihnen der Herr zur Seite und ermuntert sie, ihr Haupt höher zu heben und ihre Augen weiter dringen zu lassen: sie sollen die Seligkeit, die sie in der Welt nicht schauen können, bei ihm finden! Diese Seligkeit nennt er Kampfpreis, Lohn oder Vergeltung; aber dabei würdigt er nicht das Verdienst der Werke, sondern er zeigt, daß es sich um einen Ausgleich für ihre Bedrängnisse, ihre Leiden, ihre Schmach und dergleichen handelt! Deshalb spricht nichts dagegen, wenn auch wir nach dem Beispiel der Schrift das ewige Leben als Belohnung bezeichnen; denn in ihm nimmt der Herr die Seinen aus ihrer Mühsal in die Ruhe, aus ihrer Anfechtung in einen glücklichen und ersehnten Stand, aus ihrer Trauer in die Freude, aus ihrer Armut in überströmenden Reichtum, aus ihrer Schmach in die Herrlichkeit auf! Kurz, er vertauscht ihnen alles Üble, das sie erduldet haben, in um so größeres Gut! Deshalb ist auch nichts Ungereimtes darin, wenn wir der Meinung sind, die Heiligkeit des Lebens sei ein Weg dazu – nicht etwa einer, der uns den Zugang zu der Herrlichkeit des Himmelreichs öffnete, sondern ein solcher, auf dem Gott seine Auserwählten zur Offenbarung dieser Herrlichkeit führt! Denn es ist doch sein guter Wille, die, welche er heilig gemacht hat, auch herrlich zu machen! (Röm. 8,30, ungenau). Nur sollen wir uns nicht einbilden, Lohn und Verdienst seien aufeinander abgestimmt: das ist der törichte Irrtum, in den sich die Klüglinge verfangen haben, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf dieses Ziel richten, das wir auseinandergesetzt haben. Der Herr ruft uns zu einem Ziel hin – und wie töricht ist es dann, anderswohin zu blicken! Es ist doch vollkommen deutlich, daß er unseren guten Werken Lohn verheißt, um der Schwachheit unseres Fleisches mit einigem Trost aufzuhelfen, nicht aber, um unser Herz mit Ruhmredigkeit aufzublähen! Wer also hieraus ein Verdienst der Werke ableitet und Werk und Lohn auf einer Waage gegeneinander abwägt, der irrt von Gottes wahrer Absicht ganz weit ab!



III,18,5

Wenn also die Schrift sagt, Gott werde einst als „der gerechte Richter“ den Seinen „die Krone der Gerechtigkeit geben“ (2. Tim. 4,8), so antworte ich zwar zunächst mit Augustin: „Wem sollte der ‘gerechte Richter’ eine Krone geben, dem nicht zuvor bereits der barmherzige Vater Gnade geschenkt hätte? Wie sollte hier ‘Gerechtigkeit’ geschehen, wenn nicht die Gnade vorausgegangen wäre, die den Gottlosen rechtfertigt? Wie sollte hier ein Verdienst gelohnt werden, wenn nicht zuvor alles andere ohne Verdienst gegeben worden wäre?“ (Von der Gnade und dem freien Willen, 6,14). Ich gehe aber über Augustin noch hinaus und frage: Wie sollte Gott unseren Werken Gerechtigkeit zurechnen, wenn er nicht das, was an ihnen Ungerechtigkeit ist, in seiner Nachsicht zudeckte? Wie sollte er sie eines Lohnes für würdig halten, wenn er nicht das, was an ihnen der Strafe würdig ist, in unendlicher Güte beiseite schöbe? Augustin pflegt nämlich das ewige Leben „Gnade“ zu nennen, weil es ja, wenn unsere Werke damit gelohnt werden, tatsächlich Gottes gnädigen Geschenken vergolten wird. Die Schrift aber demütigt uns tiefer – und richtet uns zugleich kräftiger auf! Sie verbietet uns allerdings, uns unserer Werke zu rühmen, weil sie ja Gottes unverdiente Gaben sind. Aber sie lehrt uns außerdem zugleich, daß die Werke immer noch mit allerlei Makeln besudelt sind, so daß sie Gott nicht Genugtuung leisten können, wenn sie nach der Richtschnur seines Urteils geprüft werden. Demgegenüber erklärt sie, damit uns nicht alle Freudigkeit entfalle, daß jene Werke durch Gottes reine Vergebung sein Wohlgefallen finden. Obgleich aber Augustin ein wenig anders redet als wir, so besteht in der Sache selbst doch kein so großer Gegensatz; das ergibt sich aus seinen Worten im dritten Buche seiner Schrift an Bonifacius. Er vergleicht da zunächst zweierlei Menschen miteinander, einen, dessen Leben geradezu ein Wunder von Heiligkeit und Vollkommenheit ist, und einen anderen, der zwar auch rechtschaffen und von lauteren Sitten ist, aber doch noch nicht so vollkommen, daß man an ihm nicht doch manches besser wünschen möchte. Dann zieht er den Schluß: „Dieser (letztere) scheint nun nach seinem Verhalten niedriger zu stehen als der andere, aber er steht doch im wahren Glauben: aus ihm lebt er, aus ihm heraus klagt er sich in allen seinen Missetaten selber an, gibt bei allen guten Werken Gott den Lobpreis, schreibt sich die Schande zu, ihm aber den Ruhm, aus diesem Glauben empfängt er von ihm Verzeihung für seine Sünden und Liebe für das, was er recht gemacht hat – und um dieses Glaubens willen wandert er auch, wenn er einst von diesem Leben befreit sein wird, in die Gemeinschaft mit Christus! Warum? Allein um des Glaubens willen! Dieser macht gewiß niemanden ohne Werke selig – denn er ist ja rechter Glaube, der durch die Liebe tätig ist: (Gal. 5,6) -; aber um seinetwillen werden auch die Sünden vergeben; denn „der Gerechte wird seines Glaubens leben“ (Hab. 2,4). Ohne ihn aber wird selbst das, was als gutes Werk erscheint, in Sünde verkehrt.“ (An Bonifacius III,5). Hier gibt er doch offenkundig zu, was wir mit solchem Nachdruck behaupten, nämlich daß die Gerechtigkeit unserer guten Werke davon abhängt, daß Gott sie verzeihend gelten läßt.



III,18,6

Dem Sinne nach stehen den oben erwähnten Stellen die folgenden sehr nahe. Zunächst: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten!“ (Luk. 16,9). Und dann: „Den Reichen von dieser Welt gebiete, daß sie nicht stolz seien, auch nicht hoffen auf den ungewissen Reichtum, sondern auf den lebendigen Gott …, daß sie Gutes tun, reich werden an guten Werken …, Schätze sammeln, sich selbst einen guten Grund aufs Zukünftige, daß sie ergreifen das ewige Leben“ (1. Tim. 6,17ff.; nicht ganz Luthertext). Da werden nun (so meint man) die guten Werke mit Reichtümern verglichen, die wir in der Seligkeit des ewigen Lebens genießen sollen. Ich antworte demgegenüber, daß wir zum rechten Verständnis dieser Stellen niemals kommen werden, wenn wir unser Augenmerk nicht auf den Gesichtspunkt richten, dem der Heilige Geist seine Worte dienstbar macht. Es ist doch wahr, wenn Christus sagt: „Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein!“ (Matth. 6,21). Wie nämlich die Kinder der Welt darauf aus zu sein pflegen, das zu erlangen, was im gegenwärtigen Leben zum Vergnügen dient, so sollen also die Gläubigen, nachdem sie doch gelernt haben, daß dies Leben gar bald wie ein Traum verweht, darauf sehen, daß sie das, was sie wahrhaft genießen wollen, dahin schaffen, wo sie ein vollkommenes Leben haben sollen! Wir müssen es machen wie die, welche beabsichtigen, an irgendeinen Ort zu verziehen, den sie sich zum dauernden Wohnsitz erkoren haben: sie schicken ihr vermögen voraus und entbehren es gern eine zeitlang; denn sie fühlen sich je glücklicher, desto mehr Güter sie da haben, wo sie lange bleiben werden! Wenn wir glauben, daß der Himmel unsere Heimat ist, dann sollen wir auch unsere Reichtümer dahin schaffen, statt sie hier zurückzuhalten, wo sie uns bei plötzlichem Aufbruch verlorengehen könnten! Wie sollen wir das aber machen? So, daß wir diese Güter den Armen in ihrer Not zuteil werden lassen; denn was wir ihnen gewähren, das betrachtet der Herr als ihm gegeben! (Matth. 25,40). Daher die herrliche Verheißung: „Wer sich des Armen erbarmt, der leihet dem Herrn“ (Spr. 19,17). Oder entsprechend: „Wer da säet im Segen, der wird auch ernten im Segen!“ (2. Kor. 9,6). Was wir den Brüdern aus der Verpflichtung der Liebe heraus darreichen, das vertrauen wir dem Herrn zu treuen Händen an! Er aber ist ein getreuer Bewahrer, und er wird uns das Unsrige einst mit großem Gewinn zurückerstatten! Sind denn unsere Leistungen bei Gott so hoch geachtet, daß sie in seinen Händen gleich Reichtümern sind, die er uns bewahrt? Ja, wer sollte sich fürchten, so zu reden, wo es doch die Schrift so oft und so deutlich bezeugt! Allein, wenn jemand von Gottes reiner Güte in einem Sprung gleich auf die Würdigkeit unserer Werke kommen will, so werden ihm diese Schriftzeugnisse nichts helfen, um seinen Irrtum zu bekräftigen. Denn aus ihnen kann man nichts anderes entnehmen als die reine Zuneigung der Gnade Gottes gegen uns: um uns zum Wohltun zu ermuntern, läßt er keine unserer Gehorsamsleistungen verlorengehen, obwohl alles, was wir ihm hierin erzeigen, nicht eines einzigen Blicks seiner Augen würdig ist!



III,18,7

Größeres Gewicht legen unsere Widersacher auf eine Aussage des Paulus: er tröstet die Thessalonicher in ihren Trübsalen und erklärt dann, diese seien ihnen dazu geschickt, damit sie würdig geachtet würden zum Reiche Gottes, für das sie litten (2. Thess. 1,5). Er fährt wörtlich fort: „Wie es denn recht ist bei Gott, zu vergelten Trübsal denen, die euch Trübsal antun, euch aber, die ihr Trübsal leidet, Ruhe mit uns, wenn nun der Herr Jesus wird offenbart werden vom Himmel …“ (2. Thess. 1,6f.). Und der Verfasser des Hebräerbriefs erklärt: „Denn Gott ist nicht ungerecht, daß er vergesse eures Werks und der … Liebe, die ihr erzeigt habt an seinem Namen, da ihr den Heiligen dientet …“ (Hebr. 6,10). Angesichts der ersten Stelle entgegne ich: hier wird keinerlei Würdigkeit eines Verdienstes angedeutet. Paulus will hier nur sagen: Gott, unser Vater, hat ja den Willen, daß wir, die er sich zu Kindern erwählt hat, Christus, seinem eingeborenen Sohne gleichgestaltet werden (Röm. 8,29): wie er also zunächst leiden mußte, um dann erst in die Herrlichkeit einzugehen, die für ihn bestimmt war (Luk. 24,26), so müssen auch wir „durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen“! (Apg. 14,22). Wenn wir also um des Namens Christi willen Trübsal leiden, so werden uns damit gleichsam die Kennzeichen aufgedrückt, mit denen Gott die Schafe seiner Herde zu bezeichnen pflegt. Wir werden also des Reiches Gottes aus dem Grunde für würdig geachtet, daß wir die „Malzeichen“ unseres Herrn und Meisters an unserem Leibe tragen (Gal. 6,17), die die Kennzeichen der Kinder Gottes sind. Hierher gehören auch zwei weitere Aussagen: „Wir tragen … das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn Jesu offenbar werde an uns“ (2. Kor. 4,10; Schluß verkürzt), und: „Wir werden den Leiden Jesu gleichgestaltet, um zur Gleichartigkeit mit der Auferstehung der Toten zu gelangen“ (Phil. 3,10f.; zusammenfassend).Die Ursache, die Paulus (an der obigen Stelle, 2. Thess. 1,6f.) noch angibt, dient nicht dazu, irgendeine Würdigkeit anzuerkennen, sondern die Hoffnung auf Gottes Reich zu bekräftigen; er will also etwa sagen: Wie es Gottes gerechtem Gericht wohl ansteht, an euren Feinden Rache zu nehmen für die Qualen, die sie euch bereitet haben – so ziemt es ihm auch, euch Erleichterung und Ruhe von euren Bedrängnissen zu gewähren. Die zweite Stelle (nämlich Hebr. 6,10) spricht aus, daß es der Gerechtigkeit Gottes geziemt, die Gehorsamsleistungen der Seinen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ja sie gibt sogar zu verstehen: Gott wäre geradezu ungerecht, wenn er sie vergessen wollte. Das ist so aufzufassen: Gott hat uns, um uns aus unserer Trägheit aufzuwecken, die Zuversicht gegeben, daß die Arbeit, die wir zur Ehre seines Namens ausgeführt haben, nicht wirkungslos sein soll. Wir müssen dabei stets im Gedächtnis halten, daß diese Verheißung wie auch alle anderen uns gar keine Frucht bringen würde, wenn nicht der aus reiner Gnade geschlossene Bund seiner Barmherzigkeit voraufginge, auf dem alle Gewißheit unseres Heils ruhen soll. Darauf vertrauend, sollen wir dann die sichere Zuversicht haben, daß es auch unseren Gehorsamsleistungen, so unwürdig sie sein mögen, von Gottes Freigebigkeit her nicht an einer Belohnung fehlen wird. In dieser Erwartung will uns der Apostel stärken, und deshalb versichert er, Gott sei nicht ungerecht, sondern werde uns die Zusage halten, die er uns einmal gegeben hat. „Gerechtigkeit“ bezieht sich also hier mehr auf die Unverbrüchlichkeit der göttlichen Verheißung, als etwa auf die Billigkeit, mit der er uns etwas vergelten würde, was wir verdient hätten. In diesem Sinne gibt es ein ausgezeichnetes Wort Augustins, das dieser heilige Mann ohne Scheu immer wieder als eine denkwürdige Äußerung in Erinnerung bringt und das deshalb nach meiner Ansicht auch nicht unwert ist, von uns stets bedacht zu werden: „Der Herr ist treu; er hat sich zu unserem Schuldner gemacht, und zwar nicht, indem er von uns etwas empfing, sondern indem er uns alles verhieß!“ (Zu Psalm 32, II,1; zu Psalm 109,1 und öfters sonst).
Simon W.

Der Pilgrim
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III,18,8

Man führt auch noch weitere Äußerungen des Paulus an. So etwa: „Und hätte ich allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1. Kor. 13,2). Oder: „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen!“ (1. Kor. 13,13). Und dann noch: „Über alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit!“ (Kol. 3,14). Auf Grund der beiden ersten Stellen behaupten unsere Pharisäer, wir würden eher durch die Liebe gerechtfertigt, als durch den Glauben; denn die Liebe sei doch – wie sie sagen – die erhabenere Tugend! Aber diese Spitzfindigkeit läßt sich ohne Mühe widerlegen. Ich habe bereits anderwärts auseinandergesetzt, daß sich das, was in der erstgenannten Stelle (1. Kor. 13,2) steht, nicht auf den wahren Glauben bezieht. Die andere Stelle (1. Kor. 13,13) verstehen auch wir so, daß sie vom wahren Glauben redet und erklärt, die Liebe sei größer als er; das heißt aber nicht, die Liebe sei verdienstlicher, sondern es kommt daher, daß die Liebe mehr Frucht bringt, daß sie weiter reicht, daß sie mehr Menschen dient, daß sie allezeit in Kraft bleibt, während die Übung des Glaubens nur eine Zeitlang währt. Richten wir den Blick auf die Hoheit (der Liebe), so hat Gottes Liebe verdientermaßen den Vorrang; von ihr redet aber Paulus hier nicht. Er dringt ja nur darauf, daß wir uns in gegenseitiger Liebe in dem Herrn auferbauen. Aber nehmen wir an, die Liebe habe in jeder Hinsicht den Vorrang vor dem Glauben – wie soll denn daraus ein Mensch mit gesundem Urteil, ja, überhaupt mit gesundem Hirn folgern: Also rechtfertige sie auch mehr? Die Kraft, zu rechtfertigen, die dem Glauben eigen ist, beruht ja nicht auf der Würdigkeit des Werkes (das der Glaube darstellte). Unsere Rechtfertigung beruht allein auf Gottes Erbarmen und Christi Verdienst, und wenn der Glaube die ergreift, dann heißt es: er rechtfertigt uns. Wenn man nun unsere Widersacher fragt, in welchem Sinne sie denn der Liebe die Rechtfertigung zuschrieben, so geben sie zur Antwort: Weil sie eine Leistung ist, die Gott wohlgefällig ist, so wird uns durch ihr Verdienst die Gerechtigkeit zugerechnet, und zwar auf Grund der Annahme durch Gottes Güte. Hier sieht man, wie herrlich ihr Beweis vonstatten geht. Wir erklären den Glauben für rechtfertigend, nicht weil er uns durch seine eigene Würdigkeit die Gerechtigkeit verdiente, sondern weil er das Werkzeug ist, durch das wir Christi Gerechtigkeit aus Gnaden erlangen! Unsere Widersacher dagegen lassen Gottes Barmherzigkeit aus dem Spiel, gehen an Christus vorüber, in dem doch die höchste Fülle der Gerechtigkeit liegt, – und behaupten, wir würden durch die Guttat der Liebe gerechtfertigt, weil diese eine höhere Stellung habe als der Glaube! Genau, als wenn jemand darum stritte, daß doch ein König zum Schuhmachen befähigter sei als ein Schuster, weil er doch eine weit höhere Stellung besitze! Diese eine Schlußfolgerung beweist schon vollgültig, daß alle Schulen an der Sorbonne noch nicht einmal ein ganz klein wenig mit den Lippen gekostet haben, was eigentlich Rechtfertigung aus dem Glauben ist! Wenn nun aber irgendein Wortfechter die Frage erhebt, weshalb wir denn bei Paulus an zwei so dicht beieinanderstehenden Stellen einen so weitgehend verschiedenartigen Gebrauch des Begriffs „Glaube“ annehmen, so habe ich für diese Auslegung gewichtige Gründe anzuführen. Die Gaben, die Paulus (1. Kor. 13,1f.) aufzählt, schließen sich gewissermaßen an Glauben und Hoffnung an, weil sie sich ja auf die Erkenntnis Gottes beziehen; darum faßt Paulus diese alle in abschließender überschau unter „Glaube“ und „Hoffnung“ zusammen. Er will also etwa sagen. Weissagen und Zungenreden und die Gabe der Auslegung und die Weisheit – das alles dient dem Ziel, uns zur Erkenntnis Gottes hinzuleiten; Gott erkennen wir aber in diesem Leben nur durch Hoffnung und Glauben; nenne ich also Glauben und Hoffnung mit Namen, so fasse ich dies alles zugleich zusammen. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ – das heißt: die Mannigfaltigkeit der Gaben mag noch so groß sein, so werden sie doch alle auf diese drei zurückgeführt! „Die Liebe aber ist die größte unter ihnen!“ Aus der dritten Stelle (Kol. 3,14) ziehen unsere Widersacher den Schluß: Wenn die Liebe „das Band der Vollkommenheit“ ist, dann ist sie auch das Band der Gerechtigkeit, die doch nichts anderes ist als Vollkommenheit. Wir wollen nun zunächst übergehen, daß Paulus hier unter „Vollkommenheit“ dies versteht, daß alle Glieder einer wohlgeordneten Kirche in rechter Zusammengehörigkeit leben. Wir wollen also zugeben, wir würden durch die Liebe vor Gott vollkommen gemacht – aber was wollen unsere Gegner nun daraus Neues entnehmen? Ich werde doch immer dagegen einwenden, daß wir zu solcher Vollkommenheit niemals durchdringen, wenn wir nicht alles erfüllt haben, was die Liebe fordert – und daraus werde ich dann die Folgerung ziehen: da alle Menschen von der Erfüllung der Liebe sehr, sehr weit entfernt sind, so ist ihnen also auch jede Hoffnung auf Vollkommenheit abgeschnitten!



III,18,9

Ich will nicht den einzelnen Zeugnissen nachgehen, die heutzutage die törichten Theologen von der Sorbonne wahllos – gerade, wie ihnen eines in den Weg kommt! – aus der Schrift herausreißen und gegen uns losschleudern. Einige darunter sind dermaßen lächerlich, daß ich sie selbst noch nicht einmal in Erinnerung bringen kann, wenn ich nicht verdientermaßen für albern gelten will. Ich will also damit schließen, daß ich noch ein Wort Christi erläutere, an dem jene Leute sich ganz besonders erfreuen. Christus gibt da nämlich einem Gesetzeskundigen, der ihn fragt, was denn zum Heil notwendig sei, zur Antwort: „Willst du .. zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ (Matth. 19,17). Was wollen wir denn noch mehr – so fragen sie -, wenn uns der Geber der Gnade selber den Befehl gibt, durch das Halten der Gebote das Reich Gottes zu gewinnen? – Als ob sich Christus nicht unbestreitbar mit seinen Antworten denen angepaßt hätte, mit denen er es je zu tun hatte! Er wird doch hier von einem Lehrer des Gesetzes befragt, auf welche Weise man die Seligkeit erlangen könne; ja, noch nicht einmal bloß dies, sondern: was der Mensch tun müsse, um zu ihr zu gelangen! So brachte es die Person des Fragestellers wie auch die Art der Frage selber mit sich, daß der Herr eine solche Antwort gab! Dieser Mann steckte tief in der Meinung, es gebe eine Gerechtigkeit aus dem Gesetz, und er war deshalb blind im Vertrauen auf die Werke. Ferner fragte er auch ausschließlich danach, was denn die Werke der Gerechtigkeit wären, mit denen man sich das Heil erwerben könne. Es ist also durchaus richtig, wenn er auch auf das Gesetz zurückverwiesen wird, in dem sich ja ein vollkommener Spiegel der Gerechtigkeit findet! Auch wir predigen mit lauter Stimme: wenn man das Leben in den Werken sucht, so muß man die Gebote halten! Diese Lehre muß auch den Christen wohlbekannt sein. Wie sollen sie denn zu Christus ihre Zuflucht nehmen, wenn sie nicht zuvor erkannt haben, daß sie von dem Weg des Lebens in den Abgrund des Todes verfallen sind? Wie sollen sie aber merken, wie weit sie von dem Wege des Lebens abgeirrt sind, wenn sie nicht vorher wissen, was das für ein Weg ist? Sie werden also enst dann darauf aufmerksam gemacht, daß Christus der einzige Zufluchtsort ist, bei dem wir das Heil wiedererlangen können, wenn sie erkennen, wie groß der Gegensatz zwischen ihrem Leben und Gottes Gerechtigkeit ist, die im Halten des Gesetzes verfaßt ist. Zusammenfassend wollen wir also sagen: wenn man das Heil in den Werken sucht, dann muß man die Gebote halten, die uns zur vollkommenen Gerechtigkeit den Weg weisen. Aber wenn wir nicht mitten auf dem Wege ermatten wollen, so dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Denn es ist ja keiner von uns tüchtig, die Gebote zu halten! Wir sind also von der Gerechtigkeit des Gesetzes ausgeschlossen und müssen uns zu einer anderen Hilfe wenden, nämlich zum Glauben an Christus. An unserer Stelle ruft der Herr den Gesetzeslehrer, von dem er weiß, daß er vor eitlem Vertrauen auf seine Werke strotzt, zum Gesetz zurück, damit er daraus lernt, daß er ein Sünder und des furchtbaren Gerichts des ewigen Todes schuldig ist! Ebenso aber läßt er bei anderen, die durch eine solche Selbsterkenntnis bereits gedemütigt sind, alle Erwähnung des Gesetzes beiseite und tröstet sie mit der Verheißung der Gnade: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken … , so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen!“ (Matth. 11,28f.).



