Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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IV,1,7

Welches Urteil wir nun über die sichtbare Kirche, die unserer Erkenntnis zugänglich ist, haben sollen, das ist, wie ich meine, aus den obigen Ausführungen bereits deutlich. Wir sagten nämlich, daß die Heilige Schrift über die Kirche in zwiefacher Weise spricht. (1) Wenn sie von der Kirche redet, so versteht sie darunter zuweilen jene Kirche, die in Wahrheit vor Gott Kirche ist, jene Kirche, in welche nur die aufgenommen werden, die durch die Gnade der Aufnahme in die Kindschaft Gottes Kinder und die durch die Heiligung des Geistes wahre Glieder Christi sind. Und zwar umfaßt die Kirche dann nicht allein die Heiligen, die auf Erden wohnen, sondern alle Auserwählten, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind. (2) Oft aber bezeichnet die Schrift mit dem Ausdruck „Kirche“ die gesamte, in der Welt verstreute Schar der Menschen, die da bekennt, daß sie den einen Gott und Christus verehrt, die durch die Taufe in den Glauben an ihn eingewiesen wird, durch die Teilnahme am Abendmahl ihre Einheit in der wahren Lehre und der Liebe bezeugt, einhellig ist im Worte des Herrn und zu dessen Predigt das von Christus eingesetzte Amt aufrechterhält. Unter diese Schar sind nun aber sehr viele Heuchler gemischt, die von Christus nichts haben als den Namen und den Anschein, dazu auch sehr viele Ehrsüchtige, Geizige, Neidische, sehr viele Lästerer, auch Leute von unsauberem Lebenswandel, die eine Zeitlang ertragen werden, entweder weil man sie nicht mit rechtmäßigem Urteil überführen kann, oder weil auch nicht immer jene Strenge der Zucht herrscht, die eigentlich sein sollte. Ebenso also, wie es für uns vonnöten ist, jene unsichtbare, allein für Gottes Augen wahrnehmbare Kirche zu glauben, wird es uns auch aufgetragen, diese Kirche, die im Blick auf die Anschauung der Menschen Kirche heißt, hochzuhalten und die Gemeinschaft mit ihr zu pflegen.



IV,1,8

Deshalb hat uns der Herr diese Kirche, sofern es für uns nötig war, sie zu erkennen, durch bestimmte Kennzeichen und gleichsam durch Merkzeichen (symbola) wahrnehmbar gemacht. Es ist zwar ein besonderes Vorrecht, das sich Gott selber vorbehalten hat, zu erkennen, wer die Seinigen sind; das haben wir schon oben aus Paulus angeführt (2. Tim. 2,19). Es ist auch unzweifelhaft Vorsorge dagegen getroffen, daß sich der Vorwitz der Menschen so weit treiben läßt, und zwar dadurch, daß Gott uns tagtäglich durch die Geschehnisse selber darauf aufmerksam macht, wie weit seine verborgenen Gerichte über unser Begreifen hinausgehen. Denn einerseits werden Menschen, die völlig verloren erschienen und deretwegen man sich keinerlei Hoffnung mehr machen konnte, durch seine Güte wieder auf den rechten Weg zurückgerufen, und andererseits kommen oft Leute zu Fall, die mehr als andere festzustehen schienen! Deshalb sind, wie Augustin sagt, nach Gottes verborgener Vorbestimmung „gar viele Schafe draußen und gar viele Wölfe drinnen“ (Predigten zum Johannesevangelium 45). Denn die Menschen, die weder ihn noch sich selber kennen, die kennt er und hat er mit seinem Zeichen versehen. Und aus der Zahl derer, die öffentlich sein Zeichen tragen, schauen allein seine Augen die, die ohne Heuchelei heilig sind und die – was schließlich das Hauptstück unseres Heils ist! – bis zum Ende beharren werden. Aber weil er auf der anderen Seite vorhergesehen hat, daß es uns einigermaßen nützlich ist zu wissen, welche Menschen wir denn für seine Kinder halten sollen, darum hat er sich in diesem Stück unserem Fassungsvermögen angepaßt. Und da die Gewißheit des Glaubens hierzu nicht erforderlich war, so hat er an deren Stelle gewissermaßen das Urteil der Liebe gesetzt; danach sollen wir die Menschen als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen. Da er nun aber wußte, daß die Erkenntnis des Leibes (der Kirche) selbst für unser Heil von größerer Notwendigkeit ist, so hat er uns diese auch durch um so gewissere Kennzeichen ans Herz gelegt.



IV,1,9

Hieraus entsteht nun die anschaubare Gestalt der Kirche, und sie taucht empor, so daß sie für unsere Augen sichtbar ist. Denn überall, wo wir wahrnehmen, daß Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, läßt sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, daß wir eine Kirche Gottes vor uns haben. Denn die Verheißung des Herrn kann nicht trügen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). Um aber den wesentlichen Inhalt dieses Tatbestandes klar zu erfassen, müssen wir gleichsam stufenweise vorgehen, und zwar in folgender Art. Die allgemeine Kirche (Ecclesia universalis) ist die Schar, die aus allen Völkern versammelt ist; sie ist durch räumliche Abstände getrennt und zerstreut, aber sie ist doch einhellig in der einen Wahrheit der göttlichen Lehre und sie ist durch das Band der gleichen Religionsübung verbunden. Unter ihr sind dann die einzelnen Kirchen (singulae Ecclesiae) zusammengefaßt, die über Städte und Dörfer nach den Erfordernissen menschlicher Notdurft verteilt sind, und zwar so, daß jede einzelne mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche innehat. Und endlich: die einzelnen Menschen, die auf Grund des Bekenntnisses der Frömmigkeit zu solchen Kirchen gerechnet werden, gehören auch dann, wenn sie in Wirklichkeit außerhalb der Kirche stehen, trotzdem in einem gewissen Sinne zu ihr, bis sie durch öffentliches Urteil ausgeschlossen sind. Allerdings ist es ein wenig verschieden bestellt, ob man Einzelmenschen oder Kirchen zu beurteilen hat. Denn es kann sich zutragen, daß wir Menschen, die wir der Gemeinschaft mit den Frommen nicht durchaus für würdig erachten, doch wie Brüder behandeln und als Gläubige ansehen müssen, und zwar um der gemeinsamen Eintracht der Kirche willen, kraft deren sie im Leibe Christi ertragen und geduldet werden. Solchen Menschen erkennen wir nach unserem eigenen Urteil nicht zu, daß sie Glieder der Kirche sind; aber wir lassen ihnen den Platz, den sie im Volke Gottes einnehmen, bis er ihnen in rechtmäßiger Entscheidung abgenommen wird. Dagegen haben wir über die Schar (der Gemeinde) selber anders zu urteilen: wenn sie den Dienst am Wort hat und in Ehren hält, dazu auch die Verwaltung der Sakramente, so verdient sie ohne Zweifel, als Kirche angesehen und betrachtet zu werden, weil jene Güter, die sie besitzt (Dienst am Wort und Verwaltung der Sakramente), ganz sicher nicht ohne Frucht sind. So erhalten wir der allgemeinen Kirche ihre Einheit, die teuflische Geister allezeit aufzuspalten bemüht gewesen sind, und wir berauben auch die rechtmäßigen Versammlungen, die je nach örtlichen Möglichkeiten verstreut sind, nicht ihrer Autorität.



