Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

Moderatoren: Der Pilgrim, Leo_Sibbing

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Zweites Buch: Von der Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christo, wie sie zuerst den Vätern unter dem Gesetz, alsdann auch uns im Evangelium geoffenbart worden ist

Erstes Kapitel: Durch den Fall und die Abtrünnigkeit des Adam ist das ganze Menschengeschlecht dem Fluch verfallen und hat seine ursprüngliche Reinheit verloren. Die Lehre von der Erbsünde.

II,1,1

Nicht ohne Grund ist dem Menschen nach einem alten Spruche stets die Selbsterkenntnis hoch gerühmt worden. Es gilt doch bereits als schimpflich, wenn einer nicht weiß, was zu den Dingen des menschlichen Gebens gehört. Viel verwerflicher aber ist die Selbst-Unkunde: da werden wir bei jeder Entschließung in wichtiger Sache jämmerlich von Wahnideen geplagt und geradezu mit Blindheit geschlagen!

So wichtig aber jene Anweisung ist, so müssen wir uns erst recht in acht nehmen, von ihr keinen verkehrten Gebrauch zu machen — und das ist, wie wir sehen, gewissen Philosophen zugestoßen! Diese nämlich ermahnen zwar den Menschen zur Selbsterkenntnis; aber sie bestimmen zugleich das Ziel solcher Bemühung so: er soll sich über seine Würde und seine bevorzugte Stellung (excellentia) im klaren sein! Der Mensch soll nach ihrem Willen nur die Selbstbetrachtung üben, die ihn zu leerem Selbstvertrauen und zum Stolz aufbläst (Gen. 1,27). Unsere Selbster kenntnis soll aber etwas anderes in sich tragen: Zunächst sollen wir bedenken, was uns alles in der Schöpfung zuteil geworden ist und wie gütig Gott fort und fort seine Gnade über uns walten läßt; daraus sollen wir erkennen, wie groß der Vorzug unserer Natur sein müßte — wenn sie unverdorben geblieben wäre. Zu gleich aber sollen wir auch erwägen, daß wir ja nichts Eigenes in uns tragen, sondern geschenkweise das besitzen, was Gott uns gab — damit wir immer an ihm hangen: Zum zweiten soll uns aber unser jämmerlicher Zustand nach Adams Fall entgegentreten; werden wir des inne, so fällt aller Ruhm, alle Selbstsicherheit dahin, und wir gelangen tief beschämt zu rechter Demut. Denn Gott hat uns im Anfang zu seinem Bilde geschaffen, um unsere Seele zum Eifer in rechtem Tun und zum Trachten nach dem ewigen Leben zu erwecken, und so müssen wir, damit nicht der Adel unseres Geschlechts, der uns von den Tieren unterscheidet, durch unsre Trägheit gar verfalle, dies erkennen: wir sind mit Vernunft (ratio) und Verstand (intelligentia) begabt, um in einem heiligen und ehrbaren Leben uns nach dem vorgesteckten Ziel der seligen Unsterblichkeit auszustrecken! Jene ursprüngliche Würde kann uns aber gar nicht in die Erinnerung treten, ohne daß sich alsbald das traurige Bild unserer Befleckung und Schande uns vor die Augen stellt, wie es geworden ist, seitdem wir in der Person des ersten Menschen unserem Ursprung entfremdet sind. Und daraus entsteht denn auch Haß und Mißfallen an uns selbst und wahre Demut — und es entbrennt ein neuer Eifer, Gott zu suchen, in dem ein jeglicher die Güter wieder erlangen soll, die wir nun ganz und gar verloren haben.

II,1,2

Das also fordert Gottes Wahrheit als Inhalt unserer Selbstprüfung: sie ver langt eine solche Erkenntnis von uns, die uns von aller Zuversicht auf eigenes Vermögen fernhält uns jeden Grund zum Selbstruhm nimmt und so zur Demut führt. Diese Richtschnur gilt es festzuhalten, wenn wir zum rechten Maß und Ziel des Denkens und Handelns kommen wollen. Dabei weiß ich sehr wohl, wieviel angenehmer jene Lehre ist, die uns einlädt, unser Gutes zu bedenken, als jene, die uns unsere jämmerliche Armut und Schande betrachten läßt und uns so mit Scham er füllt. Denn der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht; und wenn er hört, daß seine Fähigkeiten irgendwo hoch gerühmt werden, so neigt er sich gleich mit allzugroßer Leichtgläubigkeit auf jene Seite! Des halb ist es auch nicht zu verwundern, daß in diesem Stück der größte Teil der Menschheit so verderbenbringend sich verirrt hat. Denn allen Sterblichen ist eine mehr als blinde Selbstliebe eingeboren, und deshalb reden sie sich bereitwilligst ein, sie trügen nichts in sich, das etwa mit Recht zu verwerfen wäre! Und so findet ohne fremden Schutz dieser eitle Wahn immer wieder Glauben, der Mensch sei sich selbst völlig genug, um gut und glücklich zu leben. Gewiß: einige wollen bescheidener ur teilen und Gott einen Anteil zugestehen, damit sie nicht den Eindruck machen, als ob sie sich alles selbst zuschreiben wollten — aber da teilen sie denn doch so, daß der stärkste Grund zum Rühmen und zum Selbstvertrauen auf ihre eigene Seite zu liegen kommt! Kommt dazu dann noch solch feine Redeweise, welche den sowieso im Menschen mit Mark und Bein verwachsenen Hochmut mit ihren Lockungen kitzelt, so gibt es nichts, was ihm größere Freude machte! Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden. Aber wie groß auch jene Hervorhebung der menschlichen Hoheit sein mag, die den Menschen lehrt, sich mit sich selber zufrieden zu geben — sie macht ja nur durch ihre liebliche Gestalt sol ches Vergnügen, und ihre Vorspiegelungen erreichen nur dies, daß sie die, welche ihr zustimmen, am Ende ganz ins Verderben stürzt. Denn wozu kann es führen, wenn wir in eitlem Selbstvertrauen erwägen, planen, versuchen, ins Werk setzen, was wir für erforderlich halten, wenn uns dabei aber der rechte Verstand ganz und gar abgeht, wir bei den ersten Versuchen bereits rechter Kraft ermangeln — und dennoch selbst sicher fortschreiten, bis wir in den Untergang hineinrennen? Aber so muß es ja denen gehen, die meinen, sie vermöchten etwas in eigener Kraft! Leiht man jenen Lehrern das Ohr, die uns bloß damit Hinhalten, unser Gutes zu bedenken, so kommt man eben nicht zur Selbsterkenntnis, sondern verfällt in übelste Selbst-Unkenntnis!

II,1,3

Gewiß: Gottes Wahrheit kommt darin mit der allgemeinen Überzeugung aller Sterblichen überein, daß der zweite Teil der Weisheit in unserer Selbsterkennt nis bestehe. Aber über die Art dieser Erkenntnis besteht große Meinungsverschieden heit. Denn der Mensch meint nach dem Urteil des Fleisches, er hätte sich dann gar wohl erforscht, wenn er im Vertrauen auf seinen Verstand und seine Unver dorbenheit kühn wird, sich dem Dienste der Tugend hingibt, den Lastern den Krieg erklärt und so versucht, mit ganzem Eifer dem Schönen und Ehrbaren nachzustre ben. Wer sich aber nach dem Richtmaß des göttlichen Urteils betrachtet und prüft, der findet nichts, was seine Seele zu rechtem Selbstvertrauen ermuntern könnte, und je tiefer er sich durchforscht, desto mehr wird er zu Boden geworfen — bis er auf alles Selbstvertrauen ganz verzichtet und bei sich selber nichts mehr finden will, um sein Leben recht zu führen.

Gewiß will Gott nicht, daß wir jenen ursprünglichen Adel vergessen, den er un serem Vorvater Adam hatte zuteil werden lassen — denn der soll uns ja mit Recht zum Eifer um Gerechtigkeit und Gutsein erwecken. Wir können gar nicht an unseren Ursprung denken oder erwägen, wozu wir erschaffen sind, ohne zugleich zum Ver langen nach der Unsterblichkeit und zum Trachten nach dem Reiche Gottes gereizt zu werden. Aber solche Rückerinnerung macht uns nicht stolz, sondern wirft vielmehr allen Stolz zu Boden und macht uns demütig. Denn was ist das für ein Ur sprung? Eben der — aus dem wir herausgefallen sind! Was ist das für ein Ziel un serer Erschaffung? Eben das, von dem wir nun gänzlich abgewandt sind, so daß wir in tiefer Trauer über unser jämmerliches Los seufzen und in solchem Seufzen nach jener verlorenen Würde uns sehnen! Wenn wir aber sagen, der Mensch vermöge in sich selber nichts anzuschauen, das ihn stolz machen könnte, so ist unsere Meinung: beim Menschen ist nichts, auf das er sich verlassen und das ihn hochmütig machen könnte. Wenn man also so will, so wollen wir die Selbsterkenntnis, die der Mensch haben soll, folgendermaßen einteilen: Erstens soll er bedenken, zu welchem Zweck er erschaffen worden ist und was für nicht geringzuschätzende Gaben ihm zuteil ge worden sind. Diese Erwägung soll ihn reizen, auf die Verehrung Gottes und das zukünftige Leben bedacht zu sein. Zweitens soll er seine Fähigkeiten, das heißt aber in Wirklichkeit: seinen Mangel an solchen, betrachten. Tut er das, so wird er sozusagen zu Nichts werden und in äußerster Verwirrung dastehen. Die erst­genannte Erwägung hat den Zweck, daß er erkenne, was seine Aufgabe (officium) sei, die zweite, daß er innewerde, was er eigentlich vermöge, um ihr gerecht zu werden. Wir werden über beide nach der durch die Lehrabsicht gebotenen Reihenfolge zu reden haben.

II,1,4

Es ist nun aber notwendigerweise nicht etwa ein leichtes Vergehen, sondern ein abscheuliches Laster, das Gott so streng gestraft hat; und so müssen wir das eigent liche Wesen der Sünde, (wie es) im Falle Adams (hervorgetreten ist), untersuchen, das ja Gottes schreckliche Vergeltung über das ganze Menschengeschlecht herabge zogen hat. Kindisch ist die allgemeine Auffassung, es handle sich (bei dem Sünden fall) um Lüsternheit des Gaumens. Als ob der Hauptinhalt aller Tugend nur in der Enthaltsamkeit gegenüber der einen Frucht bestanden hätte! Und dabei strömte doch von allen Seiten in reicher Fülle alles, was ein Mensch an Freuden ersehnen kann, und bei jener seligen Fruchtbarkeit der Erde war genug Fülle und Mannig faltigkeit da, um ein rechtes Wohlleben zu bereiten! Wir müssen den Blick höher richten. Denn das Verbot, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu nehmen, war ja eine Prüfung im Gehorsam: Adam sollte durch seine Folgsamkeit beweisen, daß er gern Gottes Befehl sich unterwarf! Der Name (des Baums) sel ber zeigt doch, daß das Gebot keinen anderen Zweck hatte, als daß der Mensch, mit seiner Lage zufrieden, sich nicht von gottloser Begehrlichkeit zu Höherem empor­reißen ließ. Und die Verheißung, die ihn auf das ewige Leben hoffen ließ, solange er vom Baume des Lebens aß, die furchtbare Androhung des Todes wiederum, so bald er etwa von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen äße — beides hatte den Zweck, seinen Glauben zu prüfen. Hieraus ist leicht ersichtlich, auf welcher lei Weise Adam Gottes Zorn über sich heraufbeschworen hat. Nicht übel erklärt das Augustin, wenn er sagt, der Hochmut sei der Ursprung alles Bösen; denn wäre der Mensch nicht in seiner Anmaßung höher gestiegen, als ihm verstattet und als es von Gott aus recht war, so hätte er in seiner (hohen) Stellung bleiben können.

Aber aus der Beschreibung der Versuchung, wie sie Mose gibt, läßt sich noch eine genauere Deutung finden. Denn da wird die Frau durch die List der Schlange im Unglauben vom Worte Gottes abgebracht — und da sehen wir schon: der Anfang des Untergangs ist der Ungehorsam. Das bestätigt auch Paulus, wenn er sagt, durch eines Menschen Ungehorsam seien alle verlorengegangen (Röm. 5,19). Zugleich aber müssen wir bemerken, daß der erste Mensch vom Gebot Gottes ab gewichen ist, und das geschah nicht nur, weil er von den Lockungen des Satans um strickt wurde, sondern auch, weil er unter Verachtung der Wahrheit sich zur Lüge wandte. Und wahrlich: wird einmal Gottes Wort verachtet, so geht jede Ehrfurcht vor Gott verloren. Denn seine Majestät hat unter uns keinen Bestand, seine Ver ehrung kann nicht rein bleiben — wenn wir nicht an seinem Munde hängen. Des halb war der Unglaube die Wurzel des Abfalls. Aus ihm entstand die An maßung und der Hochmut, zu denen dann auch die Undankbarkeit kam, weil ja Adam, indem er mehr haben wollte, als ihm zustand, die große Freigebigkeit Gottes, die ihm zuteil geworden war, schnöde verachtete. Daran aber zeigte sich die furchtbare Gottlosigkeit, daß es dem Erdensohne zu wenig erschien, zum Bilde Gottes gemacht zu sein — sofern nicht die Gleichheit (mit Gott) hinzukäme! Ein abscheulicher Frevel ist der Abfall, mit dem sich der Mensch dem Gebot seines Schöpfers entzieht, ja aufbegehrend sein Joch abschüttelt. Deshalb ist es vergebliche Mühe, die Sünde des Adam zu mildern. Und dabei handelt es sich nicht einmal um bloßen Abfall, sondern es kommen gemeine Vorwürfe gegen Gott hinzu: die Menschen unterschreiben ja die Schmähungen des Satans, der Gott Lüge, Neid und Mißgunst unterschiebt! Und endlich tut der Unglaube auch der Anmaßung Tor und Tür auf, und die Anmaßung war die Mutter der Widerspenstigkeit, so daß die Menschen alle Furcht Gottes von sich warfen und sich ganz von ihrem Gelüste lei ten ließen. Deshalb ist es recht, wenn Bernhard lehrt, die Tür des Heils tue sich uns auf, wenn wir heute mit unseren Ohren das Evangelium hören, wie ja auch zu dieser Öffnung (dem Ohre), als sie sich dem Satan aufgetan habe, der Tod hinein gekommen sei. Denn Adam hätte ja nie gewagt, dem Gebot Gottes ungehorsam zu sein, wenn er nicht seinem Wort gegenüber ungläubig gewesen wäre. Der beste Zügel, alle Begierden recht im Zaum zu halten, war ja doch die Überzeu gung, es sei nichts besser, als Gottes Gebot zu gehorchen und so die Gerechtigkeit zu tun, und das höchste Ziel eines seligen Lebens sei, von Gott geliebt zu werden. Als aber der Mensch von den Schmähungen des Teufels hingerissen war, da machte er nach Kräften allen Ruhm Gottes zunichte.

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II,1,5

Wie das geistliche Leben des Adam darin bestand, daß er mit seinem Schöpfer verbunden und an ihn gebunden blieb, so bedeutete die Entfremdung von ihm das verderben der Seele. So ist es kein Wunder, daß er sein Geschlecht ins Elend stürzte — verkehrte er doch die ganze Ordnung der Natur im Himmel und auf Erden! Es seufzt die Kreatur, sagt Paulus, die ohne ihren Willen der Verderbnis unterwor fen ist! (Röm. 8,22). Fragt man nach der Ursache davon, so ist es außer Zweifel, daß die Kreatur einen Teil der Strafe trägt, die der Mensch sich zugezogen hat, zu dessen Nutzen sie erschaffen war. So ist also nach allen Seiten, droben und hienieden, aus Adams Schuld der Fluch entsprungen, der auf allen Gebieten der Welt ruht — und deshalb ist es durchaus nicht widersinnig, daß er auch auf seine gesamte Nachkommenschaft übergegangen ist. Nachdem also einmal das himmlische Bild in ihm zerstört war, ist er nicht allein für seine Person damit gestraft worden, daß nun an die Stelle der Weisheit, Kraft, Heiligkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, die ihn einst geziert hatten, die übelsten Verderbnisse traten: Blindheit, Kraftlosigkeit, Unreinheit, Eitelkeit, Ungerechtigkeit, — sondern in eben dieses Elend hat er auch seine Nachkommenschaft verwickelt und hineingestoßen. Das ist die erbliche Verderbnis (haereditaria corruptio), die die Alten „Ursünde“ (Erbsünde, peccatum originale) genannt haben, wobei sie unter Sünde die Zerrüttung der zuvor guten und reinen Natur verstanden. Über diese Lehre war unter ihnen gewaltiger Streit; denn dem gemeinen Menschenverstand ist nichts so befremdlich, als daß wegen der Schuld eines Menschen alle schuldig sein sollten und so also die Sünde allgemein werde. Das scheint auch der Grund gewesen zu sein, weshalb die ältesten Lehrer der Kirche dieses Lehrstück bloß unklar behandelten; wenigstens haben sie es weniger deutlich entfaltet, als recht ist. Und trotzdem konnte diese Vorsicht den Pelagius nicht daran hindern, sich aufzumachen und die unfromme Auffassung vorzutragen, Adam habe nur zu seiner eigenen Verdammnis gesündigt, aber seinen Nachkommen damit keinen Schaden getan. Mit solcher Verschlagenheit wollte der Satan versuchen, die Krankheit zu verdecken und so unheilbar zu machen. Und als Pelagius dann durch das klare Zeugnis der Schrift überführt wurde (und zugeben mußte), die Sünde sei von dem ersten Menschen auf seine gesamte Nachkommenschaft übergegangen, da brachte er die spitzfindige Weisheit auf, das sei eben nur durch Nachahmung geschehen, nicht aber im Sinne der Vererbung. Da haben sich denn wackere Männer, vor allem Augustin, abmühen müssen, zu zeigen, daß wir nicht etwa durch eine spä ter angenommene Bosheit der Verderbnis verfallen, sondern von Mutterleibe an eine angeborene Sündhaftigkeit mitbringen. Das zu leugnen, war höchste Vermessenheit. Indessen wird man sich über die Verwegenheit der Pelagianer und Coelestianer nicht wundern, wenn man aus den Schriften jenes heiligen Mannes (Augustin) bemerkt, was für unverschämte Ungetüme sie in allen anderen Stücken ge wesen sind. Es ist doch gewiß sonnenklar, wenn David bekennt, er sei in Sünden ge boren und von seiner Mutter in Sünden empfangen worden (Ps. 51,7). Damit will er doch nicht etwa Vergehen seines Vaters oder seiner Mutter tadeln, sondern er legt, um Gottes Güte gegen ihn um so besser herauszustreichen, ein Bekenntnis seiner eigenen Verderbtheit ab, die er seit seiner Geburt zu haben behauptet. Nun steht aber anerkanntermaßen dies Zeugnis des David nicht einzig da, und so ergibt sich, daß an seinem Beispiel das allgemeine Los des Menschengeschlechts dargestellt wird. Denn wir alle, die wir aus unreinem Samen herstammen, werden, befleckt von der Ansteckung der Sünde, geboren, ja, ehe wir das Licht der Welt erblicken, sind wir vor Gottes Augen bereits verdorben und befleckt. „Kann wohl ein Reiner kommen von den Unreinen? Auch nicht einer“, heißt es im Buche Hiob (Hiob 14,4).