III,18,10

Wenn sich dann schließlich unsere Gegner an der Verdrehung der Schrift müde gearbeitet haben, dann verfallen sie auf Spitzfindigkeiten und Sophistereien. So nehmen sie die Tatsache, daß der Glaube an einer Stelle als „Werk“ bezeichnet wird (Joh. 6,29), zum Anlaß für eine Ausflucht; sie schließen daraus, es sei doch verkehrt, wenn wir Glauben und Werke gegeneinanderstellten! – Als ob uns der Glaube, sofern er ja Gehorsam gegen Gottes Willen ist, durch sein eigenes Verdienst die Gerechtigkeit eintrüge! Als ob er nicht vielmehr dadurch, daß er Gottes Barmherzigkeit ergreift, die Gerechtigkeit Christi, die uns von Gottes Erbarmen in der Predigt des Evangeliums dargeboten wird, in unserem Herzen versiegelte! Wenn ich mich mit der Widerlegung solcher Albernheiten nicht aufhalte, so werden das die Leser entschuldigen; dieses Gerede wird ja selbst, ohne einen Angriff von anderer Seite, durch seine eigene Haltlosigkeit hinlänglich zerbrochen! Indessen mag es verstattet sein, hier noch einen Einwurf, der immerhin dem Anschein nach vernünftig sein könnte, im Vorbeigehen zu untersuchen, damit er nicht einigen weniger Geübten Schwierigkeiten bereitet. Man erklärt: Der gesunde Menschenverstand lehrt uns doch, daß entgegengesetzte Dinge unter der gleichen Regel stehen; wenn uns also unsere einzelnen Sünden zur Ungerechtigkeit gerechnet werden, so muß doch sinngemäß auch unseren einzelnen guten Werken das Lob der Gerechtigkeit zugesprochen werden! Darauf entgegnen nun manche, die Verdammnis der Menschen komme eigentlich einzig und allein vom Unglauben, nicht aber von den einzelnen Sünden. Diese Antwort genügt mir aber nicht. Ich stimme mit ihren Urhebern zwar darin überein, daß der Quell und die Wurzel alles Bösen der Unglaube ist. Er ist eben der erste Abfall von Gott, dem dann die einzelnen Übertretungen des Gesetzes nachfolgen. Aber diese Leute scheinen bei der Beurteilung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unsere guten und bösen Werke nach dem gleichen Maß zu beurteilen (d.h. gegeneinander abzuwägen), und darin kann ich nicht mit ihnen übereinstimmen. Die Gerechtigkeit aus den Werken ist nämlich der vollkommene Gehorsam gegen das Gesetz. Man kann also durch seine Werke nur dann gerecht sein, wenn man diesem Gehorsam wie einer geraden Linie den ganzen Lauf seines Lebens hindurch nachgeht. Sobald man auch nur einmal davon abweicht, ist man in Ungerechtigkeit verfallen. Daraus wird deutlich: die Gerechtigkeit besteht nicht in einem oder in wenigen Werken, sondern im unbeugsamen und unablässigen Gehorsam gegen Gottes Willen! Für die Beurteilung der Ungerechtigkeit gilt dagegen eine völlig andere Regel. Wer nämlich Ehebruch getrieben oder gestohlen hat, der ist mit dieser einen Missetat des Todes schuldig, weil er sich nämlich an Gottes Majestät vergriffen hat! Jene unsere Klüglinge stoßen hier an, weil sie ihr Gemerk nicht auf das Wort des Jakobus richten: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig. Denn der das Töten verboten hat, der hat auch das Stehlen verboten …“ (Jak. 2,10f.; Vers 11 sehr ungenau). Es darf also nicht widersinnig erscheinen, wenn wir erklären: Der Tod ist der gerechte Sold für jede einzelne Sünde; denn jede einzelne Sünde ist der gerechten Entrüstung und Rache Gottes würdig. Es wäre dagegen eine törichte Schlußfolgerung, wenn man daraus entnehmen wollte, der Mensch könne durch ein einziges gutes Werk mit Gott versöhnt werden; denn er verdient doch mit vielen Sünden seinen Zorn!
Simon W.

Der Pilgrim
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Neunzehntes Kapitel: Von der christlichen Freiheit


III,19,1

Wir haben jetzt von der christlichen Freiheit zu sprechen. Wer sich vorgenommen hat, den Hauptinhalt der Lehre des Evangeliums in abgekürzter Darstellung zusammenzufassen, der darf die Entfaltung dieses Lehrstücks unter keinen Umständen übergehen. Es ist nämlich eine äußerst notwendige Sache, und ohne seine Erkenntnis wagen die Gewissen schier nichts ohne Zweifel anzupacken, zweifeln und zögern sie in vielen Dingen und sind stets in Wanken und Zagen. Vor allem aber haben wir es hier mit einem Anhang zur (Lehre von der) Rechtfertigung zu tun, der nicht wenig dazu dient, deren Kraft zu erkennen. Ja, wer Gott ernstlich fürchtet, der wird daraus eine unvergleichliche Frucht jener Lehre empfangen, die gottlose und spöttische Menschen in ihren Redensarten witzig zwischennehmen, weil ihnen in der geistlichen Trunkenheit, die sie erfaßt hat, jeder Mutwille verstattet ist! Deshalb ist es hier der rechte Ort, die Lehre von der christlichen Freiheit in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben sie ja auch schon oben gelegentlich leicht berührt; aber es war zweckmäßig, ihre ausführlichere Darstellung bis an diese Stelle zu verschieben. Sobald nämlich die christliche Freiheit irgendwie erwähnt wird, da erhitzen sich entweder die Begierden oder aber es erhebt sich ein wahnwitziger Aufruhr – wenn man nicht zur rechten Zeit solchen leichtfertigen Geistern entgegentritt, die sonst auch das Beste übel verderben! Zum Teil machen sie unter dem Deckmantel dieser Freiheit allen und jeden Gehorsam gegen Gott zunichte und stürzen sich in zügellose Ausgelassenheit, zum Teil aber entrüsten sie sich auch und meinen, es werde nun jedes Maßhalten, alle Ordnung und aller Unterschied unter den Dingen aufgehoben. Was sollen wir da tun, wo uns solche Bedrängnisse umringen? Sollen wir die christliche Freiheit fahren lassen, um dergleichen Gefahren jeden Anlaß zu nehmen? Nein, wir haben ja bereits gesagt: wenn wir an ihr nicht festhalten, dann ist es um alle rechte Erkenntnis Christi oder der Wahrheit des Evangeliums oder auch des inneren Friedens der Seele geschehen! Wir müssen uns also vielmehr Mühe geben, einen so wichtigen Teil der Lehre nicht zu verschweigen und doch zugleich jenen widersinnigen Einwürfen entgegenzutreten, die gewöhnlich daraus erwachsen!



III,19,2

Die christliche Freiheit besteht, wenigstens nach meiner Ansicht, in drei Stücken. Erstens: Wenn sich die Frage erhebt, woher das Gewissen der Gläubigen die Zuversicht auf seine Rechtfertigung vor Gott gewinnt, so richtet es sich über das Gesetz hinaus in die Höhe und vergißt die ganze Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Das Gesetz läßt ja, wie wir bereits anderwärts erwiesen haben, keinen Menschen gerecht sein, und deshalb sind wir entweder von jeder Hoffnung auf Rechtfertigung ausgeschlossen, oder wir müssen von ihm gelöst werden, und zwar so, daß dabei keinerlei Rücksicht auf die Werke genommen wird. Denn wer da meint, er müßte auch nur das Geringste an Werken herzubringen, um die Gerechtigkeit zu erlangen, der kann kein Maß und kein Ziel festsetzen, sondern hat sich zum Schuldner des ganzen Gesetzes gemacht. Wenn es also um unsere Rechtfertigung geht, so sollen wir alle Erwähnung des Gesetzes fahren lassen, alles Achten auf die Werke beiseite stellen und allein Gottes Barmherzigkeit erfassen, wir sollen den Blick von uns selber abwenden und Christus allein anschauen. Denn es wird hier nicht gefragt, wieso wir denn gerecht sind, sondern wieso wir für gerecht geachtet werden, obwohl wir ungerecht und unwürdig sind! Will unser Gewissen aber hierin irgendwelche Gewißheit erhalten, so darf es dem Gesetz keinen Raum geben. Es wäre aber durchaus nicht richtig, wenn jemand hieraus den Schluß ziehen wollte, für die Gläubigen sei das Gesetz überflüssig. Denn obwohl es vor Gottes Richtstuhl in ihrem Gewissen keinen Raum hat, so hört es deshalb doch nicht auf, sie zu lehren, zu ermahnen und zum Guten zu reizen. Diese beiden Dinge sind völlig verschieden voneinander, und wir müssen sie deshalb auch recht und gründlich unterscheiden. Das ganze Leben der Christen soll gewissermaßen ein Trachten nach Frömmigkeit sein; denn der Christ ist ja zur Heiligung berufen! (Eph. 1,4; 1. Thess. 4,3). Das Amt des Gesetzes besteht nun darin, ihn an seine Verpflichtung zu mahnen und ihn so zu eifrigem Ringen um Heiligung und Unschuld anzuspornen. Aber wenn sich das Gewissen sorgt, wie es denn einen gnädigen Gott haben könne, was es antworten und auf was für eine Zuversicht es sich stützen soll, wenn es vor Gottes Gericht gefordert wird, dann darf es nicht mit dem rechnen, was das Gesetz fordert, sondern es muß sich Christus allein als seine Gerechtigkeit vor Augen halten, der alle Gerechtigkeit des Gesetzes übertrifft.



III,19,3

Um diesen Angelpunkt dreht sich fast die ganze Beweisführung des Briefs an die Galater. Daß nämlich die Leute, die da lehren, Paulus streite hier nur um die Freiheit gegenüber den Zeremonien, törichte Ausleger sind, das kann man aus den Stellen, in denen er seinen Beweis führt, begründen. Da sind folgende Stellen zu nennen. Zunächst: „Christus ward ein Fluch für uns, um uns von dem Fluch des Gesetzes zu erlösen“ (Gal. 3,13; summarisch). Dann entsprechend: „So besteht nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen. Siehe, ich, Paulus, schreibe euch: wenn ihr euch beschneiden lasset, so nützt euch Christus nichts … Der sich beschneiden läßt, der ist das ganze Gesetz schuldig zu tun. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen!“ (Gal. 5,1-4). In diesen Sätzen steht doch wahrhaftig etwas Höheres als die Freiheit in den Zeremonien! Ich gebe allerdings zu, daß Paulus hier (zunächst) von den Zeremonien spricht: er hatte ja mit falschen Aposteln zu kämpfen, die sich bemühten, die alten Schattenbilder des Gesetzes, die durch Christi Kommen abgetan waren, wieder in die christliche Kirche einzuführen. Aber zur Lösung dieser Frage mußte die Auseinandersetzung auf tiefere Dinge zurückgreifen, auf denen der ganze Streit beruhte. Erstens: mit solchen jüdischen Schattenbildern wurde die Klarheit des Evangeliums verdunkelt; deshalb zeigt Paulus, daß wir in Christus die vollkommene Offenbarung alles dessen besitzen, was in jenen mosaischen Zeremonien schattenhaft abgebildet war. Zweitens versetzten jene Betrüger das Volk in den verderblichen Wahn, ein solcher Gehorsam (gegenüber dem Gesetz und seinen Zeremonien) habe die Kraft, die Gnade Gottes zu verdienen; demgegenüber besteht Paulus mit größter Schärfe darauf, daß die Gläubigen nicht meinen sollen, sie könnten sich durch irgendwelche Gesetzeswerke, geschweige denn durch diese winzigen Anfangsgründe (nämlich die Zeremonien) vor Gott Gerechtigkeit erwirken. Zugleich aber sollen sie in voller Sicherheit allein in Christus ruhen, und dazu lehrt er sie, daß sie durch das Kreuz Christi von der Verdammnis des Gesetzes frei sind, die sonst allen Menschen droht (Gal. 4,5). Schließlich sichert er dem Gewissen des Gläubigen seine Freiheit, damit es sich nicht in irgendwelcher heiligen Scheu an Dinge bindet, die nicht (heils-)notwendig sind.



III,19,4

Das zweite Stück unserer christlichen Freiheit ist von dem ersten abhängig: Das Gewissen gehorcht dem Gesetz nicht wie unter dem Zwang der Notwendigkeit des Gesetzes, sondern es ist von dem Joch des Gesetzes selbst befreit und leistet nun aus freien Stücken dem Willen Gottes Gehorsam. Solange unser Gewissen unter der Herrschaft des Gesetzes steht, lebt es in unablässiger Angst, und darum ist es ja nie und nimmer befähigt, Gott in freudiger Bereitwilligkeit zu gehorchen, wenn es nicht zuvor mit solcher Freiheit beschenkt ist! Was damit gemeint ist, läßt sich kürzer und deutlicher an einem Beispiel klarstellen. Das Gesetz gebietet uns, unseren Gott zu lieben „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allem Vermögen“ (Deut. 6,5). Damit das geschieht, muß unsere Seele zuvor alles sonstigen Empfindens und Denkens entledigt, unser Herz von allen Begehrungen gereinigt, müssen unsere Kräfte auf dies Eine gesammelt und zusammengeschlossen werden! Aber auch die, welche auf dem Wege des Herrn besonders weit gekommen sind, bleiben von diesem Ziel noch sehr weit entfernt. Denn obwohl sie Gott von Herzen und aus lauterer innerer Regung lieben, so halten doch die Lüste des Fleisches noch einen großen Teil des Herzens und der Seele in Beschlag, und die ziehen sie zurück und halten sie fest, so daß sie nicht in eilendem Lauf ihren Weg zu Gott nehmen können. Sie bemühen sich zwar in scharfer Anspannung, zu laufen, aber das Fleisch schwächt ihre Kräfte zum Teil, zum anderen Teil macht es sie sich selber dienstbar! Was sollen sie nun machen, wenn sie empfinden, daß sie alles weniger tun, als das Gesetz mit ihrer Leistung zu erfüllen? Sie wollen zwar, sie streben, sie bemühen sich – aber nichts mit der erforderlichen Vollkommenheit! Schauen sie das Gesetz an, so gewahren sie, daß alles Werk, das sie anfassen oder erwägen, verdammt ist. Da kann sich auch keiner selbst betrügen und meinen, das Werk sei doch um seiner Unvollkommenheit willen nicht gänzlich böse, und deshalb sei doch Gott trotzdem das wohlgefällig, was Gutes an ihm sei. Denn das Gesetz fordert vollkommene Liebe, es verdammt also alle Unvollkommenheit – sofern nicht seine Schärfe gelindert wird! So mag man denn sein Werk anschauen, das man so gerne teilweise für gut angesehen wissen möchte – und man wird finden, daß es eben deshalb Übertretung des Gesetzes ist, weil es unvollkommen ist!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,19,5

Da sehen wir, wie alle unsere Werke dem Fluch des Gesetzes unterworfen sind, wenn man sie nach dem Maß des Gesetzes mißt. Wie sollte sich aber dann die unglückliche Seele freudig ans Werk machen, wenn sie doch genau weiß, daß sie dafür bloß Fluch empfangen wird? Auf der anderen Seite aber, wenn sie von dieser strengen Zucht, ja, vielmehr von der ganzen Schärfe des Gesetzes befreit ist und wenn sie dann hört, wie sie von Gott in väterlicher Milde gerufen wird – dann wird sie seinem Rufe fröhlich und in großer Freudigkeit antworten und seiner Führung folgen! Kurz, die Menschen, die unter dem Joch des Gesetzes festgehalten sind, die gleichen Knechten, denen ihre Herren für die einzelnen Tage bestimmte Arbeiten zuweisen. Solche Knechte können nämlich kein Werk für ausgerichtet halten, wagen auch nicht, vor ihren Herren zu erscheinen, wenn nicht das Maß ihrer Arbeit voll erfüllt ist. Die Kinder dagegen, die von ihren Vätern freier und edler gehalten werden, haben keine Scheu, ihnen auch angefangene oder halbfertige Werke, an denen noch manches auszusetzen ist, anzubieten, weil sie darauf vertrauen, daß ihr Gehorsam und die Bereitschaft ihres Herzens das Wohlgefallen der Väter finden wird, selbst wenn sie das, was sie wollten, weniger gründlich vollbracht haben. Wir müssen so stehen, daß wir die sichere Zuversicht haben, daß unsere Leistungen von unserem Vater in seiner großen Nachsicht wohlgefällig aufgenommen werden, wie gering und anfängerhaft und unvollkommen sie auch sein mögen! So versichert er es uns auch durch den Propheten: „Ich will ihrer schonen, wie ein Mann seines Sohnes schont, der ihm dient!“ (Mal. 3,17). „Schonen“ bedeutet hier offenkundig soviel wie „Nachsicht üben“ und „menschlich auf die vorhandenen Gebrechen Rücksicht nehmen“; es ist ja zugleich auch an den Dienst (des Sohnes) erinnert! Diese Zuversicht ist für uns nicht wenig vonnöten; denn ohne sie sind alle unsere Bemühungen vergebens. Gott erkennt ja nicht an, er habe mit irgendeinem unserer Werke einen Dienst empfangen, wenn dies Werk nicht wahrhaft zu seinem Dienst von uns getan wird! Wer sollte das aber unter jenen Ängsten fertigbringen können, wo er stets im Zweifel ist, ob Gott nun durch unser Werk beleidigt oder geehrt wird?



III,19,6

Das ist der Grund, weshalb der Verfasser des Hebräerbriefs alles, was uns von den heiligen Vätern an guten Werken berichtet wird, auf den Glauben zurückführt und ausschließlich nach dem Glauben beurteilt (Hebr. 11,2ff.). Von dieser Freiheit handelt auch die berühmte Stelle im Römerbrief, in der Paulus den Schluß zieht, die Sünde dürfe über uns nicht mehr herrschen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade stehen! (Röm. 6,12.14). Er ermahnt da zunächst die Gläubigen, sie sollten die Sünde nicht in ihrem sterblichen Leibe herrschen lassen, auch ihre Glieder nicht „zu Waffen der Ungerechtigkeit“ „begeben“, sondern sich selbst Gott „begeben“, „als die da aus den Toten lebendig sind“, und ihre Glieder „Gott zu Waffen der Gerechtigkeit“ (Vers 12 und 13). Da könnten nun aber die Gläubigen einwenden, sie trügen doch noch ihr Fleisch an sich, das voll Begierden wäre, auch wohne die Sünde doch noch in ihnen (Vers 15). Demgegenüber schließt Paulus jenes Trostwort von der Freiheit vom Gesetz an. Er will also etwa sagen: obwohl die Gläubigen voll empfinden, daß die Sünde noch nicht ausgelöscht ist und die Gerechtigkeit noch nicht in ihnen lebt, besteht doch für sie kein Grund, zu erschrecken und den Mut zu verlieren, als würde nun Gott immerfort durch die Überbleibsel der Sünde in Zorn versetzt; denn sie sind durch die Gnade vom Gesetz freigemacht, so daß ihre Werke nicht mehr nach seiner Richtschnur geprüft werden! Diejenigen aber, die daraus folgern, wir könnten nun sündigen, da wir ja nicht mehr unter dem Gesetz seien – die sollen wissen, daß diese Freiheit sie nichts angeht, weil sie ja den Zweck hat, uns zum Guten zu ermuntern! (Vers 15ff.).



III,19,7

Nun das dritte Stück der christlichen Freiheit: Wir werden vor Gott in keinem der äußerlichen Dinge, die an sich „Mitteldinge“ sind, an irgendwelche heilige Scheu gebunden, sondern dürfen sie ohne Unterschied bald brauchen, bald auch beiseitelassen. Auch die Erkenntnis dieser (Art von) Freiheit ist für uns sehr nötig; denn wo sie fehlt, da werden unsere Gewissen nie zur Ruhe kommen, und der Aberglaube wird kein Ende finden. Wir kommen heutzutage sehr vielen Leuten albern vor, wenn wir darum streiten, daß uns der Fleischgenuß freisteht, daß wir gegenüber Feiertagen und Kleidern und anderen, wie unsere Gegner meinen, „bedeutungslosen Possen“ frei sind. Aber die Sache hat mehr Belang, als man gemeinhin glaubt. Denn sobald sich unser Gewissen einmal in diese Fesseln verstrickt hat, kommt es in ein langes und auswegloses Labyrinth hinein, aus dem sich nachher so leicht kein Ausgang mehr finden läßt. Wenn einer schon einmal zu zweifeln angefangen hat, ob er zu Tüchern, Hemden, Schnupftüchern und Tischtüchern Leinen brauchen darf, so wird er nachher schon nicht mehr sicher sein, ob ihm Hanf verstattet ist, und schließlich wird ihn selbst noch bei Werg der Zweifel überfallen! Er wird sich nämlich mit dem Gedanken herumschlagen, ob er nicht auch ohne Tischtuch speisen oder ohne Schnupftuch bestehen könnte! Wenn einer auf den Gedanken gekommen ist, feinere Speise sei nicht erlaubt, dann wird er am Ende nicht einmal mehr Brot und einfache Nahrungsmittel in Frieden vor Gott genießen; es kommt ihm eben in den Sinn, er könnte seinen Leib auch mit noch geringerer Speise erhalten. Wenn einer bei einigermaßen wohlschmeckendem Wein bereits Bedenken hat, so wird er bald nicht einmal gemeinen Krätzer mit gutem Frieden seines Gewissens trinken können, und am Ende wird er nicht einmal mehr wagen, Wasser anzurühren, das besser und reiner ist als anderes. Kurz, er wird schließlich dahin kommen, daß er es für Sünde hält, über einen quer im Wege liegenden Grashalm zu gehen – wie man so sagt. Der Streit, der hier anhebt, ist nicht leicht; aber es geht eben darum, ob es Gottes Wille ist, dies oder das zu brauchen – und Gottes Wille soll doch allen unseren Ratschlägen und Taten vorangehen! Da ist es denn unvermeidlich, daß die einen vor Verzweiflung in einen Abgrund der Verwirrung hinuntergerissen werden, die anderen aber Gott verachten, seine Furcht von sich werfen und sich in ihrem Irrtum einen eigenen Weg machen, da sie keinen gebahnten vor sich sehen. Wer sich in solche Zweifel verwickelt hat, der mag sich wenden, wohin er will: er sieht überall einen unmittelbaren Anstoß für sein Gewissen!



III,19,8

„Ich weiß“, sagt Paulus, „daß nichts gemein ist an sich selbst“ – ‘gemein’ bedeutet bei ihm ‘unheilig’ – „nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist’s gemein“ (Röm. 14,14). Mit diesen Worten unterwirft er alle äußeren Dinge unserer Freiheit; nur muß unser Herz vor Gott solcher Freiheit versichert sein! Wenn uns dagegen irgendein abergläubischer Wahn Bedenken in den Weg legt, dann wird das, was von Natur rein war, für uns befleckt! Deshalb fährt Paulus (später) fort: „Selig ist, der sich selbst kein Gewissen macht über dem, was er annimmt. Wer aber darüber zweifelt und ißt doch, der ist verdammt; denn es geht nicht aus dem Glauben. Was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde“ (Röm. 14,22f.). Wenn sich nun einer in solcher Enge trotzdem alles sicher zutraut und sich damit vor anderen als recht beherzt zeigt – wendet der sich nicht im gleichen Maße von Gott ab? Manche sind im Innersten von wahrer Gottesfurcht immerhin ergriffen, aber auch sie lassen sich zwingen, vieles gegen den Widerspruch ihres Gewissens zu tun – und dann werden sie vor Schrecken zu Boden geworfen und fallen dahin! Alle solche Menschen empfangen keine der Gaben Gottes mit der Danksagung, durch die allein nach dem Zeugnis des Paulus alle diese Dinge zu unserem Gebrauch geheiligt werden! (1. Tim. 4,4f.). Ich meine aber solche Danksagung, die aus einem Herzen kommt, das Gottes Wohltätigkeit und Güte in seinen Gaben erkennt. Denn es merken zwar viele, daß das, was sie gebrauchen, Gottes Gabe ist, sie loben auch Gott in seinen Werken; aber sie sind doch nicht überzeugt, daß diese Gaben ihnen gegeben sind, und wie sollen sie dann Gott als dem Geber danksagen? Jetzt sehen wir im wesentlichen, was diese (dritte Art der) Freiheit für einen Zweck hat: wir sollen Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken, ohne Verwirrung unseres Herzens gebrauchen, und zwar zu dem Gebrauch, zu dem er sie uns geschenkt hat. In solcher Zuversicht hat unsere Seele Frieden mit ihm und erkennt sie zugleich seine Freigebigkeit gegen uns. In diesen Zusammenhang gehören auch alle Zeremonien, die man frei halten oder auch unterlassen kann: da darf unser Gewissen durch keinerlei Notwendigkeit verpflichtet werden, sie zu halten, sondern es muß daran denken, daß ihm der Gebrauch der Zeremonien durch Gottes Wohltat unterworfen ist, je wie es zur Erbauung dient.



III,19,9

Wir müssen aber gründlich beachten, daß die christliche Freiheit in allen ihren einzelnen Stücken eine geistliche Sache ist; ihre ganze Kraft beruht darin, die erschrockenen Gewissen vor Gott ruhig zu machen, ob sie nun über die Vergebung der Sünden unruhig und besorgt sind, ob sie sich ängstlich fragen, ob denn ihre unvollkommenen und mit den Fehlern unseres Fleisches befleckten Werke Gottes Wohlgefallen finden, oder ob sie sich damit quälen, wie man denn die gleichgültigen Dinge gebrauchen solle. Es ist also ein verkehrtes Verständnis der christlichen Freiheit, wenn einige sie zum Deckmantel für ihre Begierden machen, um Gottes Gaben zu ihrer Lust zu mißbrauchen, – oder wenn man meint, sie sei nichts, wenn man sie nicht vor den Menschen gebrauchte, und wenn man dementsprechend bei ihrer Anwendung keine Rücksicht auf die schwachen Brüder nimmt!