IV,1,10

Als Merkzeichen (symbola), an denen man die Kirche erkennt, bezeichneten wir die Predigt des Wortes und die Übung der Sakramente. Denn diese beiden können nicht bestehen, ohne Frucht zu bringen und durch Gottes Segen gedeihlich zu sein. Ich behaupte nicht etwa, daß überall, wo das Wort gepredigt wird, sogleich Frucht erwächst, nein, ich meine: es wird nirgendwo aufgenommen und hat nirgendwo seinen festen Sitz, ohne daß es auch seine Wirksamkeit an den Tag bringt. Wie dem auch sei – wo die Predigt des Evangeliums mit Ehrfurcht vernommen wird und die Sakramente nicht vernachlässigt werden, da wird für diese Zeit untrüglich und unzweifelhaft die Erscheinung der Kirche sichtbar, deren Autorität zu verachten, deren Ermahnungen geringzuschätzen, deren Ratschlägen sich zu widersetzen oder deren Züchtigung zu verspotten niemandem ungestraft verstattet ist, noch viel weniger aber, von ihr abzufallen oder ihre Einheit zu sprengen. Denn der Herr mißt der Gemeinschaft seiner Kirche solchen Wert bei, daß er jeden für einen Überläufer und für einen Verräter der Religion hält, der sich von irgendeiner christlichen Gemeinschaft, sofern sie nur den wahren Dienst am Worte und an den Sakramenten hochhält, halsstarrig entfremdet hat. Die Autorität seiner Kirche legt er uns dermaßen ans Herz, daß er seine eigene Autorität für verkleinert erachtet, wenn jene verletzt wird! Denn es ist nicht von geringer Bedeutung, daß die Kirche als „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ und als das „Haus Gottes“ bezeichnet wird (1. Tim. 3,15). Mit diesen Worten will doch Paulus zeigen: damit Gottes Wahrheit in der Welt nicht untergeht, wirkt die Kirche als ihre treue Wächterin; denn durch ihren Dienst und ihre Arbeit hat Gott die reine Predigt seines Wortes erhalten und sich uns selbst als Hausvater erzeigen wollen, indem er uns mit geistlicher Speise nährt und uns alles darreicht, was zu unserem Heil dient. Es ist auch kein gewöhnlicher Lobspruch, daß es von der Kirche heißt, sie sei von Christus auserwählt und ausgesondert zu einer Braut, „die nicht habe einen Flecken oder Runzel“ (Eph. 5,27), und daß sie sein „Leib“ und seine „Fülle“ genannt wird (Eph. 1,23)! Daraus ergibt sich, daß die Absonderung von der Kirche die Verleugnung Gottes und Christi darstellt. Um so mehr müssen wir uns vor solch frevelhafter Scheidung hüten; denn wenn wir, soviel an uns ist, den Untergang der Wahrheit Gottes herbeizuführen trachten, dann sind wir wert, daß er die ganze Wucht seines Zorns als Wetterstrahl auf uns niederfahren läßt, um uns zu zerschmettern. Auch läßt sich keine grausigere Übeltat erdenken, als wenn einer in frevlerischer Treulosigkeit den Ehebund verletzt, den der eingeborene Sohn Gottes sich herbeigelassen hat mit uns zu schließen!
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,1,11

Deshalb sollen wir uns jene Kennzeichen fleißig ins Herz prägen, sie festhalten und nach dem Ermessen des Herrn wertschätzen. Denn um nichts gibt sich der Satan mehr Mühe als darum, daß er eines von diesen beiden Kennzeichen oder auch beide aufhebe und abschaffe, und zwar bald, um nach Abschaffung und Zerstörung jener Kennzeichen die wahre und reine Bestimmung der Kirche zunichte zu machen, bald auch, um uns deren Verachtung ins Herz zu geben und uns dadurch in offenkundigem Abfall von der Kirche loszureißen. Seine Machenschaften haben es fertiggebracht, daß die reine Predigt des Evangeliums manche Jahrhunderte lang verschwunden gewesen ist. Und jetzt setzt er mit der gleichen Verruchtheit alles daran, um das Amt ins Wanken zu bringen, das doch Christus in seiner Kirche so verordnet hat, daß mit seiner Aufhebung auch die Erbauung der Kirche zugrunde geht. Was für eine gefährliche, ja, was für eine verderbenbringende Versuchung ist es nun, wenn es uns auch nur in den Sinn kommt, uns von einer Versammlung abzusondern, an der die Kennzeichen und Merkmale sichtbar werden, mit denen nach des Herrn Urteil seine Kirche genugsam beschrieben ist: Wir sehen, wieviel Achtsamkeit wir nach beiden Seiten anwenden müssen. Damit uns nämlich unter dem Titel der Kirche kein Betrug zugefügt wird, so müssen wir nach jenem Prüfmaß wie nach dem Lydischen Stein jede Versammlung messen, die den Namen „Kirche“ für sich in Anspruch nimmt. Hat sie in Wort und Sakrament die Ordnung, die uns der Herr ans Herz gelegt hat, so wird sie uns nicht trügen, und wir sollen ihr unbekümmert die Ehre erweisen, die den Kirchen zukommt. Wenn sie sich aber andererseits ohne Wort und Sakramente darbietet, so sollen wir uns vor dergleichen Verführungen mit eben solcher Scheu in acht nehmen, wie wir uns auf der anderen Seite vor Vermessenheit und Hoffart zu hüten haben.


IV,1,12

Der reine Dienst am Wort und die reine Übung bei der Feier der Sakramente, so sagen wir, ist ein geeignetes Pfand und Unterpfand, so daß wir eine Gemeinschaft, in der beides zu finden ist, mit Sicherheit als Kirche ansprechen können. Dies hat nun so weit Geltung, daß solche Kirche, solange sie dabei bleibt, niemals zu verwerfen ist, selbst wenn sie sonst über und über mit vielen Gebrechen bedeckt ist. Ja, selbst in der Verwaltung der Lehre und der Sakramente könnten allerhand Fehler aufkommen, die uns doch von der Gemeinschaft mit ihr nicht entfremden dürften. Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige unter ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen unerschütterlich und unzweifelhaft fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit, und andere Aussagen gleicher Art. Dann gibt es andere Lehrstücke, über die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen. Denn welche Kirchen werden sich wohl um des einen Punktes willen miteinander entzweien, daß die eine ohne Streitsucht, und ohne hartnäckig auf ihrer Behauptung zu bestehen, der Meinung ist, die Seelen führen, wenn sie den Leib verließen, sogleich in den Himmel, die andere dagegen über den Ort nichts Genaues auszusagen wagt, aber doch klar daran festhält, daß diese Seelen dem Herrn leben? Bei dem Apostel vernehmen wir doch die Worte: „Wie viele nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnt sein. Und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott offenbaren“ (Phil. 3,15). Zeigt er damit nicht genugsam, daß die Lehrverschiedenheit über solche nicht so notwendige Dinge unter Christen kein Grund zur Entzweiung sein soll? An erster Stelle steht zwar, daß wir in allen Dingen gleicher Meinung sein sollen; aber es ist ja keiner, der nicht von irgendeinem Nebel der Unwissenheit umhüllt wäre, und deshalb müssen wir entweder gar keine Kirche bestehen lassen oder aber den Unverstand in solchen Dingen mit Nachsicht behandeln, die man ohne Verletzung des wesentlichen Bestandes der Religion und ohne Verlust der Seligkeit auch nicht wissen kann. Ich möchte mich hier aber nicht zum Schutzpatron der Irrtümer machen, auch nicht der allergeringsten, so daß ich etwa meinte, man sollte ihnen schmeicheln und durch die Finger sehen und sie dadurch nähren. Was ich behaupte, ist nur dies: wir sollen uns nicht leichtfertig um irgendwelcher kleinen Meinungsverschiedenheiten willen von der Kirche trennen, wenn in ihr bloß jene Lehre gesund und unverkürzt erhalten wird, auf der die Unverletztheit der Frömmigkeit beruht, und wenn in ihr die Übung der Sakramente, wie sie der Herr eingesetzt hat, gewahrt bleibt. Wenn wir uns unterdessen um die Ausmerzung dessen mühen, was wir nicht für richtig halten können, so tun wir das aus unserer Amtspflicht heraus. Darauf bezieht sich auch das Wort des Paulus: „Wenn einem, der da sitzt, etwas Besseres offenbart wird, so soll der erste schweigen“ (1. Kor. 14,30; nicht Luthertext). Daraus ergibt sich, daß jedem einzelnen Glied der Kirche die Bemühung um die allgemeine Erbauung aufgetragen ist, und zwar nach dem Maß der ihm gewährten Gnade. Nur soll das in geziemender Weise und nach der Ordnung geschehen; das heißt: wir sollen die Gemeinschaft der Kirche nicht verlassen oder, wenn wir in ihr bleiben, den Frieden und die ordnungsmäßig eingerichtete Zucht nicht stören.