II,1,6

Wir hören, daß die Unreinigkeit der Voreltern derart auf die Nachfahren über geht, daß alle ohne jede Ausnahme vom Ursprung her befleckt sind. Den Anfang dieser Befleckung kann man nur finden, wenn man zum Urvater aller Menschen als zur Quelle zurückgeht. Wir werden die Sache also sicher so anzusehen haben: Adam ist nicht nur der Ahnherr der menschlichen Natur, sondern er ist sozusagen ihre Wurzel, und deshalb ist durch seine Verderbnis billigerweise das ganze Menschengeschlecht zerrüttet worden. Das macht der Apostel klar, indem er ihn mit Christus vergleicht. „Wie durch einen Menschen die Sünde in die ganze Welt ge kommen ist und durch die Sünde der Tod, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben, so ist Gerechtigkeit und Leben uns wiedergegeben durch die Gnade Christi“ (Röm. 5,12ff.). Was wollen da die Pelagianer schwätzen? Die Sünde des Adam soll durch Nachahmung fortgepflanzt worden sein? Dann würden wir also auch die Gerechtigkeit Christi nicht anders über kommen, als weil er uns als Vorbild gesetzt wäre, dem wir nachahmen sollten. Was wäre das aber für eine unerträgliche Gotteslästerung! Es ist doch außer allem Streit, daß Christi Gerechtigkeit durch Gemeinschaft mit ihm die unsere wird und uns das Leben schenkt. Daraus folgt dann aber: beides ist in Adam verloren, um in Christus wiedergewonnen zu werden; Sünde und Tod sind durch Adam eingeschlichen, um durch Christus abgetan zu werden. Und wenn der Apostel sagt, durch Christi Gehorsam würden viele gerecht gemacht, gleichwie sie durch Adams Ungehorsam Sünder geworden sind, so ist daran nichts Unklares. Zwischen ihnen beiden besteht danach die Beziehung, daß dieser (Adam) uns in sein Verderben mit hineinzieht und also mit sich zugrunde richtet, jener (Christus) uns durch seine Gnade wieder zum Heil bringt. Die Sache tritt so deutlich in das Licht der Wahrheit, daß ich meine: sie bedarf eines längeren und mühsameren Beweises nicht. So zeigt auch Paulus im 1. Korintherbrief, wo er die Frommen in der Hoffnung auf die Auferstehung stärken will, daß wir in Christus das Leben wiedererlangen, das in Adam verloren gegangen war (1. Kor. 15,22). Dadurch, daß er sagt, wir seien in Adam alle gestor ben, bezeugt er zugleich klar und offen, daß wir von der Befleckung durch die Sünde umstrickt sind. Denn die Verdammnis würde ja gar nicht zu solchen kommen, die von keinerlei Schuld der Sünde berührt wären! Aber die eigentliche Absicht des Apostels wird am deutlichsten aus der Beziehung zu dem anderen Satzglied, wo er lehrt, in Christo sei die Hoffnung auf das Leben wiederhergestellt. Dabei ist es aber eben genugsam bekannt, daß dies nicht anders geschieht als so, daß Christus in wun dersamer Mitteilung die Kraft seiner Gerechtigkeit auf uns überträgt — wie es an anderer Stelle auch heißt, der Geist sei für uns Leben um der Gerechtigkeit willen (Röm. 8,10). Also kann auch der Satz, daß wir in Adam alle gestorben sind, nicht anders ausgelegt werden als so: er hat uns durch sein Sündigen nicht nur in seine Niederlage und sein Verderben hineingerissen, sondern auch unsere Natur in die gleiche Verderbnis hineingestürzt. Und das hat er nicht durch sein Vergehen allein getan, als ob es mit uns nichts zu tun hätte, sondern eben dadurch, daß er all seine Nachkommenschaft mit der Verderbnis, in die er gefallen war, angesteckt hat. Auch könnte Paulus nicht sagen, alle Menschen seien von Natur Kinder des Zorns (Eph. 2,3), wenn sie nicht von Mutterleibe an unter dem Fluche stünden! Da bei ist leicht ersichtlich, daß er hier nicht die Natur meint, wie sie von Gott er schaffen wurde, sondern wie sie in Adam verdorben wurde; denn es wäre durchaus unsinnig, wollte man Gott zum Urheber des Todes machen! Adam hat sich also selbst so verderbt, daß von ihm her die Ansteckung auf die gesamte Nachkommenschaft ge kommen ist! Auch verkündet Christus, der himmlische Richter, selber deutlich genug, daß alle Menschen böse und verderbt geboren werden; lehrt er doch: „Was vom Fleische geboren wird, das ist Fleisch“ (Joh. 3,6). Danach ist allen Menschen das Tor zum Leben verschlossen, bis sie wiedergeboren sind.

II,1,7

Um diese Dinge zu verstehen, ist nun aber jene ängstlich genaue Streitfrage nicht vonnöten, mit der sich die Alten mehr, als gut war, gequält haben, nämlich: ob die Seele des Kindes dadurch entstünde, daß die des Vaters auf das Kind über ginge, da ja in der Seele vor allem die Seuche stecke! Wir müssen uns vielmehr damit zufrieden geben: der Herr hat alle Gaben, die er der menschlichen Natur verleihen wollte, dem Adam zur Bewahrung übergeben. Wenn er also verlor, was er empfangen hatte, so hat er es nicht nur für seine eigene Person, sondern für uns alle verloren, wer will sich dann noch über die Fortpflanzung der Seele Unruhe machen, wenn er doch hört, daß Adam all die Zier, die er verloren hat, ebensosehr für uns, als für sich selber empfangen hatte, daß sie eben nicht ihm allein, sondern dem ganzen Menschengeschlecht zugeteilt war? Es liegt gar nichts widersinniges darin, daß damit, daß er jener herrlichen Gaben verlustig ging, auch die Natur nackt und arm dasteht, und daß dadurch, daß er von der Sünde befleckt wurde, die An steckung auch in die Natur eingedrungen ist! So sind aus der faulen Wurzel faule Äste hervorgeschossen, und die haben wiederum ihre Fäulnis den anderen Sprößlingen mitgeteilt, die aus ihnen hervorgingen! So liegt die Verderbnis der Kinder schon in den Vätern, und die Kinder verderben wieder die Enkel; das bedeutet: die Ver derbnis hat bei Adam den Anfang genommen und sich so in ununterbrochenem Ablauf von den Vorfahren zu den Nachfahren fortgepflanzt. Denn die Ansteckung und Befleckung hat ihren Ursprung nicht etwa im Grundwesen (substantia) des Fleisches oder der Seele, sondern darin, daß Gott es so eingerichtet hatte, daß der erste Mensch die Gaben, die er ihm zuteil werden ließ, mit den Seinigen zusammen besaß — und verlor!

Nun schwatzen aber die Pelagianer, es sei nicht glaubwürdig, daß die Kinder frommer Eltern von diesen die Verderbnis empfingen, sie müßten doch vielmehr durch ihre Reinheit geheiligt werden! (Vgl. 1. Kor. 7,14). Das ist leicht zu wider legen. Denn die Kinder gehen ja nicht aus ihrer geistlichen Wiedergeburt, sondern aus fleischlicher Zeugung hervor. Deshalb sagt auch Augustinus mit Recht: Sei es also ein ungläubiger, schuldiger Mensch oder ein gläubiger, der losgesprochen ist: beide zeugen nicht etwa Losgesprochene, sondern Schuldige, denn sie zeugen aus ihrer verderbten Natur! (Gegen die Pelagianer und Coelestianer, Buch II). Daß also die Kinder gewissermaßen an der Heiligkeit ihrer Eltern Anteil haben, das ist eine be sondere Segnung des Volkes Gottes; und die hindert nicht, daß jene erste und allge­meine Verfluchung des Menschengeschlechts vorausgeht! Denn die Schuld besteht von Natur her, die Heiligung aber aus übernatürlicher Gnade.

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II,1,8

Aber es soll hier nicht von einer undeutlichen und unbekannten Sache geredet werden, und deshalb wollen wir die Erbsünde beschreiben. Dabei habe ich jedoch nicht die Absicht, die einzelnen Beschreibungen, welche die kirchlichen Schriftsteller unternommen haben, nachzuprüfen. Ich werde nur eine einzige herausgreifen, die mir der Wahrheit am meisten zu entsprechen scheint. Es erscheint da nämlich die Erbsünde als die erbliche Zerrüttung und Verderbnis unserer Natur, die in alle Teile der Seele hineingedrungen ist; diese macht uns zunächst vor Gottes Zorn zu Schuldigen, dann aber bringt sie auch in uns die Werke hervor, die die Schrift „Werke des Fleisches“ nennt (Gal. 5,19). Das ist im eigentlichen Sinne das, was Paulus öfters „Sünde“ nennt. Die Werke indessen, die daraus hervorgehen, wie Ehebruch, Hurerei, Diebstahl, Haß, Mord, Völlerei nennt er dementsprechend „Früchte“ der Sünde; freilich werden sie weithin in der Schrift und so auch von Paulus selbst „Sünden“ genannt.

Dies beides ist also genau zu beachten: (1) Wir sind in allen Stücken unserer Na tur dermaßen verderbt und verkehrt, daß wir allein wegen dieser Verderbnis vor Gott mit Recht als Verdammte und Verworfene dastehen; denn ihm ist ja nichts wohlgefällig als Gerechtigkeit, Unschuld und Reinheit. Aber das ist nun keine Verflochtenheit in fremdes Vergehen. Denn wenn es heißt, daß wir durch die Sünde Adams des göttlichen Gerichts schuldig sind, so ist das nicht so zu verstehen, als ob wir etwa unschuldig und ohne Verdienst die Schuld für sein (Adams) Ver gehen tragen müßten; es ist vielmehr deshalb gesagt, er habe uns in seine Schuld verwickelt, weil wir ja durch seine Übertretung nun alle den Fluch auf uns tragen. Trotzdem ist von ihm her nicht etwa bloß die Strafe auf uns gekommen, sondern die von ihm auf uns übertragene Verderbnis wohnt nun in uns, und diese wird mit Recht bestraft. So sagt Augustinus zwar oft, es handle sich um eine „fremde“ Sünde, um nämlich klarer zu zeigen, daß sie durch Übertragung auf uns kommt. Aber trotzdem behauptet er auch, sie sei eines jeden eigene Sünde. (So unter an derem in „Von Schuld und Vergebung der Sünden“ III,8). Der Apostel selbst be zeugt ganz ausdrücklich, der Tod sei darum zu allen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben! (Röm. 5,12). Und das heißt: weil sie alle der Erbsünde verfallen und mit ihren Flecken behaftet sind. So sind denn auch die Kindlein selber, die vom Mutterleibe an ihr Verdammungsurteil mit sich tragen, nicht in fremde, sondern in ihre eigene Sünde verstrickt. Denn obwohl sie die Früchte ihrer Sündhaftigkeit noch nicht hervorgebracht haben, so haben sie doch den Samen in sich, ja ihre ganze Na tur ist gewissermaßen ein Same der Sünde, so daß sie unvermeidlich Gott verhaßt und abscheulich sein muß. Daraus folgt, daß dies im eigentlichen Sinne vor Gott als Sünde gilt: denn ohne Schuld gäbe es keinen Anklagezustand. (2) Dazu kommt dann das Zweite: Diese Verkehrtheit ist in uns niemals müßig, sondern bringt ohne Aufhören neue Früchte hervor, nämlich jene oben beschriebenen „Werke des Fleisches“ — gleichwie ein Schmelzofen, der einmal angezündet ist, nun Flammen und Funken von sich gibt, oder eine Quelle das Wasser ohne Aufhören aus sich hervorsprudelt. Wer deshalb unter der Erbsünde den Mangel an „Urgerechtigkeit“ (justitia originalis) verstehen will, die wir eigentlich haben sollten, der hat da mit zwar alles zur Sache Gehörige zusammengefaßt, aber deren Kraft und Wirksamkeit nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Denn unsere Natur ist nicht etwa bloß des Guten arm und leer, sondern sie ist fruchtbar und ertragreich im Bösen, so daß sie nie müßig sein kann! Einige haben gesagt, die Erbsünde sei die „Begehrlichkeit“ (concupiscentia). Das ist an sich kein sach fremdes Wort; nur muß man — was aber von den meisten nicht im mindesten zugegeben wird — noch hinzufügen, es sei eben der ganze Mensch (quicquid in homine est), Verstand und Wille, Seele und Fleisch, von dieser Begehrlichkeit befleckt und erfüllt oder kurzum, der ganze Mensch sei von sich selbst aus nichts anderes als Begehrlichkeit!

II,1,9

Aus diesem Grunde sagte ich, die Seele sei in ihrem ganzen Bestand von der Sünde mit Beschlag belegt, seitdem sich Adam von der Quelle der Gerechtigkeit abgewandt hat. Denn es hat ihn nicht allein ein niedriges Gelüsten gereizt, sondern schändliche Gottlosigkeit hat seine Seele bis ins Tiefste in Besitz genommen, und die Hoffart ist ins innerste Herz hineingedrungen. Deshalb ist es abgeschmackt und töricht, die daraus entstandene Verderbnis bloß auf die sogenannten „sinnlichen Regungen“ (sensuales motus) zu beschränken oder sie bloß einen „Zunder“ zu nennen, der die von einigen so genannte „Sinnlichkeit“ (sensualitas) reizt, erregt und fortzieht. Petrus Lombardus hat seine grobe Unwissenheit dadurch erwiesen, daß er auf der Suche nach dem Sitz der Erbsünde zu der Ansicht kam, das sei nach Paulus das Fleisch, freilich nicht im eigentlichen Sinne, sondern weil die Erbsünde im Fleische am deutlichsten in Erscheinung trete. Als ob Paulus bloß einen Teil der Seele gemeint habe und nicht die ganze Natur, wenn er das „Fleisch“ und die über natürliche Gnade einander gegenüberstellt! Paulus hebt auch allen Zweifel auf, in dem er lehrt, daß die Verderbnis nicht etwa bloß in einen Teil ihren Sitz habe, sondern nichts von ihrer todbringenden Befleckung rein oder unberührt ist! Denn bei der Betrachtung der verderbten Natur (des Menschen) verdammt er nicht bloß die sichtbar werdenden ungeregelten Triebe, sondern er behauptet vor allem, daß die Seele der Blindheit und das Herz der Verdorbenheit verfallen sei, und das ganze dritte Kapitel des Römerbriefs ist ja nichts als eine Beschreibung der Erbsünde. Das wird wieder noch deutlicher, wenn wir (die Kehrseite) die Erneuerung ins Auge fassen. Denn der Geist, der ja dem alten Menschen, dem Fleische entgegenge setzt wird, bezeichnet nicht etwa bloß die Gnade, die den „niedrigeren“ oder „sinnlichen“ Teil der Seele in Ordnung bringt, sondern er umfaßt doch eine völlige Erneuerung des gesamten Wesens. Und deshalb gebietet Paulus nicht nur die groben Triebe zunichte zu machen, sondern uns zu erneuern im Geist unseres Gemüts (Eph. 4,23), wie er uns ja auch an anderer Stelle auffordert, uns zu ändern in Erneuerung unseres Sinnes (Röm. 12,2). Daraus geht hervor: gerade jener Teil (der Seele), an dem ihre hohe Würde und ihr Adel am meisten erstrahlt, ist nicht nur verwundet, sondern gar der art verderbt, daß es nicht bloß der Heilung, sondern geradezu der Annahme einer neuen Natur bedarf! Wie weit die Sünde Sinn und Herz in Besitz hat, das werden wir gleich sehen. Hier habe ich nur in Kürze andeuten wollen: der ganze Mensch ist von Kopf bis zu Fuß wie von einer Sintflut derart über und über (mit Sünde) bedeckt, daß kein Teil unberührt ist, und deshalb wird alles, was von ihm kommt, als Sünde gerechnet, wie denn auch Paulus sagt, alle Sinne des Fleisches und all sein Denken seien Feindschaft wider Gott (Röm. 8,7) und deshalb der Tod!

II,1,10

So sollen nun die Leute weggehen, die da wagen, Gott ihre Laster zuzuschreiben, weil wir ja sagten, die Menschen seien von Natur verderbt. Sie suchen fälschlicher weise Gottes Werk in seiner Befleckung — und dabei müßten sie es in der noch unberührten und unverdorbenen Natur Adams suchen! Unser Verderben stammt aus der Schuld unseres Fleisches, nicht aber von Gott! Denn wir verderben doch nur deshalb, weil wir aus unserer ursprünglichen Stellung uns entfremdet haben! Nun soll mir keiner einwenden, Gott hätte ja viel besser für unser Heil sorgen können, wenn er den Fall Adams verhindert hätte. Denn ein derartiger Einwurf ist frommen Sinnen verabscheuenswürdig, weil er von allzu vermessenem Vorwitz ist! Außerdem rührt er an das Geheimnis der Prädestination, das später an seinem Platze behandelt werden soll. Wir wollen also nur festhalten: unser Verderben ist der Zerrüttung der Natur zuzuschreiben. Das sollen wir bedenken, damit wir nicht etwa Gott, den Urheber der Natur, selber anklagen. Es ist zwar richtig, daß diese verderbliche Wunde nun der Natur anhaftet; aber es ist von großer Wichtigkeit, ob sie von außen hereingekommen oder ob sie vom Ursprung her bereits dagewesen ist. Es steht aber doch fest, daß sie durch die Sünde entstanden ist. Wir haben also keinen Grund, uns über etwas anderes zu beklagen als über uns selber, wie die Schrift häufig bemerkt. So spricht der Prediger: „Das weiß ich wohl, daß Gott den Menschen aufrichtig gemacht hat; aber sie suchen sich selbst viele Künste“ (Pred. 7,30). Da wird offenkundig: Allein dem Menschen selbst ist sein Verderben zuzu schreiben; denn er hat aus Gottes Güte die Aufrichtigkeit empfangen und ist dann doch vermöge seiner eigenen Torheit in Eitelkeit verfallen.

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II,1,11

Wir sagen also, daß der Mensch von natürlicher Lasterhaftigkeit verdorben ist, die aber doch nicht aus der Natur herkommt! Wir leugnen ihre Herkunft aus der Natur, um damit anzuzeigen, daß sie eine (von außen) hinzukommende Eigenschaft darstellt, die dem Menschen zugestoßen ist, und nicht etwa eine ursprünglich (wesensmäßig) vorhandene Eigentümlichkeit, die ihm etwa von Anfang angeboren gewesen wäre. Dennoch bezeichnen wir sie als „na türlich“, damit niemand meine, sie komme erst jetzt bei dem einzelnen aus böser Gewohnheit auf, wo sie uns doch allesamt aus ererbtem Anspruch (haereditario iure) in Beschlag hat! Das tun wir nicht ohne Gewährsmann. Denn aus dem gleichen Grunde lehrt auch Paulus, daß wir alle „von Natur“ Kinder des Zorns sind (Eph. 2,3). Wie sollte denn Gott der edelsten unter seinen Kreaturen zürnen, wo doch selbst seine geringsten Werke sein Wohlgefallen finden? Aber er ist ja über die Zerstörung seines Werks erzürnt, nicht über sein Werk selber! So kann also durchaus mit Grund gesagt werden, daß der Mensch wegen der Verderbnis der menschlichen Natur „von Natur“ Gott widerwärtig sei, und deshalb ist es auch nicht unrichtig, wenn man es so ausdrückt, der Mensch sei „von Natur“ böse und verderbt. So trägt auch Augustin kein Bedenken, wegen der Verderbung der Natur die Sünde, welche, wo Gottes Gnade nicht da ist, notwendig in unserem Fleische das Regiment führt, „natürlich“ zu nennen. Damit kommt auch die törichte Phantasterei der Manichäer zu Fall: die bildeten sich nämlich ein, im Menschen sei eine wesen hafte Bosheit vorhanden, und wagten es dann, dem Menschen deshalb einen an deren Schöpfer anzudichten, um nicht den Anschein zu erwecken, als schrieben sie Gott, dem Gerechten, den Ursprung und Anfang des Bösen zu.

Zweites Kapitel: Der Mensch ist jetzt des freien Willens beraubt und elender Knechtschaft unterworfen.