(a) In der ersten Weise wird zu unserer Zeit am meisten gesündigt. Denn es ist da fast keiner unter denen, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, der nicht an üppigem Glanz sein Vergnügen hätte, wie er sich im Aufwand an Speisen oder im Schmuck des Leibes oder beim Bau von Häusern zeigt, der nicht durch allerlei Prunk unter den anderen Menschen hervorragen wollte und der sich nicht selber gewaltig in seinem Glänze gefiele! Und das alles verteidigt man unter dem Vorwand der christlichen Freiheit! Man sagt, das seien doch gleichgültige Dinge; gewiß, das gebe ich zu – nur muß man sie dann auch gleichgültig anwenden! Wo man diese Dinge, die sonst erlaubt sind, indessen allzu heftig begehrt, wo man hoffärtig auf sie pocht oder sie üppig verschwendet – da werden sie sicherlich, obwohl sie sonst an sich durchaus erlaubt sind, von solchen Lastern beschmutzt. Eine treffliche Unterscheidung unter den gleichgültigen Dingen finden wir in dem Wort des Paulus: „Den Reinen ist alles rein; den Unreinen aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern unrein ist ihr Sinn sowohl als ihr Gewissen!“ (Tit. 1,15). Warum werden denn die Reichen verdammt, als die „ihren Lohn dahin haben“ (Luk. 6,24), die da „voll sind“, die „hier lachen“ (Luk. 6,25), die da „schlafen auf elfenbeinern Lagern“ (Am. 6,1.4), die da. „einen Acker zum anderen bringen“ (Jes. 5,8) und „haben Harfen, Psalter, Pauken … und Wein“ bei ihren Gastmählern (Jes. 5,12)? Ganz gewiß sind doch Elfenbein, Gold und Reichtümer gute Geschöpfe Gottes, die dem Gebrauch der Menschen überlassen, ja, von Gottes Vorsehung dazu bestimmt sind. Auch ist es doch nirgendwo untersagt, zu lachen oder sich zu sättigen oder neue Besitztümer mit den alten, ererbten zu verbinden oder sich am Klang der Musik zu erfreuen oder Wein zu trinken! Das ist gewiß wahr; aber wenn der Mensch, wo ihm die Fülle seines Besitzes dazu verhilft, sich in Vergnügungen wälzt, sich übernimmt, Gemüt und Herz mit den Genüssen des gegenwärtigen Lebens trunken macht und immer nach neuen schnappt – dann ist solch ein Verhalten von der rechten Anwendung der Gaben Gottes sehr weit entfernt. Sie sollen also die unmäßige Gier, die maßlose Vergeudung, die Eitelkeit und Anmaßung fahren lassen und mit reinem Gewissen Gottes Gaben rein anwenden! Sobald das Her; zu solcher Bescheidenheit geschickt ist, hat man die Regel des rechten Gebrauchs der Dinge bereits erfaßt. Wo dieses Maßhalten dagegen fehlt, da gehen auch schlichte und gewöhnliche Vergnügungen bereits zu weit. Denn es ist schon recht, wenn man gesagt hat: Unter einem gewöhnlichen Rock und in grobem Lumpenzeug wohnt oft ein purpurstrotzendes Herz, und unter köstlicher Leinwand und Purpur verbirgt sich oft schlichte Demut! Deshalb soll jeder in seinem Stande karg oder mäßig oder glänzend leben – nur müssen alle daran denken, daß Gott sie dazu ernährt, zu lebe n und nicht zu schlemmen. So soll es jeder für das Gesetz der christlichen Freiheil halten, mit Paulus „gelernt“ zu haben, „worin er ist, sich genügen zu lassen“, „niedrig sein und hoch sein“ zu können, „in allen Dingen und bei allem geschickt zu sein beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden!“ (Phil. 4,11f.).
Simon W.

Der Pilgrim
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III,19,10

(b) Ein sehr weit verbreiteter Irrtum ist es auch, wenn man meint, die christliche Freiheit nur dadurch heil und unversehrt erhalten zu können, daß sie auch Menschen zu ihren Zeugen hat, und wenn man dementsprechend von dieser Freiheit ohne Unterschied und ohne Einsicht Gebrauch macht. Durch solchen unzeitigen Gebrauch der Freiheit bereitet man den schwachen Brüdern oft Anstoß. So kann man heute Leute sehen, die da meinen, ihre Freiheit habe keinen Bestand, wenn sie diese nicht durch Fleischessen am Freitag in ihren Besitz gebracht hätten. Daß sie Freitags Fleisch essen, das tadle ich nicht; aber der damit gegebene falsche Wahn muß aus dem Herzen gerissen werden; man sollte doch bedenken, daß wir durch unsere Freiheit nicht vor Menschen, sondern vor Gott etwas Neues erlangen und daß sie ihr Wesen nicht bloß im Genießen, sondern auch im Entbehren hat! Wenn man weiß, daß vor Gott nichts daran liegt, ob wir Fleisch oder Eier essen, ob wir einen roten oder einen schwarzen Rock tragen, dann ist das mehr als genug! Damit ist das Gewissen bereits gelöst, und ihm kommt doch die Wohltat dieser Freiheit zu! Selbst wenn man sich also hernach das ganze Leben lang des Fleischgenusses enthält, selbst wenn man immerfort nur eine einzige Farbe (an seinem Rock) trägt – so ist man deshalb nicht weniger frei! Ja gerade weil man frei ist, so übt man auch mit freiem Gewissen solche Enthaltsamkeit! Es ist dagegen ein verderbenbringender Absturz, wenn man auf die Schwachheit der Brüder gar keine Rücksicht nimmt – und dabei sollen wir solche Schwachheit derart tragen, daß wir nichts unbedacht unternehmen, was ihr Anstoß bereiten könnte. Aber, so wendet man ein, zu Zeiten ist es doch auch notwendig, unsere Freiheit vor den Menschen zu behaupten! Das gebe ich auch zu; nur müssen wir dabei mit größter Vorsicht Maß halten, damit wir nicht die Sorge um die Schwachen, die uns der Herr so sehr ans Herz gelegt hat, von uns werfen!



III,19,11

Ich will also hier auch einiges von den Ärgernissen sagen. Dabei müssen wir erwägen, was für eine Unterscheidung man hier beachten soll, vor welchen Ärgernissen man sich zu hüten hat und welche man hingehen lassen kann. Daraus läßt sich dann hernach feststellen, was unsere Freiheit unter den Menschen für eine Stelle hat. Ich erkenne die übliche Unterscheidung an, nach der es einerseits ein Ärgernis gibt, das man jemandem bereitet, und anderseits ein solches, das man nimmt. Diese Unterscheidung hat nämlich das klare Zeugnis der Schrift für sich und bringt auch das, was die Schrift zu erkennen gibt, nicht uneben zum Ausdruck. Wenn man aus verkehrtem Leichtsinn oder Mutwillen oder Frevelmut etwas tut, was nicht in rechter Ordnung und nicht am rechten Platz geschieht, so daß man dadurch Unerfahrenen und Leichtsinnigen einen Anstoß bereitet, so heißt es: man hat Ärgernis gegeben; denn man ist ja selbst daran schuld, daß solch ein Anstoß aufgekommen ist! Allgemein spricht man in irgendeiner Angelegenheit von einem „gegebenen“ Ärgernis, wenn die Schuld für den Anstoß bei dem Urheber der Tat selber liegt. Vom Ärgernisnehmen redet man da, wo eine sonst nicht unrecht oder unzeitig geschehene Tat durch Übelwollen und eine Art widerwärtiger Bosheit zum Anlaß genommen wird, Anstoß zu nehmen. Da ist nämlich gar kein Ärgernis gegeben, sondern solche Leute legen die Sache übel aus und nehmen Ärgernis ohne Ursache. Von dem Ärgernis der ersten Art werden nur die Schwachen gekränkt, von dem der zweiten Art dagegen griesgrämige Geister und Menschen mit pharisäischem Stolz! Deshalb wollen wir das erste als „Ärgernis der Schwachen“, das zweite als „Ärgernis der Pharisäer“ bezeichnen. Die Betätigung unserer Freiheit können wir danach in der Weise unter ein Maß stellen, daß wir auf die Unkundigkeit unserer schwachen Brüder Rücksicht nehmen sollen, dagegen auf die Härte der Pharisäer unter keinen Umständen! Was wir nämlich der Schwachheit zugeben müssen, das hat Paulus mehr als genugsam an vielen Stellen gezeigt. So sagt er: „Die Schwachen im Glauben nehmet auf“ (Röm. 14,1). Ebenso: „Darum lasset uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern das richtet vielmehr, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle!“ (Röm. 14,13). Dem entsprechen noch viele weitere Aussagen, die man besser in diesem Kapitel nachlesen soll, als daß ich sie hier wiedergebe. Die Zusammenfassung bietet uns das Wort: „Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Es stelle sich ein jeglicher unter uns also, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten, zur Besserung“ (Röm. 15,1f.). An anderer Stelle heißt es dementsprechend: „Sehet aber zu, daß diese eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen!“ (1. Kor. 8,9). Oder: „Alles, was feil ist auf dem Fleischmarkt, das esset, und forschet nicht, auf daß ihr das Gewissen verschonet … Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen… Gebet kein Ärgernis, weder den Juden noch den Griechen noch der Gemeinde Gottes!“ (1. Kor. 10,25.29.32). Oder anderwärts: „Ihr .., liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem anderen!“ (Gal. 5,13). Es ist doch wirklich so: Unsere Freiheit ist uns nicht (zum Gebrauch) gegen unseren Nächsten gegeben, der schwach ist, und dem uns die Liebe in allen Dingen zu Dienst gegeben hat, sondern vielmehr dazu, daß wir in unserem Herzen Frieden mit Gott haben und deshalb auch unter den Menschen friedsam leben! Wie hoch wir aber das „Ärgernis der Pharisäer“ zu achten haben, das lernen wir aus den Worten des Herrn: „Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blindenleiter!“ (Matth. 15,14). Die Jünger hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Pharisäer sich an seinem Wort geärgert hatten (Matth. 15,12). Er gibt zur Antwort, man solle keine Rücksicht auf sie nehmen und sich nicht darum kümmern, wenn sie Anstoß nähmen!



III,19,12

Aber die Sache bleibt doch im Ungewissen hängen, wenn wir nicht sicher wissen, wen wir denn für schwach und wen wir für einen Pharisäer halten sollen. Denn dieser Unterschied darf nicht aufgehoben werden, sonst weiß ich nicht, was wir unter lauter Anstößen überhaupt noch für einen Gebrauch von unserer Freiheit machen sollen; es könnte ja sonst dabei nie ohne höchste Gefahr abgehen! Mir scheint aber Paulus in Unterweisung und eigenem Vorbild mit höchster Klarheit dargelegt zu haben, inwiefern wir in unserer Freiheit maßhalten müssen und inwiefern wir sie auch unter Anstößen handhaben sollen. Er hat den Timotheus, als er ihn zum Gefährten annahm, beschnitten (Apg. 16,3). Dagegen ließ er sich nicht dazu bringen, den Titus zu beschneiden! (Gal. 2,3). Das sind zwei völlig verschiedene Verhaltungsweisen – und dabei fand doch gar keine Änderung seiner Absicht oder seiner Gesinnung statt! Wenn er den Timotheus beschnitt, so verfuhr er nach seinem Wort: „Wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne. Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden wie unter dem Gesetz, auf daß ich die, so unter dem Gesetz sind, gewinne!“ (1. Kor. 9,19f.). „Ich bin jedermann allerlei geworden, auf daß ich allenthalben ja etliche selig mache!“ (1. Kor. 9,22). Da haben wir das rechte Maßhalten in der Freiheit vor uns: es geschieht, wenn man sich ihrer in einer gleichgültigen Sache enthalten kann und wenn das irgendwelche Frucht trägt! Was Paulus dagegen im Sinne hatte, als er sich so standhaft weigerte, den Titus zu beschneiden, das bezeugt er selbst: „Aber es ward auch Titus nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen, der mit mir war, obwohl er ein Grieche war. Denn da etliche falsche Brüder sich miteingedrängt hatten und neben eingeschlichen waren, auszukundschaften unsre Freiheit, die wir haben in Christo Jesu, daß sie uns gefangennähmen, wichen wir denselben nicht eine Stunde, ihnen Untertan zu sein, auf daß die Wahrheit des Evangeliums bei euch bestünde!“ (Gal. 2,3-5). Da haben wir einen Fall vor uns, in dem es notwendig war, die Freiheit zu behaupten: dieser liegt dann vor, wenn die Freiheit durch unbillige Forderungen falscher Apostel in den Gewissen gefährdet ist. In jedem Fall sollen wir aber unser Trachten nach der Liebe richten und uns bemühen, den Nächsten zu erbauen. So sagt Paulus an anderer Stelle: „Ich habe es zwar alles Macht, aber es frommt nicht alles. Ich habe es zwar alles Macht, aber es bessert nicht alles. Niemand suche das Seine, sondern ein jeglicher, was des anderen ist!“ (1. Kor. 10,23f.). Die weitaus klarste Regel ist also die: wir sollen von unserer Freiheit Gebrauch machen, wo es zur Auferbauung unseres Nächsten dient; wenn es aber dem Nächsten nicht dazu dient, so sollen wir auf sie verzichten! Es gibt auch Leute, die die vorsichtige Klugheit des Paulus scheinbar nachahmen und sich auch der Freiheit enthalten – aber das tun sie in keiner Weise deshalb, weil sie ihre Freiheit der Liebe dienstbar machen wollten. Sie sind vielmehr auf ihre Ruhe bedacht und möchten deshalb, es sollte jede Erwähnung der Freiheit begraben sein. Und dabei nutzt es dem Nächsten doch ebensosehr, wenn wir unsere Freiheit ihm zugut und zu seiner Erbauung bisweilen gebrauchen, wie wenn wir sie am gegebenen Ort auch zu seinem Vorteil einmal in Maß halten! Ein frommer Mensch soll daran denken, daß ihm die freie Vollmacht in den äußeren Dingen dazu gegeben ist, daß er zu allem Dienst der Liebe besser bereit sei!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,19,13

Alles, was ich eben von der Vermeidung des Anstoßes ausgeführt habe, soll sich aber allein auf die „Mitteldinge“ und auf gleichgültige (uns freigestellte) Dinge beziehen. Denn was wir notwendig tun müssen, das dürfen wir nicht aus Furcht vor irgendwelchem Anstoß unterlassen! Wie nämlich unsere Freiheit der Liebe untergeordnet werden muß, so muß wiederum die Liebe der Reinheit des Glaubens Untertan sein! Gewiß soll auch dabei auf die Liebe Rücksicht genommen werden – aber „nur bis zum Altar“; das heißt: wir sollen Gott nicht unserem Nächsten zu Liebe beleidigen! Gewiß ist das Ungestüm nicht zu loben, mit dem einige Leute bei allem, was sie treiben, stets Aufruhr verursachen und alles in Trümmer legen wollen, statt es allmählich abzuschaffen. Aber man darf auch nicht auf die hören, die sich als Führer in tausenderlei Gottlosigkeit erweisen und so tun, als ob sie das alles nur unternähmen, um ihrem Nächsten keinen Anstoß zu bereiten! Als ob sie nicht dabei das Gewissen ihres Nächsten zum Bösen auferbauten, besonders wo sie allezeit im gleichen Schmutz stecken bleiben, ohne daß Hoffnung besteht, sie könnten je wieder daraus herauskommen! Es gibt auch „sanfte“ Leute, die, wenn es darum geht, den Nächsten mit Lehre oder mit eigenem Lebensbeispiel zu unterweisen, gleich sagen, man müsse ihm doch Milch zu trinken geben – während sie ihm tatsächlich die schlimmsten und verderblichsten Meinungen beibringen! Gewiß, Paulus erinnert daran, daß er den Korinthern Milch zu trinken gegeben habe (1. Kor. 3,2). Aber wenn unter ihnen dazumal die päpstliche Messe bestanden hätte – hätte er dann wohl die Messe bedient, um ihnen „Milch zu trinken zu geben“? Gewiß nicht: denn Milch ist kein Gift! Es ist also gelogen, wenn man die Menschen zu nähren behauptet und sie doch tatsächlich unter dem Schein von Schmeicheleien grausam hinmordet! Aber geben wir zu, solche Rücksicht wäre zeitweilig zu billigen – wie lange will man aber denn auch seinen Kindern immer noch solche „Milch“ reichen? Denn wenn sie nie groß werden, so daß sie auch die zarteste Speise nicht vertragen können, so sind sie auch ganz gewiß niemals mit (wirklicher) Milch aufgezogen worden! Ich will mich aber mit den Verfechtern solcher Meinungen nicht in ein schärferes Gefecht einlassen, und zwar hindern mich daran zwei Ursachen: Einmal sind ihre Albernheiten kaum einer Widerlegung wert; denn sie sind ohnehin bei allen vernünftigen Leuten mit Recht im Verruf; dann habe ich diese Dinge aber auch in besonderen Schriften zur Genüge dargestellt, und ich will nichts zweimal tun. Der Leser muß nur dies festhalten: Mag uns der Satan samt der Welt mit noch soviel Ärgernissen von Gottes Geboten abbringen oder uns hindern wollen, dem nachzufolgen, was uns Gott vorgeschrieben hat, so sollen wir doch unseren Weg rüstig fortsetzen; mag uns weiterhin noch soviel Gefahr drohen, so steht es uns doch nicht frei, auch nur einen Finger breit von dem Befehl dieses Gottes abzuweichen, und es ist uns unter keinerlei Vorwand erlaubt, etwas zu unternehmen, was er nicht zuläßt!



III,19,14

Ist das gläubige Gewissen mit jenem Vorrecht der Freiheit beschenkt, wie wir es oben beschrieben haben, so hat es damit durch Christi Wohltat dies erlangt, daß es in solchen Dingen, in denen es nach Gottes Willen frei sein muß, nicht in die Fesseln irgendwelcher Verpflichtungen verstrickt werden soll. Wir stellen also fest, daß es der Gewalt aller Menschen entnommen ist. Denn es wäre unwürdig, wenn Christus seiner aus solcher Freigebigkeit geschenkten Gnade oder das Gewissen selbst der daraus erwachsenden Frucht verlustig gehen sollte. Diese Freiheit ist auch nicht für eine geringfügige Sache zu halten; sehen wir doch, wieviel sie Christus gekostet hat: er hat sie ja nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem eigenen Blut erkauft! (1. Petr. 1,18f.). Paulus erklärt sogar ohne Scheu, wenn wir unsere Seele in die Knechtschaft von Menschen begäben, so sei damit Christi Tod unwirksam gemacht: (Gal. 5,1ff.). In mehreren Kapiteln des Galaterbriefs behandelt er ja nur dies Eine: Christus wird uns verdunkelt, ja vielmehr ausgelöscht, wenn unser Gewissen nicht in seiner Freiheit besteht; aus dieser Freiheit ist es aber mit Sicherheit herausgefallen, wenn es nach menschlichem Gutdünken in die Fesseln von Gesetzen und Satzungen verstrickt werden kann! (Gal. 5,1.4). Aber weil es sich hier um eine Sache handelt, die unbedingt wert ist, erkannt zu werden, so ist eine längere und deutlichere Entfaltung erforderlich. Denn sobald man von der Abschaffung der Menschensatzungen ein Wort gesagt hat, machen Aufrührer wie auch anderseits Lästerer einen gewaltigen Lärm, als ob nun zugleich aller Gehorsam unter den Menschen aufgehoben und umgestoßen würde.



III,19,15

Damit sich nun keiner an diesem Stein stößt, müssen wir zunächst bemerken, daß es unter den Menschen zweierlei Regiment gibt. Das eine ist geistlich (spirituale): es unterweist das Gewissen zur Frömmigkeit und zur Verehrung Gottes. Das andere ist bürgerlich (politicum): es erzieht uns zu den Pflichten der Menschlichkeit und des bürgerlichen Lebens, die unter den Menschen zu wahren sind. Gewöhnlich spricht man hier von „geistlicher“ und „zeitlicher“ Gerichtsgewalt. Diese Namen sind nicht unangemessen; sie haben folgende Bedeutung: Das Regiment von der ersten Art betrifft das Leben der Seele; das von der zweiten dagegen hat es mit dem zu tun, was zu dem gegenwärtigen Leben gehört; freilich befaßt es sich nicht allein mit Nahrung und Kleidung, sondern es schreibt auch Gesetze vor, nach welchen der Mensch unter Menschen sein Leben heilig, ehrbar und ordentlich einrichten soll. Jenes Regiment hat seinen Sitz tief im Herzen, dieses dagegen regelt allein die äußeren Sitten. Das eine können wir das „geistliche Reich“, das andere das „bürgerliche“ Reich nennen. Diese beiden aber, wie wir sie nun abgeteilt haben, müssen wir stets einzeln für sich betrachten; wenn wir das eine ansehen, so müssen wir unser Herz von der Betrachtung des anderen wegrufen und abwenden! Es gibt eben im Menschen gewissermaßen zwei Welten, in denen auch verschiedene Könige und verschiedene Gesetze regieren können. Diese Unterscheidung hat zur Folge, daß wir das, was das Evangelium von der geistlichen Freiheit lehrt, verkehrterweise auf die bürgerliche Ordnung beziehen, als ob etwa die Christen nach dem äußeren Regiment den menschlichen Ge setzen weniger unterworfen wären, weil ihr Gewissen vor Gott frei geworden ist, – als ob sie deshalb aller Dienstbarkeit nach dem Fleisch entnommen würden, weil sie nach dem Geist frei sind! Nun kann aber auch bei solchen Satzungen, die zu dem geistlichen Reich zu gehören scheinen, immerhin Irrtum vorkommen, und deshalb muß man unter diesen Satzungen einen Unterschied machen zwischen solchen, die für rechtmäßig, d.h. dem Worte Gottes entsprechend gelten müssen, und solchen, die bei den Frommen keinen Raum haben dürfen. Über das bürgerliche Regiment zu sprechen, wird an anderer Stelle der Ort sein. Auch von den kirchlichen Gesetzen zu reden, will ich hier unterlassen, weil eine ausführlichere Behandlung zum vierten Buche (dieses Werkes) gehört, und zwar in die Darstellung der Kirchengewalt. Die jetzige Erörterung will ich jedoch mit folgender Erwägung abschließen. Die an sich, wie gesagt, nicht eben dunkle und verworrene Frage bereitet vielen Leuten große Schwierigkeiten, weil sie zwischen der „ äußeren „ Rechtsgewalt – wie man sie nennt – und der des Gewissens nicht scharf genug unterscheiden. Zudem wird die Verlegenheit noch dadurch vergrößert, daß wir nach dem Gebot des Paulus der Obrigkeit nicht allein aus Furcht vor der Strafe gehorchen sollen, sondern auch „um des Gewissens willen“! (Röm. 13,1.5). Daraus folgt (so meint man), daß unser Gewissen auch an die bürgerlichen Gesetze gebunden ist. Wenn es sich so verhielte, so würde alles, was wir wenig oberhalb gesagt haben und was wir noch von dem geistlichen Regiment ausführen werden, in sich zusammenfallen! Um diesen Knoten aufzulösen, ist es zunächst der Mühe wert, festzustellen, was eigentlich das Gewissen ist. Die Beschreibung dieses Begriffs entnehmen wir der (sprachlichen) Wurzel des Wortes. Die Menschen erlangen ja durch Gemüt und verstand eine Erkenntnis der Dinge; man sagt also: sie wissen das und das, und daraus wird dann auch das Wort Wissenschaft abgeleitet. Nun haben sie aber auch ein Empfinden des göttlichen Gerichts, das wie ein Zeuge stets bei ihnen steht, sie ihre Sünde nicht verhehlen läßt, sondern sie als Schuldige vor Gottes Richterstuhl zieht. Dieses Empfinden heißt Gewissen (conscientia = Mitwissen!). Es ist also gewissermaßen etwas, das mitten zwischen Gott und dem Menschen steht; denn es läßt nicht zu, daß der Mensch das, was er doch weiß, in sich selbst unter drückt, sondern es bedrängt ihn solange, bis er sich schuldig bekennt. – Das meint Paulus mit seiner Lehre, das Gewissen lege zugleich mit dem Menschen Zeugnis ab, und zwar wenn die Gedanken sich untereinander vor Gottes Gericht verklagen oder entschuldigen (Röm. 2,15f.). Die bloße Erkenntnis könnte im Menschen gewissermaßen verschlossen (und daher unwirksam, verborgen) bleiben. Da ist denn dies Empfinden, das den Menschen vor Gottes Gericht stellt, gleichsam ein ihm beigegebener Wächter, der alle seine Geheimnisse beobachtet und durchschaut, damit nichts im Finsteren begraben bleibt! Daher auch das alte Sprichwort: Das Gewissen ist wie tausend Zeugen! Aus dem gleichen Grunde setzt auch Petrus das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott der Ruhe unseres Herzens gleich, wenn wir in der Gewißheit um die Gnade Christi unerschrocken vor G»tt hintreten (1. Petr. 3,21). Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs davon spricht, daß Menschen „kein Gewissen mehr hätten von den Sünden“ (Hebr. 10,2), so meint er damit: sie sind befreit und losgesprochen, so daß die Sünde sie nicht mehr weiter bedrängt.