IV,1,13

Noch viel weiter aber muß unsere Nachsicht im Ertragen der Unvollkommenheit des Lebens (unserer Brüder) gehen. Denn an diesem Punkt kann man sehr leicht ausgleiten und zu Fall kommen, auch lauert uns hier der Satan mit mehr als gewöhnlicher Hinterlist auf. Denn es hat stets Leute gegeben, die von dem falschen Wahn einer vollkommenen Heiligkeit ergriffen waren, sich einbildeten, als ob sie bereits gleichsam zu Geistern in der Luft geworden wären, und dann aus solcher Gesinnung heraus die Gemeinschaft mit allen Menschen verachteten, an denen nach ihrem Eindruck noch etwas Menschliches übriggeblieben war. Von dieser Art waren vorzeiten die „Katharer“ und die Donatisten, die sich ihrem Wahnwitz anschlossen. Von dieser Art sind heutzutage einige von den Wiedertäufern, die den Eindruck erwecken wollen, als seien sie mehr als andere fortgeschritten. Dann gibt es andere, die sich mehr aus unbedachtem Eifer um die Gerechtigkeit als aus jener unsinnigen Hoffart heraus versündigen. Denn wenn sie wahrnehmen, daß bei denen, denen das Evangelium verkündigt wird, die Frucht des Lebens seiner Lehre nicht entspricht, so kommen sie sogleich zu dem Urteil, da sei keine Kirche. Das ist nun freilich ein sehr berechtigter Anstoß, zu dem wir auch in unseren gar traurigen Zeiten mehr als genug Anlaß bieten. Auch geht es nicht an, unsere verfluchte Faulheit zu entschuldigen, die der Herr nicht ungestraft lassen wird – er fängt ja bereits an, sie mit harten Geißeln zu züchtigen! Also wehe uns, die wir durch solch ungebundene Zügellosigkeit unserer Laster daran schuld sind, daß schwache Gewissen unsertwegen verwundet werden!
Aber andererseits versündigen sich jene Leute, von denen wir sprachen, darin, daß sie ihrem Ärgernis kein Maß zu setzen wissen. Denn wo der Herr Milde fordert, da lassen sie sie beiseite und liefern sich ganz und gar einer maßlosen Strenge aus. Sie meinen nämlich, wo keine vollkommene Reinheit und Lauterkeit des Lebens sei, da sei auch keine Kirche, und deshalb fondern sie sich aus Haß gegen die Laster und in der Meinung, sie schieden sich von einer Rotte der Gottlosen, tatsächlich von der rechtmäßigen Kirche ab! Sie verweisen darauf, daß doch die Kirche Christi heilig sei. Aber sie sollen zugleich auch einsehen, daß sie aus Guten und Bösen gemischt ist, und dazu sollen sie aus dem Munde Christi jenes Gleichnis vernehmen, in dem die Kirche mit einem Netz verglichen wird, mit dem man Fische aller Art miteinander fängt, die aber erst dann verlesen werden, wenn sie am Ufer ausgebreitet sind (Matth. 13,47f.). Sie sollen hören, daß die Kirche einem Ackerfeld gleicht, das zwar mit gutem Samen besät ist, aber doch durch die Hinterlist des Feindes mit Lolch verunreinigt wird, von dem es erst dann gereinigt werden kann, wenn die Ernte auf die Tenne gefahren ist (Matth. 13,24-30). Und sie sollen endlich vernehmen, daß die Kirche eine Tenne ist, auf der der Weizen so gesammelt liegt, daß er unter der Spreu verborgen ist, bis er, mit Schwinge und Sieb gesäubert, schließlich in die Scheune verbracht wird (Matth. 3,12). Wenn der Herr kundmacht, daß die Kirche bis zum Tag des Gerichtes mit jenem Übel zu kämpfen haben wird, durch die Vermengung mit den Gottlosen belastet zu sein, dann werden sie vergebens eine Kirche suchen, die mit keinem Makel behaftet wäre!



IV,1,14

Trotzdem rufen sie aber aus, es sei doch etwas Unerträgliches, daß die Pest der Laster so allenthalben um sich greift. Ja, aber da muß ich ihnen doch die Meinung des Apostels entgegenhalten, und was wollen sie dazu sagen? Unter den Korinthern waren nicht etwa bloß einige wenige in Irrtum verfallen, sondern die Verderbnis hatte nahezu den ganzen Leib erfaßt. Auch herrschte da nicht bloß eine einzige Art von Sünde, sondern sehr viele. Auch waren ihre Vergehen nicht etwa leicht, sondern es gab abscheuliche Laster bei ihnen! Die Verderbnis hatte auch nicht etwa bloß ihren Lebenswandel erfaßt, sondern auch die Lehre. Was tat nun da der Apostel – das heißt: was tat das Werkzeug des himmlischen Geistes, mit dessen Zeugnis die Kirche steht und fällt? Sucht er sich von ihnen abzusondern? Stößt er sie aus dem Reiche Christi aus? Schleudert er den furchtbarsten Wetterstrahl der Verfluchung gegen sie? Nein, er tut nicht nur nichts von alledem, sondern er erkennt an und Predigt, daß sie eine Kirche Christi und eine Gemeinschaft der Heiligen sind! (1. Kor. 1,2). Wenn aber unter den Korinthern Kirche bleibt, unter denen Zwietracht, Sektenbildung und Eifersucht wüten (1. Kor. 1,11; 3,3), unter denen Zank und Hader samt der Habsucht im Schwange gehen, bei denen eine Schandtat öffentlich gebilligt wird, die selbst bei den Heiden als abscheulich gelten würde (1. Kor. 5,1), bei denen der Name des Paulus, den sie doch wie einen Vater hätten verehren sollen, unverschämt heruntergerissen wird (1. Kor. 9,1ff.), unter denen gar einige die Auferstehung der Toten verspotten, mit deren Zusammenbruch das ganze Evangelium ineinanderfällt (1. Kor. 15,12), bei denen Gottes Gnadengaben der Ehrsucht und nicht der Liebe dienstbar gemacht werden, bei denen gar vieles unziemlich und ungeordnet vor sich geht – ich sage, wenn da Kirche bleibt, und zwar darum, weil bei ihnen der Dienst am Wort und an den Sakramenten nicht verworfen wird, wer wird es dann wagen dürfen, den Namen „Kirche“ solchen abzusprechen, denen man nicht einmal den zehnten Teil solcher Missetaten vorwerfen kann? Ich möchte nur wissen, was diese Leute, die gegen die heutigen Kirchen mit solchem Eigensinn wüten, wohl mit den Galatern gemacht hätten, die beinahe das Evangelium im Stich gelassen hätten und bei denen der gleiche Apostel doch immer noch Kirchen fand (Gal. 1,2)!
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,1,15