II,2,1

Wir haben gesehen, wie die Herrschaft der Sünde, seitdem sie einmal den ersten Menschen in ihre Gewalt gebracht hat, nun nicht bloß in seiner ganzen Nachkommen schaft regiert, sondern auch jede einzelne Seele fest in ihren Besitz genommen hat. Jetzt müssen wir nun genauer nachprüfen, ob wir denn, seitdem wir einmal dieser Knechtschaft unterworfen sind, allen freien Willen verloren haben, und wie weit, wenn noch ein weniges davon bestehen geblieben ist, dessen Kraft reicht. Aber damit uns die Wahrheit in dieser Frage um so leichter deutlich werde, will ich zuvor mit wenigen Worten den Grundgesichtspunkt feststellen, nach dem sich alles auszurichten hat. Denn wir können uns dann am besten vor jedem Irrtum hüten, wenn wir die von beiden Seiten drohenden Gefahren beachten. Denn (1) macht der Mensch aus der Einsicht, daß er keinerlei Rechtschaffenheit (rectitudo) mehr besitze, sofort eine gute Gelegenheit zur Bequemlichkeit; und weil man von ihm sagt, das Trachten nach der Gerechtigkeit hätte an sich gar keinen Wert, so läßt er es ganz und gar, als ob er ja nun nichts mehr damit zu tun hätte, auf sich beruhen! Und anderseits kann ihm (2) auch nicht das Geringste zugesprochen werden, ohne daß Gott die Ehre geraubt und der Mensch von vermessenem Selbstvertrauen zu Fall gebracht wird! Diese beiden Abgründe erwähnt auch Augustin (Brief 215 und Erkl. zu Joh. 12). Um diese Klippen zu vermeiden, ist folgender Weg einzuschlagen. Einerseits soll der Mensch wissen, daß bei ihm und in ihm nichts Gutes übriggeblieben ist; er ist von allen Seiten von kläglicher Not umgeben. Aber dann soll er trotzdem ge lehrt werden, nach dem Guten, das ihm fehlt, und nach der Freiheit, deren er be raubt ist, sich auszustrecken. So soll er aus aller Faulheit herausgerissen werden, und zwar kräftiger, als wenn man ihm einredete, er sei mit der höchsten Kraft zum Guten (virtus) ausgerüstet. Wie notwendig dies Zweite ist, wird jedermann ein sehen. Indessen sehe ich, daß über das Erste mehr Zweifel herrscht, als gut wäre. Denn wenn es einerseits außer allem Streit steht, daß man dem Menschen nicht ab streiten soll, was ihm gehört, so ist es doch andererseits sonnenklar, wie viel daran liegt, ihn allem falschen Selbstruhm zu entreißen. Denn es war ja dem Menschen selbst da nicht verstattet, sich in sich selber zu rühmen, als er durch Gottes Freund lichkeit mit höchster Zier ausgezeichnet war. Wie muß er sich dann aber jetzt demüti gen, wo er um seiner Undankbarkeit willen vom höchsten Ruhm zur äußersten Schande herabgestürzt ist! Für die Zeit, in der er zur höchsten Herrlichkeit erhoben war, schrieb ihm die Schrift nichts anderes zu, als daß er zu Gottes Bild geschaffen sei, und dadurch deutete sie an, daß er eben nicht durch eigene Güter, sondern durch Teilhaben an Gott selig war! Was bleibt da jetzt anders übrig, als daß er, alles Ruhms entblößt und beraubt, Gott erkenne, für dessen Güte er nicht dankbar sein konnte, als er ihn mit den Schätzen seiner Gnade überschüttete? Was soll er anders tun, als daß er ihn, den er (einst) nicht in Anerkennung seiner Güter und Gaben ge rühmt hat, nun wenigstens durch das Bekenntnis der eigenen Armut erhebe?

Daß uns aller Ruhm eigener Weisheit und Tugend abgesprochen wird, das ge schieht nicht minder uns zugut, als es zu Gottes Ehre gereicht; und wer über die Wahrheit hinaus uns etwas zugesteht, der lästert Gott und stürzt zugleich uns ins Verderben! Denn wenn man uns lehrt, aus eigener Kraft zu kämpfen, so ist das nichts anderes, als wenn wir auf einem Rohrstab in die Höhe gehoben würden, der doch bald zerbrechen muß, so daß wir hinabstürzen! Und dabei bedeutet es bereits ein zu hohes Lob für unsere eigene Kraft, wenn sie mit einem Rohrstab verglichen wird. Denn es ist eitel Schall und Rauch, was sich Menschen dieserhalb ersonnen und erschwatzt haben! Deshalb ist es wohlbegründet, wenn Augustin in jenem berühmt ge wordenen Ausspruch immer wieder behauptet, der „freie Wille“ werde von seinen Verteidigern mehr zugrunde gerichtet als eigentlich behauptet. Diese Vorrede war erforderlich. Denn es gibt etliche Leute, die, wenn sie hören, die menschliche Kraft zum Guten (virtus) sei von Grund auf zerstört, damit Gottes Kraft im Menschen erbaut werde, diese ganze Erwägung gewaltig hassen, als sei sie gefährlich, ja gänz lich überflüssig! Und dabei ist sie doch offenkundig in der Religion notwendig und zudem von größtem Nutzen für uns!

II,2,2

Nun haben wir oben gesagt, die Kräfte der Seele bestünden in „Gemüt“ (Ver stand, Erkenntnisvermögen) und Herz (Willen). Jetzt wollen wir überlegen, was nun diese beiden ausrichten können.

Die Philosophen sind sich nun völlig einig in der Meinung, im Gemüt habe die Vernunft ihren Sitz, und diese leuchte wie eine Fackel allen Entschlüssen voran und lenke den Willen wie eine Königin. Denn die Vernunft sei derart von göttlichem Lichte erfüllt, daß sie am besten zu raten, und von so hervorragender Kraft, daß sie am besten zu befehlen vermöge. Die Sinnlichkeit (sensus) sei dagegen mit Faulheit und Blindheit behaftet, daß sie allezeit am Boden krieche und sich mit groben Dingen abgebe, sich aber niemals zu wahrer Einsicht zu erheben vermöchte. Die Begehrkraft werde, wenn sie tatsächlich der Vernunft Gehorsam leiste und sich nicht etwa von der Sinnlichkeit unterjochen lasse, zum Trachten nach der Tugend geführt, sie gehe dann auf dem rechten Wege und werde in eigentlichen Willen umgebildet. Begebe sie sich indessen in die Knechtschaft der Sinnlichkeit, so werde sie von ihr verderbt und zerrüttet und entarte zur bloßen Lust. Nun haben nach ihrer Meinung jene Seelenkräfte, die ich oben genannt habe, nämlich Verstand, Sinnlich keit und Begehrkraft oder Wille — ein Begriff, der schon durch häufigere Verwen dung in Gebrauch gekommen ist —, im Menschen zusammen ihren Sitz. Und so be haupten sie, das Erkenntnisvermögen sei eben (ohnehin) mit Vernunft begabt, und diese sei die beste Führerin zu gutem und glücklichem Leben; nur müsse das Erkennt nisvermögen sich in dieser bevorzugten Stellung behaupten und die Kraft wirksam sein lassen, die ihm von Natur angeboren sei. Seine niedrigere Regung, nämlich die sogenannte Sinnlichkeit, die es zu Irrtum und Trugbildern verleite, sei immerhin fähig, durch den Stab der Vernunft gezähmt und allmählich gebändigt zu werden. Den Willen stellen sie nun in die Mitte zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, also so, daß er seines Eigenrechts und seiner Freiheit mächtig wäre, um entweder der Vernunft zu gehorchen oder sich der Sinnlichkeit preiszugeben, ganz nach seinem Gutdünken!

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II,2,3

Nun leugnen die Philosophen zwar nicht — die Erfahrung überführt sie ja all zu kräftig! —, wieviel Schwierigkeiten es dem Menschen macht, in sich der Vernunft eine Herrschaft aufzurichten: bald lockt ihn die Versuchung zum Vergnügen, bald narrt ihn falscher Schein des Guten, bald wird er machtlos von ungezügelten Trie ben überrannt und wie mit Stricken oder Fäden, wie Platon sagt, hin- und hergezerrt. (Gesetze, Buch I). Ebenso behauptet Cicero, jene von der Natur uns gegebenen Fünkchen würden durch böse Ansichten oder schlechte Sitten gar bald ausgelöscht. (Tusc. III). Haben aber einmal dergleichen Krankheiten im Menschengeiste Raum gewonnen, so breiten sie sich nach dem eigenen Zugeständnis der Philosophen zu kräftig aus, um etwa leicht gebändigt werden zu können. Ja, man vergleicht sie ohne Scheu mit wilden Pferden, die alle Vernunft fahren lassen, den Rosselenker abwer fen und sich nun ungezügelt und ohne Maß ihrer Wildheit hingeben.

Aber das ist doch für die Philosophen ganz außer allem Streit, daß Tugend und Laster in unserer Gewalt stünden. Denn — so sagen sie — wenn es in unserer freien Wahl steht, dies oder jenes zu tun, dann muß es auch in unserer Wahl ste hen, es nicht zu tun! Umgekehrt: Steht das Nichttun in unserer Hand, so auch das Tun! Wir tun aber nach dem Augenschein das, was wir tun, aus freier Wahl, und ebenso unterlassen wir auch das, was wir unterlassen, aus freier Wahl. Wenn wir also, wo es uns gut dünkt, etwas Gutes tun, so können wir es auch lassen; stellen wir etwas Böses an, so können wir es auch meiden! (z.B. Aristoteles, Nik. Eth. III,7). Einige von den Philosophen sind in ihrer Verwegenheit soweit gegangen, zu behaupten, es sei zwar der Götter Geschenk, daß wir lebten, aber unsere Sache, daß wir gut und heilig lebten! (Seneca). Daher stammt auch das Wort, das Cicero den Cotta sprechen läßt: jeder erwürbe sich seine Tugend selber, und des halb habe noch nie ein weiser Mann dafür Gott gedankt. „Um der Tugend willen“, sagt er, „werden wir gelobt, und um ihretwillen rühmen wir uns. Das würde aber gar nicht geschehen, wenn sie ein Geschenk Gottes wäre und nicht von uns käme!“ Und kurz darauf: „Es ist ein allgemein menschliches Urteil: Von den Göttern soll man Glück erbitten, aber die Weisheit muß man von sich selber nehmen!“ (Cicero, Von der Natur der Götter III). Der Hauptinhalt der Meinung aller Philosophen ist es: die Vernunft des menschlichen Verstandes reicht aus, um eine rechte Leitung zu gewährleisten; der Wille untersteht der Vernunft, er wird zwar von der Sinn lichkeit zum Bösen gereizt, aber er hat ja die freie Wahl und kann deshalb nie verhindert werden, in allen Dingen der Vernunft als Führerin zu folgen.

II,2,4

Unter den Kirchenlehrern war zwar keiner, der nicht darum gewußt hätte, daß die Gesundheit der menschlichen Vernunft durch die Sünde schwer verletzt und der Wille gar sehr an böse Begierden verknechtet ist. Aber trotzdem haben sich doch viele von ihnen den Philosophen weit mehr angenähert, als recht ist. Dabei scheinen mir die Alten bei ihrem Lobpreis der menschlichen Kräfte zum ersten die Ab sicht gehabt zu haben, nur ja nicht etwa mit dem klaren Bekenntnis des gänzlichen menschlichen Unvermögens das Gelächter der Philosophen zu erregen, mit denen sie dazumal zu streiten hatten. Zum zweiten wollten sie auch dem Fleische, das ohnehin von sich aus zum Guten allzu träge ist, keinen neuen Grund zur Faulheit bieten. Aus diesen Gründen trachteten sie, um nicht etwas dem gemeinen Menschen­verstand widersinnig Erscheinendes vorzutragen, danach, die Lehre der Schrift und die Lehrsätze der Philosophen auf halbem Wege zueinanderzufügen; besonders geht dabei aus ihren Schriften jener zweite Grund deutlich hervor: nur ja der Faulheit keinen Raum zu schaffen! So sagt z.B. Chrysostomus an einer Stelle: „Gott hat ja Gutes und Böses in unsere Macht gegeben, und damit hat er uns auch den freien Willen in der Entscheidung (electionis liberum arbitrium) gegeben; wer da nicht will, den hält er nicht zurück, wer aber will, den nimmt er an.“ (Predigt über den Verrat des Judas, I). Oder auch: „Es wird doch oft ein Böser durch Umwandlung gut, wenn er nur will, und ein Guter fällt durch Faulheit dahin und wird böse; denn der Herr hat dafür gesorgt, daß unsere Natur den freien Willen (liberum arbitrium) hat; auch legt er gar keinen Zwang auf; im Gegenteil: er bereitet die passende Arz nei und überläßt es dann ganz dem Ermessen des Kranken, sie zu benutzen.“ (Predigt über die Genesis, XIX). Oder: „Wie wir ohne Hilfe der Gnade Gottes nie etwas Rechtes tun können, so können wir auch nicht die Gunst von oben erlangen, wenn wir nicht das Unsere dazutun!“ Kurz davor aber: „Damit nicht alles auf die göttliche Hilfe ankommt, müssen auch wir etwas dazu beitragen.“ (Predigt 53). So braucht er oft und gern den Satz: „Lasset uns nur das Unsere beitragen, das übrige wird Gott dazutun!“ Und dem entspricht wieder, was Hieronymus sagt: „Der Anfang steht bei uns, bei Gott die Vollendung; wir müssen beitragen, was wir können, und er wird dazutun, was wir nicht vermögen“ (Gegen die Pelagianer, Buch III). Aus diesen Aussprüchen sieht man, daß die Kirchenväter dem Menschen mehr Trachten nach der Tugend zugestanden haben, als es der Wahrheit entspricht, und zwar weil sie meinten, die uns angeborene Trägheit nicht anders aufstören zu können, als wenn sie die Überzeugung befestigten, daß die Sünde einzig und allein das Werk dieser Trägheit sei. Ob und wieweit sie das mit Fug und Recht getan haben, werden wir später sehen. Auf jeden Fall wird dann gleich die völlige Verkehrtheit der angeführten Meinungen deutlich werden.

Nun haben zwar die griechischen Kirchenlehrer, und unter ihnen besonders Chrysostomus, in der Erhebung des menschlichen Willens ganz besonders jedes Maß überschritten. Indessen sind alle Alten, mit Ausnahme des Augustin, in der Behand lung dieser Sache dermaßen verschieden, schwankend und verworren, daß man bei nahe gar nichts Gewisses aus ihren Schriften wiedergeben kann. Deshalb will ich auch nicht weiter mit Genauigkeit versuchen, die Meinungen einzelner anzuführen; ich will vielmehr aus jedem nur soviel auswählen, wie zur Beweisführung erforder lich ist. Die späteren Kirchenlehrer sind so, daß da jeder für sich das Lob großen Scharfsinns in der Verteidigung der menschlichen Natur in Anspruch nimmt; aber der eine sinkt dabei immer noch tiefer als der andere. So kam es schließlich dahin, daß man allgemein glaubte, der Mensch sei nur in seinem sinnlichen Teil verderbt, seine Vernunft sei dagegen noch ganz unversehrt und der Wille zum größten Teil. Unterdessen ging die Rede von Mund zu Mund, die natürlichen Gaben seien im Menschen verderbt, die übernatürlichen dagegen ihm entzogen. Aber was dieser Satz besagt, das verstand unter hundert nicht einer auch nur einigermaßen. Wollte ich meinerseits deutlicher darüber reden, wie die Verderbnis der Natur beschaffen sei, so könnte ich mit dieser Ausdrucksweise schon zufrieden sein. Aber es bedarf dann einer aufmerksamen Erwägung darüber, was denn eigentlich der Mensch noch ver mag, nachdem er in allen Teilen seinem Natur verderbt und aller übernatürlichen Gaben verlustig gegangen ist! Denn darüber haben doch Leute, die sich Christi Schü­ler nannten, reichlich philosophisch geredet. So blieb bei den Lateinern der Aus druck „freier Wille“ fortgesetzt im Gebrauch — als ob der Mensch noch unversehrt im Urstande lebte! Die Griechen gar scheuten sich nicht, einen noch viel anmaßen deren Ausdruck zu brauchen: sie sagten, der Mensch sei „selbstmächtig“ (autexusios) — als ob er über sich selber Gewalt hätte! So hatten also alle, auch das Volk, die Auffassung, der Mensch sei mit dem „freien Willen“ begabt; aber selbst solche, die gern für besonders hervorragend gelten wollen, wissen nicht, wie weit dieser „freie Wille“ eigentlich geht. So will ich denn zunächst die Bedeutung dieses Aus drucks („freier Wille“) untersuchen und dann aus dem schlichten Zeugnis der Schrift darlegen, was der Mensch aus seiner eigenen Natur heraus zum Guten oder Bösen vermag.

Nun kommt der Begriff „freier Wille“ in den Schriften aller Theologen gleicherweise vor — aber was es damit auf sich habe, das haben nur wenige be schrieben. Origenes scheint die allgemeine Überzeugung seiner Zeit wiederzugeben, wenn er sagt, der „freie Wille“ sei die Fähigkeit der Vernunft, Gut und Böse zu unterscheiden, und die des Willens, sich für eins von beiden zu entscheiden. Auch Augustin urteilt nicht anders: er sagt, der freie Wille sei eine Fähigkeit der Vernunft und des Willens, demzufolge unter dem Beistand der Gnade das Gute er wählt werde, bei ihrem Fehlen aber das Böse. Bernhard möchte gern scharfsinnig reden und drückt sich deshalb etwas dunkler aus: der freie Wille sei die Harmonie, die auf der unverlierbaren Freiheit des Willens und dem unverrückbaren Urteil der Vernunft beruhe. Die Beschreibung des Anselm ist nicht schlicht genug; er sagt, der freie Wille sei die Fähigkeit, die Rechtschaffenheit um ihrer selbst willen zu be wahren. So haben denn Petrus Lombardus und die Scholastiker die Beschreibung des Augustin in stärkerem Maße angenommen, weil sie deutlicher war und weil sie auch die Gnade Gottes nicht ausschloß — sie sahen eben, daß der Wille ohne solche Gnade von sich aus nicht ausreicht. Dabei taten sie nun auch von ihrem Eigenen hinzu: vom einen meinten sie, es fei besser, vom anderen, es diene der größeren Ver deutlichung. Im Grundgedanken herrscht jedenfalls Übereinstimmung: der Ausdruck „Wille“ (Entscheid) ist auf die Vernunft zu beziehen, der es zusteht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; der Zusatz „frei“ bezieht sich dagegen eigentlich auf den Willen, der sich nach beiden Seiten wenden kann. (So bei Petrus Lombardus, Sentenzen, Buch II,24). Da die „Freiheit“ eigentlich dem Willen zukommt, so sagt Thomas, es sei am angemessensten, wenn man es so ausdrücke: der „freie Wille“ sei eine Entscheidungskraft (vis electiva), die aus verstand und Begehrkraft gemischt sei, aber mehr der Begehrkraft zugehöre. (Summa theologica I,63). Damit haben wir gezeigt, wo nach diesen Theologen die Kraft des freien Willens liegt, nämlich in Vernunft und Willen. Jetzt müssen wir noch zusehen, was sie diesen beiden je an Wirksamkeit zugestehen.

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II,2,5

Allgemein pflegt man unter den genannten Theologen die „Mitteldinge“ (res mediae), die also nichts mit dem Reiche Gottes zu tun haben, unter den „freien Wil len“ des Menschen zu stellen, dagegen die wahre Gerechtigkeit auf Gottes besondere Gnade und die geistliche Wiedergeburt zu beziehen. In der Absicht, das klarzulegen, zählt der Verfasser des Werkes „von der Berufung der Heiden“ drei Arten von Willen auf: den sinnlichen, den seelischen und den geistlichen; er sagt nun, die beiden ersten Arten seien dem Menschen frei, die letzte dagegen sei das Werk des Heiligen Geistes im Menschen. (Pseudo-Ambrosius, Von der Berufung der Heiden I,2). Ob das so wahr ist, werden wir an der gegebenen Stelle noch sehen. Hier habe ich aber nur vor, die Meinung anderer kurz mitzuteilen, nicht aber sie zu widerlegen. Jedenfalls hatte jene Behauptung zur Folge, daß die Kirchenlehrer, wenn sie vom „freien Willen“ handeln, nicht zuerst fragen, was er denn für die bürgerlichen, äußerlichen Werke bedeute, sondern nur, was er für einen Wert für den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz habe. Die letztere Frage ist nun auch nach meiner Überzeugung von höchster Wichtigkeit; ich glaube aber doch, daß deshalb die erstere nicht eben gänzlich beiseite zu lassen sei. Diesen Satz hoffe ich auch einwandfrei be gründen zu können.

Unter den Scholastikern unterschied man jedoch vornehmlich so, daß dreierlei Freiheit aufgezählt wurde: erstens die Freiheit von der Notwendigkeit, zwei tens die von der Sünde, drittens die vom Elend. Die erste sei, so meinte man, mit dem Wesen des Menschen so untrennbar verbunden, daß sie unter keinen Um ständen herausgerissen werden könne, die beiden anderen seien dagegen durch die Sünde in Verlust geraten. Diese Unterscheidung will ich mir gern zu eigen machen; aber es wird dabei „Notwendigkeit“ verkehrterweise mit „Zwang“ ver wechselt — und es wird an anderer Stelle deutlich werden, wie tief der Unterschied zwischen diesen beiden ist und wie notwendig es ist, ihn zu beachten.