III,19,16

Wie sich also unsere Werke auf die Menschen beziehen, so bezieht sich das Gewissen auf Gott. Ein gutes Gewissen ist also nichts anderes als die innere Lauterkeit des Herzens. In diesem Sinne schreibt Paulus: „Die Hauptsumme des Gesetzes ist Liebe … von gutem Gewissen und von ungeheucheltem Glauben“ (1. Tim. 1,5). In dem gleichen Kapitel zeigt er etwas nachher, wie sehr das Gewissen von dem bloßen Wissen unterschieden ist: er redet (1. Tim. 1,19) von einigen, die „am Glauben Schiffbruch erlitten haben“, und erklärt, die hätten das Gewissen „von sich gestoßen“. Mit diesen Worten macht er ja deutlich, daß das Gewissen ein lebendiger Trieb ist, Gott zu dienen, und ein lauteres Streben nach frommem und heiligem Leben. Zuweilen wird das Gewissen auch auf die Menschen bezogen; so, wenn Paulus bei Lukas bezeugt, er habe sich Mühe gegeben, „zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen“ (Apg. 24,16). Aber das ist deshalb so gesagt, weil die Früchte des guten Gewissens auch bis zu den Menschen hin strömen und dringen. Im eigentlichen Sinne aber sieht das Gewissen allein auf Gott, wie ich bereits sagte. So sagen wir auch, ein Gesetz „binde“ das Gewissen, wenn es den Menschen stracks verpflichtet, ohne den Blick auf Menschen und ohne Rücksicht auf sie! Zum Beispiel: Gott hat uns nicht nur geboten, unser Herz keusch und von aller Lust rein zu erhalten, sondern er hat auch alle schandbaren Worte und alle äußere Üppigkeit verboten. Zum Halten dieses Gebotes ist mein Gewissen verpflichtet, auch wenn in der Welt kein einziger Mensch leben würde. Wer also in seinem Verhalten zuchtlos ist, der sündigt nicht nur insofern, als er den Brüdern ein schlechtes Vorbild gibt, sondern er hat auch ein schuldverhaftetes Gewissen vor Gott. Anders ist es aber mit dem bestellt, was an sich ein „Mittelding“ ist. Wir müssen davon abstehen, wenn daraus ein Anstoß erwächst – aber mit freiem Gewissen! In diesem Sinne spricht Paulus von dem Fleisch, das den Götzen geweiht war; er sagt: „Wenn dir aber jemand Bedenken einflößt, so rühre das Fleisch nur ja nicht an, und zwar um des Gewissens willen. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen“ (1. Kor. 10,28f.; Vers 26 summarisch). Der Gläubige würde also sündigen, wenn er trotz vorheriger Warnung solches Fleisch doch äße. Aber wenn er auch nach Gottes Gebot aus Rücksicht auf den Bruder solche Enthaltsamkeit üben muß, so hört er deshalb doch nicht auf, die Freiheit seines Gewissens zu wahren. Wir sehen also, wie ein solches Gesetz das äußere Werk bindet, aber das Gewissen doch frei läßt.
Simon W.

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Zwanzigstes Kapitel: Vom Gebet, das die vornehmste Übung des Glaubens ist und durch das wir alle Tage Gottes Gaben ergreifen


III,20,1

Aus der bisherigen Erörterung ersehen wir völlig klar, wie arm und leer der Mensch an allen Gütern ist; es fehlt ihm ja geradezu alles, was ihm das Heil verschaffen könnte! Wenn er also nach einem Beistand fragt, um seinem Mangel abzuhelfen, dann muß er aus sich herausgehen und sich ihn von anderswoher verschaffen. Dann ist uns nachher deutlich geworden, daß sich uns der Herr aus freiem Antrieb und aus reiner Milde in seinem Christus offenbart, in dem er uns für unseren Jammer volle Glückseligkeit, für unseren Mangel Reichtum anbietet und in dem er uns alle himmlischen Schatzkammern öffnet. So soll denn unser Glaube ganz auf Gottes geliebten Sohn schauen, an ihm soll all unsere Erwartung hängen, in ihm all unsere Hoffnung beschlossen sein und ruhen. Das ist nun eine heimliche, verborgene Weisheit, die man nicht durch Schlußfolgerungen erfaßt, sondern die allein denen bekannt wird, denen Gott die Augen aufgetan hat, daß sie „in seinem Lichte das Licht sehen“! (Ps. 36,10). Sind wir aber einmal vom Glauben zu der Erkenntnis unterwiesen, daß alles, was wir nötig haben und was uns bei uns selber mangelt, in Gott liegt und in unserem Herrn Jesus Christus – in dem nach des Vaters Willen alle Fülle seiner Freigebigkeit wohnt, so daß wir daraus wie aus einer reichsprudelnden Quelle allesamt schöpfen dürfen! -, so bleibt nur übrig, daß wir das, was nach unserer Einsicht in ihm beschlossen ist, auch bei ihm suchen und von ihm in Gebeten erbitten! Haben wir bloß das Wissen darum, daß Gott der Herr und Spender alles Guten ist, der uns selbst auffordert, ihn zu bitten, – und treten wir dann doch nicht an ihn heran und bitten ihn nicht, so nützt uns solche Erkenntnis gar nichts, ebenso wenig, wie wenn jemand einen Schatz gezeigt bekommt und ihn dann in die Erde vergräbt und verschüttet und unbeachtet läßt! Auch der Apostel will uns zeigen, daß der Glaube nicht ohne Gottes Anrufung sein kann; er stellt deshalb die Ordnung auf: Wie der Glaube aus dem Evangelium erwächst, so werden wiederum durch ihn unsere Herzen bereitet, Gottes Namen anzurufen (Röm. 10,14). Das gleiche hat er allerdings schon etwas vorher ausgeführt: er spricht da von dem „Geist der Kindschaft“, der das Zeugnis des Evangeliums in unserem Herzen versiegelt (Röm. 8,26), und sagt dann, dieser Geist richte auch unseren Geist auf, so daß er nun wagt, Gott seine Gebetswünsche vorzulegen, er erwecke in uns ein „unaussprechliches Seufzen“ (Röm. 8,26) und rufe mit Zuversicht: „Abba, lieber Vater!“ (Röm. 8,15). Eben diesen letzteren Zusammenhang müssen wir jetzt ausführlicher behandeln, weil von ihm bisher nur im Vorbeigehen die Rede war und er gleichsam bloß leicht angerührt worden ist.



III,20,2

Die Wohltat des Gebets schenkt uns nun dies, daß wir zu den Reichtümern durchdringen, die bei dem himmlischen Vater für uns aufgehoben sind. Das Gebet ist also gewissermaßen ein Verkehr des Menschen mit Gott: er tritt in das Heiligtum des Himmels ein und erinnert Gott persönlich an seine Verheißungen! Und dabei darf er, wo die Not es nun fordert, die Erfahrung machen, daß das, was er dem Worte auf seine bloß hinweisende Zusage hin geglaubt hat, nicht wirkungslos ist! Deshalb sehen wir auch, wie uns nichts vor Augen gestellt wird, das wir von Gott erwarten sollen, ohne daß wir zugleich auch die Weisung erhielten, es im Gebet zu begehren. Es ist also wirklich wahr: Das Gebet gräbt die Schätze aus, die unser Glaube im Evangelium des Herrn angezeigt gefunden und dort erschaut hat! Wie notwendig aber die Übung des Gebets ist und in wievielerlei Hinsicht sie uns nützt, das läßt sich mit Worten überhaupt nicht genugsam aussprechen. Es ist wahrlich nicht ohne Grund, wenn der himmlische Vater uns bezeugt, daß das einzige Mittel zu unserem Heil in der Anrufung seines Namens besteht; denn damit rufen wir zugleich auch die Gegenwart seiner Vorsehung herbei, in der er ja immer auf der Wacht ist, für uns in allen Dingen zu sorgen, die Gegenwart seiner Kraft, durch die er uns Schwache und nahezu Ermattete aufrechterhält, und die Gegenwart seiner Güte, durch die er uns, die wir jämmerlich unter der Last unserer Sünden bedrückt werden, in seine Gnade aufnimmt. Kurz, wenn wir seinen Namen anrufen, so rufen wir Gott ganz herbei, daß er sich uns als gegenwärtig erweise! Daraus erwächst unserem Gewissen eine herrliche Stille und Ruhe; denn wenn wir die Not, die uns bedrückte, dem Herrn vorgelegt haben, dann finden wir darin völlige Sicherheit, daß nun der, welcher nach unserer festen Überzeugung das Beste für uns will und das Beste für uns schaffen kann, all unsere Nöte kennt!



III,20,3

Es könnte aber jemand einwenden: Weiß denn Gott nicht auch ohne Mahner, was uns bedrückt und was uns nützlich ist? Es könnte auf diese Weise geradezu überflüssig erscheinen, ihn mit unseren Bitten zu bemühen – gerade als ob er nichts merken wollte oder gar schliefe, bis ihn unsere Stimme aufweckte! Aber wer solche Schlußfolgerungen anstellt, der beachtet nicht, zu welchem Zweck der Herr die Seinen zum Beten angewiesen hat. Er hat das doch nicht so sehr um seinetwillen so geordnet, als vielmehr um unsertwillen! Er will zwar, wie es billig ist, daß ihm sein Recht werde, indem die Menschen alles, was sie von ihm erbitten und was nach ihrer Erfahrung zu ihrem Nutzen dient, wirklich als von ihm kommend anerkennen und das auch in ihren Gebeten bezeugen. Aber auch die Frucht dieses Opfers, mit dem er verehrt wird, kommt wiederum uns zugute! Je zuversichtlicher deswegen die heiligen Väter Gottes Wohltaten an sich und anderen rühmten, desto kräftiger wurden sie auch zum Bitten angetrieben! Es mag uns das eine Beispiel des Elia genügen: er hatte Gewißheit über Gottes Ratschluß, hatte auch dem Ahab bereits Regen verheißen, und zwar nicht, ohne zu wissen, was er tat; und doch erflehte er auf den Knien diesen Regen und schickte auch seinen Diener siebenmal hin, um Ausschau zu halten! (1. Kön. 18,41ff.). Das geschah nicht, weil er etwa dem ihm zuteil gewordenen Gotteswort den Glauben entzogen hätte, sondern weil er wußte, daß es sein Amt war, seine Wünsche vor Gott zu bringen, damit der Glaube nicht schläfrig oder untätig sei! Gewiß steht Gott für uns auf der Hut und Wacht, auch wenn wir für unser Elend empfindungslos und kurzsichtig sind; auch kommt er uns zuweilen zu Hilfe, ohne daß wir ihn darum gebeten haben; aber es liegt trotzdem für uns viel daran, daß er unablässig von uns angerufen wird! Wir gewöhnen uns so daran, in aller Not zu ihm als zu dem heiligen Anker unsere Zuflucht zu nehmen – und darüber soll unser Herz von dem ernstlichen, glühenden Verlangen erfüllt werden, ihn allezeit zu suchen, ihn zu lieben und ihm zu dienen! Weiter lernen wir auch, ihm alle unsere Wünsche vor Augen zu stellen, ja, vor ihm unser ganzes Herz auszuschütten – und darüber soll es dazu kommen, daß in unserem Herzen kein Begehren, ja überhaupt kein Wunsch sich regt, bei dem wir Scheu hätten, ihn zum Zeugen zu machen. Dann sollen wir auch dahin gelangen, seine Wohltaten mit rechter, herzlicher Dankbarkeit und auch mit Danksagung anzunehmen; gerade unser Bitten erinnert uns ja daran, daß all diese Gaben aus seiner Hand zu uns kommen! Wenn wir dann weiter auch erlangt haben, um was wir beteten, und in uns die Gewißheit lebt, daß er unseren Wünschen entsprochen hat, dann sollen wir dadurch desto brennender dazu getrieben werden, seine Güte zu betrachten und zugleich auch mit größerer Freude anzunehmen, was wir uns ja, wie wir nun wissen, durch unsere Gebete ausgewirkt haben! Und schließlich erkennen wir ja, daß er nicht allein verheißt, er werde stets bei uns sein, und daß er uns nicht allein aus freien Stücken den Zugang öffnet, ihn gerade in der Not anzurufen, sondern daß er tatsächlich seine Hand stets ausgereckt hat, um den Seinen zu helfen, daß er sie nicht mit Worten narrt, sondern sie mit wirksamer Hilfe in Schutz nimmt! Und unter solcher Erkenntnis soll seine Vorsehung unserem Herzen nach dem Maß seiner Schwachheit eben durch Erfahrung und Erprobung bewiesen werden. Aus diesen Ursachen stellt sich der Vater in seiner großen Barmherzigkeit, obwohl er tatsächlich nie schläft noch schlummert, doch zumeist schlafend und schlummernd, um uns, die wir sonst laß und faul sind, auf solche Weise zu unserem großen Nutzen darin zu üben, ihn zu suchen, ihn zu bitten, ihn anzuflehen! jene Leute, um des Menschen Herz vom Beten abzuhalten, faseln, es sei vergebens, Gottes Vorsehung, die stets zur Hut aller Dinge auf der Wacht stehe, mit unserem störenden Schreien zu ermüden! Es ist doch gewiß nicht umsonst, wenn der Herr demgegenüber selbst bezeugt, er sei „nahe allen, die seinen Namen mit Aufrichtigkeit anrufen“! (Ps. 145,18; nicht Luthertext). Ebensowenig sinnvoll ist auch das Geschwätz anderer, es sei überflüssig, um Dinge zu bitten, die der Herr doch aus freien Stücken zu gewähren bereit sei. Er will ja gerade, daß wir erkennen, wie uns eben das, was er uns aus seiner freien Güte zufließen läßt, auf unsere Bitten hin gewährt ist! Das bezeugt uns ein denkwürdiges Psalmwort, dem noch viele ähnliche zur Seite treten: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Schreien“ (Ps. 34, 16). Hier wird Gottes Vorsehung gerühmt, wie sie aus freien Stücken darauf aus ist, für das Heil der Frommen zu sorgen, aber dabei wird doch zugleich die Übung des Glaubens nicht beiseitegelassen, die alle Lässigkeit aus dem Herzen des Menschen austreibt. So wachen also Gottes Augen, um der Not von uns Blinden abzuhelfen; aber auf der anderen Seite will er auch unsere Seufzer hören, um seine Liebe gegen uns desto besser zu beweisen! So ist beides wahr: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“ (Ps. 121,4) – und doch verzieht er auch, als hätte er uns vergessen, wenn er uns lässig und stumm sieht!



III,20,4

Die erste Regel, um unser Gebet recht und wohl zu gestalten, soll nun die sein: Wir sollen nach Gemüt und Herz so beschaffen sein, wie es Leuten geziemt, die sich aufmachen, um mit Gott ein Gespräch zu haben! Was unser Gemüt betrifft, so werden wir diese Regel dann erfüllen, wenn es von allen fleischlichen Sorgen und Gedanken, die es von dem geraden und reinen Blick auf Gott abwenden oder wegführen könnten, frei ist und sich nicht nur mit ganzer Anspannung auf das Gebet richtet, sondern sich sogar nach Möglichkeit über sich selbst erhebt und hinausträgt. Ich fordere dabei freilich nicht, daß unser Sinn so befreit wäre, daß ihn keinerlei Besorgnis mehr plagte und angriffe; die heiße Inbrunst des Betens muß ja im Gegenteil durch viel Bedrängnis in uns entfacht werden! Wir gewahren doch, wie Gottes heilige Knechte unendliche Qualen, geschweige denn Besorgnisse bezeugen; sie sagen ja, daß sie ihre Stimme aus tiefem Abgrunde und mitten aus dem Rachen des Todes zu Gott erheben! Nein, ich meine dies: wir sollen all die fremden, von außen eindringenden Sorgen ablegen, die unseren ohnehin unsteten Sinn hin- und herzerren, uns vom Himmel herabziehen und auf die Erde drücken. Wenn ich sagte, unser Gemüt müsse sich über sich selbst erheben, so verstehe ich darunter dies: es soll nichts von alledem, was sich unsere blinde, törichte Vernunft zu erdenken pflegt, vor Gottes Angesicht tragen, soll sich auch nicht in die Grenzen der eigenen Eitelkeit einengen lassen, sondern zu der Reinheit emporschwingen, die Gottes würdig ist.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,5

Wir haben es hier mit zwei Erfordernissen zu tun, die beide äußerst beachtenswert sind. (Zunächst:) Wer sich zum Beten anschickt, der soll auch all sein Sinnen und Trachten darauf richten und sich nicht – wie das gewöhnlich geschieht – von flatternden Gedanken hin- und herziehen lassen. Denn der Ehrfurcht vor Gott ist nichts so sehr zuwider wie solche Leichtfertigkeit, die ja nur einen Mutwillen bezeugt, der sich gar zu sehr gehen läßt und von aller Furcht gelöst ist. Hier müssen wir uns um so kräftiger anstrengen, je schwerer es nach unserer Erfahrung ist. Denn es ist keiner mit solcher Anspannung auf das Beten gerichtet, daß er nicht viele querlaufende Gedanken aufkommen merkte, die den Lauf des Gebets unterbrechen oder mit irgend welchem Abbiegen oder Ablenken aufhalten. Da muß uns dann der Gedanke helfen, wie unwürdig es ist, Gottes große Freundlichkeit, mit der er uns zu vertrautem Gespräch zuläßt, dadurch zu mißbrauchen, daß wir Heiliges und Unheiliges durcheinandermischen; das geschieht aber, wenn die Ehrfurcht vor ihm unsere Sinne nicht ganz an sich gefesselt hält, sondern wir so tun, als hätten wir mit einem gewöhnlichen Menschen zu reden, und dann bei unserem Beten ihn vergessen und da und dort herumflattern! Wir sollen also wissen, daß nur der sich recht und ordentlich zum Beten anschickt, der von Gottes Majestät ergriffen ist, um dann alle irdischen Sorgen und Regungen von sich abzutun und zu ihr zu nahen! Das ist der Sinn der frommen Sitte, beim Gebet die Hände aufzuheben: der Mensch soll daran denken, daß er von Gott weit entfernt ist, wenn er seine Sinne nicht in die Höhe emporhebt! So heißt es im 25. Psalm: „Zu dir habe ich meine Seele erhoben“ (Ps. 25,1; nicht Luthertext, aber fast wörtlich Grundtext). Oft braucht die Schrift auch die Wendung: „Gebet erheben“ (z.B. Jes. 37,4): Menschen, die von Gott erhört werden wollen, sollen eben nicht in ihrem Schmutz steckenbleiben! Zusammenfassend sei gesagt: Je freigebiger Gott an uns handelt, indem er uns freundlich einlädt, in seinem Schoß die Last aller unserer Sorgen abzulegen, – desto weniger sind wir entschuldbar, wenn seine herrliche, unvergleichliche Wohltat bei uns nicht gegen alles andere das Übergewicht hat und uns an sich zieht, so daß wir all unser Sinnen und Trachten mit Ernst auf das Beten richten! Das kann aber nicht geschehen, wenn unser Sinn nicht tapfer gegen alle Hemmnisse streitet und sich über sie emporhebt. Zum Zweiten haben wir dann auch festgestellt, daß wir nur soviel erbitten sollen, wie Gott uns erlaubt. Er gebietet uns allerdings, unser Herz vor ihm auszuschütten (Ps. 62,9). Aber damit läßt er nicht etwa unseren törichten, bösen Regungen ohne Unterschied die Zügel schießen! Wenn er verheißt, er werde nach dem Willen der Frommen verfahren, dann geht seine Nachsicht nicht so weit, daß sie sich unserem Gutdünken unterwirft! In beiden Stücken aber wird immer wieder schwer gefehlt. Nicht nur wagen es sehr viele Menschen, Gott ohne Scheu und ohne Ehrerbietung mit ihren Albernheiten anzusprechen und unverfroren alles vor seinen Richtstuhl zu bringen, was ihnen irgendwie im Traum eingefallen ist – nein, sie sind gar von solcher Torheit und Empfindungslosigkeit besessen, daß sie Gott ohne Scheu ihre schmutzigsten Begierden aufdrängen, die sie sich sehr schämen würden, Menschen kundzugeben! Diese Vermessenheit haben sogar einige unfromme Menschen verlacht und verabscheut; trotzdem hat aber dieses Laster stets regiert. So ist es dazu gekommen, daß ehrgierige Menschen den Jupiter zu ihrem Patron herbeiholten, Geizhälse den Merkur, Wissensdurstige den Apollo und die Minerva, Kriegslustige den Mars und Buhlerische die Venus! Ebenso verstatten heutzutage die Menschen – wie ich bereits berührte – ihren unerlaubten Begierden im Gebet mehr ausgelassene Freiheit, als wenn sie sich als Gleiche unter Gleichen lustige Geschichten erzählten! Aber Gott duldet es nicht, daß man mit seiner Freundlichkeit solchen Spott treibt, sondern er wahrt sich sein Recht, und deshalb unterwirft er unsere Wünsche seinem Befehl und hält sie fest am Zügel. Darum sollen wir an das Wort des Johannes denken: „Und das ist die Freudigkeit, die wir haben zu ihm, daß, so wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns“ (1. Joh. 5,14). Nun ist aber unser Vermögen bei weitem zu solcher Vollkommenheit nicht fähig, und deshalb müssen wir ein Heilmittel suchen, das uns zu Hilfe kommt. Wie wir (beim Beten) die ganze Schärfe unseres Sinnes auf Gott richten sollen, so muß auch die Regung des Herzens die gleiche Richtung nehmen. Beide bleiben aber weit zurück, ja, richtiger: sie werden müde und matt oder gar in die entgegengesetzte Richtung getrieben. Um nun dieser unserer Schwachheit zu Hilfe zu kommen, gibt uns Gott bei unseren Bitten den Heiligen Geist zum Lehrmeister: er sagt uns vor, was recht ist, und er bringt unsere Regungen ins richtige Maß. Weil wir nämlich „nicht wissen, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“, so kommt er uns

zu Hilfe und tritt für uns ein „mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm. 8,26). Das heißt nicht, daß er wirklich betete oder seufzte, sondern er erweckt in uns Zuversicht, Wünsche und Seufzer, die unsere natürlichen Kräfte nie und nimmer hervorzubringen imstande wären. Es ist nicht ohne Grund, wenn Paulus die Seufzer, welche die Gläubigen unter Leitung des Geistes ausstoßen, „unaussprechlich“ nennt: wer wirklich im Beten geübt ist, der weiß sehr wohl, wie er dermaßen in heimliche Ängste verstrickt gehalten wird, daß er kaum herausfindet, was er eigentlich recht sagen soll; ja, selbst wenn er zu stammeln versucht, so bleibt er alsbald verwirrt stecken. Daraus ergibt sich, daß rechtes Beten eine besondere Gabe ist. Dies wird nicht ausgesprochen, damit wir unserer eigenen Lässigkeit nachgeben, dem Geiste Gottes die Aufgabe, zu beten, völlig überlassen und nun stumpf und faul in jene Sorglosigkeit verfallen, zu der wir ohnehin mehr als genug neigen! Man kann tatsächlich gottlose Stimmen zu hören bekommen, wir sollten teilnahmslos abwarten, bis der Geist unseren Sinnen, die mit anderen Dingen beschäftigt wären, zuvorkäme! Nein, alle diese Ausführungen haben vielmehr den Zweck, daß wir unsere Faulheit und Trägheit tief betrauern und damit solchen Beistand des Geistes begehren. Wenn Paulus gebietet, wir sollten „im Geist beten“ (1. Kor. 14,15), so hört er doch nicht auf, uns zur Wachsamkeit zu ermahnen; damit deutet er an, daß der Antrieb des Geistes zwar seine Kraft darin ausübt, daß er uns zum Beten treibt, aber doch so, daß er dadurch unsere Anstrengung keineswegs hindert oder hemmt! Denn gerade an diesem Stück will Gott erproben, mit welcher Kraft der Glaube unser Herz treibt!