Sie machen auch den Einwurf, daß Paulus die Korinther scharf tadelt, weil sie einen Menschen von schändlichem Lebenswandel in ihrer Gemeinschaft duldeten (1. Kor. 5,2). Auch verweisen sie darauf, daß er einen allgemeinen Satz aufstellt, in dem er es für unstatthaft erklärt, mit einem Menschen von anstößiger Lebensführung auch nur zusammen Brot zu essen (1. Kor. 5,11). Da rufen sie nun aus: Wenn man mit solchem Menschen nicht einmal gewöhnliches Brot essen darf, wie soll es denn erlaubt sein, das Brot des Herrn mit ihm zu genießen? Ich gebe gewiß zu, daß es eine große Schande ist, wenn unter den Kindern Gottes auch Schweine und Hunde ihren Platz haben, und noch viel mehr, wenn man ihnen den hochheiligen Leib Christi entweihend hingibt. Aber wenn die Kirchen recht geartet sind, dann werden sie solche Übeltäter nicht in ihrem Schoße dulden und auch zu dem heiligen Mahle nicht unterschiedslos Würdige und Unwürdige zugleich zulassen. Aber die Hirten stehen nicht allezeit so fleißig auf der Wacht, sie sind auch zuweilen nachsichtiger, als sie es sein sollten, sie werden auch manchmal behindert, so daß sie jene Strenge, die sie üben möchten, nicht durchzusetzen vermögen, und so kommt es, daß auch die offenkundig Bösen nicht immer aus der Gemeinschaft der Heiligen entfernt werden. Daß dies ein Mangel ist, gebe ich zu, und ich will ihn auch nicht abschwächen, da ihn ja Paulus bei den Korinthern so scharf tadelt. Aber selbst wenn die Kirche hierin ihre Amtspflicht unterläßt, so hat doch deshalb nicht sogleich jeder einzelne Mensch für sich allein das Recht zu dem Urteil, er dürfe sich nun absondern. Ich leugne zwar nicht, daß ein frommer Mensch die Pflicht hat, sich jedem privaten Umgang mit solch schandbaren Leuten zu entziehen und sich in keine freiwillige Verbindung mit ihnen einzulassen. Aber es ist zweierlei, ob man den Umgang mit den Bösen flieht – oder ob man aus Haß gegen sie die Gemeinschaft mit der Kirche verschmäht! Wenn sie aber meinen, es sei ein Frevel, mit den Bösen am Brote des Herrn teilzunehmen, so sind sie darin viel schärfer als Paulus selbst. Er ermahnte uns zu heiligem und reinem Teilhaben an diesem Mahle, aber dabei fordert er doch nicht, daß der eine den anderen prüft oder jeder einzelne die ganze Kirche, sondern daß jeder einzelne sich selber prüfe! (1. Kor. 11,28). Wenn es ein Frevel wäre, mit einem Unwürdigen zusammen zum Tisch des Herrn zu gehen, so würde uns Paulus sicher die Weisung geben, wir sollten umherschauen, ob nicht einer unter der Menge sei, an dessen Unreinigkeit wir uns beflecken könnten. Aber tatsächlich verlangt er von jedem einzelnen ausschließlich die Prüfung seiner selbst, und damit zeigt er, daß es uns keineswegs schadet, wenn sich einige Unwürdige bei uns eindrängen. Auch was er nachher zufügt, geht in der gleichen Richtung: „Welcher unwürdig isset …, der isset und trinket sich selber zum Gericht“ (1. Kor. 11,29). Er sagt: „sich selber“, nicht aber: „anderen“! Und das mit Recht; denn es darf nicht im Ermessen des einzelnen liegen, wer (zum Abendmahle) zugelassen und wer zurückgewiesen werden soll. Das Urteil hierüber liegt vielmehr bei der ganzen Kirche, und es kann nicht ohne rechtmäßige Ordnung gefällt werden, wie ich nachher noch weitläufiger ausführen werde. Es würde also unbillig sein, wenn irgendein Einzelmensch durch die Unwürdigkeit eines anderen befleckt würde, dem er doch den Zugang nicht verwehren kann noch darf.



IV,1,16

Obwohl aber diese Anfechtung aus einem unbedachten Eifer um die Gerechtigkeit heraus zuweilen auch bei frommen Leuten aufkommt, so werden wir doch finden, daß solcher gar zu große Eigensinn mehr aus Hochmut, Aufgeblasenheit und falschem Heiligkeitswahn entsteht, als aus wahrer Heiligkeit und echtem Streben nach ihr. Die Menschen also, die anderen zur Herbeiführung eines Abfalls von der Kirche an Verwegenheit vorangehen und gleichsam die Rädelsführer dabei sind, die haben zu ihrem Treiben zumeist nur einen einzigen Grund: sie wollen durch die Verachtung aller prahlend zeigen, daß sie besser sind als die anderen. Es ist deshalb sehr richtig und weise, wenn Augustin sagt: „Die fromme Ordnung und die Art der kirchlichen Zucht soll doch vor allem auf ‚die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’ schauen, das uns der Apostel durch gegenseitiges Ertragen zu ‚halten’ gebietet; wo sie nicht gehalten wird, da ist die ‚heilende’ Strafe nicht allein überflüssig, sondern auch verderblich, und dadurch wird sie überführt, daß sie gar keine Arznei mehr ist. Demgegenüber gibt es böse Kinder, die sich nicht etwa vom Haß gegen die Ungerechtigkeit der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen Streitereien leiten lassen und nun alles daransetzen, um schwache Leute, die sie mit dem eitlen Ruhm ihres Namens betört haben, entweder ganz zu sich herüberzuziehen oder sie doch jedenfalls abzuspalten. Dabei sind sie geschwollen von Hoffart, rasend vor Halsstarrigkeit, heimtückisch in ihren Lästerungen, ruhelos in ihrem Aufruhr. Damit man ihnen nun aber nicht nachweisen kann, daß ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, so verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen Strenge. Und was nach der Weisung der Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter Wahrung der Lauterkeit der Liebe und unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen soll, um die brüderlichen Gebrechen zu bessern, das reißen sie an sich, um den Frevel der Kirchenspaltung zu begehen und um eine Gelegenheit zum Abschneiden zu haben!“ (Gegen den Brief des Parmenian III,1,1). Frommen und friedsamen Menschen aber gibt Augustin den Rat: was sie zu strafen vermöchten, das sollten sie in Barmherzigkeit strafen, was sie aber nicht strafen könnten, das sollten sie geduldig ertragen und in Liebe darüber seufzen und klagen, bis der Herr es entweder bessert und zurechtbringt oder aber in der Ernte den Lolch ausreißt und die Spreu in alle Winde verstreut (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15). Mit solchen Waffen sollen sich alle Frommen zu rüsten trachten, damit sie sich nicht, während sie betriebsame und eifrige Verteidiger der Gerechtigkeit zu sein vermeinen, tatsächlich vom Himmelreich, das doch das einzige Reich der Gerechtigkeit ist, absondern! Denn Gott hat gewollt, daß in dieser äußerlichen Zusammengehörigkeit die Gemeinschaft seiner Kirche aufrechterhalten wird; wer also aus Haß gegen die Gottlosen das Kennzeichen dieser Zusammengehörigkeit zerbricht, der betritt einen Weg, auf dem er sehr leicht aus der Gemeinschaft der Heiligen herausfallen kann. Solche Leute sollen doch bedenken, daß sich in der großen Menge gar manche befinden, die wahrhaft heilig und vor den Augen des Herrn unschuldig sind und die doch ihrem Anblick entgehen. Sie sollen bedenken, daß auch unter denen, die krank erscheinen, viele sind, die sich in ihren Gebrechen keineswegs gefallen oder schmeicheln, sondern, von der ernstlichen Furcht des Herrn immer wieder ermuntert, nach größerer Reinheit streben. Sie sollen bedenken, daß man über einen Menschen nicht auf Grund einer einzigen Tat ein Urteil fällen darf, weil doch auch die Allerheiligsten zuweilen einen sehr schweren Fall tun. Sie sollen bedenken, daß der Dienst am Wort und das gemeinschaftliche Teilhaben an den heiligen Sakramenten mehr Kraft hat, um die Kirche zu sammeln, als daß durch die Schuld irgendwelcher Gottlosen jene ganze Kraft zunichte werden könnte. Und schließlich sollen sie sich darüber klar sein, daß bei der Beurteilung der Kirche Gottes Urteil von größerem Gewicht ist als das menschliche!