II,2,6

Wird das angenommen, so steht außer allem Streite, daß der Mensch keinen „freien Willen“ hat, der ihm zu guten Werken verhelfen könnte, wenn ihm nicht die Gnade beisteht, und zwar eben die „besondere“ Gnade (gratia specialis), die allein die Auserwählten durch die Wiedergeburt empfangen. Denn ich will mich nicht mit solchen Unsinnigen einlassen, die da schwätzen, die Gnade werde an alle in gleichem Maße und ohne Unterschied ausgeteilt. Aber das ist noch nicht geklärt, ob denn nun der Mensch voll und ganz jedweder Fähigkeit beraubt sei, gut zu handeln, oder ob er noch ein wenig davon hätte, wenn auch gering und schwach. Das wäre dann eine Fähigkeit, die zwar aus sich selber nichts vermöchte, aber mit Hilfe der Gnade doch das Ihrige täte. Diese Frage will der Sentenzenmeister (Petrus Lombardus) lösen; und deshalb lehrt er, wir hätten eine doppelte Gnade nötig, um zu gutem Werk geschickt zu werden. Die eine nennt er „wirkende Gnade“ — sie macht, daß wir das Gute wirksam wollen. Die andere heißt bei ihm „mitwirkende Gnade“, sie folgt mit ihrer Hilfeleistung solchem guten Wollen (Sentenzen II,26). An dieser Teilung mißfällt mir dies: sie schreibt zwar das wirksame Begehren der Gnade Gottes zu; aber dabei gibt sie zu verstehen, daß der Mensch doch selbst von Natur gewissermaßen das Gute begehre, wenn auch ohne Wirkung. So be hauptet auch Bernhard zwar, der gute Wille sei Gottes Werk, aber dann gesteht er es doch dem Menschen zu, aus eigenem Trieb diesen guten Willen zu begehren! Das hat mit der Meinung Augustins nichts zu tun, und trotzdem möchte der Lombarde den Eindruck erwecken, von ihm diese Teilung entlehnt zu haben. Im zweiten Glied (der Teilung) ist mir die Zweideutigkeit widerwärtig, die dann auch eine völlig ver kehrte Auslegung hervorgerufen hat. Man hat nämlich gemeint, wir wirkten mit der zweiten („mitwirkenden“) Gnade Gottes zusammen, nämlich dadurch, daß uns die Möglichkeit zustehe, jene erste Gnade (die „wirkende“) entweder zurückzuweisen und dadurch unwirksam zu machen, oder ihr gehorsam zu folgen und sie damit in Wirk samkeit zu setzen. Das drückt der Verfasser des Werkes „Von der Berufung der Heiden“ so aus: Wer dem Urteil der Vernunft folge, dem stehe es frei, von der Gnade zu weichen; und deshalb sei es eine lohnwerte Tat, nicht von ihr zu wei chen; auf diese Weise werde also das gute Werk, das zwar ohne Mitwirkung des Geistes nicht geschehen könne, den Verdiensten des Menschen zugerechnet, dessen Wille es ja auch verhindern könnte! (Buch II,4). Dieses beides mußte im Vorbeigehen be rührt werden, damit der Leser einsehe, wie sehr ich selbst mit den vernünftigeren Scholastikern im Widerspruch stehe. Ein weit größerer Abstand trennt mich nämlich von den neueren Sophisten — und das je mehr, desto mehr sie ihrerseits von der älteren Art abweichen. Auf jeden Fall aber erfahren wir aus jener Teilung, aus was für einem Grunde sie dem Menschen den freien Willen zugestanden haben. Denn der Lombarde spricht es schließlich aus: wir hätten den freien Willen nicht etwa des halb, weil wir zum Tun oder Denken des Guten und Bösen gleicherweise befähigt wären, sondern nur deshalb, weil wir vom Zwang frei sind. Diese Freiheit wird (nach dem Lombarden) nicht behindert, auch wenn wir böse, ja Knechte der Sünde sind und nichts können als sündigen (Sent. II,25).

II,2,7

Auf diese Weise wird also dem Menschen der freie Wille zugeschrieben, und zwar nicht etwa in dem Sinne, als ob er die freie Wahl zum Guten genau wie zum Bö sen hätte, sondern weil er mit Willen und nicht aus Zwang böse handelt. Das ist nun zwar ausgezeichnet — aber was für einen Zweck soll es eigentlich haben, eine so geringfügige Sache mit einem derartig prangenden Namen zu belegen? Das ist wahrhaftig eine treffliche Freiheit, wo der Mensch zwar nicht zur Sündenknecht schaft gezwungen wird, aber doch ein solcher freiwilliger Knecht (ethelodulos) ist, daß sein Wille von der Sünde in Fesseln gehalten wird! Fürwahr, alles Wort gezänk (logomachia) ist mir widerwärtig, denn damit wird die Kirche ohne Nutzen geplagt; aber ich meine, man solle sich recht vor solchen Ausdrücken hüten, die etwas Widersinniges zu enthalten scheinen, besonders wenn gefährlicher Irrtum im Verzuge ist. Wo in aller Welt ist denn ein Mensch, der, wenn er hört, daß dem Menschen der freie Wille zugeschrieben wird, nicht gleich meint, er sei nun seines Geistes und Willens Herr und könne sich von selbst nach jeder Richtung wenden? Aber es könnte jemand einwenden: jede Gefahr in dieser Richtung fei ja behoben, wenn man das Volk über die Bedeutung des Begriffs fleißig unterweise. Ja, aber der Menschengeist ist von Natur dermaßen zum Irrtum geneigt, daß er leichter aus einem einzigen Wörtchen den Irrtum als aus einer langen Rede die Wahrheit entnimmt. Dafür bedeutet gerade dieser Begriff einen besseren Beleg, als man wün schen könnte. Denn jene Auslegung der Alten hat man ganz hintangestellt, und seit her bleibt jedermann beim wörtlichen Verständnis des Ausdrucks „freier Wille“ stehen und läßt sich so zu verderbenbringendem Selbstvertrauen hinreißen.

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II,2,8

Hoch steht uns freilich die Autorität der Kirchenväter; diese nun führen zwar das Wort „freier Wille“ immerzu im Munde, aber sie zeigen zugleich auch deutlich, wie weit sie in dessen Anwendung gehen. Besonders Augustin: er trägt kein Bedenken, den Willen einen „geknechteten“, „unfreien“ zu nennen (Gegen Julian, Buch I).

An anderer Stelle fährt er gegen die Leute los, die den freien Willen leugnen; aber da bei gibt er auch den ganz besonderen Grund an: „Nur soll mir keiner wagen, die Entscheidungsfähigkeit (arbitrium) des Willens in der weise zu bestreiten, daß er damit die Sünde entschuldigen will“ (Predigt über Johannes, 53). Und an wieder einer anderen Stelle gibt er ganz klar zu, ohne den Heiligen Geist sei der Wille des Menschen nicht frei, da er ja den Begierden unterworfen ist, die ihn binden und überwinden (Brief 145). Oder wir hören auch: nachdem der Wille von dem Laster, in das er gefallen sei, überwunden wäre, habe die Natur keine Freiheit mehr (Von der Vollendung der Gerechtigkeit des Menschen, 4,9). Oder: der Mensch habe von seinem freien Willen einen schlechten Gebrauch gemacht, und jetzt habe er seine Ent­scheidungsfähigkeit (arbitrium) eingebüßt (Handbüchlein, 30). Oder: der freie Wille sei in Gefangenschaft geraten, so daß er nun nichts mehr zur Gerechtigkeit ausrichten könne (Gegen zwei Briefe der Pelagianer an Bonifacius, III,8). Ferner: Was Got tes Gnade nicht frei gemacht habe, das sei nicht frei (ebenda I,3). Und: Die Ge rechtigkeit Gottes werde nicht erfüllt, wenn das Gesetz etwas gebietet und der Mensch es sozusagen mit seinen eigenen Kräften tut, sondern dann, wenn der Geist seinen Beistand leiht und nicht etwa der freie Wille des Menschen, sondern sein von Gott befreiter Wille Gehorsam leistet (III,7). Den Grund zu alledem faßt er an anderer Stelle kurz so zusammen: der Mensch habe in seiner Erschaffung große Kräfte des freien Willens empfangen, sie aber verloren, dadurch daß er sün digte (Predigt 131). So zeigt er auch an anderer Stelle, der freie Wille komme durch die Gnade zustande, und fährt dann scharf gegen diejenigen los, die sich ihn anmaßen wollten ohne die Gnade. Er sagt da: „Wie wagen es doch jämmerliche Menschen, hochmütig vom freien Willen zu reden, ehe sie überhaupt frei gemacht sind, oder von ihren Kräften, ehe sie zur Freiheit gelangt sind? Sie beachten gar nicht, daß schon in dem Wort ‚freier Wille’ die ‚Freiheit’ besonders hervorklingt. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit! (2. Kor. 3,17). Wenn sie also Knechte der Sünde sind, was rühmen sie sich des freien Willens? Denn man ist doch dem, der einen gefangenhält, als Knecht unterworfen! Sind sie aber befreit — was rühmen sie sich dann, als hätten sie selbst etwas dabei getan? Oder sind sie so frei, daß sie nicht auch Knechte dessen sein wollten, der da sagt: Ohne mich könnet ihr nichts tun (Joh. 15,5)?“ (Vom Geiste und Buchstaben, XXX). Ja, an anderer Stelle scheint er die (allgemein übliche) Anwendung jenes Ausdrucks geradezu zu verlachen, wenn er sagt: der Wille sei zwar frei, aber nicht frei gemacht, frei von der Gerechtigkeit nämlich und ein Knecht der Sünde! (Von Zucht und Gnade, 13). Diesen Satz wiederholt er auch anderswo und setzt ihn näher auseinander: der Mensch sei nur durch eigenen Willensentscheid frei von der Gerechtigkeit, von der Sünde aber werde er nur frei durch die Gnade des Erlösers (An Bonifacius, I,2). Wenn er auf diese Weise bezeugt, daß er unter der Freiheit des Menschen nur seine Losmachung und Freilassung von der — Gerechtigkeit versteht, dann scheint er doch den leeren Begriff der Freiheit recht zu verlachen! Will also jemand diesen Begriff ohne böses Verständnis anwenden, so will ich ihn deshalb nicht quälen. Ich bin aber der Meinung, daß man den Begriff nicht ohne unermeßliche Gefahr bei behalten kann, und daß seine Abschaffung der Kirche großen Segen bringen würde; deshalb möchte ich ihn selbst nicht verwenden und auch anderen, wenn sie meinen Rat hören wollen, von seinem Gebrauch abraten.

II,2,9

Vielleicht aber scheint es, als hätte ich dadurch ein Vorurteil gegen mich erregt, daß ich behaupte, alle Kirchenlehrer außer Augustin hätten hierüber derart zweideu tig und vielartig geredet, daß man aus ihren Schriften nichts Gewisses erfahren kann. Das werden nämlich einige so auslegen, als wolle ich sie nur deshalb vom Stimmrecht ausschließen, weil sie mir eben alle entgegenstünden. Ich habe aber da mit nichts anderes im Auge gehabt, als gottesfürchtigen Leuten schlicht und treulich das Beste zu raten, wollten sie nämlich in diesem Stück von der Meinung der Vä ter etwas Rechtes erwarten, so müßten sie immer im Ungewissen bleiben. Denn bald lehren sie, der Mensch sei der Kräfte des freien Willens verlustig gegangen und müsse allein zur Gnade seine Zuflucht nehmen, bald dagegen rüsten sie ihn mit eige nen Waffen, oder sie tun es wenigstens dem Anschein nach.

Dabei ist es aber nicht schwer zu erweisen, daß sie in dieser Zweideutigkeit ihres Lehrens doch auch die menschliche Kraft (virtus) für nichts halten oder doch sehr ge ring schätzen und damit den Lobpreis für alles Gute dem Heiligen Geist zuteil wer den lassen. Zu dem Zweck will ich einige von ihren Aussprüchen einfügen, die das klar zum Ausdruck bringen. So lobt Augustin sehr oft ein Wort des Cyprian: „Wir sollen uns keines Dings rühmen, denn nichts ist unser.“ Was will damit Cyprian anders sagen, als daß der Mensch, an und bei sich völlig zunichte geworden, ganz an Gott zu hangen lernen solle? Was bedeutet es, wenn Augustin und Eucherius unter dem Baum des Lebens Christum verstehen und erklären: wer zu ihm die Hände ausstrecke, der habe das Leben, oder wenn sie sagen, der Baum der Er­kenntnis des Guten und Bösen sei die Entscheidung des Willens (voluntatis arbitrium) — und der, welcher Gottes Gnade fahren lasse und davon esse, der müsse sterben? (Über die Genesis, Buch III). Oder was bedeutet das Wort des Chrysostomus: Jeder Mensch sei von Natur nicht nur ein Sünder, sondern ganz Sünde? Wenn uns nichts Gutes gehört, wenn der Mensch von der Fußsohle bis zum Schei tel nichts ist als Sünde, wenn er nicht einmal versuchen kann, wie weit die Fähig keit des freien Willens reicht — wie soll man dann das Lob für ein gutes Werk zwischen Gott und dem Menschen teilen? Ich könnte dergleichen Aussprüche noch aus anderen Schriftstellern in großer Zahl anführen; aber ich will davon Abstand nehmen, damit nicht einer schwatzt, ich brächte bloß die vor, die meiner Sache dienlich wären, die anderen aber, die dawider sprächen, ließe ich schlauerweise aus. Dies jedoch erkühne ich mich zu behaupten: Gewiß gehen die Kirchenlehrer zuweilen zu weit im Lobpreis des freien Willens; aber als Zielpunkt und Absicht schwebte ihnen doch vor, den Menschen ganz und gar vom Vertrauen auf seine eigene Kraft ab zubringen und ihn zu lehren, daß alle seine Stärke in Gott allein liege. Jetzt will ich schlicht und wahrheitsgemäß zu zeigen versuchen, was die Natur des Menschen ist.

II,2,10

Hier muß ich die Vorrede zu diesem Kapitel noch einmal anführen. Nämlich: ein Mensch ist nur dann zur rechten Selbsterkenntnis durchgedrungen, wenn er durch das Bewußtsein seiner Not, seines Mangels, seiner Blöße und Schande ganz und gar gedemütigt und zu Boden gedrückt ist. Denn es besteht keine Gefahr, daß sich der Mensch dabei zuviel abspreche. Nur muß er erkennen, daß in Gott wiederzuerlangen ist, was ihm fehlt. Aber er kann nicht einmal das geringste über sein Recht hinaus sich anmaßen, ohne sich in eitlem Selbstvertrauen zugrunde zu richten, Gott die Ehre zu rauben, sie sich selber anzueignen und dadurch des furchtbarsten Frevels sich schul dig zu machen. Und wahrlich: kommt uns einmal diese Gier in den Sinn, etwas für uns selber haben zu wollen, das also in uns selber und nicht in Gott seine Stätte hätte, da sollen wir wissen, daß dieser Gedanke uns von dem gleichen Ratgeber ein geflüstert ist, der einst unseren ersten Voreltern das Begehren eingab, Gott gleich zu sein und zu wissen, was Gut und Böse sei. Es ist ein Teufelswort, das den Men schen in sich selber aufbläst — und deshalb sollen wir ihm nicht Raum geben, sofern wir nicht vom Feinde Rat annehmen wollen! Gewiß hören wir gerne, wir besäßen soviel eigene Kraft, daß wir uns auf uns selber verlassen könnten. Aber vor den Lockungen zu solch eitlem Selbstvertrauen schrecken uns viele ernste Schriftworte, die uns streng in unsere Grenzen weisen. So: „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt und hält Fleisch für seinen Arm ….“ (Jer. 17,5). Oder: „Gott hat nicht Lust an der Stärke des Rosses, noch Gefallen an des Mannes Schenkeln; er hat aber Wohlgefallen an denen, die ihn fürchten und die auf seine Güte hoffen“
(Ps. 147,10f.). Ferner: „Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Er läßt die Knaben müde und matt werden und die Jünglinge straucheln — die aber auf ihn allein hoffen, die kriegen neue Kraft …“ (Jes. 40,29.31; nicht ganz Luthertext). Diese Stellen haben den Sinn: Wir sollen uns nicht im mindesten auf unseren Wahn von der eigenen Kraft verlassen, wenn wir einen gnädigen Gott haben wollen, denn, „er widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (Spr. 3,34. Jak. 4,6). Dann sollen uns aber anderseits auch solche Ver heißungen ins Gedächtnis kommen, wie: „Ich werde Wasser ausgießen über das Dürstende und Ströme über das Dürre“ (Jes. 44,3), oder: „All ihr Durstigen, kommet her zum Wasser“, (Jes. 55,1). Da wird uns bezeugt, daß nur die dazu kommen, an Gottes Segnungen teilzuhaben, die im Bewußtsein ihrer Armut ver schmachten. Auch dürfen wir nicht solche Stellen übergehen, wie die bei Jesaja: „Die Sonne soll dir des Tages nicht mehr scheinen und der Glanz des Mondes soll dir des Nachts nicht leuchten, sondern der Herr wird dein ewiges Licht sein“ (Jes. 60,19). Gewiß will der Herr seinen Knechten nicht etwa den Glanz der Sonne oder des Mondes nehmen; aber er will unter ihnen allein herrlich erscheinen, und deshalb zieht er ihr Vertrauen auch von dem weit weg, was nach ihrer Meinung das Herr lichste ist.

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II,2,11

Allezeit hat mir ein Wort des Chrysostomus gewaltig gefallen: Das Fundament unserer Weisheit sei die Demut (Predigten vom Fortschritt des Evangeliums, III). Noch mehr indessen freute mich ein Ausspruch Augustins: „Da wurde einst ein Redner gefragt, welche Regel bei der Beredsamkeit in erster Linie zu beachten wäre. Er antwortete: ‚Der Vortrag’. Und an zweiter Stelle? Wieder: ‚Der Vortrag’! Und an dritter? Wieder: ‚Der Vortrag’! Ebenso müßte ich, wenn du mich fragtest, was denn bei den Regeln der christlichen Religion das Wichtigste sei, als Erstes und Zweites und Drittes und immerfort nur die Demut nennen!“ (Brief an Dioskur, 118). Dabei versteht er nun aber unter Demut nicht etwa dies, daß ein Mensch im Bewußtsein einiger Tugend sich von Hochmut und Aufgeblasenheit zurückhält, son dern, wie er an anderer Stelle erklärt, vielmehr die Gewißheit des Menschen, so zu sein, daß er nur in der Demut eine Zuflucht finden kann. So sagt er: „Niemand soll sich schmeicheln; er ist von sich selber ein Satan, das, wodurch er selig wird, hat er allein von Gott. Was hast du nämlich von dir selber anders als Sünde? Nimm dir die Sünde, die dir gehört; denn die Gerechtigkeit ist Gottes Geschenk“ (Auslegung zu Johannes, 49). Oder auch: „Was trotzt man so hoch auf das vermögen der Natur? Sie ist verwundet, krank, zerschunden und verderbt! Es ist ein rechtes Bekenntnis, nicht aber verkehrte Verteidigung vonnöten“ (Natur und Gnade, 66). Ebenso: „Wenn einmal jeder erkennt, daß er in sich selber nichts ist und von sich selbst keine Hilfe empfängt, dann sind in ihm die Waffen zerbrochen, und der Krieg ist geschlichtet. Es ist aber auch wirklich nötig, daß alle Waffen der Gottlosigkeit zerschmettert, zerstoßen und verbrannt werden und du waffenlos übrigbleibst und keine Hilfe in dir selber hast. Je schwächer du in dir selber bist, desto eher nimmt dich der Herr an“ (Zu Psalm 45). So untersagt er uns auch in seiner Erklärung des siebenzigsten Psalms alles Denken an eigene Gerechtigkeit, damit wir Gottes Gerechtigkeit erkennten, und er zeigt, wie uns Gott seine Gnade so groß macht, daß wir wissen: wir sind nichts. Allein durch Gottes Barmherzigkeit gewinnen wir Bestand, während wir von uns selber aus nur böse sind (Zu Psalm 70, I,2). Darum sollen wir hier nicht mit Gott um unser Recht streiten, als ob unserem Heil abginge, was ihm zu geschrieben wird. Denn wie unsere Niedrigkeit seine Hoheit ist, so findet auch das Bekenntnis unserer Niedrigkeit sein Erbarmen als Arznei bereit. Dabei verlange ich aber nicht, daß sich der Mensch ohne Überzeugung grundlos erniedrige, oder daß er sich von Kräften (facultates), die er besitzt, abwende, um sich so in wahrer Demut zu unterwerfen. Nein, er soll all die Krankheit der Selbstliebe und des Ehrgeizes fahren lassen — denn davon wird er verblendet und denkt so höher von sich, als recht ist — und sich statt dessen in dem truglosen Spiegel der Schrift recht erkennen.