III,20,6

Jetzt die zweite Regel: Wir sollen bei unserem Beten stets unseren Mangel wahrhaft empfinden, ernstlich bedenken, daß uns alles das fehlt, was wir erbitten, und dementsprechend auch eine ernstliche, ja brennende Sehnsucht, es zu erlangen, mit unserem Gebet verbinden. Viele Leute plappern geschäftsmäßig ihre Gebete nach festen Formeln daher, als ob sie Gott einen festgesetzten Dienst ableisteten. Sie bekennen zwar, dies sei für ihre Nöte ein notwendiges Heilmittel, weil es ja Verderben brächte, die Hilfe Gottes zu missen, um die sie beteten. Aber es wird doch offenkundig, daß sie hier bloß um der Gewohnheit willen solche Pflicht erfüllen; denn ihr Herz ist unterdessen kalt und erwägt gar nicht, was es bittet! Sie werden zwar von einem allgemeinen, verworrenen Empfinden ihrer Not zum Beten getrieben, aber sie kommen dadurch nicht in eine solche Besorgnis hinein, wie man sie in unmittelbar dringender Sache empfindet, so daß sie etwa wirklich eine Erleichterung ihres Jammers erstrebten! Was sollten wir ferner für häßlicher und Gott widerwärtiger halten, als jene Heuchelei, daß einer Vergebung der Sünden begehrt, aber unterdessen meint, er sei gar kein Sünder, oder wenigstens nicht bedenkt, daß er ein Sünder ist! Mit solcher Heuchelei treibt man mit Gott offen seinen Spott! Aber das Menschengeschlecht ist, wie ich bereits sagte, von solcher Niedertracht erfüllt, daß man oft, nur um sich eine Verpflichtung vom Halse zu laden, von Gott Dinge erbittet, unterdessen aber der sicheren Anschauung ist, sie kämen ohne sein Wohltun von anderswoher, oder man hätte sie schon in Besitz. Es gibt dann andere, deren Vergehen leichter erscheint, aber auch durchaus untragbar ist: sie haben bloß den einen Grundsatz gelernt, man müsse Gott mit Gebeten günstig stimmen, und darum murmeln sie ihre Gebete ohne Bedacht daher. Die Frommen sollen sich dagegen aufs schärfste davor hüten, ja vor Gottes Angesicht zu treten und etwas zu begehren, was sie nicht in ernster Inbrunst ihres Herzens glühend ersehnen und zugleich von ihm zu erlangen trachten. Es könnte nun freilich auf den ersten Blick so scheinen, als ob wir bei den Bitten, die sich allein auf Gottes Ehre beziehen, nicht für unsere eigene Not sorgten; trotzdem muß auch da unser Bitten mit nicht weniger heißem und eindringlichem Verlangen geschehen. Wenn wir zum Beispiel beten: „Dein Name werde geheiligt“, so müssen wir, wenn ich so sagen darf, inbrünstig nach solcher Heiligung hungern und dürsten.



III,20,7

Wenn jemand hier den Einwurf macht, wir würden doch nicht stets von gleicher Not zum Beten getrieben, so gebe ich das allerdings zu; es ist auch nützlich, daß uns Jakobus eine derartige Unterscheidung bereits lehrt: „Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Muts, der singe Psalmen!“ (Jak. 5,13). So sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, daß wir, die wir gar zu lässig sind, je nach Notwendigkeit gelegentlich von Gott heftiger zu ernstlichem Beten getrieben werden. Diese Zeit nennt David die „rechte Zeit“ (Ps. 32,6); denn je härter uns – wie er das an sehr vielen anderen Stellen darlegt – Not, Ungemach, Schrecken und allerlei andere Anfechtungen drücken, desto freier steht uns der Zugang zu Gott offen – es ist gerade, als wenn er uns durch dergleichen Widerfahrnisse an sich heranholte! Indessen ist es nicht weniger richtig, wenn Paulus uns sagt, wir sollten „stets“ beten (Eph. 6,18). Denn mag auch nach der Meinung unseres Herzens alles gut gehen, mag uns allenthalben nur Anlaß zur Freude umgeben, so gibt es doch keinen Augenblick, in dem uns unsere Armut nicht zum Beten mahnte. Mag auch einer an Wein und Weizen Überfluß haben, so kann er doch nicht einmal einen Bissen Brot ohne Gottes beständige Gnade genießen, und so sind ihm Vorratskammern und Scheunen doch wohl nicht im Wege, um das „tägliche Brot“ zu bitten! Wenn wir dann noch in Betracht ziehen, wieviel Gefahren uns jeden Augenblick drohen, so wird uns schon die Furcht lehren, daß wir keine Zeit vom Beten ablassen sollen. Noch deutlicher läßt sich das aber in geistlichen Dingen erkennen. Wann sollten uns denn all unsere Sünden, deren wir uns bewußt sind, einmal erlauben, daß wir sicher würden und davon abließen, demütig um Tilgung von Schuld und Strafe zu bitten? Wann sollen uns denn die Anfechtungen einmal einen Waffenstillstand gewähren, daß wir nicht eilen müßten, um uns Hilfe zu holen? Zudem soll uns der Eifer um Gottes Reich und Ehre nicht in Abständen, sondern immerfort ergreifen, so daß wir stets die gleiche Gelegenheit haben zu beten! Es ist also nicht umsonst, daß uns so oft geboten wird, „ohne Unterlaß“ zu beten. Ich rede hier noch nicht von der Beharrlichkeit im Beten; davon muß später noch gesprochen werden. Aber wenn uns die Schrift mahnt, ohne Unterlaß zu beten, so tadelt sie damit unsere Lässigkeit: wir empfinden eben nicht, wie nötig diese Sorge und dieser Fleiß für uns ist! Diese Regel hält die Heuchelei und die Verschlagenheit, mit der man Gott belügt, vom Gebet fern, ja, sie treibt sie weit weg. Gott verheißt, er wolle allen nahe sein, die ihn in Aufrichtigkeit anrufen, er tut kund, daß ihn alle finden werden, die ihn von ganzem Herzen suchen (Ps. 145,18; Jer. 29,13f.); wer sich aber in seinem Schmutz gefällt, der hat solche Sehnsucht nicht. Rechtes Gebet erfordert also die Buße. Daher kommt es, daß die Schrift immer wieder erklärt, Gott erhöre die Missetäter nicht, ihre Gebete wie auch ihre Opfer seien ihm zuwider; es ist ja auch billig, wenn die, welche ihr Herz verschließen, Gottes Ohren verschlossen, und wenn die, die seinen Zorn durch ihre Härte hervorrufen, ihn unbeugsam finden. In diesem Sinne droht er bei Jesaja: „Und ob ihr auch schon viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut!“ (Jes. 1,15). Ebenso bei Jeremia: „Ich rief – und sie weigerten sich, zu hören; und sie werden wiederum mich rufen; ich aber will sie nicht hören!“ (Jer. 11,7f.11; summarisch). Denn in seinen Augen ist es die schlimmste Schandtat, wenn die Gottlosen seinen Bund für sich in Anspruch nehmen, die doch mit ihrem ganzen Leben seinen heiligen Namen besudeln. Deshalb klagt auch der Herr bei Jesaja, das Volk nahe sich ihm zwar mit seinen Lippen, aber sein Herz sei fern von ihm (Jes. 29,13). Das schränkt er nun aber nicht auf das Beten allein ein, sondern er erklärt, daß ihm die Heuchelei in allem, was seiner Verehrung dienen mag, widerwärtig ist. Dahin gehören die Worte des Jakobus: „Ihr bittet, und nehmet nicht, darum daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr’s mit euren Wollüsten verzehret“ (Jak. 4,3). Es ist allerdings richtig – und wir werden das bald erneut sehen -, daß die Gebete, die die Frommen vor dem Herrn ausschütten, sich nicht auf ihre Würdigkeit stützen; aber trotzdem ist die Mahnung des Johannes nicht überflüssig: „Was wir bitten, werden wir von ihm nehmen; denn wir halten seine Gebote …“ (1. Joh. 3,22). Ein böses Gewissen schließt uns eben das Tor zu! Es ergibt sich daraus, daß nur die, welche Gott in Lauterkeit dienen, recht beten und erhört werden. Wer sich also zum Beten anschickt, der soll in allen seinen bösen Werken Mißfallen an sich haben und nach Gestalt und Gebärde als ein Bettler erscheinen. Das kann aber nicht ohne die Buße geschehen.
Simon W.

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III,20,8

Dazu kommt dann die dritte Regel: Wenn einer sich vor Gott hinstellt, um zu beten, so soll er sich jedes Gedankens an eigenen Ruhm entschlagen, soll jeden Wahn eigener Würdigkeit ablegen, kurz, alle Zuversicht auf sich selber fahren lassen und in solcher Verwerfung seiner selbst alle Ehre Gott allein geben. Wir würden ja sonst, wenn wir uns selbst etwas beimessen wollten, und sei es auch noch so gering, mit unserer eitlen Aufgeblasenheit vor seinem Angesicht zuschanden werden. Für diese Unterwerfung, die alle Hoheit zu Boden schlägt, haben wir an den Knechten Gottes sehr viele Beispiele. Ja, gerade die Heiligsten unter ihnen werfen sich am tiefsten darnieder, wenn sie vor das Angesicht des Herrn treten. So betete Daniel, den der Herr selbst mit so hohem Lobpreis gerühmt hatte: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet, nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach, Herr, höre, ach, Herr, sei gnädig, ach, Herr, merke auf und tue, um was wir bitten … um deiner selbst willen; denn dein Name ist doch angerufen worden über dieser Stadt und über deiner heiligen Stätte!“ (Dan. 9,18f.; Schluß nicht Luthertext). Da mischt er sich nicht mit einer versteckten Wendung wie einer aus dem Volke unter die Menge, wie man das so zu tun pflegt; nein, er bekennt sich ganz für sich als schuldig und nimmt demütig seine Zuflucht zu der Freistatt der Vergebung, wie er es ausdrücklich kundgibt: „Als ich so meine und meines Volks Sünde bekannte …“ (Dan. 9,20). Solche Demut lehrt uns auch David durch sein eigenes Beispiel; er spricht: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 143,2). In dieser Weise betet auch Jesaja: „Siehe, du zürntest wohl, da wir sündigten (…). Auf deine Wege ist ja die Welt gegründet, und deshalb werden wir gerettet werden. Aber nun sind wir allesamt voll Unreinigkeit, und alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid. Wir sind alle verwelkt wie die Blätter, und unsere Sünden führen uns dahin wie ein Wind. Niemand ruft deinen Namen an oder macht sich auf, daß er sich an dich halte; denn du verbirgst dein Angesicht vor uns und lässest uns in unseren Sünden verschmachten. Aber nun, Herr, du bist unser Vater; wir sind Ton, du bist unser Töpfer, und wir sind alle deiner Hände Werk. Herr, zürne nicht … und denke nicht ewig der Sünde. Siehe doch das an, daß wir alle dein Volk sind!“ (Jes. 64,4-8; nicht durchweg Luthertext). Da sieht man, wie sich diese Menschen durchaus auf keinerlei Zuversicht stützen, außer einer einzigen: sie bedenken, daß sie Gott gehören, und zweifeln deshalb nicht daran, daß er für sie sorgen werde. Nicht anders redet Jeremia: „Wenn unsere Missetaten wider uns zeugen, so tu es doch um deines Namens willen!“ (Jer. 14,7; nicht Luthertext). Sehr wahr und zugleich sehr heilig ist auch ein Wort, das ein unbekannter Verfasser – er mag schließlich sein, wer er will – geschrieben hat und das man dem Propheten Baruch zuschreibt: „Eine Seele, die da traurig ist und trostlos über der Größe ihrer Bosheit, die gebeugt ist und schwach, eine Seele, die da hungert, und ein Auge, das ermattet – die geben dir die Ehre, Herr. Nicht um der Gerechtigkeit unserer Väter willen schütten wir unsere Gebete vor dir aus und begehren wir Barmherzigkeit vor deinem Angesicht, Herr, unser Gott, sondern, weil du barmherzig bist, darum erbarme dich unser; denn wir haben wider dich gesündigt!“ (Bar. 2,18-20; nicht Luthertext).



III,20,9

Kurz, der Eingang und zugleich auch die Vorbereitung zu rechtem Beten ist das Bitten um Vergebung unter demütigem und aufrichtigem Bekenntnis unserer Schuld. Denn es ist nicht zu erwarten, daß jemand – auch wenn er der Heiligste wäre! – etwas von Gott gewährt bekommt, ehe er aus Gnaden mit ihm versöhnt ist; es kann auch nicht sein, daß Gott anderen Menschen gnädig wäre, als denen, denen er Verzeihung gewährt. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sich die Gläubigen mit diesem Schlüssel die Tür zum Beten auftun. Das lernen wir aus recht vielen Psalmstellen. So spricht David an einer Stelle, an der er (im übrigen) um etwas anderes bittet: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen, Herr!“ (Ps. 25,7). Oder ebenso: „Siehe an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden!“ (Ps. 25,18). Da sehen wir auch, daß es nicht genug ist, daß wir uns Tag für Tag für die neuen Sünden zur Rechenschaft ziehen, wenn uns nicht zugleich die Sünden wieder ins Gedächtnis kommen, die bereits der Vergessenheit anheimgefallen scheinen könnten. So bekennt der gleiche Prophet an anderer Stelle eine schwere Missetat, aber er greift doch bei dieser Gelegenheit zurück bis an den Mutterleib, in dem er sich bereits Befleckung zugezogen hatte (Ps. 51,7). Das tut er nicht, um seine Schuld durch den Hinweis auf die Verderbtheit der Natur zu verkleinern, sondern er will die Sünden seines ganzen Lebens aufeinanderhäufen, und je härter er sich verdammt, desto mehr möchte er bei Gott Erhörung finden! Freilich erbitten die Heiligen die Vergebung der Sünden nicht immer mit ausdrücklichen Worten; wenn wir aber ihre Gebete, wie sie uns die Schrift überliefert, gründlich durchgehen, dann wird uns das, was ich meine, unschwer entgegentreten: sie haben den Mut zum Beten allein aus Gottes Barmherzigkeit genommen und deshalb stets damit den Anfang gemacht, daß sie ihn versöhnten. Denn wenn einer sein Gewissen befragt, so kommt er nicht von ferne zu dem Wagnis, seine Sorgen vertrauensvoll bei Gott niederzulegen, nein, er wird sogar zittern, sich Gott zu nahen, wenn er sich nicht auf seine Barmherzigkeit und Vergebung verläßt. Es gibt freilich daneben noch ein anderes, besonderes Schuldbekenntnis, in dem sie um Linderung der Strafen bitten, aber doch auch gleichzeitig darum beten, daß ihnen ihre Sünden vergeben werden; es wäre ja auch widersinnig, wenn sie wollten, daß die Wirkung behoben würde, während unterdessen die Ursache bestehen bliebe. Wir müssen uns hüten, es nicht zu machen wie törichte Kranke, die sich bloß um die Behandlung der äußeren Krankheitserscheinungen Sorge machen, die Wurzel der Krankheit aber vernachlässigen. Nein, wir müssen uns zuerst darum mühen, daß Gott uns gnädig sei, und erst dann darum, daß er uns seine Gunst auch an äußeren Zeichen beweise; denn er will selbst diese Reihenfolge einhalten; es würde uns auch gar wenig nutzen, wenn wir seine Wohltätigkeit zu spüren bekämen, ohne daß unser Gewissen die Empfindung hätte, daß er mit uns versöhnt ist, und ohne daß es uns voll und ganz die Gewißheit verschaffte, daß wir ihn lieben dürfen. Daran mahnt uns auch eine Antwort, die Christus gegeben hat; er hatte beschlossen, den Gichtbrüchigen zu heilen – und da sagte er zu ihm: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ (Matth. 9,2). Damit richtet er die Herzen auf das, was vor allem zu wünschen ist, nämlich: daß uns Gott in Gnaden annimmt und uns dann auch die Frucht der Versöhnung in der Hilfe zukommen läßt, die er uns gewährt. Neben diesem besonderen Bekenntnis einer gegenwärtigen Schuld, in dem die Gläubigen Vergebung erflehen, um Erlaß jeder Schuld oder Strafe zu erhalten – sollen wir übrigens jenen allgemeinen Gebetseingang, der unseren Bitten freundliche Aufnahme verschafft, niemals beiseite lassen. Denn unsere Bitten werden vor Gott nie und nimmer Erhörung finden, wenn sie nicht auf die aus reiner Gnade an uns geschehende Barmherzigkeit gegründet sind. Darauf läßt sich das Wort des Johannes beziehen: „So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend“ (Joh. 1,9). Daher mußten auch unter dem Gesetz die Gebete unter sühnendem Blutvergießen geheiligt werden, um (vor Gott) angenehm zu sein (vgl. Gen. 12,8; 26,25; 33,20). Damit sollte dem Volke zum Bewußtsein gebracht werden, daß es des Vorrechts einer solchen Ehre unwürdig war, bis es, von seinen Untugenden gereinigt, allein aus Gottes Barmherzigkeit die Zuversicht zum Bitten gewonnen hatte!



III,20,10

Zuweilen scheinen sich freilich die Gläubigen auch auf das Zeugnis ihrer eigenen Gerechtigkeit zu berufen, um von Gott erhört zu werden. So sagt David: „Bewahre meine Seele; denn ich bin rechtschaffen“ (Ps. 86,2; nicht Luthertext). Oder Hiskia betet: „Herr, gedenke doch, daß ich aufrichtig vor dir gewandelt habe und habe getan, was dir wohlgefällt!“ (2. Kön. 20,3; nicht ganz Luthertext). Mit solchen Wendungen wollen sie aber nichts anderes, als sich eben um der Wiedergeburt willen als Gottes Knechte und Kinder zu bezeugen, denen er doch selbst verheißen hat, er wolle ihnen gnädig sein. Er lehrt, wie wir bereits hörten, durch den Mund seines Propheten: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Schreien“ (Ps. 34,16). Und den Apostel läßt er sprechen: „Was wir bitten, werden wir von ihm nehmen; denn wir halten seine Gebote“ (1. Joh. 3,22). In diesen Sprüchen erklärt er uns nicht etwa, das Gebet solle um des Verdienstes der Werke willen einen Wert haben, sondern er will auf diese Weise die Zuversicht derer stärken, die sich aufrichtig einer ungeheuchelten Lauterkeit und Unschuld bewußt sind – und so sollten ja alle Gläubigen zumal geartet sein! Es ist doch aus Gottes Wahrheit selbst heraus geredet, wenn bei Johannes der Blinde, der sehend geworden ist, sagt: „Wir wissen aber, daß Gott die Sünder nicht hört“ (Joh. 9,31). Dabei müssen wir uns freilich den Sprachgebrauch der Schrift zu eigen machen und unter „Sündern“ solche Leute verstehen, die ohne Verlangen nach der Gerechtigkeit ganz in ihren Sünden schlafen und ruhen; es wird eben kein Herz je zur lauteren Anrufung Gottes gelangen, das sich nicht zugleich nach einem gottesfürchtigen Leben sehnt. Derartigen Verheißungen entsprechen dann auch die Beteuerungen der Heiligen, die auf diese Weise ihre Reinheit und Unschuld in Erinnerung bringen, um dadurch zu erfahren, daß an ihnen offenbar wird, was alle Knechte Gottes erwarten sollen! Ferner finden wir auch, daß sie solcherlei Gebete meistens dann angewandt haben, wenn sie sich vor dem Herrn mit ihren Feinden verglichen, von deren Ungerechtigkeit sie durch des Herrn Hand gerettet zu werden begehrten. Bei solcher Vergleichung ist es nicht verwunderlich, wenn sie ihre Gerechtigkeit und die Einfalt ihres Herzens vorbrachten, um den Herrn unter Berufung auf die Billigkeit ihrer Sache desto mehr zum Helfen zu bewegen. Wir wollen dem frommen Herzen dies Gut also nicht wegnehmen, daß es vor dem Herrn seines guten Gewissens genieße, um sich an den Verheißungen zu stärken, mit denen der Herr seine wahren Diener tröstet und kräftig macht. Wir wollen vielmehr, daß die Zuversicht auf Erhörung sich allein auf Gottes Güte stützt und daß der Mensch dabei jeden Gedanken an eigenes Verdienst von sich abtut.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,11

Nun zum Schluß die vierte Regel: Wir sollen gewiß in dieser Weise in wahrer Demut zu Boden geworfen und erniedrigt sein, uns aber nichtsdestoweniger von der sicheren Hoffnung auf Erhörung zum Beten ermuntern lassen. Es ist dem Anschein nach freilich ein Widerspruch, wenn man mit dem Empfinden der gerechten Strafvergeltung Gottes die gewisse Zuversicht auf seine Gnade verbindet. Aber dies beides kommt doch vollkommen überein, sofern Gottes Güte die aufrichtet, die unter ihren eigenen Sünden erdrückt werden. Ich habe oben bereits dargelegt, wie Buße und Glaube Bundesgenossen sind, die durch ein unzertrennliches Band miteinander verflochten sind; und das, obwohl uns die Buße erschreckt, der Glaube uns aber mit Freude erfüllt; dementsprechend müssen sie nun beim Beten beide einander begegnen! Dieses Zusammenwirken beschreibt David mit wenigen Worten: „Ich aber will in dein Haus gehen auf deine große Güte und anbeten gegen deinen heiligen Tempel in deiner Furcht“ (Ps. 5,8). Mit der Güte Gottes denkt er zugleich an den Glauben; aber dabei schließt er die Furcht nicht aus, weil uns nicht bloß seine Majestät zur Ehrerbietung zwingt, sondern uns zugleich unsere eigene Unwürdigkeit allen Hochmut und alle Sicherheit vergessen läßt und uns unter der Furcht hält! Ich meine nun aber keine Zuversicht, die unser Herz von jedem Empfinden der Angst freimachte und uns in bequemer und ungestörter Ruhe wiegte. Denn so friedlich zu ruhen, das wäre die Sache solcher Leute, denen alles nach Wunsch geht, die deshalb keine Sorge berührt, in denen kein Verlangen brennt und die von keiner Furcht gequält werden! Für die Heiligen ist es aber der beste Ansporn zur Anrufung Gottes, wenn die Not sie auf die Folter spannt und sie dadurch von höchster Unruhe gemartert und fast entmutigt werden, bis der Glaube ihnen zur rechten Zeit zu Hilfe kommt! Denn mitten in solchen Ängsten leuchtet ihnen Gottes Güte hell auf, und nun seufzen sie zwar, ermüdet unter der Last ihrer gegenwärtigen Nöte, werden auch von der Furcht vor noch größeren bedrückt und gequält, aber sie trauen auf Gottes Güte, und so wird ihnen in der Schwere ihres Duldens Erleichterung und Trost zuteil, und sie hoffen auf das Ende und auf ihre Befreiung. So soll sich das Gebet des Frommen aus einer doppelten Regung erheben, und es muß zweierlei in sich tragen und darstellen: der Mensch seufzt unter seinen gegenwärtigen Nöten, lebt auch in Angst und Furcht vor weiteren, aber dennoch nimmt er zugleich seine Zuflucht zu Gott und zweifelt nicht im mindesten daran, daß er bereit ist, ihm seine helfende Hand zuzustrecken. Es ist nämlich gar nicht zu sagen, wie sehr Gott durch unser mangelndes vertrauen erzürnt wird, wenn wir also von ihm eine Wohltat begehren, die wir tatsächlich gar nicht erwarten. Dem Wesen des Gebets ist daher nichts mehr angemessen, als daß ihm die Regel vorgeschrieben und festgesetzt wird, nicht etwa unbedacht vorzustürmen, sondern dem Glauben zu folgen, der vorangeht. Zu diesem Grundsatz ruft Christus uns alle, wenn er spricht: „Darum sage ich euch: alles, was ihr bittet …, glaubet nur, daß ihr’s empfangen werdet, so wird’s euch werden!“ (Mark. 11,24). Auch an anderer Stelle bestätigt er das: „Alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr’s glaubet …“ (Matth. 21,22). Damit stimmt auch ein Wort des Jakobus überein: „So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte Gott, der da gibt einfältig jedermann, und rücket’s niemand auf (…). Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht …“ (Jak. 1,5f.). Hier stellt er Glauben und Zweifel in Gegensatz zueinander und bringt die Kraft des Glaubens treffend zum Ausdruck. Nicht weniger bemerkenswert ist auch das Weitere: Menschen, die Gott in Ungewißheit und Zweifel anrufen, und die in ihrem Herzen nicht sicher sind, ob sie erhört werden oder nicht, werden mit ihrem Gebet nichts erreichen (Vers 8). Solche Leute vergleicht er auch mit der „Meereswoge“, „die vom Winde getrieben und gewebt wird“ (Vers 6). Deshalb bezeichnet er auch anderwärts das rechte Gebet als „Gebet des Glaubens“ (Jak. 5,15). Auch versichert Gott ja immer wieder, er werde jedem einzelnen geben nach seinem Glauben, und damit gibt er uns zu verstehen, daß man ohne den Glauben nichts erlangen kann: Kurz, was uns auf unser Gebet hin gewährt wird, das erringt tatsächlich der Glaube. Das ist der Sinn eines berühmten Pauluswortes, das von törichten Menschen gar zu wenig beachtet wird: „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? … So kommt der Glaube aus dem Hören, das Hören aber aus dem Wort Gottes!“ (Röm. 10,14.17; nicht durch, weg, Luthertext). Bei dieser stufenweisen Ableitung führt er den Ausgangspunkt des Gebets auf den Glauben zurück, und damit behauptet er offen, daß Gott nur von denen aufrichtig angerufen werden kann, denen durch die Predigt des Evangeliums seine Freundlichkeit und Freigebigkeit bekannt geworden, ja vertraut vor Augen gestellt ist!