IV,1,17


Sie machen dann, wie gesagt, weiter den Einwurf, die Kirche werde doch nicht ohne Grund „heilig“ genannt. Da muß man nun erwägen, was das für eine Heiligkeit ist, in der sie sich auszeichnet. Das ist erforderlich, damit wir nicht, wenn wir keine Kirche zulassen wollen, die nicht in jeder Hinsicht vollkommen ist, am Ende keine einzige mehr übriglassen! Es ist gewiß wahr, was Paulus sagt: Christus hat sich selbst für die Kirche dahingegeben, „auf daß er sie heiligte, und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf daß er sie sich selbst darstellte als eine Braut, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel …“ (Eph. 5,25-27; nicht ganz Luthertext). Trotzdem ist das andere noch mehr wahr, daß der Herr Tag für Tag daran arbeitet, ihre Runzeln zu glätten und ihre Flecken abzuwaschen. Daraus ergibt sich, daß ihre Heiligkeit noch nicht vollkommen ist. Die Heiligkeit der Kirche ist also, wie auch an anderer Stelle noch ausführlicher dargetan werden soll, von solcher Art, daß die Kirche Tag für Tag weiterschreitet, aber noch nicht vollkommen ist, daß sie Tag für Tag Fortschritte macht, aber noch nicht zum Ziel der Heiligkeit gelangt ist. Wenn also die Propheten weissagen, Jerusalem werde „heilig sein und kein Fremder mehr durch sie wandeln“ (Joel 4,17), der Tempel werde heilig sein und die Unreinen sollten keinen Zutritt zu ihm haben (Jes. 35,8), so dürfen wir das nicht so verstehen, als ob an den Gliedern der Kirche kein Flecken mehr haftete, nein, weil sie mit ganzem Eifer nach Heiligkeit und vollkommener Reinheit streben, darum wird ihnen aus Gottes Freundlichkeit jene Reinheit beigelegt, die sie noch nicht voll erreicht haben. Und obwohl unter den Menschen oft bloß seltene Zeichen solcher Heiligkeit an den Tag treten, so müssen wir doch daran festhalten, daß seit Erschaffung der Welt nie eine Zeit gewesen ist, zu der der Herr nicht seine Kirche gehabt hätte, und daß auch bis zum Ende dieser Welt keine Zeit sein wird, in der er sie nicht haben würde. Denn obwohl gleich von Anfang an das ganze Menschengeschlecht durch die Sünde des Adam verdorben und geschändet worden ist, so heiligt sich der Herr dennoch aus dieser befleckten Masse allezeit einige „Gefäße zur Ehre“ (Röm. 9,21), damit es kein Zeitalter gibt, das seine Barmherzigkeit nicht zu erfahren bekäme. Das hat er auch mit sicheren Verheißungen bezeugt. So etwa: „Ich habe einen Bund gemacht mit meinem Auserwählten; ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinen Samen bestätigen ewiglich und deinen Stuhl bauen für und für“ (Ps. 89,4f.). Oder ebenso: „Der Herr hat Zion erwählt und hat Lust, daselbst zu wohnen. ‚Dies ist meine Ruhe ewiglich …’“ (Ps. 132,13f.). Oder endlich: „So spricht der Herr, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht …: Wenn solche Ordnungen vergehen vor mir, … so soll auch aufhören der Same Israels …“ (Jer. 31,35f.).



IV,1,18

Dafür haben uns Christus selber, die Apostel und fast alle Propheten ein Beispiel gegeben. Furchtbar sind jene Beschreibungen, in denen Jesaja, Jeremia, Joel, Habakuk und andere die Gebrechen der Kirche zu Jerusalem beklagen. Im Volke, in der Obrigkeit, unter den Priestern ist alles dermaßen verdorben, daß Jesaja kein Bedenken trägt, Jerusalem mit Sodom und Gomorrha gleichzusetzen (Jes. 1,10). Die Verehrung Gottes ist teils in Verachtung geraten, teils beschmutzt, und was die Lebensführung angeht, so findet man immer wieder Diebstahl, Räuberei, Treulosigkeit, Mord und dergleichen Untaten. Trotzdem haben sich die Propheten deswegen nicht etwa neue Kirchen errichtet, sie haben sich auch keine neuen Altäre gebaut, an denen sie gesonderte Opfer hätten abhalten mögen; nein, die Menschen mochten sein, wie sie wollten, so bedachten sie doch, daß der Herr bei ihnen sein Wort in Bewahrung gegeben und daß er die Zeremonien eingerichtet hatte, mit denen er dort verehrt wurde, und deshalb streckten sie mitten in der Versammlung der Gottlosen reine Hände zu ihm empor! Hätten sie gemeint, sie könnten sich daraus selber eine Befleckung zuziehen, so wären sie sicherlich lieber hundertmal gestorben, als daß sie sich dazu hätten bringen lassen. Was sie also davon abhielt, sich abzusondern, das war nichts anderes als das Trachten nach der Aufrechterhaltung der Einheit. Wenn nun also die heiligen Propheten eine innere Scheu davor hatten, sich um so vieler und so großer Übeltaten nicht bloß eines oder zweier Menschen, sondern nahezu des ganzen Volkes von der Kirche zu entfremden, so maßen wir uns zuviel an, wenn wir es gleich wagen, von der Gemeinschaft einer Kirche abzufallen, in der nicht die Lebensführung aller unserem Urteil oder auch dem christlichen Bekenntnis Genüge tut!
Simon W.

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IV,1,19

Wie stand es nun zu Christi und der Apostel Zeiten? Heillos war die Unfrömmigkeit der Pharisäer, und es herrschte weithin eine ungebundene Zügellosigkeit des Lebenswandels. Aber das alles vermochte doch Christus und die Apostel nicht daran zu hindern, mit dem Volke zusammen die gleichen heiligen Handlungen zu üben und mit den anderen zusammen in dem gleichen Tempel zu öffentlicher Ausübung des Gottesdienstes zusammenzukommen. Woher konnte das geschehen? Ausschließlich daher, daß sie wußten, daß die, welche mit reinem Gewissen an den gleichen heiligen Handlungen teilnahmen, durch die Gesellschaft der Bösen in keiner Weise befleckt wurden. Wenn sich aber einer durch die Propheten und Apostel nur wenig rühren läßt, so mag er sich wenigstens bei Christi Autorität beruhigen. Es ist deshalb gut, was Cyprian sagt: „Obwohl in der Kirche Unkraut und unsaubere Gefäße zu sehen sind, so besteht trotzdem kein Grund, weshalb wir uns selbst von der Kirche absondern sollten; wir müssen uns nur darum mühen, ein rechtes Weizenkorn sein zu können, wir müssen Arbeit daran wenden und uns nach Kräften anstrengen, daß wir ein goldenes oder silbernes Gefäß seien! Die tönernen Gefäße aber zu zerschlagen, das ist allein Sache des Herrn, dem auch ein ‚eiserner Stab’ gegeben ist (Ps. 2,9; Apk. 2,27). Auch soll keiner auf das Anspruch erheben, was dem Sohne allein eigen ist, keiner soll meinen, er wäre imstande, die Tenne auszuschwingen und die Spreu wegzufegen und all das Unkraut nach menschlichem Urteil auszujäten. Das ist eine hoffärtige Verbohrtheit und eine frevlerische Vermessenheit, die sich solch böses Wüten selber herausnimmt …“ (Brief 54). Es soll also dies beides unerschütterlich stehenbleiben: (zunächst:) wer aus freiem Ermessen die äußere Gemeinschaft der Kirche verläßt, in der Gottes Wort gepredigt wird und die Sakramente verwaltet werden, der hat keine Entschuldigung; und dann weiter: die Gebrechen weniger oder vieler bieten uns kein Hindernis, in solcher Kirche durch die von Gott eingesetzten Zeremonien rechtmäßig unseren Glauben zu bekennen; denn ein frommes Gewissen wird durch die Unwürdigkeit eines anderen, sei es ein Hirte der Kirche oder ein amtloser Mensch, nicht verletzt, und die Sakramente sind für einen heiligen und rechtschaffenen Menschen nicht weniger rein und heilbringend, wenn sie zugleich auch von Unreinen berührt werden.