II,2,12

Die aus Augustin entlehnte allgemein angenommene Meinung, nach welcher im Menschen die natürlichen Gaben durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen Ga ben dagegen ganz und gar ausgetilgt sind, findet meine Zustimmung. Unter den „übernatürlichen Gaben“ im zweiten Glied des Satzes versteht man dabei das Licht des Glaubens und die Gerechtigkeit, die genügt hätten, um das himmlische Leben und die ewige Seligkeit zu erlangen. Demnach ist also der Mensch zugleich mit der Ent fernung aus Gottes Reich auch der geistlichen Gaben verlustig gegangen, mit denen er zur Hoffnung auf das ewige Heil ausgerüstet war. Daraus folgt, daß er derart aus dem Reiche Gottes verbannt lebt, daß in ihm alles ausgelöscht ist, was zum seli gen Leben der Seele gehört — bis er durch die Gnade des Heiligen Geistes wieder geboren ist und diese Gaben wiedererlangt. Dazu gehören der Glaube, die Liebe zu Gott, die Nächstenliebe und das Trachten nach Heiligkeit und Gerechtigkeit. Das alles verschafft uns Christus wieder; aber es wird eben dadurch als etwas (von außen) Hinzukommendes und nicht zur Natur Gehöriges bezeichnet; und daraus fol gern wir, daß es (durch den Fall) abgetan ist. Auf der anderen Seite ist zugleich die Gesundheit des „Gemüts“ (Verstandes) und die Aufrichtigkeit des Her zens (Willens) in Verlust geraten, und das ist die „Verderbnis“ der natürlichen Ga ben. Denn es bleibt zwar ein Rest (residuum) Verstand und Urteilskraft (iudicium) samt dem Willen bestehen; aber wir können doch nicht sagen, das Gemüt (der Ver stand) sei unversehrt und gesund, denn es ist schwächlich und mit viel Finsternis um hüllt; außerdem ist die Verkehrtheit des Willens mehr als genugsam bekannt.

Da also die Vernunft, mit der der Mensch zwischen Gut und Böse unterschei det, versteht und urteilt, eine natürliche Gabe ist, so konnte sie nicht ganz und gar zerstört werden, sondern sie ist teils geschwächt, teils verderbt, so daß also (nur) noch ungestaltige Bruchstücke (deformes ruinae) sichtbar sind. In diesem Sinne sagt Johannes: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht be griffen“ (Joh. 1,5). In diesem Spruch wird beides klar zum Ausdruck gebracht: Einerseits wird gezeigt, daß in der verkehrten und entarteten Natur des Menschen immer noch Fünklein glimmen, die zeigen, daß er ein vernünftiges Wesen (rationale animal) ist und sich von den Tieren unterscheidet, weil er ja mit Verstand begabt ist. Aber anderseits wird doch gesagt: dieses Licht wird von der furchtbar dichten Fin sternis der Unwissenheit derart erstickt, daß es nicht wirksam erstrahlen kann.

So ist auch der Wille nicht verlorengegangen, weil er von der Natur des Menschen nicht zu trennen ist; aber er ist in die Gefangenschaft böser Begierden ge raten, so daß er nichts Rechtes mehr begehren kann. Damit ist nun zwar eine voll ständige Beschreibung gegeben; aber es bedarf einer ausführlicheren Entfaltung.

Dabei soll nun der Ordnung nach vorgegangen werden, und zwar entsprechend jener oben gegebenen Einteilung, nach der wir in der Seele des Menschen Verstand und Willen unterschieden haben. Wir müssen demnach also zuerst die Kraft des Verstandes untersuchen.

Es würde nun nicht nur dem Worte Gottes, sondern auch der allgemeinen Er fahrung (sensus communis experientia) zuwiderlaufen, wenn man den Verstand in der Weise zu dauernder Blindheit verdammt sähe, daß ihm keinerlei Erkenntnis irgendwelcher Dinge verbliebe. Denn wir sehen, daß dem Menschengeist irgendein Verlangen eingepflanzt ist, nach der Wahrheit zu forschen, und solches Trachten nach der Wahrheit wäre unmöglich, wenn er nicht schon zuvor eine Ahnung von ihr hätte. Eine gewisse Erkenntnisfähigkeit des Verstandes liegt also schon darin, daß er von Natur dazu angereizt wird, die Wahrheit zu lieben; daß die Tiere sie nicht kennen, ist ja gerade ein Beweis für ihre rohen und vernunftlosen Sinne. Frei lich: wie dieses Begehren nach der Wahrheit auch beschaffen sein mag, es versagt doch schon, bevor es eigentlich zur Wirkung kommt; denn es verfällt alsbald in Ei telkeit. Der Menschengeist kann in seiner Schwachsichtigkeit den rechten Weg zum Suchen nach der Wahrheit nicht innehalten, sondern verliert sich in mancherlei Irrtümer, strauchelt oft, da er wie im Finstern umhertappt, bis er schließlich, müde vom Umherstreifen, zerflattert. So zeigt er gerade über dem Suchen nach der Wahrheit, wie unfähig er ist, sie zu suchen und zu finden.

Auch mit einem zweiten Wahn hat unser Verstand schwer zu kämpfen: er kann oft nicht klar erkennen, welche Gegenstände eigentlich unsere gründliche Erforschung am meisten verdienen. Deshalb quält er sich in lächerlicher Neugierde mit der Durchforschung überflüssiger und nichtiger Dinge und wendet sich anderseits solchen Dingen, die höchst notwendig zu erkennen sind, gar nicht zu oder behandelt sie jeden falls mit mangelnder Achtung, befaßt sich nur selten mit ihnen, verwendet aber tat sächlich kaum je wirklichen Eifer darauf. Über diesen Fehler klagen weltliche Schrift steller sehr oft, und dadurch geben sie zu, daß fast alle Menschen damit behaftet sind. So geht denn auch Salomo in seinem ganzen „Prediger“ dem Sinnen und Trachten nach, in dem sich die Menschen besonders weise vorkommen, und erklärt dann doch, das sei alles „eitel“ und unnütz!

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II,2,13

Jedoch sind die Mühen des Menschengeistes nicht immer so fruchtlos, daß gar nichts dabei herauskommt; besonders wenn er es mehr auf das Niedere absieht. Ja, er ist auch nicht so starr, daß er nicht auch ein weniges von den höheren Dingen begriffe, wenn auch die Beschäftigung damit weniger gründlich geschieht; freilich ist unsere Fälligkeit, die höheren Dinge zu erkennen, doch ungleich geringer. Denn sobald der Mensch einmal über den Bereich dieses irdischen Lebens hinausgeht, wird ihm erst seine Unzulänglichkeit recht bewußt. Um besser erkennen zu können, wie weit der Verstand bei den einzelnen Dingen entsprechend der Kraft seines Erkenntnisver mögens kommt, müssen wir also zweckmäßig einen Unterschied machen. Und dieser soll darin bestehen, daß wir uns klarmachen: die Erkenntnis der irdischen Dinge ist etwas anderes als die der himmlischen. Unter „irdischen“ Dingen verstehe ich dabei das, was mit Gott, seinem Reiche, der wahren Gerechtigkeit und der Seligkeit des kommenden Lebens nichts zu tun hat, sondern nach seinem Sinn und seinen Beziehungen zum gegenwärtigen Leben gehört und sozusagen innerhalb seiner Gren zen bleibt. Unter „himmlischen“ Dingen verstehe ich die reine Erkenntnis Gottes, den Weg zu der wahren Gerechtigkeit und die Geheimnisse des Himmelreichs. Zur ersten Gruppe gehören das weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste. Zur zweiten Gruppe rechne ich die Erkenntnis Gottes und sei nes Willens und die Richtschnur, nach der man das Leben gemäß dieser Erkenntnis gestalten kann.

Von der ersten Gruppe ist folgendes zu sagen: Der Mensch ist ein von Natur auf Gemeinschaft angelegtes Wesen (animal natura sociale) und neigt daher durch natürlichen Trieb dazu, diese Gemeinschaft zu erhalten und zu fördern. Deshalb be merken wir, daß allgemeine Empfindungen für eine gewisse bürgerliche Ehrbarkeit und Ordnung allen Menschen innewohnen. Daher ist auch kein Mensch zu finden, der nicht verstünde, daß jede menschliche Gemeinschaft durch Gesetze zusammengehalten werden muß, und der nicht die Grundsätze derartiger Gesetzgebung in seinem Ver stande trüge. Daher kommt auch jene immerwährende Übereinstimmung aller Völker und auch der einzelnen Sterblichen hinsichtlich der Gesetze; denn die Samenkörner dazu sind in alle Menschen ohne Lehrmeister und Gesetzgeber hineingesät. Ich will mich nicht damit aufhalten, auf den Zwiespalt und Streit einzugehen, der sich bald erhebt, wenn die einen alles menschliche und göttliche Recht umzustürzen, alle Schran ken des Gesetzes zu zerbrechen und der Begierde allein nach ihrem eigenen Recht freien Lauf zu lassen begehren wie Diebe und Räuber, oder wenn andere, was ein allzu verbreitetes Übel ist, für Unrecht erklären, was andere Leute als Recht festgestellt haben, oder für löblich, was jene verbieten! Denn der Haß solcher Leute gegen die Gesetze hat nicht darin seinen Grund, daß sie etwa nicht wüßten, daß sie gut und heilig sind; sondern sie wüten in wilder Gier, kämpfen gegen die klar erkannte Ver nunft und verabscheuen in ihrer Lust, was sie mit der Kraft ihres eigenen Ver standes billigen! Dieser letztgeschilderte Streit ist so geartet, daß er jenes ursprüng liche Bewußtsein um das Recht nicht auflöst. Im Gegenteil: Wenn die Menschen über einige Stücke der Gesetze im Streit liegen, so besteht doch hinsichtlich des we sentlichen Bestandes des Rechts Übereinstimmung. Freilich erweist sich dabei die Un zulänglichkeit des Menschengeistes: auch wo er dem rechten Wege zu folgen scheint, gerät er ins Stolpern und Schwanken! Trotzdem bleibt es bei der Feststellung: allen Menschen ist gewissermaßen ein Same der Ordnung des weltlichen Regiments ins Herz gelegt. Und das ist ein starker Beweis dafür, daß in der Führung dieses (irdischen) Lebens kein Mensch ohne das Licht der Vernunft ist.

II,2,14

Nun folgen die freien Künste und das Handwerk. Wir tragen alle eine gewisse Geschicklichkeit dazu in uns, und die Tatsache, daß wir sie zu erlernen vermögen, läßt ebenfalls die Kraft des menschlichen Verstandes ins Licht treten. Gewiß sind nicht alle in der Lage, alles zu lernen; aber es ist doch ein recht deutliches Zeichen der allgemein vorhandenen Kraft, daß fast niemand zu finden ist, dessen Einsicht nicht (wenigstens) in irgendeiner Kunstfertigkeit zu merken wäre! Aber Kraft und Behendigkeit bewähren sich nicht bloß im Lernen, sondern auch im Ausdenken von et was Neuem in einer Kunst und auch in der Vervollkommnung und Ausbildung dessen, was man von jemand anderem erlernt hat. Diese Beobachtung hat einst den Platon auf den verkehrten Gedanken gebracht, solches Begreifen sei nichts anderes als Erinnerung. Uns zwingt sie aber doch mit gutem Grunde zu dem Geständnis, daß die Anfangsgründe dazu dem Menschengeiste angeboren sind. Diese Erweise be zeugen klar, daß dem Menschen ein allgemeiner Begriff von Vernunft und Verstand von Natur aus innewohnt. Und dieses Gut ist doch so allgemein vorhanden, daß je der einzelne darin für sich persönlich eine besondere Gnadengabe Gottes anerkennen muß. Zu dieser Dankbarkeit ermuntert uns der Schöpfer der Natur selbst auf das kräftigste; er schafft nämlich auch Narren, um an ihnen zu zeigen, was für Fähig keiten eigentlich die Menschenseele auszeichnen, wenn sie nicht von seinem Lichte durchflutet (perfusa) ist — und dies letztere findet von Natur fast in allen Menschen statt, so daß es geradezu für jeden einzelnen ein freies Geschenk seiner Gnade dar stellt! Nun ist zwar die Erfindung der Künste und die geordnete Unterweisung in ihnen oder auch die ins Innere dringende und weitergreifende Erkenntnis — die nur wenigen eigen ist — nicht etwa ein ausreichender Beweis für allgemeine Erkenntnisfähigkeit. Aber sie kommt doch Frommen und Unfrommen gemeinsam zu und zählt deshalb mit Recht zu den natürlichen Gaben.

II,2,15

Sooft wir heidnische Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit entgegen. Daran erkennen wir, daß der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen und verdorben, daß er aber doch auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben ausgerüstet und geschmückt ist. Bedenken wir nun, daß der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten — sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes! Denn man kann die Gaben des Geistes nicht geringschätzen, ohne den Geist selber zu verachten und zu schmähen! Wieso auch? Wollen wir etwa leugnen, daß den alten Rechtsgelehrten die Wahrheit ge leuchtet habe, wo sie doch mit solcher Gerechtigkeit die bürgerliche Ordnung und Zucht (civilem ordinem et disciplinam) beschrieben haben? Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur blind gewesen? Wollen wir behaupten, es hätte denen an Vernunft gefehlt, die die Kunst der Beweisführung dargestellt und uns vernünftig zu reden gelehrt haben? Wollen wir die für unsinnig erklären, die uns durch Ausbildung der Heil kunde mit solchem Fleiß gedient haben? Was sollen wir zu den mathematischen Wissenschaften sagen? Sollen wir sie für Raserei von Irrsinnigen halten? Nein, wir können die Schriften der Alten hierüber nicht ohne große Bewunderung lesen, und dazu kommen wir, weil wir sie den Tatsachen entsprechend notwendig für hervor­ragend erklären müssen. Aber können wir überhaupt etwas für lobenswert oder her vorragend erklären, ohne zugleich zu erkennen, daß es von Gott herkommt? Eines solchen Undanks sollten wir uns schämen; sind doch selbst die heidnischen Dichter nicht darein verfallen: sie haben erklärt, Philosophie und Gesetzgebung und alle schönen Künste seien Lehren der Götter! Es sind also selbst diese Menschen, die doch die Schrift „natürliche Menschen“ nennt, offensichtlich in der Erforschung der niedrigeren Dinge bis zu diesem Grade scharfsichtig und erkenntnisfähig. An solchen Beispielen sollen wir lernen, wieviel Gutes der Herr uns Menschen übriggelassen hat, nachdem wir freilich des wahren Guten verlustig gegangen sind!

II,2,16

Aber wir wollen unterdessen nicht übersehen, daß diese Fähigkeiten herrlichste Gaben des Geistes Gottes sind, die er zum gemeinen Besten des Menschengeschlechts nach seinem Willen austeilt, an wen er will. Sollten Bezaleel und Oholiab den Verstand und die Kundigkeit haben die zur Herstellung der Hütte erforderlich wa ren, so mußten sie vom Geiste Gottes damit erfüllt werden (Ex. 31,2ff.; 35,30ff.). Und so ist es nicht verwunderlich, daß es heißt, die Kenntnis der Dinge, die im menschlichen Leben von der größten Bedeutung sind, werde uns durch den Geist Gottes zuteil. Da hat nun aber keiner Anlaß zu fragen: Was haben denn die Gott losen mit dem Heiligen Geiste zu schaffen, sie sind doch ganz und gar von Gott ge trennt? Denn es heißt zwar, der Geist Gottes wohne nur in den Gläubigen (vgl. Röm. 8,9), aber das muß auf den Geist der Heiligung bezogen werden, durch den wir Gott selber zum Tempel geweiht werden. Aber darum erfüllt, bewegt und kräf tigt Gott durch die Kraft desselben Geistes nicht weniger alle Dinge, und zwar ent sprechend der Eigenart jedes einzelnen Wesens, wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung (creationis lege) zugewiesen hat. Will uns also der Herr durch Hilfe und Dienst von Unfrommen in der Naturwissenschaft, in der Wissenschaft vom Den ken oder der Mathematik oder sonstigen Wissenschaften Beistand schaffen, so sollen wir davon Gebrauch machen. Im anderen Fall würden wir Gottes Gaben, die uns in ihnen von selbst dargeboten werden, verachten und mit Recht für unsere Träg heit gestraft werden! Aber es soll doch keiner den Menschen schon deshalb für glück selig halten, weil ihm unter den vergänglichen Dingen dieser Welt eine solche Kraft zum Begreifen der Wahrheit zugestanden wird. Deshalb muß gleich hinzugefügt werden: diese ganze Kraft des Begreifens, dieses Verstehen, wie es sich daraus er gibt — es ist doch vor Gott ein wandelbares und nichtiges Ding, wenn es nicht auf dem festen Grunde der Wahrheit (selber) ruht! Denn Augustin, dem, wie gesagt, der Sentenzenmeister (II,25) und die Scholastiker sich anschließen mußten, hat doch recht, wenn er sagt, die Gnadengaben seien dem Menschen nach dem Fall entzogen worden und ebenso seien die übriggebliebenen natürlichen Gaben verderbt. Das be deutet nun nicht, daß sie von sich aus befleckt wären; denn sie kommen ja von Gott. Aber dem befleckten Menschen sind sie nicht mehr rein, so daß er nicht etwa in ihnen seinen Ruhm suchen kann!

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II,2,17

Als Hauptinhalt des eben Ausgeführten wollen wir festhalten: Am ganzen Menschengeschlecht läßt sich erkennen, daß unserer Natur die Vernunft eigen ist; sie un terscheidet uns von den Tieren, wie diese sich wieder durch den Besitz des Empfindens von den unbelebten Wesen abheben. Es kommen nun zwar auch Narren und schwachsinnige Menschen zur Welt; aber dieser Mangel verfinstert Gottes allge­meine Gnade (generalem Dei gratiam) nicht. Vielmehr erinnert uns gerade ein solches Jammerbild daran, daß alles, was wir übrigbehalten haben, mit gutem Grunde Gottes Huld zuzuschreiben ist: hätte er uns nicht verschont, so hätte der Fall den Untergang der gesamten Natur mit sich gebracht. Darin aber, daß der eine an Scharfsinn hervorragt, der andere sich durch Urteilskraft auszeichnet, ein anderer wieder besonders begabt ist zur Erlernung dieser oder jener Kunstfertigkeit, also in dieser Verschiedenartigkeit stellt uns Gott seine Gnade vor die Augen — damit sich nicht jeder selbst anmaßt, was doch aus seiner bloßen Freigebigkeit ihm zufloß. Denn woher soll es anders kommen, daß der eine über den anderen hervorragt, als dar aus, daß innerhalb der gemeinsamen Natur die besondere Gnade Gottes (specialis Dei gratia) sichtbar werden soll, die an vielen vorübergeht und dadurch deutlichst bezeugt, daß sie niemandem gegenüber Verpflichtung hat? Man muß noch obendrein beachten, daß Gott entsprechend dem besonderen Beruf (vocatio) des einzelnen auch besondere Triebkräfte in ihm erregt; dafür begegnen uns im Richterbuche viele Be lege, wo es heißt, der Geist des Herrn habe die ergriffen, die er zur Regierung des Volkes berufen hatte (Richter 6,34). Schließlich kommt auch bei besonderen Ereig nissen ein besonderer Antrieb zum Vorschein; so gingen die mit Saul, „denen Gott das Herz berührt hatte“ (1. Sam. 10,26). Und bei der Einsetzung des Saul in die Königswürde spricht Samuel: „Der Geist des Herrn wird über dich kommen, und du wirst ein anderer Mann werden“ (1. Sam. 10,6). Das bezieht sich auf den ganzen Lauf der Regierung, wie nachher von David berichtet wird, der Geist des Herrn sei über ihn gekommen an jenem Tage und hinfort (1. Sam. 16,13). Eben das aber wird an anderen Stellen von den besonderen Antrieben des Geistes gesagt. Ja, bei Homer heißt es, die Menschen hätten ihren Verstand nicht allein nach dem Maße der (ein­maligen) Zuteilung durch Jupiter, sondern sie besäßen ihn, „je nachdem, wie er sie täglich regiere“ (Odyssee). Und die Erfahrung zeigt ja auch tatsächlich — zum Beispiel, wenn sonst sehr begabte und kundige Leute öfters plötzlich wie angedonnert dastehen —, wie der Menschengeist derart in der Hand und im Willen Gottes steht, daß er ihn in den einzelnen Augenblicken regiert! So heißt es auch: „Er nimmt den Klugen ihren Verstand, daß sie in der Irre umherlaufen“ (Psalm 107,40; nicht Luthertext). Doch sehen wir auch inmitten solcher großen Unterschiedenheit gewisse übriggebliebene Kennzeichen des Ebenbildes Gottes, die das ganze Menschenge schlecht von den anderen Kreaturen abheben.