III,20,12

Diese Notwendigkeit bedenken unsere (römischen) Widersacher nun in keiner Weise. Wenn wir den Gläubigen gebieten, in getroster Zuversicht ihres Herzens daran festzuhalten, daß Gott ihnen gnädig und wohlwollend gegenüberstehe, so meinen sie, wir sprächen das denkbar Widersinnigste aus. Hätten sie aber irgendwelche Erfahrung im wahren Beten, so würden sie gleich einsehen, daß man Gott ohne solch sicheres Empfinden des göttlichen Wohlwollens gar nicht recht anrufen kann. Es kann nur der die Kraft des Glaubens recht verstehen, der sie aus eigener Erfahrung an seinem Herzen empfindet; – was soll man aber dann in der Auseinandersetzung mit solchen Menschen erreichen, die offen an den Tag legen, daß sie nie etwas anderes gehabt haben als eine eitle Einbildung? Was diese Gewißheit, die wir fordern, für einen Wert hat und wie notwendig sie ist, das lernt man vor allem aus der Anrufung Gottes selbst, und wer das nicht sieht, der zeigt, daß er ein recht stumpfes Gewissen hat. Wir wollen also solche blinden Menschen übergehen und uns fest an das Wort des Paulus anklammern, nach dem Gott nur von denen angerufen werden kann, die seine Barmherzigkeit aus dem Evangelium erkannt haben und nun ganz gewiß sind, daß sie auch für sie bereit ist. Wie würde denn solch ein Gebet aussehen (wie es die Widersacher für allein möglich halten)? „O Herr, ich bin zwar im Zweifel, ob du mich erhören willst. Aber die Angst drückt mich, und so nehme ich meine Zuflucht zu dir, damit du mir hilfst, wenn ich dessen würdig bin!“ So waren alle die Heiligen, deren Gebete wir in der Schrift lesen, nicht gewohnt zu beten! So zu beten lehrt uns auch der Heilige Geist nicht, der uns durch den Mund des Apostels gebietet: „Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenftuhl, auf daß wir … Gnade finden …“ (Hebr. 4,16), und der uns an anderer Stelle lehrt: „… wir haben Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an Christus“ (Eph. 3,12). Diese Gewißheit also, daß wir empfangen, was wir erbitten, die uns der Herr mit eigenem Wort aufträgt und die uns alle Heiligen durch ihr Beispiel lehren, gilt es mit beiden Händen festzuhalten, wenn wir mit Frucht beten wollen! Nur ein solches Gebet ist Gott wohlgefällig, das aus solcher – wenn ich so sagen darf – Vermessenheit des Glaubens entspringt und auf die unerschütterliche Gewißheit der Hoffnung gegründet ist! Paulus hätte sich (an der obigen Stelle Eph. 3,12) auch damit begnügen können, einfach vom Glauben zu reden, aber er fügt nicht allein die Zuversicht hinzu, sondern rüstet sie auch mit Freudigkeit oder Kühnheit aus, um an diesem Kennzeichen einen Unterschied zwischen uns und den Ungläubigen zu machen, die gleich uns zu Gott beten, aber eben aufs Geratewohl! Aus diesem Grunde betet die ganze Kirche mit dem Psalmwort: „Deine Güte, Herr, sei über uns, wie wir auf dich hoffen!“ (Ps. 33,22). Die gleiche Bedingung stellt der Prophet auch an anderer Stelle auf: „An dem Tage, da ich rufe, werde ich des inne, daß du, Gott, mit mir bist!“ (Ps. 56,10, nicht Luthertext). Oder auch: „Frühe will ich mich zu dir schicken und aufmerken“ (Ps. 5,4). Aus diesen Worten nämlich ergibt sich für uns: das Gebet ist ein vergeblicher Streich in die Luft, wenn nicht mit ihm die Hoffnung verbunden ist, in der wir gleichsam wie von einer Warte aus ruhig nach Gott ausschauen. Damit steht auch die Reihenfolge einer Ermahnung des Paulus im Einklang: er will die Gläubigen ermuntern, „mit allem Anhalten und Flehen“ allezeit im Geiste zu beten; aber zuvor gebietet er ihnen, den „Schild des Glaubens“, den „Helm des Heils“ und das „Schwert des Geistes“ zu ergreifen, „welches ist das Wort Gottes“ (Eph. 6,16.18). Hier mag sich der Leser nun weiter daran erinnern, daß, wie bereits gesagt, der Glaube keineswegs ins Wanken gerät, wenn er mit der Erkenntnis unseres Elendes, unserer Armut und unserer Beflecktheit verbunden ist. Die Gläubigen mögen noch so sehr die Erfahrung machen, daß sie von der schweren Last ihrer Missetaten bedrückt werden und sich unter ihr abmühen, sie mögen empfinden, wie ihnen nicht nur alles abgeht, was ihnen bei Gott Gunst verschaffen könnte, sondern wie sie noch mit viel Schuld beladen sind, die Gott für sie mit Recht furchterregend macht – so hören sie dennoch nicht auf, sich vor ihn zu stellen, und solches Empfinden schreckt sie nicht davon ab, sich zu ihm zu wenden; es gibt eben keinen anderen Zugang zu ihm! Denn das Gebet ist nicht dazu eingesetzt, daß wir uns damit anmaßend vor Gott erheben oder etwas von dem Unseren hoch preisen, sondern dazu, daß wir unsere Schuld bekennen und unseren Jammer vor ihm beweinen; so wie Kinder bei ihren Eltern ihre Nöte vertraulich niederlegen dürfen. Ja, in der unermeßlichen Fülle unserer Nöte müssen vielmehr lauter Ansporne und Stachel stecken, die uns zum Beten antreiben, wie es auch der Prophet an seinem Beispiel zeigt: „Heile meine Seele; denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps. 41,5). Ich gebe zwar zu, daß diese Stachel tödliche Stiche austeilen würden, wenn Gott uns nicht zu Hilfe käme; aber unser lieber Vater hat ja in seiner unvergleichlichen Güte dafür eine wirksame Arznei gegeben, mit der er alle Wirrnis stillt, alle Sorgen lindert, aller Furcht ein Ende macht, uns freundlich zu sich lockt, ja, alle Bedenken und erst recht alle Hemmnisse wegräumt und uns einen gangbaren Weg bahnt!



III,20,13

Zunächst: er gebietet uns, zu beten, und beschuldigt uns schon durch solche Weisung gottloser Halsstarrigkeit, wenn wir nicht gehorsam sind. Ein klareres Gebot hätte gar nicht gegeben werden können, als das im 50. Psalm: „Rufe mich an in der Not!“ (Ps. 50,15). Keine unter den Pflichten der Frömmigkeit empfiehlt uns die Schrift häufiger als das Beten, und deshalb brauche ich mich hier nicht lange aufzuhalten. „Bittet“, sagt unser Meister, „so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgetan!“ (Matth. 7,7). Diesem Gebot fügt er freilich auch eine Verheißung bei, wie das auch nötig ist; denn es geben wohl alle Menschen zu, man müsse dem Gebot gehorchen; aber es würde doch ein großer Teil vor Gottes Rufen fliehen, wenn er nicht die Verheißung gäbe, er wolle uns erhören und uns freundlich entgegenkommen. Haben wir dies Doppelte (Gebot – Verheißung) festgestellt, so ist es zugleich sicher, daß alle, die Ausflüchte suchen, um nicht geradewegs zu Gott zu kommen, nicht nur widerspenstig und ungehorsam, sondern auch ihres Unglaubens überführt sind, weil sie ja den Verheißungen kein Vertrauen schenken! Das ist besonders zu bemerken, weil die Heuchler unter dem Deckmantel der Demut und Bescheidenheit Gottes Gebot hoffärtig verachten und zugleich seiner freundlichen Einladung den Glauben verweigern, ja, ihn damit des vornehmsten Stücks seiner Verehrung berauben. Denn er verwirft (in dem oben genannten Psalm 50, Vers 7-13) die Opfer, in denen dazumal alle Heiligkeit zu liegen schien, erklärt aber zugleich, daß bei ihm dies besonders und vor allem anderen als köstlich gelte, daß man ihn am Tage der Not anrufe! (Ps. 50,15). Wo er also fordert, was ihm zukommt, und wo er uns zu freudigem Gehorsam ermuntert, da gibt es für unseren Zweifel keinen noch so glänzenden Vorwand, der uns entschuldigen könnte. Immer wieder begegnen uns in der Schrift Zeugnisse, in denen uns die Anrufung Gottes geboten wird, und die sind alle wie Paniere vor unseren Augen aufgepflanzt, um uns Zuversicht einzuflößen! Es wäre allerdings verwegen, wenn wir vor Gottes Angesicht dringen wollten, ohne daß er uns mit seinem Ruf zuvorgekommen wäre. Darum öffnet er uns mit seinem Wort den Weg: „Ich will sagen: Es ist mein Volk, und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“ (Sach. 13,9). Da sehen wir, wie er seinen Dienern voraufgeht und will, daß sie ihm nachfolgen, und wie deshalb nicht zu befürchten ist, dies Lied, das er ihnen selbst vorsingt, könnte nicht zart genug sein. vor allem soll uns jener herrliche Lobestitel Gottes in den Sinn kommen: „Du, Gott, erhörst Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir!“ (Ps. 65,3). Wenn wir darauf vertrauen, dann werden wir alle Hindernisse ohne Mühe überwinden! Denn was kann lieblicher und holdseliger sein, als daß Gott diesen Titel (Erhörer des Gebets) führt, um uns desto gewisser zu machen, daß nichts seiner Natur mehr gemäß ist, als das Gebet derer zu erhören, die ihn anrufen? Daraus schließt der Prophet, daß die Tür nicht etwa bloß wenigen offensteht, sondern allen Sterblichen, weil er sich eben auch an alle wendet, indem er spricht: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen!“ (Ps. 50,15). Nach dieser Regel beruft sich auch David auf die ihm gegebene Verheißung, um zu erlangen, was er erbittet: „Du, Gott, hast in das Ohr deines Knechts solche Offenbarung gegeben. Darum hat dein Knecht sein Herz gefunden, daß er dies Gebet zu dir betet“ (2. Sam. 7,27; Anfang nicht Luthertext). Daraus entnehmen wir, daß er furchtsam gewesen wäre, wenn ihn die Verheißung nicht aufgerichtet hätte. So rüstet er sich auch an anderer Stelle mit der allgemeinen Lehre: „Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren“ (Ps. 145,19). Ja, man kann in den Psalmen beobachten, wie da gewissermaßen unter Abbruch des Zusammenhangs der Gebete bald zu Gottes Macht, bald zu seiner Güte, bald auch zur Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen übergegangen wird. Es könnte den Anschein erwecken, als ob David durch die zusammenhanglose Einfügung derartiger Sätze die Geschlossenheit seiner Gebete verstümmelte; aber die Gläubigen wissen aus Übung und Erfahrung, daß die Hitze (des Gebets) sich abkühlt, wenn sie nicht neuen Zunder anlegen: deshalb ist also auch beim Beten die Betrachtung des Wesens Gottes und seines Wortes nicht überflüssig. So sollen auch wir uns nicht verdrießen lassen, nach dem Beispiel des David solche Stücke einzufügen, die unser verschmachtendes Herz mit neuer Kraft erfrischen.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,14

Es ist nun seltsam, daß uns solche Süßigkeit der Verheißungen bloß oberflächlich oder auch fast gar nicht zu Herzen geht, so daß ein gut Teil der Menschen auf allerlei Abwegen herumirrt und lieber die „lebendige Quelle verläßt“ und sich „löcherige Brunnen macht“, als Gottes Freigebigkeit anzunehmen, die ihm von selbst dargeboten wird! (vgl. Jer. 2,13). Und dabei sagt Salomo: „Der Name des Herrn ist ein festes Schloß; der Gerechte läuft dahin und wird beschirmt“ (Spr. 18,10). Joel gibt uns zunächst eine Weissagung über die furchtbare Verwüstung, die bevorstand, und läßt dann den denkwürdigen Spruch folgen: „Wer aber den Namen des Herrn anruft, der wird selig werden“ (Joel 3,5). Wir wissen aber, daß sich dieser Spruch im eigentlichen Sinne auf den Lauf des Evangeliums bezieht (Apg. 2,21). Und doch läßt sich dadurch kaum unter Hundert einer bewegen, wirklich vor Gott zu treten. Er ruft selbst durch den Mund des Jesaja aus: „Ihr werdet mich anrufen, und ich will euch erhören; ja, ehe ihr ruft, will ich euch antworten!“ (Jes. 65,24; nicht Luthertext). Eben dieser Ehre würdigt er auch an anderer Stelle die ganze Kirche insgemein, wie sie ja eben allen Gliedern Christi zukommt: „Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen …“ (Ps. 91,15)! Aber ich habe, wie bereits gesagt, nicht die Absicht, hier alle Stellen aufzuzählen. Ich will nur einige besonders herrliche auswählen, an denen wir einen Geschmack davon bekommen können, wie freundlich uns Gott zu sich lockt – und in was für harte Fesseln unsere Undankbarkeit verstrickt ist, wenn wir in unserer Trägheit mitten unter soviel kräftigen Anspornen noch immer zögern! Deshalb sollen in unseren Ohren stets und ständig solche Worte widerklingen, wie dies: „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Aufrichtigkeit anrufen“ (Ps. 145,18; nicht ganz Luthertext). Oder auch wie jene Worte, die wir aus Jesaja und Joel anführten, in denen doch Gott erklärt, daß er ganz darauf aus ist, Gebete zu erhören, und daß es ihn wie der Duft eines ihm wohlgefälligen Opfers erfreut, wenn wir unsere Sorgen auf ihn werfen. Solche einzigartige Frucht gewinnen wir aus den Verheißungen Gottes, wofern wir, ohne zu zweifeln und zu zagen, unsere Gebete vorbringen, ja, uns im Gegenteil auf das Wort dessen verlassen, dessen Majestät uns sonst erschrecken würde, und es wagen, ihn als unseren Vater anzurufen, wo er sich doch selbst herbeiläßt, uns diesen köstlichen Namen in den Mund zu legen! Sind uns solche Lockungen bereitet, so sollen wir schließlich auch wissen, daß sie uns einen genügsamen Anlaß geben, erhört zu werden; denn unsere Bitten stützen sich auf keinerlei Verdienst, sondern ihre ganze Würdigkeit, alle Hoffnung auf Gewährung ist auf Gottes Verheißungen gegründet und hängt von ihnen ab; sie bedarf also nicht sonstiger Stützen, und sie hat es nicht nötig, in der Runde dahin und dorthin emporzuschauen! Deshalb sollen wir in unserem Herzen daran festhalten: wenn wir uns auch nicht durch die gleiche Heiligkeit auszeichnen, wie sie an den heiligen Vätern, den Propheten und Aposteln gerühmt wird, so haben wir doch mit ihnen zusammen das gleiche Gebot, zu beten, und den gleichen Glauben, und deshalb sind wir, wenn wir uns auf Gottes Wort stützen, in betreff dieses Anrechts ihre Mitgenossen. Denn Gott versichert uns ja, wie wir bereits sahen, daß er allen zugänglich und gnädig sein werde, und damit gibt er auch den Allerelendesten die Hoffnung, daß sie erlangen sollen, um was sie bitten. So müssen wir auf die allgemeinen Wendungen merken, die keinen, – wie man gewöhnlich sagt: – vom ersten bis zum letzten, ausschließen, wofern nur Lauterkeit des Herzens, Mißfallen an uns selbst, Demut und Glaube da ist, damit unsere Heuchelei nicht Gottes Namen durch unwahre Anbetung entheilige. So wird unser lieber Vater die Menschen nicht von sich stoßen, die er nicht nur ermuntert, zu ihm zu kommen, sondern die er auch auf allerlei Weise lockt! Daraus ergibt sich die Art, wie David an der vorhin angeführten Stelle betet: „Herr, du hast es deinem Knecht verheißen;… darum hat dein Knecht heute Mut gefaßt und gefunden, was er vor dir beten soll. Nun, Herr Gott, du bist Gott, und deine Worte werden Wahrheit sein. Du hast zu deinem Knecht von solchen Wohltaten geredet, nun hebe auch an und tu sie …“ (2. Sam. 7,27-29; zumeist nicht Luthertext). Ähnlich finden wir es auch an anderer Stelle: „Gewähre es deinem Knecht nach deiner Zusage!“ (Ps. 119,76; nicht Luthertext, eigentlich nur Inhaltsangabe). Das gleiche gilt auch von allen Israeliten gemeinsam: sooft sie sich durch die Erinnerung an den Bund stärken, machen sie damit genugsam deutlich, daß man nicht furchtsam beten soll, wo es doch Gott geboten hat, zu beten. Darin sind sie dem Beispiel ihrer Väter gefolgt, besonders dem des Jakob: er bekennt, daß er „zu gering“ ist „aller Barmherzigkeit“, die er von der Hand Gottes empfangen hat (Gen. 32,11); aber dann sagt er doch, daß er ermutigt werde, noch Größeres zu begehren, weil Gott verheißen habe, es zu tun! (vgl. Gen. 32,12ff.). Mit was für Scheinfarben es die Ungläubigen nun auch beschönigen wollen, wenn sie ihre Zuflucht nicht zu Gott nehmen, sooft die Not sie drängt, wenn sie ihn nicht suchen und seine Hilfe nicht erflehen, – sie rauben ihm tatsächlich doch die ihm rechtmäßig gebührende Ehre, genau so, als wenn sie sich neue Götter oder Götzen machten; denn auf solche Weise leugnen sie es, daß Gott für sie der Geber aller Güter ist! Auf der anderen Seite gibt es nichts, das die Frommen durchgreifender von jedem Bedenken frei machte, als wenn sie sich mit der Erwägung wappnen, daß es für sie keinen Grund gibt, sich von irgendeinem Hemmnis vom Gehorsam gegen die Weisung Gottes abbringen zu lassen, der doch kundtut, daß ihm nichts so wohlgefällig ist wie der Gehorsam! Hieraus wird nun wiederum das, was ich oben ausführte, zu noch größerer Klarheit erhoben: mit Furcht, Ehrerbietung und Bekümmernis kann sich durchaus ein unerschrockener Mut zum Beten vereinen, und es ist auch nicht widersinnig, daß Gott die Darniedergeworfenen aufrichtet. Auf diese Weise kommen Redewendungen, die sich dem Anschein nach widersprechen, trefflich überein. So sagen Jeremia und Daniel, sie „würfen“ ihre Gebete vor Gott „nieder“ (Jer. 42,9; Dan. 9,18 nicht Luchertext). Und Jeremia sagt an anderer Stelle: „Es falle unser Gebet vor dem Angesicht des Herrn nieder, damit er sich der übriggebliebenen seines Volkes erbarme!“ (Jer. 42,2; nicht ganz Luthertext). Auf der anderen Seite heißt es von den Gläubigen öfters, daß sie ihre Gebete „erheben“. So drückt es Hiskia aus, als er den Propheten bittet, er möchte die Aufgabe auf sich nehmen, für das Volk fürbittend einzutreten (2. Kön. 19,4). Und David begehrt, sein Gebet möchte „aufsteigen“ wie ein Brandopfer! (Ps. 141,2; nicht Luthertext). Denn diese Männer sind zwar der väterlichen Güte Gottes gewiß und begeben sich freudig in den Schutz seiner Treue, rufen auch ohne Zagen die Hilfe an, die er ihnen aus freien Stücken verheißen hat; aber es ist doch nicht so, daß sie etwa von leichtsinniger Sicherheit erhoben würden, als ob sie alle Scheu von sich abgeworfen hätten, sondern sie steigen auf den Stufen der Verheißungen empor und verharren dabei doch demütig bittend bei der Selbsterniedrigung!



III,20,15

Hiergegen erhebt sich nun mehr als eine Frage. Die Schrift berichtet uns nämlich, daß Gott auch einigen Gebeten stattgegeben hat, die doch aus einem keineswegs stillen und wohlbereiteten Herzen kamen. Es geschah zwar aus gerechter Ursache, als Jotham den Bewohnern von Sichem die Strafe anwünschte, die dann auch später über sie kam (Ri. 9,20); aber er hatte sich doch von der Glut des Zorns und der Rache dazu entflammen lassen; wenn nun Gott seinen Fluchworten Folge leistete, so ergibt sich der Anschein, als billige er solch ungeordnete Triebe. Eine ebensolche Hitzigkeit hatte auch den Simson ergriffen, wenn er sagte: „Stärke mich doch, Gott, daß ich mich einmal räche an den Unbeschnittenen.“ (Ri. 16,28; nicht ganz Luthertext). Gewiß ist hier auch etwas guter Eifer mit untermischt; aber die Oberhand hat doch eine hitzige und deshalb böse Rachgier. Trotzdem gewährt Gott seine Bitte! Man scheint daraus doch schließen zu können, daß das Gebet auch dann seine Wirkung tue, wenn es nicht nach der Vorschrift des Wortes gestaltet ist. Ich entgegne: Durch solche einzelnen Beispiele wird die ständige Regel nicht aufgehoben. Auch sind einzelnen Menschen besondere Regungen zuteil geworden, die nun zur Folge haben, daß es um sie anders bestellt ist als um gewöhnliche Leute. Wir müssen uns doch die Antwort merken, die Christus seinen Jüngern gab, als sie das Beispiel des Elia unbedacht nachmachen wollten: „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“ (Luk. 9,55). Übrigens müssen wir noch weiter gehen: Tatsächlich hat Gott nicht immer an den Bitten Gefallen, denen er Gewährung schenkt! Es dient vielmehr zum Vorbild, daß das, was die Schrift lehrt, durch klare Zeugnisse offenbar wird, nämlich dies, daß er den Elenden zu Hilfe kommt und die Seufzer derer erhört, die zu Unrecht angefochten werden und seinen Beistand erflehen; wenn also die Klagen der Elenden zu ihm emporsteigen, so bringt er sein Gericht zur Ausführung – mögen auch jene Klagen nicht wert sein, das Geringste zu erlangen! Wie oft hat er doch die Gottlosen für ihr Wüten, ihre Räuberei, ihre Gewalttätigkeit, ihre Willkür und andere Missetaten bestraft, ihren Mutwillen und ihre Wut gedämpft, ihre tyrannische Macht umgestoßen und dadurch bezeugt, daß er den unrecht Bedrückten Hilfe bringt – selbst dann, wenn sie nur zu einer unbekannten Gottheit gebetet und deshalb bloß die Luft erschüttert haben! Ein einziger Psalm gibt uns die völlig klare Lehre, daß auch solche Bitten nicht wirkungslos bleiben, die tatsächlich nicht aus dem Glauben zum Himmel dringen: Psalm 107! Da werden all solche Bitten aufgezählt, die die Not aus natürlichem Empfinden heraus bei den Ungläubigen wie bei den Frommen herauspreßt; und es wird uns auf Grund des Ausgangs gezeigt, wie Gott solche Bitten gnädig annimmt! Will er nun etwa durch diese Freigebigkeit bezeugen, daß ihm solche Gebete wohlgefällig sind? Nein, er will dadurch, daß auch den Ungläubigen ihre Bitten nicht abgeschlagen werden, seine Barmherzigkeit groß und herrlich machen! Er will zugleich seine rechten Diener dadurch noch kräftiger zum Beten anspornen, daß sie ja sehen, wie selbst unheilige Klagen zuweilen nicht ohne Erfolg bleiben. Es besteht aber trotzdem kein Grund, weshalb die Gläubigen von der ihnen von Gott auferlegten Regel abweichen oder auf die Ungläubigen neidisch werden sollten, als ob diese einen großen Gewinn erlangt hätten, indem sie bekommen, was sie wollten. In dieser Weise hat sich Gott, wie wir sahen, auch durch die erheuchelte Buße des Ahab bewegen lassen (1. Kön. 21,29). er wollte an diesem Beispiel zeigen, wie gern er seine Auserwählten erhören will, wenn man eine wahre Bekehrung an den Tag legt, um ihn zu versöhnen! Deshalb zürnt er auch im 106. Psalm über die Juden, weil sie so oft erfahren haben, daß er ihren Bitten bereitwillig sein Ohr leiht, und doch gleich nachher wieder zur Halsstarrigkeit ihres Wesens zurückgekehrt sind! (Ps. 106,43). Auch aus der Geschichte der Richter wird das ganz deutlich: sooft das Volk (zu Gott) weinte, wurde es, wenn auch seine Tränen trügerisch waren, dennoch aus der Hand seiner Feinde herausgerissen! Denn wie Gott seine Sonne ohne Unterschied über Guten und Bösen aufgehen läßt (Matth. 5,45), so verachtet er auch das Weinen derer nicht, die eine gerechte Sache haben und deren Elend der Hilfe wert ist! Indessen schafft er ihnen durch seine Erhörung nicht etwa das Heil, ebensowenig wie denen, die er mit Nahrung versorgt, obwohl sie Verächter seiner Güte sind. Eine schwierigere Frage aber scheint sich aus dem Verhalten des Abraham und des Samuel zu ergeben: Abraham betete ohne jede Unterweisung durch ein Wort Gottes für die Einwohner von Sodom (Gen. 18,23), und Samuel tat gar gegen Gottes ausdrückliches Verbot Fürbitte für Saul! (Sam. 15,11). Ähnlich war es auch mit Jeremia, der den Untergang der Stadt mit seinem Gebet abzuwenden suchte (Jer. 32,16ff.). Diesen Männern wurde ihre Bitte abgeschlagen – und doch würde es hart erscheinen, ihnen den Glauben abzusprechen! Bescheidenen Lesern wird aber, so hoffe ich, diese Lösung genügen: jene Männer stützten sich auf den allgemeinen Grundsatz, nach dem Gott befiehlt, auch Unwürdigen Barmherzigkeit zu erzeigen; sie waren also nicht ganz ohne Glauben, obwohl sie in diesem Fall von ihrer Meinung getäuscht wurden! Sehr überlegt spricht das Augustin an einer Stelle aus: „Wie können denn die Heiligen im Glauben beten und doch von Gott etwas gegen seinen Ratschluß begehren? Sie beten nach seinem Willen, aber nicht nach jenem verborgenen, unabänderlichen, sondern nach dem, den er ihnen eingegeben hat, um sie nach seiner weisen Bestimmung auf andere Weise zu erhören!“ (Vom Gottesstaat, 22,2). So ist es richtig: er richtet nach seinem unerforschlichen Ratschluß den Ausgang der Ereignisse so ein, daß die Gebete der Heiligen, in denen Glaube und Irrtum sich miteinander verweben, doch nicht wirkungslos sind. Doch soll dies ebensowenig dazu dienen, uns zur Nachahmung (solchen Verhaltens) zu ermuntern, als es die Heiligen selbst entschuldigt; denn ich leugne nicht, daß diese über das rechte Maß hinausgegangen sind. Wo also keine sichere Verheißung besteht, da müssen wir Gott bedingt bitten. Hierher gehört das Gebet Davids: „Wache auf zu dem Gericht, das du verordnet hast“ (Ps. 7,7; nicht Luthertext); David erinnert nämlich daran, daß er durch ein besonderes Gotteswort unterwiesen war, solche zeitliche Wohltat zu erbitten.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,16

Es ist aber auch noch vonnöten, auf folgendes zu achten: was ich über die vier Regeln zum Beten ausgeführt habe, wird nicht mit solcher Strenge gefordert, daß Gott solche Gebete verwürfe, in denen er nicht vollkommenen Glauben oder vollkommene Buße und zugleich heißes Begehren wie recht geordnete Bitten vorfindet!