IV,1,20

Aber der Eigensinn und die Aufgeblasenheit solcher Leute geht noch weiter. Denn sie erkennen keine Kirche an, sofern sie nicht auch von den geringsten Flecken rein ist, ja, sie fahren gegen die rechtschaffenen Lehrer los, weil diese die Gläubigen zum Weiterschreiten ermahnen und sie dabei lehren, ihr Leben lang unter der Last ihrer Gebrechen zu seufzen und ihre Zuflucht zur Vergebung zu nehmen! Sie behaupten, auf diese Weise führte man die Gläubigen von der Vollkommenheit ab. Ich gebe nun zwar zu, daß man nicht etwa lässig oder kalt sein soll, wenn man sich bemüht, auf Vollkommenheit zu dringen, und noch viel weniger davon ablassen darf; aber ich behaupte: es ist ein teuflisches Hirngespinst, wenn man, solange wir noch im Laufe sind, die Herzen mit dem Vertrauen auf solche Vollkommenheit erfüllt. Deshalb wird im Glaubensbekenntnis die Vergebung der Sünden durchaus sinnvoll an die Lehre von der Kirche angeschlossen. Denn solche Vergebung erlangt niemand als allein die Bürger und Hausgenossen der Kirche, wie es bei dem Propheten zu lesen steht (Jes. 33,14-24). Vorausgehen muß also die Erbauung des himmlischen Jerusalem, in dem dann auch jene Nachsicht Gottes ihren Platz haben soll, so daß die Ungerechtigkeit aller, die sich zu ihr begeben haben, ausgetilgt wird. Wenn ich sage, daß zuerst die Kirche erbaut werden muß, so geschieht das nicht etwa, weil je eine Kirche ohne Vergebung der Sünden sein könnte, sondern weil der Herr seine Barmherzigkeit allein der Gemeinschaft der Heiligen verheißen hat. Der erste Zugang zur Kirche und zu Gottes Reich ist also für uns die Vergebung der Sünden, ohne die es für uns keinerlei Bund oder Verbindung mit Gott geben kann. Denn er spricht durch den Propheten: „Und ich will euch zur selben Zeit einen Bund machen mit den Tieren auf dem Felde, mit den Vögeln unter dem Himmel und mit dem Gewürm auf Erden und will Bogen, Schwert und Krieg vom Lande zerbrechen und die Menschen ohne Schrecken ruhen lassen. Ich will mich mit euch verloben in Ewigkeit, ich will mich, sage ich, mit euch vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit“ (Hos. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Da sehen wir, wie der Herr uns durch seine Barmherzigkeit mit sich aussöhnen will. So spricht er es auch an anderer Stelle aus; er sagt da voraus, daß er das Volk, das er in seinem Zorn zerstreut hat, wieder sammeln will, und dann heißt es: „Ich will sie reinigen von aller Missetat, damit sie wider mich gesündigt haben“ (Jer. 33,8). Deshalb werden wir in die Gemeinschaft der Kirche durch das Zeichen der Abwaschung aufgenommen; dadurch sollen wir gelehrt werden, daß uns zu Gottes Hausgenossenschaft kein Zugang offensteht, wenn nicht zuerst durch seine Güte unsere Flecken abgewischt werden.



IV,1,21

Aber es ist nicht so, als ob uns der Herr bloß einmal durch die Vergebung unserer Sünden in die Kirche aufnähme und zu ihr hinzutäte, sondern er erhält und bewahrt uns auch durch die Vergebung der Sünden in ihr. Was sollte es auch für einen Zweck haben, wenn uns eine Vergebung widerführe, die uns keinen Nutzen brächte? Jeder einzelne unter den Frommen ist sich aber selbst ein Zeuge dafür, daß die Barmherzigkeit des Herrn unwirksam und trügerisch wäre, wenn sie dem Menschen bloß einmal widerführe. Denn es ist keiner, der sich nicht sein ganzes Leben hindurch vieler Schwachheiten schuldig wüßte, die Gottes Barmherzigkeit nötig haben. Und es ist sicherlich nicht umsonst, daß Gott solche Gnade insbesondere seinen Hausgenossen verheißt, es ist auch nicht umsonst, daß er gebietet, es solle ihnen Tag für Tag die gleiche Botschaft der Versöhnung zugetragen werden, wenn wir also angesichts der Tatsache, daß wir unser ganzes Leben lang die Überbleibsel der Sünde mit uns herumtragen, nicht durch die beständige Gnade des Herrn, die er zur Vergebung unserer Sünden wirksam sein läßt, aufrechterhalten würden, so würden wir kaum einen Augenblick lang in der Kirche bleiben können. Der Herr hat aber die Seinen zu ewigem Heil berufen, und deshalb sollen sie bedenken, daß für ihre Sünden allezeit Vergebung bereit ist. Daher soll es unverbrüchlich feststehen, daß für uns, die wir in den Leib der Kirche aufgenommen und eingefügt sind, durch Gottes Freundlichkeit, durch das Eintreten des Verdienstes Christi für uns und durch die Heiligung des Geistes Vergebung der Sünden geschehen ist und Tag für Tag geschieht.



IV,1,22

Um uns dieses Gut zukommen zu lassen, sind der Kirche die Schlüssel gegeben. Denn als Christus den Aposteln den Auftrag gab und die Vollmacht übertrug, Sünden zu vergeben (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23), da wollte er damit nicht bloß, daß sie solche Menschen von ihren Sünden „lösten“, die sich von der Gottlosigkeit zum Glauben an Christus bekehrten, sondern viel mehr noch, daß sie diese Amtspflicht fort und fort unter den Gläubigen übten. Das lehrt Paulus, wenn er schreibt, daß die Botschaft der Versöhnung den Dienern der Kirche in Bewahrung gegeben ist, damit sie so das Volk immer wieder in Christi Namen ermahnen, sich mit Gott zu versöhnen (2. Kor. 5,18.20). So werden uns also in der Gemeinschaft der Heiligen durch den Dienst der Kirche selber immerfort unsere Sünden vergeben, wenn die Ältesten oder Bischöfe, denen dies Amt anvertraut ist, die frommen Gewissen durch die Verheißungen des Evangeliums in der Hoffnung auf Verzeihung und Vergebung stärken, und zwar öffentlich oder insonderheit, je nachdem die Notdurft es erfordert. Denn es gibt sehr viele, die um ihrer Schwachheit willen einer besonderen Tröstung bedürfen. Und Paulus berichtet, daß er nicht nur in der öffentlichen Predigt, sondern auch hin und her in den Häusern den Glauben an Christus bezeugt und jeden einzelnen für sich in der Lehre des Heils unterwiesen hat (Apg. 20,20f.). Wir müssen also hier auf dreierlei achten. Erstens: die Kinder Gottes mögen sich noch so großer Heiligkeit erfreuen, so sind sie dennoch, solange sie in dem sterblichen Leibe wohnen, in einem solchen Zustande, daß sie ohne Vergebung der Sünden nicht vor Gott bestehen können. Zweitens: diese Wohltat (der Vergebung) ist der Kirche derart eigen, daß wir sie nicht anders genießen können als dadurch, daß wir in ihrer Gemeinschaft bleiben. Drittens: diese Wohltat wird durch die Diener und Hirten der Kirche an uns ausgeteilt, und zwar durch die Predigt des Evangeliums oder durch die Verwaltung der Sakramente, und in diesem Stück tritt die Schlüsselgewalt, die der Herr der Gemeinschaft der Gläubigen übertragen hat, am stärksten zutage. Jeder einzelne von uns soll also bedenken, daß es seine Pflicht ist, die Vergebung der Sünden nicht anderswo zu suchen als da, wo der Herr sie niedergelegt hat. Von der öffentlichen Versöhnung, die zur Zucht gehört, wird an der entsprechenden Stelle noch die Rede sein.