II,2,18

Jetzt wollen wir auseinandersetzen, was die menschliche Vernunft vermag, wenn es sich um das Reich Gottes und die geistliche Einsicht handelt. Diese geistliche Ein sicht besteht vor allem in drei Stücken: (1) Gott zu erkennen, (2) seine väterliche Huld gegen uns, auf der unser Heil ruht, und (3) die rechte Weise, unser Leben gemäß der Richtschnur des Gesetzes zu gestalten. In den beiden ersten Stücken, besonders im zweiten, sind selbst die sonst gescheitesten Menschen blinder als die Maulwürfe. Ich leugne freilich nicht, daß man hie und da bei den Philosophen verständige und gescheite Aussagen über Gott zu lesen bekommt; aber sie schmecken doch immer gewissermaßen nach schwindelsüchtiger Phantasie. Zwar hat ihnen der Herr, wie gesagt, eine geringe Ahnung von seiner Gottheit zuteil werden lassen, damit sie sich in ihrer Unfrömmigkeit nicht mit Unkenntnis entschuldigen können. Auch hat er sie zuweilen getrieben, Dinge auszusprechen, deren Zugestehen sie selber überwindet. Aber wo sie etwas gesehen haben, da geschah das doch so, daß sie von dieser Schau nicht im mindesten zur Wahrheit geleitet wurden, geschweige denn sie erreichten. Es ist, wie wenn ein Wandersmann, der auf dem Felde ist, den Schein eines nächtlichen Blitzes einen Augenblick lang nach allen Seiten wahrnimmt: er sieht ihn, aber es geschieht doch mit schnellvergehender Schau, die, ehe er einen Fuß rühren kann, von der nächtlichen Finsternis wieder verschlungen ist; so wird er mit Hilfe dieses Lichtes doch kaum wieder auf den rechten Weg gebracht! Und außerdem:

Mit wie vielen und wie furchtbaren Lügen sind doch jene Tröpfchen Wahrheit, die sie von ungefähr über ihre Bücher sprengen, besudelt! Und schließlich haben sie von jener Gewißheit um Gottes Wohlgefallen gegen uns, ohne die der Menschengeist notwendig voll unermeßlicher Verwirrung ist, nie auch nur etwas geahnt. Die eigentliche Wahrheit wäre es doch, daß wir begriffen, wer der wahre Gott ist und wie er sich zu uns verhalten will — aber dahin kann unsere Vernunft eben nicht ge langen, dahin kann sie nicht dringen, ja nicht einmal sich ausrichten!

II,2,19

Aber wir sind ja berauscht von der törichten Hochschätzung unserer Erkenntniskraft und lassen uns deshalb sehr ungern überzeugen, daß sie in göttlichen Dingen völlig blind und stumpf ist. Deshalb bin ich der Meinung, das sei besser mit Schrift zeugnissen als mit Vernunftgründen zu beweisen. Sehr fein lehrt es Johannes an der oben bereits angeführten Stelle: „In ihm (Calvin: in Gott) war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen“ (Joh. 1,4.5). Da zeigt er: gewiß wird des Menschen Seele vom Glanz göttlichen Lichtes angestrahlt, so daß es ihr — mag es auch eine kleine Flamme oder gar nur ein Fünklein sein — nie gänzlich fehlt; aber trotzdem begreift sie Gott auch in solcher Erleuchtung nicht. Warum? Weil ihr ver­stehen, wenn es auf Gottes Erkenntnis ankommt, eitel Finsternis ist! Wenn nämlich der Heilige Geist die Menschen als „Finsternis“ bezeichnet, so spricht er ihnen damit jede Fähigkeit zu geistlicher Erkenntnis ab. Deshalb zeigt er auch, daß die Gläubigen, die Christum im Glauben annehmen, nicht von dem Geblüt noch von dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind (Joh. 1,13). Und das heißt: Das Fleisch trägt solche hohe Weisheit nicht in sich, daß es Gott und das Seine erkenne, wenn es nicht von Gottes Geist erleuchtet wird. So bezeugt ja auch Christus, das Bekenntnis des Petrus sei eine besondere Offenbarung des Vaters! (Matth. 16,17).

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II,2,20

Wären wir wirklich überzeugt, daß unserer Natur das abgeht, was der himm lische Vater seinen Auserwählten durch den Geist der Wiedergeburt zuteil werden läßt, — und das steht doch außer Zweifel! — so wäre hier gar kein Anlaß zu irgend welchen Bedenken. Denn das gläubige Volk spricht bei dem Propheten: „Du bist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht!“ (Ps. 36,10). Dasselbe bezeugt der Apostel mit den Worten: „Niemand kann Christum einen Herrn heißen ohne im Heiligen Geist“ (1. Kor. 12,3). Und als Johannes der Täufer die Stumpf heit seiner Jünger sieht, da ruft er aus: „Niemand kann etwas nehmen, es werde ihm denn von oben herab gegeben“ (Joh. 3,27). Dabei versteht er unter der „Gabe“ die besondere Erleuchtung und nicht etwa die allgemeine Begabung; denn er klagt ja, daß er mit all seinen Worten, in denen er seinen Jüngern Christus gerühmt, nichts erreicht habe. „Ich sehe“, so will er sagen, „daß Worte nicht ausreichen, um Menschenherzen über göttliche Dinge zu belehren, wenn nicht zuvor der Herr durch seinen Geist Verstand gegeben hat.“ Sogar Mose, der dem Volk seine Gleichgültig keit zum Vorwurf macht, bemerkt doch zugleich, es könne in den Geheimnissen Gottes zu keinerlei Weisheit gelangen ohne sein besonderes Geschenk. „Deine Augen haben die großen Zeichen und Wunder gesehen, aber der Herr hat euch bis auf diesen heu tigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig sei, Ohren, die da hören, und Augen, die da sehen“ (Deut. 29,2f.). Wäre es noch ein schärferer Ausdruck, wenn er uns der Betrachtung der Werke Gottes gegenüber als Klötze bezeichnen würde? Daher verheißt der Herr auch durch den Propheten als besondere Gnade, er werde den Israeliten ein Herz geben, um von ihnen erkannt zu werden! (Jer. 24,7). Da mit deutet er recht fein an: der Menschengeist hat genau soviel geistliches Verständ nis, wie er zuvor von ihm erleuchtet ist! Das bestätigt auch Christus mit eigenem Wort ganz klar: „Niemand kann zu mir kommen, es werde ihm denn gegeben von meinem Vater“ (Joh. 6,44). Wieso? Ist er denn nicht selbst das lebendige Ebenbild des Vaters, in dem uns der ganze Glanz seiner Herrlichkeit entgegentritt? Ebendeshalb konnte er gar nicht besser darlegen, wie unsere Fähigkeit zur Gotteserkenntnis beschaffen ist, als dadurch, daß er uns die Augen abspricht, um dieses Ebenbild Gottes zu erkennen, wo es uns doch so klar vor Augen gestellt wird! Wie — ist er denn nicht dazu zur Erde gekommen, daß er des Vaters Willen den Menschen offen bare? Und hat er nicht dieses Werk seiner Sendung treu vollbracht? So ist es ge wiß; aber seine Predigt bewirkt nichts, wenn ihm nicht der Geist als innerer Lehr meister den Weg zu den Herzen bahnt. Und deshalb kommen nur die zu ihm, die es vom Vater hören und von ihm dazu gelehrt sind. Wie geht aber solches Lernen und Hören zu? Eben so, daß der Geist in wundersamer und einzigartiger Kraft Ohren zum Hören und einen Sinn zum Verstehen schafft! Und damit das nicht als etwas Neues erscheine, führt der Herr dabei (Joh. 6,45) die Weissagung des Jesaja an: der verheißt die Auferbauung der Kirche und lehrt dabei, daß die, welche zum Heil gerufen werden, Gottes Schüler sein sollen (Jes. 54,13). Wenn also Gott an dieser Stelle etwas Besonderes von seinen Auserwählten aussagt, so spricht er offenkun dig nicht von jener Unterweisung, die zugleich auch den Unfrommen und Ungläubi gen eigen ist. Wir müssen also erkennen: nur dem steht der Eingang in Gottes Reich offen, dem der Heilige Geist durch seine Erleuchtung einen neuen Sinn ge geben hat. So bezeugt es am klarsten der Apostel Paulus; er verwirft zunächst alle menschliche Weisheit und erklärt sie für Torheit und Eitelkeit; dann läßt er sich absichtlich auf die obengenannte Fragestellung ein und kommt zu dem Ergebnis: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Torheit und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich beurteilt werden“ (1. Kor. 2,14). Wen nennt er hier „natürlicher Mensch“? Doch offenbar den, der sich auf das Licht der Natur verläßt. Und der, sage ich, begreift nichts von den geistlichen Geheim nissen Gottes! Wieso das? Unterläßt er es aus Bequemlichkeit? Nein, er vermag auch nichts, wenn er sich noch so anstrengt, denn es will eben geistlich beurteilt sein. Und was bedeutet das? Diese Dinge sind der menschlichen Einsicht gänzlich verborgen und werden also nur durch die Offenbarung des Geistes zugänglich, und deshalb gel ten sie notwendig als Torheit, wo die Erleuchtung durch den Geist Gottes fehlt. Kurz vor dieser Stelle hatte Paulus gezeigt, wie das, was Gott „denen bereitet hat, die ihn lieben“, über alle Fassungskraft der Augen, Ohren und Sinne hinausgeht. Ja, er hatte bezeugt, die menschliche Weisheit sei geradezu ein Vorhang, der den Menschengeist hindere, Gott zu schauen! Was wollen wir mehr? Der Apostel sagt, Gott habe die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht (1. Kor. 1,20) — und wir wollen ihr einen Scharfsinn beimessen, mit dem sie zu Gott und den unzugänglichen Geheimnissen des Himmelreichs durchzudringen vermöchte? Solcher Wahnwitz sei ferne von uns!

II,2,21

Was damit Paulus dem Menschen abspricht, das schreibt er an anderer Stelle Gott allein zu. Denn er betet: „Gott, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung“ (Eph. 1,17). Da hört man schon: alle Weisheit und Offenbarung ist Gottes Geschenk! Und dann bittet er weiter: „..und erleuchtete Augen eures Gemüts“. Brauchen also die Leser jenes Briefes einer neuen Offenbarung, so sind sie eben von sich selbst aus blind; und so geht es denn auch weiter: „Damit ihr wisset, welches da sei die Hoffnung eures Berufs …“ (Eph. 1,18). Er bekennt also, daß der Menschengeist nicht den Verstand habe, um des Menschen Berufung zu erkennen.

Nun soll mir aber nicht irgendein Pelagianer schwatzen, Gott leiste eben dieser Stumpfheit und Unkundigkeit seinen Beistand, wenn er den menschlichen Verstand durch die Lehre seines Wortes dahin leite, wohin er ohne Führer nicht gelangen könnte. Denn auch David besaß das Gesetz, in dem alles beschlossen war, was sich an Weisheit wünschen ließ; und doch ist er damit nicht zufrieden, sondern bittet, es möchten ihm die Augen geöffnet werden, damit er „sehe die Wunder seines Gesetzes“ (Ps 119,18). Damit will er sicher andeuten: Wenn Gottes Wort dem Menschen auf leuchtet, dann geht gewiß für die Erde die Sonne auf; aber dennoch hat der Mensch nicht viel Segen davon, ehe der ihm die Augen gegeben und aufgetan, der selber der „Vater des Lichts“ heißt (Jak. 1,17). Denn wo er nicht durch seinen Geist Licht schafft, da liegt alles im Dunkel! So hatten doch auch die Apostel von ihrem großen Meister einen ordentlichen und reichlichen Unterricht empfangen; aber sie hätten nicht das Gebot erhalten, auf den Geist der Wahrheit zu warten, der ihre Herzen in der zuvor gehörten Lehre unterweise, wenn sie ihn nicht nötig gehabt hätten! (Joh. 14,26). Wenn wir etwas von Gott erbitten, so bekennen wir damit, daß es uns fehlt, und er selbst erweist gerade durch das, was er uns verheißt, unseren Mangel! Deshalb muß man ohne Zögern gestehen: wir vermögen nur so weit in die Geheimnisse Gottes einzudringen, wie wir von seiner Gnade erleuchtet sind. Wer sich mehr Verstand zuschreibt, der ist eben nur noch blinder, weil er ja seine Blind heit nicht erkennt!

II,2,22

Es bleibt uns noch das dritte Stück zu behandeln, das die Erkenntnis der Richtschnur rechter Lebensführung betrifft, die wir nicht unrichtig auch die „Kennt nis der Gerechtigkeit der Werke“ nennen. Hier scheint nun der Menschengeist ein wenig erkenntnisfähiger zu sein als in den beiden anderen Stücken. Denn der Apostel bezeugt: „Die Heiden, die das Gesetz nicht haben, tun aber des Gesetzes Werke, sind … sich selbst ein Gesetz und zeigen, daß des Gesetzes Werk ihnen ins Herz geschrie ben ist, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich vor dem Gericht Gottes untereinander verklagen oder entschuldigen“ (Röm. 2,14.15; nicht ganz Luthertext). Wenn also den Heiden von Natur die Gerechtigkeit des Gesetzes ins Herz eingemeißelt ist, so können wir gewiß nicht sagen, sie seien in der Lebens gestaltung völlig blind. So ist es auch zu der außerordentlich verbreiteten Auf fassung gekommen, durch das „natürliche Gesetz“ (lex naturalis), das der Apostel hier meint, sei der Mensch in ausreichendem Maß gerüstet, den rechten Weg zu finden. Wir wollen dagegen erwägen, wozu eigentlich dem Menschen diese Gesetzeserkenntnis innewohnt; und dann wird sich gleich deutlich zeigen, wieweit uns ihre Führung dem Ziel der Vernunft und Wahrheit nahebringt. Das wird auch aus den Worten des Paulus klar, wenn wir nur auf den Zusammenhang achten. Kurz vorher setzt er auseinander: die unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durch das Gesetz ge richtet; die aber ohne Gesetz gesündigt haben, die gehen ohne Gesetz verloren. Nun konnte es aber widersinnig erscheinen, daß die Heiden ohne alles vorausgehende Urteil verlorengehen sollten; deshalb setzt er gleich hinzu, bei ihnen habe das Gewissen die Wirkung des Gesetzes, und es genüge deswegen zu ihrer gerechten Verdammnis. Der Zweck des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) ist also der, daß der Mensch un entschuldbar werde. Deshalb wird es (das natürliche Gesetz) auch nicht übel beschrie ben, wenn man sagt, es sei die Erkenntnis des Gewissens, das zwischen Gerecht und Ungerecht ausreichend klar unterscheidet; es hat also danach die Aufgabe, dem Men schen jeden Vorwand der Unkenntnis zu nehmen, da er ja durch sein eigenes Zeugnis überführt wird! Darin aber besteht die Nachsicht des Menschen gegen sich selber, daß er zwar das Böse tut, aber doch seine Gedanken, soweit er kann, von der Erkenntnis der Sünde abbringt. Das scheint der Grund gewesen zu sein, der Platon zu der Meinung veranlaßt hat, der Mensch sündige nur in Unkenntnis (Protagoras). Das wäre ein richtiges Urteil, wenn die menschliche Heuchelei mit ihrer Verschleierung der Sünde wirklich erreichte, daß im Menschenherzen jedes Bewußtsein, vor Gott böse zu sein, verschwände. Aber mag der Sünder auch vor dem ihm eingedrückten Urteil über Gut und Böse fliehen — er muß immer wieder zu ihm zurückkehren, und es wird ihm nicht ermöglicht, darüber gänzlich hinwegzusehen, sondern er muß, ob er will oder nicht, einmal die Augen auftun! Deshalb ist es verkehrt, zu sagen, er sündige bloß in Unkenntnis.

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II,2,23

Richtiger äußert sich Themistius. Er lehrt, der Verstand täusche sich bei der all gemeinen Beschreibung eines Gegenstandes, also hinsichtlich seines Wesens sehr selten, er bleibe aber von Wahnideen nicht frei, wenn er darüber hinausginge, nämlich eine Anwendung auf die eigene Person suche. (Von der Seele, VI,6). So leugnet kein Mensch, daß der Mord etwas Böses ist — sofern man im allgemeinen urteilt. Und doch: wer eine Verschwörung anzettelt, um einen Feind umzubringen, der macht seine Pläne, als ob er etwas Gutes tun wollte! Den Ehebruch wird selbst der Ehe brecher verdammen — aber den selbst begangenen wird er sich verzeihen! Darin liegt die Unwissenheit, daß der Mensch bei der Einzelanwendung die Regel vergißt, die er gerade als mit allgemeiner Geltung festgelegt hat! Hierüber spricht Augustin sehr fein in seiner Auslegung des 1. Verses von Psalm 57.

Freilich gilt auch die Regel des Themistius nicht ganz allgemein; denn die Schnödigkeit des Lasters bedrängt bisweilen das Gewissen derart, daß der Mensch nicht etwa betrogen vom falschen Anschein des Guten, sondern mit eigenem Wissen und Wollen in das Böse hineinrennt. Aus solch einem bestürmten Gemüt kommen dann solche Sprüche wie: „Ich sehe das Bessere wohl und erkenne es an, doch folge ich dem Schlechteren“ (Medea, bei Ovid Met. VII,20). Aus diesem Grunde scheint es mir sehr richtig, wenn Aristoteles zwischen Unenthaltsamkeit (incontinentia) und (bewußter) Zügellosigkeit (intemperantia) unterscheidet. Wo die Unenthaltsamkeit regiert, da wird nach Aristoteles dem Geiste durch verwirrtes Empfinden und Lei denschaft die besondere Erkenntnis geraubt; so merkt er an seiner Tat das Böse gar nicht, obwohl er es im allgemeinen an gleichgearteten Taten durchaus erkennt, — ist der Rausch zu Ende, so folgt sogleich die Reue. Die Zügellosigkeit dagegen wird durch das Bewußtsein der Sünde nicht ausgelöscht und nicht zerbrochen, sondern sie verharrt steif bei der einmal getroffenen bewußten Entscheidung für das Böse.