(a) Wir sagten, das Gebet sei zwar eine vertraute Unterredung der Frommen mit Gott, aber wir müßten dabei doch Ehrerbietigkeit und Bescheidenheit wahren, um nicht jederlei Wünschen die Zügel schießen zu lassen, und andererseits nur soviel zu begehren, wie Gott zuläßt; auch müßten wir, damit Gottes Majestät bei uns nicht in Verachtung gerate, unsere Sinne aufwärts lenken, um sie rein und zuchtvoll zu verehren. Das hat noch niemand mit der schuldigen Lauterkeit getan. Um von den gewöhnlichen Leuten zu schweigen – wieviel Klagen Davids gehen doch offenkundig über das Maß hinaus! Gewiß wollte er nicht absichtlich mit Gott hadern, wollte auch seinen Gerichten nicht Widerstand leisten. Nein, er ermattete eben vor Schwachheit und fand keinen besseren Trost, als seinen ganzen Schmerz in Gottes Schoß niederzuwerfen. Ja, selbst unser Stammeln trägt Gott, und er verzeiht uns unsere Unwissenheit, wenn uns etwas unbedacht entfährt: ohne diese göttliche Nachsicht gäbe es also wahrhaftig keine Freimütigkeit zum Beten! Obwohl David ferner den Willen hatte, sich Gottes Ratschluß ganz zu unterwerfen, und obwohl er beim Beten eine Geduld aufbrachte, die ebenso groß war wie sein Begehren, etwas zu erlangen, so brachen doch zuweilen unruhige Gedanken in ihm auf, ja, sie quollen hervor – und sie waren von der ersten Regel, die wir aufstellten, nicht wenig entfernt! Vor allem aus dem Schluß des 39. Psalms läßt sich erkennen, welch heftiger Schmerz den heiligen Mann ergriffen hatte, so daß er sich kein Maß setzen konnte. „Laß ab von mir“, spricht er, „ehe denn ich hinfahre und nicht mehr sei.“ (Ps. 39,14; nicht Luthertext). Man könnte sagen: das ist ja ein verzweifelter Mann, der nichts anderes begehrt, als daß Gottes Hand von ihm läßt und er in seinem Unglück verkomme! Nicht, als ob er sich vorsätzlich in solche Maßlosigkeit hineinstürzte! Er will auch nicht, daß Gott von ihm weiche – wie das Gottlose zu tun pflegen. Nein, er klagt nur, daß er Gottes Zorn nicht mehr aushalten kann. In solchen Anfechtungen entfahren den Heiligen öfters Gebetswünsche, die sich nicht recht nach der Regel des Wortes Gottes richten und in denen sie nicht genug bedenken, was recht ist und Segen bringt. Die Gebete, die mit solchen Gebrechen behaftet sind, verdienen allerdings sämtlich, verworfen zu werden – aber wenn die Heiligen nur darüber seufzen, wenn sie sich selber züchtigen und gleich in sich gehen, so verzeiht ihnen Gott!

(b) So verstoßen sie auch oft gegen die zweite Regel. Denn sie müssen oft mit ihrem kalten Sinn kämpfen, auch spornt sie ihre Armut und ihr Jammer nicht genug zu ernstlichem Beten an. Oft kommt es auch vor, daß ihre Sinne sich zerstreuen und fast verlieren. Es bedarf also auch in diesem Stück der Vergebung, damit unsere matten, zerfetzten, unterbrochenen, unsteten Gebete nicht abgewiesen werden! Gott hat es in unseren menschlichen Sinn von Natur eingesenkt, daß die Gebete nur dann recht sind, wenn das Herz sich emporhebt. Daher kommt, wie wir bereits darlegten, die Zeremonie des Aufhebens der Hände, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern in Übung stand und auch heute noch im Gebrauch ist. Aber wo ist unter den vielen, die ihre Hände aufheben, einmal einer, der sich nicht seiner Lässigkeit bewußt wäre, weil sein Herz an der Erde klebt;

(c) Was die Bitte um Vergebung der Sünden anbelangt, so ist unter den Gläubigen gewiß keiner, der dies entscheidende Stück beiseite ließe; aber alle, die wahrhaft im Beten geübt sind, empfinden doch, daß sie kaum den zehnten Teil jenes Opfers darbringen, von dem David spricht: „Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten!“ (Ps. 51,19). Deshalb müssen sie hier stets um eine zwiefache Vergebung bitten, einerseits sind sie sich vieler Missetaten bewußt und werden doch durch deren Empfindung nicht so stark gepackt, daß sie sich nach Gebühr selbst mißfielen; sofern es ihnen aber andererseits geschenkt ist, in der Buße und der Furcht Gottes fortzuschreiten, werden sie von der berechtigten Traurigkeit zu Boden geworfen, daß sie Gott erzürnt haben, und sie bitten den Richter, von seiner Vergeltung abzulassen.

(d) vor allem aber verdirbt die Gebrechlichkeit des Glaubens und die Unvollkommenheit der Gläubigen die Gebete, sofern ihnen nicht Gottes Nachsicht zu Hilfe kommt. Es ist aber auch nicht verwunderlich, daß Gott solchen Mangel verzeiht; denn er übt die Seinen oftmals mit derart harten Proben, als ob er ihren Glauben mit Absicht auslöschen wollte! Die härteste Versuchung liegt dann vor, wenn die Gläubigen ausrufen müssen: „Wie lange willst du zürnen bei dem Gebet deines Knechtes?“ (Ps. 80,5; nicht ganz Luthertext). Es ist dann so, als ob gerade die Gebete Gott erzürnten. So ist es auch, wenn Jeremia sagt: „Gott hat sich die Ohren verstopft vor meinem Gebet“ (Klagel. 3,8; nicht Luthertext); ohne Zweifel erschüttert ihn hier eine heftige Fassungslosigkeit. So begegnen uns in der Schrift unzählige Beispiele, aus denen sich ergibt, daß der Glaube der Heiligen oft mit Zweifeln untermischt ist und von ihnen umgetrieben wird, so daß sie in ihrem Glauben und Hoffen doch allerlei Unglauben an den Tag legen. Weil sie also nicht soweit kommen, wie es zu wünschen wäre, so müssen sie sich um so kräftiger bemühen, ihre Gebrechen zu bessern und von Tag zu Tag näher an die vollkommene Regel des Betens heranzukommen, unterdessen aber auch fühlen, in was für eine furchtbar tiefe Not sie versunken sind, da sie sich gerade aus der Arznei immer neue Krankheiten zuziehen! Denn es gibt ja kein einziges Gebet, über das sich Gott nicht mit Recht erzürnen müßte, wenn er nicht gnädig über die Makel hinwegsähe, mit denen alle befleckt sind! Das erwähne ich nun nicht, damit die Gläubigen sich alles durchgehen lassen, sondern damit sie sich streng züchtigen und danach streben, diese Hemmnisse zu überwinden. So sehr auch der Satan alle Wege zu verrammeln sucht, um sie vom Beten abzuhalten – so sollen sie doch durchbrechen und sicher überzeugt sein: haben sie sich auch noch nicht von allen Hemmnissen freigemacht, so wird Gott doch an ihren Versuchen Wohlgefallen haben und ihre Gebete gnädig annehmen, wenn sie sich nur da, wo sie nicht gleich zum Ziel gelangen, anstrengen und Mühe geben!



III,20,17

Weil aber keiner unter den Menschen würdig ist, sich vor Gott hinzustellen und vor sein Angesicht zu treten, so hat uns der himmlische Vater selber, um uns von der Scham und Angst zu erlösen, die unser aller Herzen entmutigen müßte, seinen Sohn, Jesus Christus, unseren Herrn geschenkt. Er soll nun bei ihm unser Fürsprecher (1. Joh. 2,1) und unser Mittler sein (1. Tim. 2,5), unter dessen Leitung wir unbesorgt zu ihm dringen sollen! Dabei dürfen wir darauf vertrauen: haben wir solch einen Fürsprecher, so wird uns nichts, was wir in seinem Namen bitten, verweigert werden, gleich wie ihm vom Vater nichts verweigert werden kann. Hierauf muß man auch alles beziehen, was wir oben über den Glauben ausgeführt haben; denn wie die Verheißung uns Christus als unseren Mittler preist, so beraubt sie sich, wenn die Hoffnung auf Erhörung nicht auf ihn gestützt ist, der Wohltat, die das Gebet für uns bedeutet. Denn sobald uns Gottes Majestät zum Bewußtsein kommt, werden wir unabwendbar tief erschrocken, und die Erkenntnis unserer eigenen Unwürdigkeit treibt uns weit weg, bis Christus ins Mittel tritt und den Thron der furchtbaren Herrlichkeit in den Thron der Gnade wandelt. So gibt uns auch der Apostel die Weisung, wir sollten es wagen, mit aller Freudigkeit zu erscheinen, „auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hilfe not sein wird“ (Hebr. 4,16). Und wie uns das Gesetz gegeben ist, Gott anzurufen, wie wir die Verheißung empfangen haben, daß die, welche zu ihm rufen, Erhörung finden sollen – so wird uns jetzt im besonderen geboten, ihn im Namen Christi anzurufen, und es wird uns die Verheißung vor Augen gestellt, daß wir erlangen werden, was wir in seinem Namen bitten. „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“, sagt er; „bittet, so werdet ihr nehmen! … An dem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen … Und was ihr bitten werdet …, das will ich tun, auf daß der Vater geehrt werde in dem Sohnel“ (Joh. 16,24.26; 14,13). Hieraus wird nun widerspruchslos deutlich, daß die, welche Gott in einem anderen Namen als demjenigen Christi anrufen, seinen Befehl halsstarrig übertreten und seinen Willen für nichts achten, aber auch keinerlei Verheißung haben, etwas zu erlangen. Denn – wie Paulus sagt – „alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm“ (2. Kor. 1,20); das heißt: sie werden in ihm bestätigt und erfüllt.



III,20,18

Aufmerksam zu beachten ist auch der Zeitpunkt, an dem die Jünger nach Christi Geheiß zu seiner Fürbitte Zuflucht nehmen sollen: das soll nämlich geschehen, nachdem er gen Himmel gefahren ist: „An dem Tage“, sagt er, „werdet ihr bitten in meinem Namen …“ (Joh. 16,26). Es ist allerdings gewiß, daß seit Anbeginn alle, die gebetet haben, nur um des Mittlers willen erhört worden sind. Aus diesem Grunde hatte Gott im Gesetz verordnet, daß allein der (Hohe) Priester in das Allerheiligste eintreten durfte und daß er dabei auf seinen Schultern die Namen der Stämme Israels und auf seiner Brust ebensoviele köstliche Steine tragen sollte (Ex. 28,9.12.21); das Volk sollte dagegen fern im Vorhof stehen und von dort seine Gebete mit denen des Priesters vereinen. Ja, auch das Opfer diente eben dazu, daß die Gebete gültig und wirksam wären. Diese schattenhafte Zeremonie unter dem Gesetz enthielt also die Lehre, daß wir alle von Gottes Angesicht ausgeschlossen sind und daß es deshalb eines Mittlers bedarf, der in unserem Namen vor Gott erscheint, der uns auf den Schultern trägt und an seine Brust gebunden hält, damit wir in seiner Person erhört werden! Zugleich bezeugte jene Zeremonie, daß unsere Gebete, die ja, wie wir sagten, sonst nie von Schmutz frei sind, durch die Besprengung mit Blut gereinigt werden. Wir sehen auch, wie die Heiligen, wenn sie irgend etwas zu erbitten begehrten, ihre Hoffnung auf die Opfer gegründet haben, weil sie ja wußten, daß durch diese erst alle Bitten wirksam wurden. So sagt David: „Er gedenke all deines Speisopfers, und dein Brandopfer müsse vor ihm fett sein“ (Ps. 20,4). Daraus ergibt sich die Folgerung, daß Gott seit Anbeginn durch Christi Fürsprache versöhnt worden ist, um dann die Bitten der Frommen anzunehmen. Weshalb hat denn Christus eine neue Stunde angegeben, zu der seine Jünger in seinem Namen zu beten anfangen sollten? Doch deshalb, weil diese Gnade heute herrlicher und deshalb bei uns auch größerer Achtung wert ist! In diesem Sinne hatte er auch zuvor gesagt: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet …“ (Joh. 16,24). Nicht als ob sie von dem Amt des Mittlers noch gar nichts gewußt hätten – denn in die ersten Anfangsgründe davon waren alle Juden eingeweiht! Nein, sie hatten noch nicht klar erkannt, daß Christus durch seine Himmelfahrt ein gewisserer Beistand seiner Kirche sein würde als zuvor! Er will sie also in ihrem Schmerz über seinen Hingang mit dem Hinweis auf dessen ungewöhnliche Frucht trösten und spricht sich deshalb das Amt des Fürsprechers zu, lehrt sie auch, daß sie dieser vornehmsten Wohltat bisher entbehrt haben und daß sie diese dann genießen dürfen, wenn sie einst Gott, auf Christi Beistand gestützt, freimütiger anrufen werden! So sagt auch der Apostel, durch Christi Blut sei uns sein neuer Weg geheiligt worden (Hebr. 10,20). Um so weniger ist unsere Bosheit zu entschuldigen, wenn wir eine solch köstliche Wohltat, die doch eigens für uns bestimmt ist, nicht – wie man sagt – mit beiden Armen umfassen!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,19

Christus ist also der einzige Weg und der einzige Zugang, durch den es uns geschenkt ist, zu Gott zu dringen; wer nun also von diesem Wege abbiegt und von diesem Zugang weicht, der hat weiter keinen Weg und keinen Zugang mehr zu Gott, und für den bleibt vor Gottes Thron nichts als Zorn, Gericht und Schrecken. Kurz, weil uns der Vater an Christus als unser Haupt und unseren Herzog gewiesen hat, so versucht jeder, der von ihm irgendwie weicht oder sich auf einen Nebenweg begibt, soviel an ihm ist, dieses dem Herrn von Gott aufgeprägte Kennzeichen zu zerstören oder zu verfälschen! So ist Christus als der einzige Mittler eingesetzt, damit uns durch seine Fürsprache der Vater gnädig wird und Erhörung schenkt. Freilich bleibt unterdessen auch den Heiligen ihre Fürsprache überlassen, in der sie Gott gegenseitig ihr Heil ans Herz legen. Dieser Fürsprache gedenkt auch der Apostel (1. Tim. 2,1). Aber diese Fürbitten der Heiligen hängen von jener einen ab; sie können ihr also nie und nimmer etwas entziehen! Denn sie entspringen ja aus der Regung der Liebe, in der wir uns gegenseitig aus freien Stücken als Glieder eines Leibes umfassen; aber eben deshalb beziehen sie sich auch auf die Einheit des Hauptes! Auch geschieht solche gegenseitige Fürsprache ja ebenfalls im Namen Christi, – und was bezeugt sie dann anders, als daß keinem Menschen durch irgendwelche Gebete geholfen werden kann, wenn nicht Christus für ihn eintritt? So steht Christus mit seiner Fürsprache gewiß nicht im Wege, daß wir auch in der Kirche alle füreinander in unseren Gebeten einstehen; aber ebenso muß es fest stehen bleiben, daß alle Fürbitten der ganzen Kirche auf diese eine gerichtet werden müssen: Ja, wir müssen uns gerade an dieser Stelle vor der Undankbarkeit hüten; denn Gott hat, indem er uns unsere Unwürdigkeit verzeiht, nicht nur dem einzelnen erlaubt, für sich zu beten, sondern auch den einen für den anderen als Fürbitter zugelassen! Wenn Gott nun Menschen als Fürsprecher seiner Kirche eingesetzt hat, die mit Recht abgewiesen werden würden, wenn jeder (auch nur) für sich allein betete – was ist es dann für eine Hoffart, diese Freigebigkeit Gottes zu mißbrauchen, um Christi Ehre zu verdunkeln?



III,20,20

Es ist nun aber reines Geschwätz, wenn die (papistischen) Klüglinge plappern, Christus sei der Mittler für die Erlösung, die Gläubigen aber für die Fürbitte. Als ob Christus nun sein zeitliches Mittlertum erfüllt und das ewige und unaufhörliche auf seine Knechte übertragen hätte! Sie behandeln ihn wahrlich freundlich, indem sie ihm bloß ein so „kleines“ Stück von seiner Ehre abschneiden! Ganz anders dagegen die Schrift! Und mit ihrer Schlichtheit sollte doch ein frommer Mensch zufrieden sein und darüber solche Betrüger beiseite lassen! Da sagt Johannes: „Und ob jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum …“ (1. Joh. 2,1). Meint er damit etwa, Christus sei einst unser Fürsprecher gewesen? Spricht er ihm nicht vielmehr das ständige Eintreten für uns zu? Was will man dazu sagen, wenn Paulus erklärt, Christus sitze zur Rechten des Vaters und trete für uns ein? (Röm. 8,34). Oder wenn er ihn an anderer Stelle den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen nennt? (1. Tim. 2,5). Nimmt er damit nicht auf jene Gebete (der Gläubigen) Bezug, die er vorher erwähnt? (1. Tim. 2,1). Er spricht doch zunächst davon, daß wir „für alle Menschen“ eintreten sollen – und dann setzt er zur Bekräftigung dieses Satzes bald hinzu: „Denn es ist ein Gott und ein Mittler …“! Auch Augustin legt es nicht anders aus; er sagt: „Die Christenmenschen legen sich in ihren Gebeten gegenseitig Gott ans Herz. Der aber, für den niemand eintritt, der dagegen selbst für alle Fürsprache tut, der ist der eine und wahre Mittler. Der Apostel Paulus war gewiß unter diesem Haupte ein besonders hervorragendes Glied; aber er war doch ein Glied am Leibe Christi, und er wußte, daß der höchste und wahrhaftigste Priester der Kirche nicht etwa bildlich in das Innere der Hütte und in das Allerheiligste eingegangen ist, sondern in klarer, fester Wahrheit in das Innere des Himmels zu einer nicht nachgebildeten, sondern ewigen Heiligkeit gedrungen ist; und deshalb befiehlt er auch sich selbst den Gebeten der Gläubigen! (Röm. 15,30; Eph. 6,19; Kol. 4,3). Er macht sich auch nicht zum Mittler zwischen dem Volk und Gott, sondern er begehrt, daß alle Glieder am Leibe Christi füreinander beten; denn alle Glieder sind füreinander besorgt, und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder (1. Kor. 12,26). So sollen die gegenseitigen Gebete aller Glieder, die noch hier auf Erden Mühsal leiden, füreinander zu dem Haupte emporsteigen, das ihnen in den Himmel vorangegangen ist und in dem die Versöhnung für unsere Sünden liegt! (1. Joh. 2,2). Wäre Paulus ein Mittler, so wären es gleicherweise auch die übrigen Apostel; wenn es aber auf diese Art viele Mittler gäbe, so würde nicht bestehen können, was Paulus selbst gemeint hat, wenn er sagt: ‘Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus …’ (1. Tim. 2,5), in dem auch wir eins sind, wenn wir ‘halten die Einigkeit des Glaubens durch das Band des Friedens’! (Eph. 4,3; ungenau).“ (Augustin, Gegen den Brief des Parmenian, II,8,16). Ebenso sagt er an anderer Stelle: „Fragst du aber nach dem Hohenpriester – der ist über den Himmeln! Da bittet er für dich, er, der auf Erden für dich gestorben ist!“ (Zu Psalm 94; 6). Wir bilden uns aber nicht ein, er fasse da die Knie des Vaters und bitte fußfällig für uns, sondern wir verstehen das mit dem Apostel so: er erscheint dergestalt vor Gottes Angesicht, daß die Kraft seines Todes zu einer ständigen Fürsprache für uns wirkt; aber doch so, daß er, in das Allerheiligste des Himmels eingegangen, nun bis zum Ende der Zeiten die Gebete seines Volkes, das fern im Vorhof steht, allein vor Gott bringt!



III,20,21

Was nun die Heiligen betrifft, die nach dem Fleisch verstorben sind, aber in Christus leben, so mögen wir von ihnen wohl zugeben, daß sie beten; aber auch von ihnen träumen wir nicht, es gäbe für sie einen anderen Weg, zu Gott zu beten, als Christus, der der einzige Weg ist, oder ihre Gebete wären in einem anderen Namen Gott wohlgefällig, als in seinem! Nachdem uns also die Schrift von allem weg zu Christus allein zurückruft, nachdem der himmlische Vater in ihm alles zusammenfassen will (Kol. 1,20; Eph. 1,10), wäre es doch ein furchtbarer Stumpfsinn um nicht zu sagen: ein Wahnsinn, wenn man uns durch die Heiligen einen solchen Zugang schaffen wollte, der uns von ihm abbrächte, ohne den auch die Heiligen selbst keinen Zugang besitzen! Wer will aber leugnen, daß dies etliche Jahrhunderte lang im Brauch war und auch heutzutage überall da im Brauch ist, wo das Papsttum herrscht? Um Gottes Wohlwollen zu gewinnen, zieht man immer wieder die Verdienste der Heiligen heran. Man ruft Gott in ihrem Namen an und läßt dabei zumeist Christus beiseite: Was heißt das anders, frage ich, als das Amt der Fürsprache auf sie zu übertragen, das wir doch oben einzig und allein Christus zugesprochen haben? Aber weiter: welcher Engel oder Teufelsgeist hat denn je einem Menschen auch nur eine Silbe von jener angeblichen Fürbitte der Heiligen kundgetan? In der Schrift steht doch nichts davon! Wie ist man denn darauf gekommen, sich so etwas zu ersinnen? Wenn der Menschengeist sich dergleichen Hilfen herbeisucht, mit denen uns Gottes Wort nicht wappnet – dann legt er damit offen sein mangelndes vertrauen an den Tag! Will man das Gewissen aller derer, die von der Fürbitte der Heiligen so viel halten, zum Zeugen nehmen, so findet man, daß ihre Meinung nur daher kommt, daß sie sich mit ihrer Angst abquälen. Gerade als wenn Christus hier zu schwach wäre oder uns mit furchtbarer Strenge gegenüberträte! Mit dieser Ratlosigkeit verunehren sie zunächst Christus und rauben ihm den Titel des einzigen Mittlers, der ihm vom Vater als besonderes Vorrecht gegeben worden ist und deshalb auch nicht auf jemanden anders übertragen werden darf. Aber eben dadurch verdunkeln sie die Herrlichkeit seiner Geburt und entleeren sie das Kreuz, kurz, alles, was er getan oder gelitten hat, das entkleiden und berauben sie des gebührenden Lobpreises! Denn all dies geht doch darauf hinaus, daß er allein unser Mittler sei und als solcher gelte! Zugleich weisen sie die Freundlichkeit Gottes von sich, der sich ihnen als Vater angeboten hat; denn Gott ist nicht ihr Vater, wenn sie nicht anerkennen, daß Christus ihr Bruder ist; dies aber leugnen sie glatt ab, wenn sie nicht bedenken, daß er ihnen auch in einer brüderlichen Gesinnung gegenübersteht, die über alle Maßen lind und zart ist! Deshalb bietet uns die Schrift einzig und allein ihn dar, schickt uns zu ihm, bindet uns an ihn! „Er“, sagt Ambrosius, „ist unser Mund, durch den wir mit dem Vater reden, er ist unser Auge, mit dem wir den Vater erschauen, er ist unsere Rechte, mit der wir uns dem Vater darbieten! Tritt er nicht für uns ein, so haben weder wir, noch auch alle Heiligen mit Gott irgendwelche Gemeinschaft!“ (Von Isaak und der Seele, 8,75). Unsere Widersacher wenden nun ein, alle öffentlichen Gebete, die sie in ihren Kirchen lesen, schlössen doch mit dem Anhang: „Durch Christus, unseren Herrn.“ Aber das ist eine leichtfertige Ausflucht; denn Christi Fürbitte für uns wird nicht weniger entweiht, wenn sie mit den Gebeten und Verdiensten der Verstorbenen vermischt wird, als wenn man sie ganz beiseite läßt und allein die Toten im Munde führt. Auch wird in ihren Litaneien, Hymnen und Prosen, in welchen den verstorbenen Heiligen jedwede Ehre beigelegt wird, Christus gar nicht erwähnt!