IV,1,23

Da nun aber jene Schwarmgeister, von denen ich sprach, der Kirche diesen einigen Anker des Heils zu entreißen bemüht sind, so müssen die Gewissen gegen einen so verderbenbringenden Wahn noch kräftiger gestärkt werden. Mit solcher Lehrmeinung haben vorzeiten die Novatianer die Kirchen unruhig gemacht, aber auch unsere Zeit hat Leute, die den Novatianern nicht sehr unähnlich sind, nämlich einige von den Wiedertäufern, die auf die gleichen Wahnvorstellungen verfallen sind. Sie bilden sich nämlich ein, das Volk Gottes werde in der Taufe zu einem reinen und engelgleichen Leben wiedergeboren, das durch keinerlei Schmutz des Fleisches befleckt würde. Wenn sich nun also jemand nach der Taufe noch vergeht, so lassen sie ihm nichts als Gottes unerbittliches Gericht mehr übrig. Kurz, sie machen einem Sünder, der nach Empfang der Gnade wieder gefallen ist, keinerlei Hoffnung auf Vergebung, weil sie ja keine andere Vergebung der Sünden kennen als die, kraft deren wir im Anfang (unseres Lebens als Christen) wiedergeboren werden. Nun gibt es freilich keine Lüge, die durch die Schrift klarer widerlegt würde; aber solche Leute finden doch immer noch Menschen, die sich von ihnen täuschen lassen, wie ja auch Novatus vorzeiten sehr viele Anhänger hatte; und deshalb wollen wir doch in Kürze darlegen, wie sehr ihr Wahnwitz zu ihrem eigenen und anderer Leute Verderben führt. Zunächst: wenn die Heiligen auf Geheiß des Herrn alle Tage die Bitte wiederholen: „Vergib uns unsere Schulden“, dann bekennen sie sich doch damit natürlich als Sünder. Sie bitten auch nicht vergebens; denn der Herr hat nirgendwo etwas anderes zu bitten geheißen, als was er selbst auch gewähren wollte. Ja, er bezeugt zwar, daß das ganze Gebet von dem Vater erhört werden wird, aber er hat doch diese Vergebung noch mit einer besonderen Verheißung versiegelt. Was wollen wir mehr? Der Herr verlangt von den Gläubigen ihr ganzes Leben lang das Bekenntnis ihrer Sünden, und zwar immerfort, und er verheißt ihnen auch Vergebung! Was ist es da für eine Vermessenheit, wenn man erklärt, sie seien von der Sünde frei, oder wenn man sie, sofern sie sich verfehlt haben, nun ganz und gar von der Gnade ausschließt! Wer ist das denn, dem wir nach seinem Willen „siebzigmal siebenmal“ vergeben sollen? Sind das nicht unsere Brüder? (Matth. 18,21f.). Wozu hat er uns aber diese Weisung gegeben? Doch nur, damit wir seine Güte nachahmten! Er vergibt also nicht einmal oder zweimal, sondern sooft sie, von der Erkenntnis ihrer Missetaten zu Boden geworfen, zu ihm seufzen.
Simon W.

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IV,1,24

Und dann – wir wollen beinahe bei den frühesten Ursprüngen der Kirche anfangen -: die Erzväter waren beschnitten, sie waren in die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen, sie waren ohne Zweifel durch den Fleiß ihres Vaters in der Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit unterwiesen – und da machten sie eine Verschwörung, um ihren Bruder ums Leben zu bringen (Gen. 37,18)! Das war ein Frevel, der selbst den heillosesten Räubern abscheulich vorkommen mußte. Schließlich ließen sie sich von den Ermahnungen des Judas besänftigen und verkauften ihren Bruder (Gen. 37,28); aber auch das war noch eine unerträgliche Roheit. Simeon und Levi wüteten in schnöder Rache, die auch durch das Urteil ihres Vaters verdammt wurde, gegen die Leute von Sichem (Gen. 34,25.30). Ruben befleckte das väterliche Bett in verruchtester Begierde (Gen. 35,22). Juda ergibt sich dem Ehebruch und treibt gegen das Gesetz der Natur Hurerei mit seiner eigenen Schwiegertochter (Gen. 38,16). Trotzdem werden diese Männer nicht aus dem auserwählten Volke getilgt, nein, im Gegenteil, sie werden zu seinen Häuptern erhoben! Wie hat sich weiter David aufgeführt? Er war doch zum Schirmherrn der Gerechtigkeit eingesetzt, und trotzdem: mit was für einer entsetzlichen Schandtat bahnte er unter Vergießen von unschuldigem Blut seiner blinden Gier den Weg (2. Sam. 11,4.15)! Er war doch bereits wiedergeboren, und er war unter den Wiedergeborenen durch herrliche Lobsprüche des Herrn ausgezeichnet worden – und doch verübte er eine Schandtat, die auch unter den Heiden als furchtbar gilt. Trotzdem hat er Verzeihung erlangt (2. Sam. 12,13). Und – wir wollen uns nicht bei den einzelnen Beispielen aufhalten – all die vielen Verheißungen an die Israeliten, die uns im Gesetz und bei den Propheten entgegentreten, sind ja ebensoviele Beweise dafür, daß sich der Herr den Missetaten seines Volkes gegenüber versöhnlich erweist. Denn was soll nach der Verheißung des Mose geschehen, wenn das Volk, das in Abtrünnigkeit verfallen ist, zu dem Herrn zurückkehren wird? „Gott wird dein Gefängnis wenden und sich deiner erbarmen und wird dich wieder versammeln aus allen Völkern, dahin du zerstreut warst. Wenn du bis an der Himmel Ende verstoßen wärest, so will ich dich doch von dort sammeln …“ (Deut. 30,3f.; nicht ganz Luthertext).



IV,1,25

Aber ich will keine Aufzählung anfangen, die doch nie zu Ende zu bringen wäre. Denn die (Bücher der) Propheten sind voll von derartigen Verheißungen, die dem mit unendlichen Übeltaten über und über bedeckten Volke dennoch Barmherzigkeit anbieten sollen. Welche Schandtat sollte wohl schwerer sein als der Aufruhr? Denn er wird doch als Ehescheidung zwischen Gott und der Kirche bezeichnet. Aber auch er wird von Gottes Güte überwunden! Er spricht durch den Mund des Jeremia: „Welcher Mann wird es wohl, wenn sein Weib ihren Leib den Ehebrechern hingegeben hat, auf sich nehmen, daß er sich wieder mit ihr aussöhne? Von deinem ehebrecherischen Treiben aber sind alle Wege besudelt, Juda, das Land ist voll von deinen schmutzigen Liebeshändeln! … Dennoch darfst du wieder zu mir zurückkehren, und ich will dich aufnehmen. Kehre wieder, du Abtrünnige; ich will mein Angesicht nicht von dir abwenden; denn ich bin heilig und zürne nicht immerdar“ (Jer. 3,1f.12; nicht Luthertext). Und wahrlich, der, der da bezeugt, daß er „nicht Gefallen hat am Tode des Gottlosen“, sondern vielmehr, „daß er sich bekehre … und lebe“ (Ez. 18,23.32), der kann ja nicht anders gesinnt sein! Als deshalb Salomo den Tempel einweihte, da bestimmte er ihn auch zu dem Gebrauch, daß von ihm aus die Gebete, die man zur Erlangung der Sündenvergebung vorbrachte, erhört werden sollten. „Wenn deine Kinder an dir sündigen werden“, sagt er, „(denn es ist kein Mensch, der nicht sündigt) und du erzürnst und gibst sie dahin vor ihren Feinden…, und sie in ihr Herz schlagen und bekehren sich und flehen zu dir im Lande ihres Gefängnisses und sprechen: Wir haben gesündigt und übelgetan …, und beten zu dir nach ihrem Lande hin, das du ihren Vätern gegeben hast, und nach diesem heiligen Tempel hin …, so wollest du ihr Gebet und Flehen hören im Himmel … und deinem Volk gnädig sein, das an dir gesündigt hat, und allen Übertretungen, damit sie wider dich übertreten haben …“ (1. Kön. 8,46-50; nicht ganz Luthertext). Nicht umsonst hat der Herr im Gesetz tägliche Opfer für die Sünden geboten (Num. 28,3ff.); denn wenn der Herr nicht vorhergesehen hätte, daß sein Volk mit immerwährenden Sündengebrechen zu kämpfen haben würde, dann hätte er ihm auch solche Heilmittel niemals verordnet.