II,2,24

Gewiß, wir hörten, daß es im Menschen ein allgemeines Urteil gibt, um Gut und Böse zu unterscheiden. Wir dürfen nun aber nicht wähnen, dies Urteil sei stets ge sund und ohne Fehler. Denn dem Menschen ist die Unterscheidung zwischen Gerecht und Ungerecht doch nur ins Herz gelegt, daß ihm jede Möglichkeit genommen werde, sich mit Unkenntnis zu entschuldigen. Deshalb ist es aber durchaus nicht erforderlich, daß er in allen einzelnen Fragen die Wahrheit sieht, sondern es ist mehr als genug, wenn sein Verstand so weit reicht, daß ihm jede Ausflucht unmöglich wird und er, vom Gewissen als Zeugen überführt, schon jetzt anfängt, vor Gottes Richterstuhl zu erschrecken. Wollen wir unsere Vernunft am Gesetz Gottes prüfen, das doch allein das Abbild vollkommener Gerechtigkeit ist, so erfahren wir, in wieviel Stücken sie blind ist! Auf jeden Fall erkennt sie keineswegs die Hauptstücke der ersten Tafel, wie etwa: daß man Gott vertrauen soll, ihm das Lob für alle Kraft und Gerechtig keit zollen, seinen Namen anrufen und den Sabbattag recht heiligen soll. Welche Seele hat denn je vermittelst des natürlichen Empfindens auch nur geahnt, daß in diesen und dergleichen Stücken die rechte Verehrung Gottes besteht? Denn wenn un fromme Menschen Gott verehren wollen, so kann man sie hundertmal von ihren leeren Phantasien zurückrufen — sie verfallen doch immer wieder darauf! Sie leug nen zwar, daß Gott Opfer gefielen, ohne daß die Lauterkeit des Herzens dazukäme; damit bezeugen sie, daß sie etwas von der Verehrung Gottes im Geiste ahnen — aber diese verderben sie doch alsbald wieder mit ihren falschen Erdichtungen! Von der Wahrheit dessen, was das Gesetz hierüber sagt, wird man sie nie überzeugen können. Und da soll ich sagen, der Menschengeist besitze ein Erkenntnisvermögen — wo er doch aus sich weder richtig zu denken, noch auf Vermahnungen zu hören ver mag?

Von den Geboten der zweiten Tafel versteht der Mensch etwas mehr, so fern sie nämlich in näherer Beziehung zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft stehen. Freilich ist auch hier zuweilen großer Mangel erkennbar. So ist es auch für die erhabensten Geister etwas widersinniges, eine ungerechte und allzu gewalt tätige Herrschaft zu ertragen, wenn sich günstige Gelegenheit findet, das Joch abzu schütteln. Das Urteil der menschlichen Vernunft lautet hier: solche Herrschaft geduldig zu tragen, das ist ein Zeichen von feigem Knechtssinn, und anderseits zeigt sich ehrenhafte und edle Gesinnung darin, sie abzuschütteln. Auch gilt es bei den Philosophen nicht als Frevel, wenn einer für geschehenes Unrecht Rache nimmt. Aber der Herr verdammt diese gar zu große Hochgemutheit und gebietet den Seinigen die bei den Menschen verächtliche Geduld. Endlich aber entzieht sich allgemein bei der Betrachtung des ganzen Gesetzes die Verwerfung der bösen Lust unserer Erkenntnis. Denn dazu läßt sich der natürliche Mensch nicht bringen, daß er die mannigfaltigen Gebrechen seiner Begierden erkenne! Ehe er an die Tiefen dieses Ab grundes gelangt, kommt das Licht der Natur zum verlöschen. Denn die Philosophen bezeichnen zwar die ungeordneten Triebe als Laster, aber sie meinen damit nur die äußerlichen und in groben Wirkungen sich bekundenden. Die bösen innerlichen Gelüste aber, die den Geist fein betören, achten sie für nichts.

II,2,25

Wie wir also oben dem Platon widersprochen haben, weil er alle Sünde auf Un kenntnis zurückführt, so müssen wir nun auch denen entgegentreten, die da meinen, in allen Sünden sei eine bewußte Bosheit und Verruchtheit am Werk. Denn wir merken viel zu deutlich, wie oft wir in bester Absicht fehlen! Unsere Vernunft wird von so vielerlei Täuschung überrannt, ist so viel Irrtum unterworfen, in so viel Hindernisse verstrickt, in so viel Ängsten gefangen, daß von sicherer Leitung gar keine Rede sein kann. Wie nichtig sie vor dem Herrn ist, und zwar in allen Stücken un seres Lebens, das zeigt Paulus: „Wir sind nicht tüchtig, etwas zu denken von uns selber als von uns selber“ (2. Kor. 3,5). Er spricht hier nicht vom Willen oder vom Empfinden, sondern er spricht uns selbst ab, daß es uns überhaupt in den Sinn kom men könnte, wie etwas recht zu machen sei. Ist denn all unser Eifer, all unser Scharfsinn, all unser Verstand, unsere Sorgfalt dermaßen verderbt, daß sie nichts zu erdenken oder zu erwägen vermöchten, das vor dem Herrn recht sei? Gewiß, wir haben es höchst ungern, wenn uns die Schärfe unserer Vernunft, die wir doch für die köstlichste Anlage halten, abgesprochen wird, und so scheint uns das allzu hart. Aber dem Heiligen Geiste dünkt es recht und billig, denn er weiß, daß alle Gedan ken der weisen nichtig sind, und spricht es klar aus: „Alles Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist immerzu böse“ (Ps. 94,11; Gen. 6,5; 8,21). Wenn doch alles, was unser Geist bedenkt, beschließt, sich vornimmt und ins Werk setzt, immer zu böse ist — wie soll es uns dann in den Sinn kommen, uns etwas vorzunehmen, was vor Gott recht ist, dem doch allein Heiligkeit und Gerechtigkeit wohlgefällig ist?

So ist also unsere Vernunft offenbar jämmerlich der Eitelkeit unterworfen, wo hin sie sich auch wendet. Dieser Schwachheit war sich David bewußt, wenn er darum betete, es möchte ihm Verstand gegeben werden, um die Gebote des Herrn recht zu lernen (Ps. 119,34). Wenn er sich einen neuen Verstand erbittet, so zeigt er damit an, daß sein Geist nicht im mindesten ausreicht. Jene Bitte spricht er nicht nur ein einziges Mal aus, sondern er wiederholt sie in dem einen Psalm wohl zehnmal (Ps. 119,12.18.19.26.33.64.68.73.124.125.135.169). Diese Wiederholung macht ersichtlich, wie groß die Not ist, die ihn zu solcher Bitte drängt. Und was er für sich allein erbittet, das pflegt Paulus für alle Gemeinden zu erflehen: „Wir hören nicht auf, für euch zu beten und zu bitten, daß ihr erfüllet werdet mit der Er kenntnis Gottes in allerlei Weisheit und Verstand, daß ihr wandelt würdiglich dem Herrn….“ (Phil. 1,9; Kol. 1,9). Und jedesmal, wenn er das als Wohltat Gottes rühmt, dann will er ja bezeugen, daß es nicht in des Menschen Vermögen steht. Dieses Unvermögen der Vernunft, die göttlichen Dinge zu erkennen, hat auch Augustin wohl bemerkt, und zwar derart, daß er meint, unser „Gemüt“ (Verstand) brauche die Gnade der Erleuchtung ebenso wie unser Auge das Licht. Ja, er gibt sich damit nicht zufrieden, sondern setzt gleich eine Verbesserung seines Satzes hinzu: nämlich daß wir doch die (leiblichen) Augen selber auftun, um das Licht zu schauen, die Augen unseres „Gemüts“ dagegen verschlossen bleiben, wenn der Herr sie nicht auftut. (Von Schuld und Vergebung der Sünden, II,5). Auch wird ja nach der Lehre der Schrift unser „Gemüt“ nicht an einem Tage ein für allemal erleuch tet, um dann von selber zu sehen; denn das, was ich eben aus Paulus angeführt habe, bezieht sich auf ein dauerndes Fortschreiten und Wachsen. Das sagt Da vid ausdrücklich: „Ich suche dich von ganzem Herzen, laß mich nicht abirren von deinen Geboten!“ (Ps. 119,10). Er war doch wiedergeboren, war doch in der wahren Frömmigkeit außergewöhnlich gewachsen — und doch bekennt er, für jeden einzelnen Augenblick besonderer Leitung zu bedürfen, um nicht von der Erkenntnis wieder ab zukommen, die ihm zuteil geworden war! Deshalb bittet er auch anderswo, es möchte ihm — was er ja verloren hatte! — ein „neuer, gewisser Geist“ gegeben wer den (Ps. 51,12); denn Gott, der uns den Geist im Anfang gegeben hat, der allein kann ihn uns wiedergeben, wenn er uns eine Zeitlang genommen ist.

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II,2,26

Nun müssen wir den Willen untersuchen, in dem, wenn überhaupt, am ehesten die „Freiheit der Willensentscheidung“ sich auswirken kann. Denn wir sahen ja be reits, daß die Entscheidung mehr bei ihm als bei dem Verstande liegt. Nun wird von den Philosophen gelehrt, und die allgemeine Vorstellung hat es aufgenommen, alle Wesen begehrten aus natürlichem Triebe „das Gute“. Es darf aber nicht den Anschein erwecken, als habe das etwas mit der Vollkommenheit des menschlichen Willens zu tun; um das zu erkennen, wollen wir im Auge behalten: die Kraft des freien Willens ist nicht etwa in einem solchen Begehren zu suchen, das aus einer natür lichen, im Wesen des Menschen begründeten Neigung, nicht aber aus (bewußter) Erwägung des „Gemüts“ hervorgeht. Denn auch die Scholastiker geben zu, daß der freie Wille nur da tätig wird, wo die Vernunft entgegengesetzten Möglichkeiten gegenübersteht. Das bedeutet: der Gegenstand des Begehrens muß der Entscheidung unterliegen, und es muß eine Überlegung vorausgehen, die der Entschei dung den Weg bahnt. Betrachtet man nun jenes natürliche Streben zum „Gu ten“ im Menschen näher, so findet man denn auch, daß er es mit den Tieren gemein sam hat. Denn auch diese haben den Trieb, es sich gut sein zu lassen, und wo ihnen der Anschein des Guten begegnet, der ihr Empfinden berührt, da folgen sie ihm. Der Mensch dagegen erwählt tatsächlich mit seiner Vernunft nicht das, was wirklich gut für ihn ist und der Würde seiner unsterblichen Natur entspräche, um es dann mit Eifer durchzuführen. Auch zieht er weder seine Vernunft zu Rate, noch wendet er sonst die gehörige Aufmerksamkeit an die Sache. Nein, er folgt wie die Tiere ohne Vernunft, ohne rechten Plan der natürlichen Neigung. Die Frage, ob der Mensch vom natürlichen Empfinden (sensu naturae) dazu gebracht werde, das Gute zu begehren, hat also nichts mit dem freien Willen zu tun. Vielmehr er fordert der freie Wille, daß er auf Grund richtiger und vernünftiger Überlegung (recta ratione) das Gute erkennt, sich für das richtig Erkannte entscheidet und diese Entscheidung auch ausführt!

Damit nun bei keinem Leser ein Zweifel bleibe, ist ein doppeltes Mißverständ nis zu beachten. Denn einerseits bedeutet oben „Begehren“ nicht eine eigentliche Regung des Willens, sondern einen natürlichen Trieb, und anderseits bezeichnet das „Gute“ nicht etwas, das mit Tugend und Gerechtigkeit zu tun hätte, sondern einen bloßen Zustand, nämlich: das Wohlsein des Menschen! Und dann: mag der Mensch das „Gute“ auch noch so sehr zu erreichen wünschen, er geht ihm doch nicht nach; ebenso wie jedermann die ewige Seligkeit für etwas Schönes hält und doch ohne Antrieb des Geistes niemand sich recht danach ausstreckt. So besagt also das natürliche Begehren des Menschen, es gut zu haben, gar nichts für den etwaigen Beweis des freien Willens, nicht mehr als die natürliche Neigung in Metallen und Gesteinen, ihr Wesen zu vervollkommnen. Wir wollen also in anderer Richtung erwägen, ob denn der Wille in jeder Weise derart verderbt und verkommen ist, daß er nur noch Böses aus sich hervorbringt, oder ob ihm noch etwas Unverletztes innewohnt, aus dem rechtes Begehren hervorgehen könnte.

II,2,27

Manche eignen der „ersten Gnade Gottes“ (prima Dei gratia) die Wirkung zu, daß wir wirksam wollen können. Damit deuten sie auf der anderen Seite auch an: die Seele hat von Natur die Fähigkeit, sich von selbst nach dem Guten auszustrecken, nur ist sie zu schwach, um eine starke innere Bewegung zu erzeugen oder einen wirk lichen Tatantrieb (conatus) auszulösen. Diese Meinung, die von Origenes und eini gen Alten stammt, haben ohne Zweifel die Scholastiker sämtlich aufgenommen; sie be rufen sich auf das Wort des Apostels: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, das Böse aber, das ich nicht will, das tue ich. Wollen habe ich wohl, aber Vollbrin gen das Gute finde ich nicht“ (Röm. 7,15.19). Der Mensch, den Paulus hier be schreibt, befindet sich nach ihrem Urteil in rein natürlicher Lage (in puris naturalibus). – Aber damit verdrehen sie ganz und gar die Frage, von der Paulus an die ser Stelle handelt. Denn er redet hier von dem Kampf des Christen, den er auch Gal. 5,17 kurz berührt, jenem Kampf, den die Gläubigen im Widerstreit von Fleisch und Geist immerzu durchleben. Nun ist uns aber doch der Geist nicht von Natur eigen, sondern aus der Wiedergeburt. (Porro Spiritus non a natura est, sed a regeneratione). Daß aber der Apostel von den Wiedergeborenen redet, geht auch daraus hervor, daß er dem Satze, daß nichts Gutes in ihm wohne, gleich zur Erläuterung zusetzt: „das ist, in meinem Fleische“ (Röm. 7,16). So ist es nach seinen Worten auch nicht er selber, der das Böse tut, sondern die in ihm wohnende Sünde (Röm. 7,20). Was soll aber dieser Zusatz: „In mir, das ist in meinem Fleische“? Doch offenbar dasselbe, als wenn er sagte: In mir wohnt von mir selber aus nichts Gutes, denn in meinem Fleisch ist nichts Gutes zu ent decken. Daher folgt dann auch die Form der Entschuldigung: Nicht ich tue selber das Böse, „sondern die Sünde, die in mir wohnt“. Solche Entschuldigung kommt nur den Wiedergeborenen zu, die mit dem wichtigsten Teil ihrer Seele (praecipua animae parte) zum Guten hinneigen. Ganz deutlich wird dies alles aus den Schlußworten des Apostels: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte …“ (Röm. 7,22.23). Wer anders soll einen solchen Widerstreit in sich tragen als der, der aus dem Geiste Gottes wiedergeboren ist, aber zugleich die Überbleibsel des Fleisches mit sich schleppt? So hat auch Augustin, der diese ganze Stelle anfangs auf die Natur des Menschen beziehen wollte, seine Auslegung als falsch und unsachgemäß zurückgenommen (An Bonifacius, I,10 und Retract, I,23; II,1). Wollen wir aber annehmen, der Mensch habe auch ohne die Gnade gewisse, wenn auch noch so geringfügige Regungen zum Guten — was sollen wir dann dazu sagen, daß der Apostel uns für unfähig erklärt, „etwas zu denken als von uns selber“? (2. Kor. 3,5). Was sollen wir dem Herrn antworten, der durch Mose sagen läßt, alles Dichten und Trachten des menschlichen Herzens sei immer nur böse? (Gen. 8,21). Die Verfechter des freien Willens haben sich hier bloß an eine von ihnen falsch verstandene Bibelstelle festgeklammert, und deshalb brauchen wir uns mit ihrer Auffassung nicht länger aufzuhalten. Wir halten uns lieber an Christi eigenes Wort: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht“ (Joh. 8,34). Und Sünder sind wir alle von Natur: deshalb leben wir auch alle unter ihrem Joch. Ist aber der ganze Mensch der Herrschaft der Sünde unterworfen, so ist notwendig erst recht der Wille, der ihr besonderer Wohnsitz ist, mit härtesten Fesseln gebunden. Auch würde das Wort des Paulus: „Gott ist es, der in uns wirket das Wollen …“ (Phil. 2,13) nicht bestehen können, wenn der Wille irgendwie der Gnade des Helligen Geistes vorausginge! Deshalb soll fernbleiben, was viele Leute von der „Vor bereitung“ (des Menschen auf das Heil) gefaselt haben! Gewiß beten zuweilen die Gläubigen darum, es möchte ihr Herz zum Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz be reitet werden, wie es mehrmals David tut. Aber dabei ist doch zu bedenken, daß selbst der Wunsch zu beten von Gott kommt! Das geht auch aus Davids Worten hervor; denn wenn er begehrt, es möchte in ihm ein neues Herz geschaffen werden (Ps. 51,12), so schiebt er damit doch nicht sich selber die Urheberschaft solcher Neu schöpfung zu! Wir wollen lieber das Wort Augustins gelten lassen: „Gott ist dir in allem zuvorgekommen — nun komm du auch seinem Zorn zuvor! Und wie? Be kenne, daß du all dies von Gott hast, daß du alles, was du Gutes besitzest, von ihm empfangen hast, von dir selber aber, was Böses an dir ist.“ Oder kurz danach: „Un ser ist nichts als die Sünde“ (Predigt 176,5).

Drittes Kapitel: Aus der verderbten Natur der Menschen kommt nichts als Verdammliches.

II,3,1

Der Mensch kann aber nach seinen beiden Seelenkräften (Verstand und Wille) am besten beurteilt werden, wenn er mit den Titeln, die ihm die Schrift gibt, ans Licht tritt. Wird er als Ganzes mit Christi Worten beschrieben „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch“ — und das wird gleich bewiesen werden! — dann ist er allerdings offenbar ein jämmerliches Wesen. Denn der fleischliche Sinn („fleischlich gesinnet sein“ Röm. 8,6f.) „ist der Tod, weil er eine Feindschaft wider Gott und deshalb dem Gesetz nicht Untertan ist, und vermag es auch nicht“. „Ist denn das Fleisch dermaßen verderbt, daß es mit der Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes nicht übereinkommen kann und nichts hervorzubringen vermag als den Tod?“ — Nimm an, daß des Menschen Natur nur fleischlich sei, und dann sieh zu, ob du daraus etwas Gutes ans Licht bringst! — „Aber das Wort ‘Fleisch’ bezieht sich doch nur auf den sinnlichen Bereich der Seele, nicht aber auf den höheren!“ — Das läßt sich aus den Worten Christi und des Apostels sattsam widerlegen! Der Herr will ja beweisen, daß der Mensch wiedergeboren werden muß — denn er „ist Fleisch“! (Joh. 3,6). Er gebietet keinerlei Wiedergeburt nach dem Leibe. Die Seele aber wird nicht dadurch wiedergeboren, daß in ihr irgendein Stück ge bessert, sondern nur dadurch, daß sie ganz erneuert wird! Das beweist auch die an beiden Stellen (Joh. 3 und auch Röm. 8) zugefügte Aufstellung eines Gegen satzes: der Geist wird dem Fleische dergestalt gegenübergestellt, daß nichts Drittes bleibt! Was also im Menschen nicht geistlich ist, das ist nach dieser Be weisführung eben fleischlich zu nennen! Vom Geiste empfangen wir aber nur durch die Wiedergeburt etwas. Also ist das, was wir von Natur haben, Fleisch.

Sollte hierüber sonst noch ein Zweifel bestehen, so behebt ihn uns Paulus: er beschreibt zunächst den alten Menschen und sagt von ihm, er sei verderbt durch die Lüste des Irrtums (Eph. 4,22), und dann gebietet er, uns zu erneuern im Geist unseres Gemüts (Eph. 4,23). Da sieht man: er findet die verbotenen, bösen Lüste keineswegs bloß im sinnlichen Teil der Seele, sondern gerade auch im „Gemüt“ (mens) selber, und darum verlangt er auch dessen Erneuerung! Und dann hat er gar kurz vorher ein derartiges Bild von der menschlichen Natur gezeichnet, das uns an keinem Stück unverdorben und unverkehrt erscheinen läßt. Denn da schreibt er von allen Heiden: „Sie wandeln in der Eitelkeit ihres Sinnes, ihr ver stand ist verfinstert, und wandeln ferne von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Blindheit ihres Herzens“ (Eph. 4,17.18). Hier meint er ja offenbar alle, die Gott nicht zu rechtschaffener Weisheit und Gerechtigkeit neugebildet hat. Das wird dann auch noch klarer aus dem gleich hinzugefügten Vergleich: „Ihr habt Christum nicht also gelernt“ (Eph. 4,20). Denn in diesen Worten erscheint die Gnade Christi als das einzige Heilmittel, das uns von jener Blindheit und allem Bösen, das daraus folgt, frei macht. So hatte schon Jesaja über das Reich Christi geweissagt, wenn er die Verheißung gab, der Herr werde seiner Kirche ein ewiges Licht sein — während doch „Finsternis die Erde bedeckte und Dunkel die Völker“ (Jes. 60,19). Da bezeugt er, daß Gottes Licht allein über der Kirche aufgehen werde, und läßt also außerhalb der Kirche nichts als Finsternis und Blindheit übrig! Ich will hier nicht einzeln aufführen, was durchweg, besonders in den Psalmen und Propheten, über des Menschen Eitelkeit ge sagt wird. Ganz inhaltsschwer ist Davids Wort, wenn er mit der Nichtigkeit auf die Waagschale gelegt würde, so wäre er doch noch nichtiger als sie (Ps. 62,10).