III,20,22

Die Torheit ist aber soweit vorgedrungen, daß wir hier ein ausgeprägtes Bild des Aberglaubens vor uns haben, der ja, wenn er einmal den Zügel abgeworfen hat, mit seinem tollen Mutwillen gar kein Ende zu finden pflegt. Denn nachdem man einmal angefangen hatte, seine Gedanken auf die Fürsprache der Heiligen zu richten, hat man allgemach jedem einzelnen Heiligen seine besondere Amtsverrichtung zugewiesen, so daß je nach der Verschiedenheit der Sache bald dieser, bald jener als Fürsprecher angerufen wurde: Dann hat sich auch jeder seinen eigenen Heiligen zugelegt, in dessen Obhut er sich begab – genau wie in die von Schutzgöttern! Und so ist es nicht nur zu dem gekommen, was der Prophet einst dem Volke Israel vorwarf: „So manche Stadt, so manchen Gott hast du …“ (Jer. 2,28; 11,13), sondern man hat gar soviel Götter, wie es Köpfe gibt! Nun richten aber doch die Heiligen all ihr Verlangen allein auf Gottes Willen, den schauen sie an, in dem ruhen sie; und deshalb denkt man töricht und fleischlich, ja verächtlich von ihnen, wenn man ihnen ein anderes Gebet zuspricht als das, mit dem sie das Kommen des Reiches Gottes begehren: Wenn die Papisten ihnen aber andichten, jeder einzelne von ihnen sei aus privater Regung heraus seinen Verehrern besonders gewogen, so hat das mit jener wirklichen Gesinnung der Heiligen rein nichts zu tun! Schließlich sind einige gar in die furchtbare Gotteslästerung geraten, die Heiligen nicht bloß als Fürsprecher, sondern als Hüter ihres Heils anzurufen! Da sieht man, wohin elende Menschen kommen, wenn sie den ihnen zugewiesenen Standort, nämlich das Wort Gottes, verlassen und unstet umherschweifen! Ich übergehe dabei noch tollere Ungeheuerlichkeiten von Gottlosigkeit, mit denen sie wohl Gott, den Engeln und den Menschen widerwärtig sind, deren sie sich aber trotzdem nicht schämen noch scheuen! Man wirft sich vor einem Standbild oder einem Gemälde der Barbara oder Katharina oder ähnlicher Heiligen nieder und murmelt sein „Vaterunser“! Und die Pastoren denken nicht daran, für die Behebung oder Verhinderung solchen Unfugs Sorge zu tragen, nein, sie lassen sich von dem Duft des Gewinns anlocken und billigen dergleichen mit ihrem Beifall: Sie wollen gewiß die Schande eines solch gemeinen Frevels von sich abwälzen – aber mit was für einem Vorwand wollen sie es denn verteidigen, daß man zu Eligius oder Medardus betet, sie möchten ihre Diener vom Himmel her anschauen und ihnen helfen? Oder daß man die Heilige Jungfrau bittet, sie möchte ihrem Sohn gebieten, zu tun, was man begehrt? Vorzeiten wurde auf einem Konzil zu Karthago (397) verboten, die Gebete zu den Heiligen stracks am Altar zu verrichten; und es ist wahrscheinlich, daß diese heiligen Männer den Ansturm der bösen Gewohnheit (zwar) nicht gänzlich zu dämpfen vermochten und deshalb (wenigstens) jene Einschränkung durchführten, damit zumindest die öffentlichen Gebete nicht durch solche Formeln verdorben wurden wie: „Heiliger Petrus, bitte für uns“. Wieviel weiter ist aber (inzwischen) der teuflische Unfug derer vorgedrungen, die sich nicht schämen, auf die Toten das zu übertragen, was doch Gott und Christus allein zukommt!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,23

Nun möchten sie aber den Eindruck hervorrufen, diese Fürbitte der Heiligen stütze sich auf die Autorität der Heiligen Schrift; aber alles, was sie zu diesem Zweck unternehmen, ist vergebliche Mühe.

(a) Sie behaupten: man liest doch öfters von Gebeten der Engel, und nicht nur dies: es heißt auch, daß die Gebete der Gläubigen durch ihre Hand vor Gottes Angesicht gebracht werden! Das gebe ich zu. Aber wenn man die Heiligen, die aus diesem gegenwärtigen Leben geschieden sind, mit den Engeln vergleichen will, dann muß man beweisen, daß auch sie dienstbare Geister sind, denen der Dienst aufgetragen ist, für unser Heil zu sorgen (Hebr. 1,14), denen die Aufgabe zuerteilt ist, uns zu behüten auf allen unseren Wegen (Ps. 91,11), die uns umgeben sollen (Ps. 34, 8), uns ermahnen und trösten, für uns auf der Wacht stehen sollen! Das alles wird den Engeln zugeschrieben, den Heiligen aber nicht! Wie falsch es ist, die verstorbenen Heiligen mit den Engeln durcheinanderzubringen, das geht doch mehr als deutlich aus soviel verschiedenen Ämtern hervor, an denen die Schrift sie voneinander unterscheidet. Das Amt eines Anwalts wird vor dem irdischen Richter nur der auszuüben wagen, der zugelassen ist; – woher nehmen aber dann jene Würmlein die Freiheit, Gott solche Fürsprecher aufzudrängen, von denen man nicht liest, daß ihnen dieses Amt aufgetragen sei? Gott hat nach seinem Willen die Engel dazu eingesetzt, für unser Heil zu sorgen; deshalb besuchen sie auch die heiligen Versammlungen, und die Kirche ist für sie ein Schauhaus, in dem sie die vielgestaltige und „mannigfaltige Weisheit Gottes“ bewundern (Eph. 3,10). Das ist ihnen eigen, und wer es auf andere überträgt, der verwirrt und verkehrt sicherlich die von Gott gesetzte Ordnung, die doch unverletzlich sein sollte!

(b) Mit der gleichen „Gewandtheit“ verfahren sie bei der Heranziehung weiterer Schriftzeugnisse. So sprach Gott zu Jeremia: „Und wenngleich Mose und Samuel vor mir stünden, so habe ich doch kein Herz zu diesem Volk …“ (Jer. 15,1). Wie hätte er, sagen sie, solchermaßen von Verstorbenen reden können, wenn er nicht wüßte, daß sie für die Lebenden Fürbitte tun? Ich dagegen schließe genau umgekehrt, es wird ja hier gerade offenbar, daß weder Mose noch Samuel für das Volk Israel eingetreten sind, und deshalb hat es also zu jener Zeit gerade keine Fürbitte der Verstorbenen gegeben! Von welchem Heiligen sollte man denn glauben, er bemühe sich um das Heil des Volkes, wenn Mose es unterläßt, der doch zu Lebzeiten in diesem Stück weit über alle anderen hinausragte? Wenn also unsere Widersacher solche spitzfindigen Fündlein vorbringen und sagen: Die Toten treten für die Lebenden ein; denn der Herr sagt: wenn sie auch Fürbitte täten …, – so will ich einen noch heller glänzenden Beweis führen und sprechen: Mose hat in der ärgsten Not des Volkes keine Fürbitte getan; denn es heißt: wenn er auch Fürsprache übte …; also ist anzunehmen, daß auch kein anderer solche Fürbitte tut; denn von der Freundlichkeit, Güte und väterlichen Sorge des Mose sind sie ja alle weit entfernt! Mit ihrem Geschwätz erreichen sie nämlich doch nur dies, daß sie eben mit den Waffen verwundet werden, mit denen sie sich sicher gewappnet glaubten! Es ist aber auch reichlich lächerlich, daß sie eine so einfache Aussage dermaßen verdrehen; der Herr tut doch hier nur kund, daß er das Volk in seinen Missetaten nicht verschonen wolle, selbst wenn es Männer wie Mose oder Samuel zu Fürsprechern hätte, deren Gebeten gegenüber er sich so nachsichtig erzeigt hatte! Daß dies der Sinn ist, geht aus einer ähnlichen Stelle bei Ezechiel hell und klar hervor; da spricht der Herr: „Und wenn dann gleich diese drei Männer Noah, Daniel und Hiob in der Stadt wären, so würden sie doch mit ihrer Gerechtigkeit nicht ihre Söhne und Töchter retten, sondern allein ihre eigene Seele!“ (Ez. 14,14; nicht Luthertext; auslegend erweitert). Es ist kein Zweifel, daß er hier sagen will: selbst wenn zwei von ihnen wieder lebendig werden sollten … Denn der dritte, nämlich Daniel, lebte ja zu dieser Zeit noch; er stand zweifellos erst in der ersten Blüte seiner Jugend und legte darin einen unvergleichlichen Beweis seiner Frömmigkeit an den Tag. Wir wollen also die ruhen lassen, die nach der klaren Kundmachung der Schrift ihren Lauf schon vollendet haben! Deshalb lehrt auch Paulus, wenn er von David redet, nicht etwa, er stehe seiner Nachkommenschaft mit seinen Gebeten bei, sondern nur: er habe seiner Zeit gedient! (Apg. 13,36).



III,20,24

(c) Unsere Widersacher stellen nun eine Gegenfrage: ob wir denn den Heiligen, die im ganzen Lauf ihres Lebens nichts als Frömmigkeit und Barmherzigkeit bewiesen haben, (jetzt) jedes fromme Gebet absprechen wollten. Ich will nun freilich nicht vorwitzig untersuchen, was die Heiligen tun und denken; es ist aber auch keineswegs wahrscheinlich, daß sie sich von vielfältigen, einzelne Dinge betreffenden Wünschen hin und her treiben lassen, sondern sie sehnen sich festen und unbeweglichen Willens nach Gottes Reich, das nicht weniger im Untergang der Gottlosen als in der Seligkeit der Gläubigen besteht! Ist das aber richtig, so ist ohne Zweifel auch ihre Liebe in die Gemeinschaft des Leibes Christi eingeschlossen, und sie geht nicht weiter, als es das Wesen dieser Gemeinschaft zuläßt. Wenn ich also auch schon zugebe, daß sie auf solche Weise für uns beten, so entfernen sie sich doch nicht dermaßen aus ihrer Ruhe, daß sie sich in irdische Sorgen verwickeln lassen; noch viel weniger sollen wir sie noch gar darum anrufen!

(d) Daß man dies trotzdem tun solle, läßt sich auch nicht aus der Tatsache folgern, daß die Menschen, die auf Erden leben, sich gegenseitig ihrer Fürbitte empfehlen können (1. Tim. 2,1f.; Jak. 5,15f.). Wenn sie nämlich in dieser Weise ihre Nöte gewissermaßen untereinander teilen und einander tragen helfen, so ist solcher Dienst dem Wachstum der Liebe in ihnen förderlich. Und zwar tun sie das aus Gottes Vorschrift heraus, und es fehlt ihnen auch nicht an einer Verheißung; diese beiden Stücke aber stehen beim Gebet stets an erster Stelle! Für die Verstorbenen dagegen fehlt es an allen solchen Ursachen; denn der Herr hat sie aus unserer Gemeinschaft weggenommen und hat uns keinen Umgang mit ihnen mehr gelassen (Pred. 9,5f.), aber auch ihnen keinen mehr mit uns, wie man aus der genannten Stelle vermutungsweise entnehmen kann.

(e) Nun möchte vielleicht jemand einwenden, es könne doch nicht sein, daß die Verstorbenen nicht die gleiche Liebe gegen uns bewahrten, wo sie doch mit uns in einem Glauben verbunden seien. Wer aber hat denn kundgetan, daß ihre Ohren weit genug reichen, um auch unsere Stimme zu vernehmen? Woher weiß man, daß ihre Augen tief genug dringen, um auch unsere Nöte zu erspähen? Die Papisten schwatzen zwar in ihren Schulen wer weiß was von dem Glanz des göttlichen Anblicks, der sie anstrahlen soll und in dem sie wie in einem Spiegel das Ergehen der Menschen aus der Höhe herab anschauen könnten. Aber wenn jemand dies behauptet, zumal noch gar mit der Zuversicht, mit der sie es wagen, – was bedeutet das anders, als daß man vermittels der trunkenen Träume unseres Hirns in Gottes verborgene Ratschlüsse ohne sein Wort eindringen und einbrechen und die Schrift mit Füßen treten will? Denn die Schrift erklärt doch so oft, daß die Klugheit unseres Fleisches Feindschaft wider Gottes Weisheit ist (Röm. 8,6f.), sie verdammt insgemein die Eitelkeit unseres Sinnes, wirft alle unsere Vernunft zu Boden und will, daß wir unseren Blick allein auf Gottes Willen richten!



III,20,25

(f) Was sie aber sonst noch an Zeugnissen aus der Schrift heranziehen, um diese ihre Lügen zu verteidigen, das verdrehen sie auf das Schlimmste. So sagen sie: Aber Jakob begehrt doch, daß sein Name und der seiner Vorväter Abraham und Isaak über seiner Nachkommenschaft angerufen werden sollte! (Gen. 48,16). Wir wollen zunächst zusehen, in welcher Form denn solche „Anrufung“ unter den Israeliten geschah: die flehen nämlich da nicht ihre Väter an, ihnen Hilfe zuteil werden zu lassen, sondern sie bitten Gott, er möge sich seiner Knechte Abraham, Isaak und Jakob erinnern! Ihr Beispiel kann also denen, die das Wort an die Heiligen selbst richten, in keiner Weise Beistand gewähren. Aber weil diese Klötze in ihrer Schwachsichtigkeit weder erfassen, was es bedeutet, den Namen Jakobs „anzurufen“, noch auch verstehen, warum man ihn „anrufen“ soll, so ist es kein Wunder, wenn sie auch hinsichtlich der Form (dieser „Anrufung“) selber so kindisch stammeln! Diese Redeweise begegnet uns in der Schrift mehr als einmal. Jesaja sagt nämlich, der Name der Männer würde über den Frauen „angerufen“ (Jes. 4,1), nämlich wenn sie sie zu Ehemännern haben, unter deren Treue und Schutz sie leben. Die „Anrufung“ des Namens Abrahams über die Israeliten beruht also darin, daß sie den Ursprung ihres Geschlechts auf ihn zurückführen und ihn als ihren Ur- und Stammvater in feierlicher Erinnerung verehren! Aber Jakob tut das (Gen. 48!) nicht etwa, weil er auf die Fortpflanzung der Berühmtheit seines Namens Bedacht hätte. Nein, er wußte, daß das ganze Glück seiner Nachfahren auf dem Erbe des Bundes beruhte, den Gott mit ihm gemacht hatte; und weil er sah, daß dies für sie das höchste aller Güter sein würde, darum begehrte er, sie möchten zu seinem Geschlecht gezählt werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß er ihnen die Erbnachfolge an jenem Bunde überträgt! Wenn diese Nachkommen aber auf der anderen Seite die Erinnerung daran in ihr Gebet mit einflechten, dann nehmen sie damit nicht ihre Zuflucht zur Fürbitte von Verstorbenen, sondern sie halten dem Herrn die Erinnerung an seinen Bund vor Augen, kraft dessen der Vater es in seiner großen Güte auf sich genommen hat, ihnen um Abrahams, Isaaks und Jakobs willen gnädig und wohltätig zu sein! Wie gar wenig sich sonst die Heiligen auf die Verdienste der Väter gestützt haben, das bezeugt das öffentliche Bekenntnis der Kirche bei dem Propheten: „Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennt uns nicht; du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser …“ (Jes. 63,16). Und während sie gerade noch so reden, fügen sie gleich hinzu: „Kehre wieder, Herr, um deiner Knechte willen!“ (Jes. 63,17); dabei denken sie an keine Fürbitte, sondern sie richten ihren Sinn auf die Wohltat des Bundes. Nun haben wir aber doch unseren Herrn Jesus, durch dessen Hand der ewige Bund der Barmherzigkeit nicht bloß geschlossen, sondern uns auch bestätigt ist – auf wessen Namen sollen wir uns nun sonst in unseren Gebeten berufen? Da nun aber solche guten Lehrmeister auf Grund jener Worte die Erzväter zu Fürsprechern einsetzen wollen – so möchte ich gern von ihnen erfahren, warum bei ihnen denn inmitten einer so gewaltigen Schar von Heiligen Abraham, der Vater der Kirche, noch nicht einmal den geringsten Platz einnimmt! Man weiß doch sehr wohl, aus was für einem Wirrwarr sie ihre Heiligen nehmen! Dann sollen sie mir aber doch antworten, wie es denn billig sein kann, dabei Abraham, den Gott doch allen anderen vorangestellt und den er auf die höchste Stufe der Ehre erhoben hat, auszulassen und zu unterschlagen! Tatsächlich war der Grund folgender: es war offenkundig, daß dieser Brauch (nämlich die Anrufung der Heiligen) der Alten Kirche unbekannt war, und um nun die Neuheit der Sache zu verschleiern, hielt man es für gut, von den alten Vätern zu schweigen! Als ob die Verschiedenheit von Namen eine neue und verfälschte Sitte entschuldigen könnte!

(g) Einige machen nun aber den Einwurf, man habe doch Gott gebeten, sich um Davids willen seines Volkes zu erbarmen (Ps. 132,10). Aber das vermag ihrem Irrtum keinen Beistand zu tun, ja, es gibt nichts Wirksameres, um ihn zu widerlegen! Wenn wir nämlich bedenken, was für eine Stellung David eingenommen hat, so wird er damit aus der ganzen Schar der Gläubigen abgesondert, damit Gott den Bund bestätigt, den er in seiner Hand geschlossen hat! Es geht also um den Bund und nicht um den Menschen, und es wird hier in einem Bilde die einige Fürbitte Christi dargestellt. Denn das, was David besonders zu eigen hatte, das kommt, sofern er ja ein Bild Christi war, sicherlich nicht auch anderen zu!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,20,26

(h) Einige Leute lassen sich nun aber dadurch bewegen, daß wir oft lesen, die Gebete der Heiligen seien erhört worden! Weshalb aber? Eben, weil sie gebetet haben! „Auf dich hofften sie“, spricht der Prophet, „und sie sind errettet worden; zu dir schrien sie, und sie wurden nicht zuschanden!“ (Ps. 22,5f.; nicht Luthertext). So wollen denn auch wir nach ihrem Vorbild beten, um gleich ihnen Erhörung zu finden! Die Papisten dagegen kommen törichterweise zu dem umgekehrten Schluß, als es eigentlich sein sollte: sie meinen, nur der, der einmal erhört worden sei, werde auch späterhin Erhörung finden! Wieviel richtiger folgert da Jakobus! „Elia war ein Mensch wie wir, und er betete ein Gebet, daß es nicht regnen sollte, und es regnete nicht auf Erden drei Jahre und sechs Monate. Und er betete abermals, und der Himmel gab den Regen, und die Erde brachte ihre Frucht!“ (Jak. 5,17f.). Was nun? Zieht er etwa den Schluß, Elia habe ein besonderes Vorrecht gehabt, zu dem wir nun unsere Zuflucht nehmen müßten? Keineswegs, sondern er lehrt die beständige Kraft eines frommen und reinen Gebets, um uns zu gleichem Beten zu ermahnen! Denn wir legen Gottes Bereitschaft und Gütigkeit, die bei der Erhörung solcher Gebete zutage tritt, übel aus, wenn wir uns durch solche Proben nicht zu gewisserer Zuversicht auf seine Verheißungen stärken lassen; und in diesen verheißt er nicht, sein Ohr werde sich zu dem einen oder anderen oder doch nur zu wenigen herabneigen, sondern zu allen, die seinen Namen anrufen! Um so weniger ist aber solcher Unverstand zu entschuldigen, es scheint ja geradezu, als ob man diese vielen Mahnungen der Schrift mit Absicht verachtete! Oft ist David durch Gottes Kraft befreit worden – aber geschah das etwa, damit er diese Kraft nun an sich zöge, so daß wir durch seine Fürsprache errettet werden sollten? Er selbst bezeugt ganz etwas anderes: „Die Gerechten warten auf mich, bis du mich erhörst!“ (Ps. 142,8; nicht Luthertext). Oder: „Und die Gerechten werden es sehen und werden sich fürchten und werden auf den Herrn hoffen!“ (Ps. 52,8; nicht Luthertext). Oder wiederum: „Siehe, dieser Elende rief zu Gott, und er antwortete ihm’.“ (Ps. 34,7; nicht Luthertext). Es gibt in den Psalmen viele solche Gebete, in denen David Gott auffordert, ihm zu gewähren, um was er bittet, und zwar mit der Begründung, es möchten doch die Gerechten nicht zuschanden werden, sondern durch sein Beispiel zu fröhlicher Hoffnung ermuntert werden. Wir wollen uns damit begnügen, eine derartige Stelle zu nennen: „Um deswillen werden alle Heiligen zu dir beten zur rechten Zeit“ (Ps. 32,6). Diese Stelle habe ich um so lieber herangezogen, als die Zungendrescher, die ihre Zunge um gutes Geld in den Dienst der Verteidigung des Papsttums stellen, sich nicht gescheut haben, gerade sie als Beweis für die Fürbitte der Verstorbenen anzuführen! Als ob David etwas anderes wollte, als die Frucht aufzuzeigen, die aus Gottes Freundlichkeit und Freigebigkeit erwächst, wenn er Erhörung gefunden hat! Es ist auch ganz allgemein festzuhalten, daß die Erfahrung der Gnade Gottes, wie sie uns oder auch anderen zuteil geworden ist, eine ungewöhnliche Hilfe dazu bietet, die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen zu bekräftigen. Ich will hier nicht die zahlreichen Stellen anführen, an denen David sich Gottes Wohltaten als Anlässe zur Zuversicht vor Augen stellt; denn dem Leser der Psalmen werden sie von selbst begegnen. Das gleiche hatte Jakob bereits vorher an seinem eigenen Beispiel gelehrt: „Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast; denn ich hatte nicht mehr als diesen Stab, da ich über diesen Jordan ging, und nun bin ich zwei Heere geworden!“ (Gen. 32,11). Er zieht wohl auch die Verheißung heran, aber dies nicht allein: nein, er verbindet damit zugleich den Blick auf deren Auswirkung, um in Zukunft noch fröhlicher darauf zu vertrauen, daß Gott ihm gegenüber stets der gleiche sein werde! Denn Gott ist nicht den Sterblichen gleich, die sich ihrer Freigebigkeit gereuen lassen oder deren Vermögen sich erschöpft, sondern er will nach seiner eigenen Natur beurteilt werden, wie das David weislich tut: „Du hast mich erlöst, du treuer Gott!“ (Ps. 31,6). Er zollt Gott zunächst den Lobpreis für seine Erlösungstat, und dann setzt er hinzu, daß er treu ist; denn wenn er sich nicht stets gleich bliebe, so könnte man aus seinen Wohltaten keine genügend sichere Ursache entnehmen, ihm zu vertrauen und ihn anzurufen. Sobald wir aber wissen, daß er uns mit jeder einzelnen Hilfe ein Beispiel und einen Beweis für seine Güte und Treue gibt, brauchen wir nicht zu fürchten, daß unsere Hoffnung je zuschanden würde oder uns täuschen könnte!
Simon W.

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