Fürwahr ein scharfer Schlag, mit dem er seinen Geist schwer trifft, wenn doch alle von ihm ausgehenden Gedanken als töricht, eitel, unsinnig und verkehrt ver spottet werden!

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II,3,2

Die Verurteilung unseres Herzens fällt auch nicht leichter aus, wenn es „ein rankevolles und verkehrtes Ding“ genannt wird (Jer. 17,9; nicht Luthertext, aber wörtlicher als er!). Aber ich möchte mich kurz fassen und will mich mit einer weiteren Stelle begnügen, die aber wie ein ganz klarer Spiegel ist, in dem wir das vollkommene Bild unserer Natur anschauen können. Um die Hoffart des Men schen niederzuschlagen, bringt nämlich der Apostel folgende Zeugnisse vor: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer, da ist nicht, der verständig sei, da ist nicht, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab, mit ihrer Zunge handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit; ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; in ihren Wegen ist eitel Elend und Verderbnis; es ist keine Furcht Gottes vor ihren Au gen“ (Röm. 3,10-13; Jes. 59,7). Mit diesen Donnerschlägen fährt er nicht auf bestimmte einzelne Menschen, sondern auf alle Adamskinder los! Er schilt auch nicht auf die verdorbenen Sitten des einen oder anderen Zeitalters, sondern er klagt die dauernde Verderbnis der Natur an! Denn er hat ja gar nicht die Absicht, einfach Menschen zu tadeln, damit sie sich bessern; er will doch vielmehr lehren, daß alle in unüberwindlichem Elend sind, aus dem sie nur herauskommen können, wenn Gottes Barmherzigkeit sie herausreißt. Das konnte er nur beweisen, wenn er den Zerfall und das Verderben unserer Natur schilderte, und deshalb brachte er jene Schriftzeugnisse vor, aus denen überzeugend hervorgeht, daß unsere Natur völlig verloren ist. Es bleibt also dabei, daß die Menschen nicht etwa bloß durch böse Gewohnheit so geworden sind, wie sie hier beschrieben werden, sondern auch durch die Verderbnis ihrer Natur. Sonst hätte die Beweisführung des Apostels keinen festen Grund; denn er will ja zeigen, daß der Mensch nur von Gottes Barm herzigkeit Heil erwarten kann, weil er ja in sich selber verloren und trostlos dahingegeben ist. Ich will mich hier nicht damit quälen, die sachgemäße Verwendung der von Paulus angeführten Schriftzeugnisse nachzuweisen, die vielleicht jemand unstatthaft finden könnte. Ich will so vorgehen, als ob diese Worte erstmalig von Paulus selbst gebraucht und nicht aus den Propheten entnommen wären. Zunächst spricht er dem Menschen die Gerechtigkeit, das heißt die Unschuld und Reinheit ab, dann den rechten Verstand. Dabei führt er den Mangel an Erkenntnis auf den Abfall von Gott zurück, denn es ist ja der erste Schritt der Weisheit, ihn zu suchen, und jener Verlust der Erkenntnis muß notwendig bei denen eintreten, die von Gott ab gefallen sind. Dann setzt er hinzu, sie seien alle abgewichen und morsch geworden: „da ist keiner, der Gutes tue …“ Darauf läßt er die Aufzählung der einzelnen Laster folgen, mit denen der Mensch, wenn er sich einmal der Bosheit hingegeben hat, seine einzelnen Glieder befleckt. Und zum Schluß bezeugt er, daß uns die Furcht Gottes abgeht, nach deren Maßstab sich eigentlich alle unsere Schritte richten müß ten. Sind das die erblich überkommenen Gaben des Menschengeschlechts, dann wird man in unserer Natur vergebens etwas Gutes suchen! Gewiß gebe ich zu, daß nicht alle diese Laster in jedem einzelnen Menschen zutage treten. Aber es kann doch kei ner leugnen, daß diese Hydra in aller Herzen heimlich wohnt! Es ist wie beim Leibe: hat er einmal den Keim und Anlaß einer Krankheit in sich und nährt sie, dann nennt man ihn nicht gesund, auch wenn er noch von keinen Schmerzen geplagt wird. Ebenso kann auch die Seele, in der solche Krankheit des Lasters reich lich sich auswirkt, nicht für gesund erklärt werden. Allerdings paßt dieses Gleich nis nicht in allen Punkten. Denn der Leib mag noch so krank sein, es bleibt doch immer noch Lebenskraft übrig; die Seele aber ist in einen derart verderblichen Strudel geraten, daß sie sich aus ihren Lastern nicht herausarbeiten kann und gar alles Guten gänzlich verlustig gegangen ist.

II,3,3

Hier begegnet uns nun fast die gleiche Frage, die wir oben bereits gelöst ha ben, von neuem. Denn es hat doch zu allen Zeiten Menschen gegeben, die unter Leitung ihrer natürlichen Anlagen ihr Leben lang nach der Tugend sich ausstreckten! Ich will mich auch nicht damit aufhalten, ob nicht auch in ihrem Verhalten man cherlei Fehler zu bemerken wären. Sie haben eben doch mit ihrem Elfer um die Rechtschaffenheit den Beweis geliefert, daß in ihrer Natur etwelche Reinheit vor handen war. Zwar müssen wir von der Frage, was derartige Tugenden vor Gott für einen Wert haben, noch ausführlicher sprechen, wenn wir von dem Verdienst der Werke zu reden haben. Aber es muß auch schon an dieser Stelle das gesagt wer den, was zur Behandlung unseres gegenwärtigen Fragstücks erforderlich ist. Die angedeuteten Beispiele scheinen uns doch zu mahnen, die menschliche Natur nicht für gänzlich verdorben zu halten, weil ja aus ihrem Antrieb heraus einige Menschen nicht nur gewaltige Taten getan, sondern auch in ihrer gesamten Lebensführung höchste Ehrbarkeit an den Tag gelegt haben. Aber an dieser Stelle kann uns die Einsicht helfen, daß die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend, sondern innerlich hemmend. Denn wenn der Herr aller Menschen Gemüt in seine Gelüste dahinrennen und ihm den Zügel schießen ließe, dann müßte tatsächlich jedermann zugeben, daß all das Böse, das Paulus an der ganzen Natur verurteilt, in vollem Maße auf jeden von uns zuträfe! (Ps. 14,3; Röm. 3,12). Wie nun? Willst du dich aus der Zahl derer ausschließen, deren Füße „schnell“ sind, „Blut zu vergießen“, deren Hände mit Raub und Mord befleckt sind, deren „Mund ist wie ein offenes Grab“, deren „Zungen voll Falschheit, deren Lippen voll Gift“ (Röm. 3,13), deren Werke unnütz, ungerecht, verderbt, todbringend sind, deren Geist ohne Gott, deren Innerstes eitel Bosheit ist, deren Augen zu heimlicher Nachstellung und deren Herzen zu offenem Wider stand bereit sind, kurz, deren ganzes Wesen zu unendlich vielfältigem Laster fähig ist? Ist nun jede einzelne Seele allen solchen schrecklichen Dingen unterworfen, wie der Apostel doch kühn ausspricht, so können wir recht sehen, wohin es führen müßte, wenn der Herr das menschliche Gelüste nach seiner eigenen Neigung sich entfalten ließe! Da wäre kein Raubtier, das sich rasender gebärdete, kein wilder Sturzbach, dessen Fluten furchtbarer die Ufer überschwemmten! Aber der Herr heilt bei seinen Auserwählten diese Gebrechen auf besondere Art, wie wir noch zeigen müssen. Und den anderen gegenüber braucht er den Zügel und hält sie wenigstens in Schran ken, damit sie nur nicht allzusehr überschäumen, so wie es nach seiner Vorsehung dazu dient, alle Dinge zu erhalten. So werden also die einen aus Scham, die an deren aus Furcht vor den Gesetzen daran gehindert, in wildem Losbrechen allerlei Schandtaten zu begehen, obwohl sie weithin ihre Unreinigkeit nicht verbergen können. Andere sind der Überzeugung, eine rechte Lebensführung sei etwas Nütz liches und Gutes, und deshalb eifern sie doch einigermaßen danach. Andere wiederum erheben sich über den gewöhnlichen Zustand, um durch ihr Ansehen andere Leute in ihrem Amt, ihrem Beruf zu erhalten. So legt Gott in feiner Vorsehung der Verderbtheit der Natur Zügel an, damit sie nicht zur (vollen) Wirkung hervor breche; aber inwendig macht er sie nicht rein.

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II,3,4

Aber das Bedenken ist damit noch nicht behoben. Denn wir müssen nun den Camillus (Vorbild in aller Mannestugend) entweder mit Catilina (Typus des Ver räters) auf eine Stufe stellen — oder aber wir haben gerade in Camillus einen Be weis dafür, daß die Natur, wenn sie einer mit Eifer ausbildet, doch nicht alles Guten bar ist! Ich gestehe demgegenüber: die herrlichen Eigenschaften, die Camillus besaß, waren Gottes Geschenk und sind, wenn man sie an sich betrachtet, mit vollem Recht des Lobes wert. Aber wieso sollen sie denn ein Beweis natürlicher Rechtschaffenheit des Camillus sein? Muß man zu solchem Beweise nicht auf das Herz zurückgehen? Man wird aber dann kaum anders schließen können, als es Augustin (Gegen Julian, Buch IV) getan hat: Wenn ein natürlicher Mensch sich durch solche Makellosigkeit der Sitten hervorgetan hat, so fehlt gewiß der Natur nicht eine gewisse Fähigkeit, nach der Tugend zu trachten. Wie aber, wenn das Herz böse und verschlagen war und sich ganz etwas anderes vorgenommen hatte als Rechtschaffenheit? Und so muß es unzweifelhaft gewesen sein, wenn man zugibt, Camillus sei ein natürlicher Mensch gewesen. Was will man mir also an diesem Stück die Fähig keit der menschlichen Natur zum Guten predigen, wo es sich doch erweist, daß sie auch beim Anschein höchster Makellosigkeit stets zum Bösen hingezogen wird? Wie man also einen Menschen, dessen Laster unter der Larve der Tugend Eindruck machen, nicht etwa seiner Tugend halber erheben soll, so soll man auch dem menschlichen Willen nicht das Vermögen zuschreiben, nach dem Guten zu verlangen, solange er noch in der Gewalt der Sünde liegt!

Am sichersten und leichtesten aber läßt sich jene Frage so lösen: es handelt sich bei jenen Vorzügen (etwa des Camillus) nicht um natürliche Gaben, sondern um beson dere Gnadengaben Gottes, die er in mannigfaltiger Weise und nach bestimmter Ord nung auch ungläubigen Menschen zuteil werden läßt. Aus diesem Grunde haben wir gar kein Bedenken, in gewöhnlicher Redeweise von dem einen zu sagen, er habe ein edles, vom anderen, er habe ein niederträchtiges Wesen! Denn wir entziehen damit beide nicht der Anteilnahme an dem allgemeinen Zustande menschlicher Verderb nis; sondern wir bezeichnen damit, was der Herr dem einen an besonderer Gnade hat zuteil werden lassen, deren er wiederum den anderen nicht gewürdigt hat. So hat Gott aus dem Saul, der König werden sollte, gewissermaßen einen neuen Men schen gemacht (1. Sam. 10,6). Deshalb sagt auch Platon, auf die Fabel Homers anspielend, von den Königssöhnen, sie würden mit hervorragenden Fähigkeiten geschaffen. Denn Gott rüstet aus besonderer Fürsorge für das Menschengeschlecht öfters die, welche er zur Herrschaft bestimmt, mit heldischem Wesen aus. Aus dieser Werkstatt kommen all die großen Helden, von denen die Geschichte zu berichten weiß. Ebenso muß man auch über gewöhnliche Menschen (Privatpersonen) urteilen. So hervorragend aber einer auch ist, stets treibt ihn sein Ehrgeiz, und dieser Ma kel verunreinigt alle Tugenden, so daß sie vor Gott allen Wert verlieren! So ist das, was an ungläubigen Menschen Lobenswertes sichtbar wird, tatsächlich für nichts zu achten. Auch fehlt doch das wichtigste Stück aller Rechtschaffenheit, wo nicht der Eifer vorhanden ist, Gottes Ehre zu verherrlichen — und der mangelt allen, die Gott nicht durch seinen Geist wiedergeboren hat! Nicht ohne Grund heißt es bei Jesaja, auf dem Christus ruhe der „Geist der Furcht Gottes“ (Jes. 11,2). Denen, die von Christus ferne sind, gebt also die Gottesfurcht ab, die doch „der Weisheit Anfang“ ist! (Ps. 111,10). Gewiß werden solche Tugenden, die uns mit ihrem eitlen Schimmer täuschen, im öffentlichen Empfinden und im allgemeinen Ur teil der Menschen Lob ernten, aber vor dem himmlischen Richterstuhl werden sie keinen Wert haben, vermöge dessen der Mensch sich etwa die Gerechtigkeit verdienen könnte.

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So wird der Wille unter der Knechtschaft der Sünde gefangengehalten, und deshalb kann er sich nicht zum Guten hin bewegen, geschweige denn es erfassen. Denn eine solche Bewegung ist der Anfang der Bekehrung zu Gott, die in der Schrift ganz der Gnade Gottes zugeschrieben wird. So betet Jeremia zu dem Herrn, er möchte ihn bekehren, wenn er ihn bekehren wolle (Jer. 31,13). Daher sagt der Prophet auch in dem gleichen Kapitel bei der Beschreibung der geistlichen Erlösung des gläubigen Volkes, es werde „errettet aus der Hand eines Mächtigen“ (Jer. 31,11). Damit zeigt er, in was für harten Fesseln der Sünder gebunden liegt, solange er von dem Herrn getrennt ist und unter dem Joch des Teufels lebt. Trotzdem bleibt der Wille bestehen, der sich mit tiefster Neigung der Sünde zuwendet und geradezu auf sie zustürzt. Denn der Mensch ist, als er sich in diese Zwangsherrschaft hineinbegab, nicht etwa des Willens verlustig gegangen, sondern der Reinheit des Willens! Es ist nicht unangebracht, wenn Bernhard lehrt, das Wollen sei in uns allen da, und dann sagt: aber nur das Wollen des Guten sei ein Fortschreiten, das Wollen des Bösen jedoch ein Gebrechen. So stehe es beim Menschen, einfach zu wollen, bei der verderbten Natur, das Böse zu wollen, und bei der Gnade recht zu wollen! (Von der Gnade und dem freien Willen, 6,16).

Meine Behauptung nun, der Wille sei jetzt seiner Freiheit beraubt und werde daher notwendig zum Bösen hingezogen oder hingedrängt, finden einige Leute sonderbarerweise hart — obwohl sie nichts Unerweisliches enthält und auch von den alten Kirchenvätern durchaus gebraucht wird. Sie ist aber auch nur denen wider wärtig, die nicht zwischen Notwendigkeit und Zwang unterscheiden können. Aber wenn sie nun einer fragt: „Ist denn Gott notwendig gut“ oder: „Ist der Teufel notwendig böse?“ — was wollen sie dann antworten? Denn Gottes Güte ist mit seiner Gottheit derart verbunden, daß sein Dasein als Gott ebensosehr notwen dig ist wie sein Gut-Sein! Der Teufel aber ist durch seinen Fall derart von jeder Anteilnahme am Guten geschieden, daß er nur noch Böses tun kann. Nun könnte aber ein Spötter sagen, Gott komme um seiner Güte willen nicht viel Lob zu, da er diese ja aufrechtzuerhalten gezwungen sei. Dem wäre zu antworten: Daß Gott nichts Böses tun kann, das kommt von seiner unermeßlichen Güte, nicht aber von irgendwelchem Zwang! Daß also Gott notwendig gut handelt, schränkt sei nen freien Willen über solchem guten Handeln nicht ein. Und auch der Teufel, der nur böse handeln kann, sündigt doch mit Willen! Wie sollte dann aber ein Mensch sagen, er sei ja der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen und sün dige deshalb nicht mit Willen?! Von dieser Notwendigkeit hat Augustin oft gesprochen; und auch als ihn der bittere Hohn des Caelestius traf, hatte er keine Bedenken, seine Lehre aufrechtzuerhalten. So sagt er: „Durch die Freiheit ist der Mensch zum Sünder geworden, aber die zur Strafe darauf folgende Sündhaftigkeit hat aus der Freiheit Notwendigkeit gemacht“ (Von der Vollendung der Gerechtig keit … 4,9). Sooft er auf diesen Zusammenhang zu sprechen kommt, redet er ohne Scheu wieder von der notwendigen Knechtschaft der Sünde. (So in der Schrift „Von Natur und Gnade“ und auch sonst.)

Der wesentliche Punkt bei jener Unterscheidung (zwischen Notwendigkeit und Zwang) liegt in folgendem: Der Mensch ist seit dem Fall verdorben, aber er sündigt mit Willen, nicht etwa gezwungen gegen seinen Willen, oder aus tiefster Neigung des Herzens und nicht aus gewaltsamem Zwang, aus dem Trieb eigener Lust und nicht auf äußeren Druck hin; aber wegen der Verdorbenheit der Natur kann er sich doch nur zum Bösen bewegen und nach ihm richten. Stimmt dieser Satz, so ist damit klar ausgedrückt, daß der Mensch der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen ist.

Den eben genannten Gedanken Augustins stimmt auch Bernhard zu, wenn er schreibt: „Unter allen Lebewesen ist allein der Mensch frei, und doch hat das Da zwischentreten der Sünde zur Folge, daß er einige Gewalt leidet. Dies aber ge schieht aus seinem Willen, nicht aus der Natur, so daß er auch dadurch der ihm angeborenen Freiheit nicht verlustig geht. Denn was mit Willen geschieht, ist frei.“ Und gleich weiter: „So schafft sich der durch die Sünde verderbte Wille auf schlimme und wundersame Weise eine Notwendigkeit. Das geschieht aber so, daß die Notwendigkeit, die ja willentlich ist, nicht etwa dazu dienen kann, den (bösen) Willen zu entschuldigen, und daß anderseits das Vorhandensein des Willens, der ja doch betört ist, die Notwendigkeit nicht ausschließt. Denn diese Notwendigkeit ist sozusa gen willentlich.“ Danach spricht er von einem Joch, das uns drücke; dies sei eben das Joch unserer willentlichen Knechtschaft, und deswegen seien wir im Blick auf diese Knechtschaft zu bedauern, im Blick auf den noch immer vorhandenen Willen aber unentschuldbar, habe sich doch der Wille, als er noch frei war, zum Knecht der Sünde gemacht! Und zum Schluß kommt er zu dem Ergebnis: „So lebt die Seele auf merkwürdige und verkehrte Weise unter solcher willentlichen und in kläglicher Frei heit eingegangenen Notwendigkeit als Magd und doch als Freie, als Magd um der Notwendigkeit willen und als Freie um des Willens willen. Und, was noch wunder samer ist: sie ist schuldig, weil sie frei ist, und sie ist Magd, weil sie schuldig ist — und so ist sie eben deshalb Magd, weil sie frei ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 81). Hieraus wird nun der Leser gewiß erkennen, daß ich mit meiner Be hauptung nichts Neues aufbringe, weil ja Augustin einst in Übereinstimmung mit allen Frommen das gleiche gesagt hat und seine Auffassung auch in Mönchsklöstern tausend Jahre hindurch nicht verlorengegangen ist. Petrus Lombardus hat jedoch die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Zwang nicht machen können und dadurch einem gefährlichen Irrtum Stoff und Anlaß gegeben.

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