IV,1,26

Ist nun etwa durch das Kommen Christi, in dem die Fülle der Gnade offenbart worden ist, den Gläubigen diese Wohltat entzogen, daß sie es jetzt nicht mehr wagen dürften, um Vergebung ihrer Missetaten zu flehen, daß sie, wenn sie den Herrn gekränkt haben, keinerlei Barmherzigkeit mehr erlangen könnten? Wenn einer behauptete, die Nachsicht Gottes, die sich in der Vergebung der Sünden auswirkt, und die im Alten Bunde immerfort für die Heiligen bereit stand, sei jetzt weggenommen, so hieße das nichts anderes, als wenn er sagte, Christus sei zum Verderben der Seinigen und nicht zu ihrem Heil gekommen. Nein, die Schrift erklärt ausdrücklich und laut, daß erst in Christus die „Freundlichkeit und Leutseligkeit“ des Herrn voll in die Erscheinung getreten, daß erst in ihm der Reichtum seiner Barmherzigkeit ausgegossen und die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen in Erfüllung gegangen ist (Tit. 3,4; 2. Tim. 1,9; 2. Kor. 5,18-21), und wenn wir ihr Glauben schenken, so wollen wir nicht daran zweifeln, daß uns jetzt die Freundlichkeit unseres himmlischen Vaters nur desto reichlicher zufließt, statt daß sie abgeschnitten und verkürzt wäre. Es fehlt uns aber auch nicht an Beispielen dafür, Petrus hatte zwar vernommen: wer Christi Namen vor den Menschen nicht bekannt hätte, der solle vor den Engeln Gottes verleugnet werden (Matth. 10,33; Mark. 8,38), aber er hatte den Herrn doch in einer einzigen Nacht dreimal verleugnet und sich dabei gar verflucht (Matth. 26,74). Trotzdem wurde er von der Vergebung nicht ausgeschlossen (Luk. 22,32; Joh. 21,15ff). Die Leute, die unter den Thessalonichern unordentlich lebten, die wurden so gestraft, daß sie tatsächlich zur Buße eingeladen wurden (2. Thess. 3,6.14f.). Ja, selbst Simon, dem Zauberer, hat man nicht die Verzweiflung eingejagt, sondern es wurde ihm vielmehr geboten, guter Hoffnung zu sein, indem ihm Petrus den Rat gab, seine Zuflucht zum Gebet zu nehmen (Apg. 8,22).



IV,1,27

Was will man ferner dazu sagen, daß zuweilen ganze Kirchen von schwersten Sünden mit Beschlag belegt waren, aus denen sie doch Paulus freundlich herauswand, statt sie zu verfluchen? Der Abfall der Galater war keine geringfügige Missetat (Gal. 1,6; 3,1; 4,9), und die Korinther waren im Vergleich mit ihnen desto weniger zu entschuldigen, weil unter ihnen mehr und keine leichteren Schandtaten überhandgenommen hatten; trotzdem wurden beide nicht von der Barmherzigkeit des Herrn ausgeschlossen! Nein, gerade die, die sich durch Unreinheit, Hurerei und Unkeuschheit mehr als andere versündigt hatten, werden ausdrücklich zur Buße aufgefordert (2. Kor. 12,21). Denn es bleibt und es wird ewig unverletzlich bleiben der Bund des Herrn, den er feierlich mit Christus, dem wahren Salomo, und mit seinen Gliedern geschlossen hat, indem er sprach: „Wo aber seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, so sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen, aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden …“ (Ps. 89,31-34). Schließlich werden wir gerade durch die Einteilung des Glaubensbekenntnisses daran gemahnt, daß in der Kirche Christi eine immerwährende Vergebung der Missetaten ihren Platz haben soll; denn nachdem die Kirche gleichsam fest umschrieben ist, wird noch die Vergebung der Sünden angeschlossen!



IV,1,28

Es gibt dann andere Leute, die ein wenig vernünftiger sind (als die bisher Genannten): sie sehen, daß die Lehrmeinung des Novatus (Novatian) mit solcher Klarheit der Schrift widerlegt wird, und jetzt erklären sie nicht etwa jedwede Missetat für unvergebbar, sondern (bloß) die willentliche Übertretung, die jemand wissentlich und vorsätzlich begangen hat. Wenn sie so reden, so achten sie also keine Sünde der Vergebung für würdig, sofern man nicht irgendwo durch Unwissenheit abgeirrt ist. Nun hat aber der Herr im Gesetz die Weisung gegeben, man sollte bestimmte Opfer zur Sühne für die willentlichen Sünden der Gläubigen darbringen und andere zur Erlangung der Vergebung für die in Unwissenheit begangenen (Lev. 4). Was ist es da nun für eine Unverschämtheit, wenn man der willentlich begangenen Sünde keinerlei Sühne mehr zugesteht! Ich behaupte: es ist nichts offenkundiger, als daß das einige Opfer Christi Kraft hat zur Vergebung der von den Heiligen willentlich begangenen Sünden; denn der Herr hat es durch die fleischlichen Opfer wie durch Siegel bezeugt! Weiter: wer will denn den David, der doch ganz sicher im Gesetz so gründlich erzogen war, mit Unwissenheit entschuldigen? Wußte etwa David nicht, was Ehebruch und Mord für ein großer Frevel war, wo er ihn Tag für Tag an anderen bestrafte? Erschien etwa der Brudermord den Patriarchen als etwas Rechtmäßiges? Waren die Korinther etwa so schlecht fortgeschritten, daß sie meinten, Zuchtlosigkeit, Unreinheit, Ehebruch, Haß und Zwietracht seien Gott wohlgefällig? Und wußte Petrus, der so fleißig unterwiesen war, etwa nicht, was es bedeutete, seinen Meister eidlich zu verleugnen? Deshalb wollen wir der Barmherzigkeit Gottes, die sich so freundlich offenbart, nicht mit unserer Böswilligkeit den Weg versperren!



IV,1,29

Es ist mir allerdings nicht unbekannt, daß die alten Schriftsteller (der Kirche) unter den Sünden, die den Gläubigen täglich vergeben werden, die leichteren Vergehen verstanden haben, die sich aus der Schwachheit des Fleisches heraus an die Gläubigen heranschleichen. Es ist mir auch nicht verborgen, daß sie der Meinung waren, die feierliche Buße, die man damals für schwerere Übeltaten forderte, könne ebensowenig wiederholt werden wie die Taufe. Diese ihre Meinung ist nun nicht so zu verstehen, als ob sie solche Menschen, die nach ihrer ersten Buße wiederum in Sünde gefallen waren, hätten in Verzweiflung stürzen wollen, oder als ob sie (andererseits) jene (leichteren) Vergehen hätten verkleinern wollen, als ob diese nun vor Gott von geringer Bedeutung wären. Sie wußten nämlich, daß die Heiligen öfters aus Unglauben straucheln, daß ihnen zuweilen überflüssige Eidschwüre entfallen, daß sie manchmal in Zorn entbrennen, ja, daß sie sich gar zu offenbaren Scheltworten hinreißen lassen und daß sie auch sonst mit vielem Bösen zu schaffen haben, das der Herr heftig verabscheut; aber sie wandten doch diese Bezeichnung an (nämlich: leichtere Vergehen), um solche Vergehen von den öffentlich bekanntgewordenen Freveltaten zu unterscheiden, die unter großem Anstoß zur Kenntnis der Kirche kamen. Daß sie aber denen, die etwas verübt hatten, das der kirchlichen Bestrafung wert war, so schwer verziehen, das geschah nicht etwa darum, weil sie meinten, solche Leute würden bei dem Herrn nur schwerlich Vergebung finden; nein, sie wollten mit dieser Strenge andere abschrecken, damit sie sich nicht mutwillig zu solchen Lastern hinreißen ließen, um deretwillen sie von der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden würden. Freilich schreibt uns das Wort des Herrn, das uns hier als einzige Richtschnur dienen muß, ein größeres Maßhalten vor. Denn es lehrt ja, wie wir oben ausführlicher auseinandergesetzt haben, daß die Schärfe der Zucht (nur) soweit gespannt werden darf, daß der, dem ja vornehmlich geholfen werden soll, „nicht in allzu große Traurigkeit versinke“ (2. Kor. 2,7).
Simon W.

Der Pilgrim
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Zweites Kapitel: Vergleich der falschen Kirche mit der wahren



IV,2,1

Ich habe nun auseinandergesetzt, welchen hohen Wert der Dienst am Wort und an den Sakramenten bei uns haben und wie weit die Ehrerbietung vor ihm gehen soll: er soll ja für uns das ständige Kennzeichen zur Unterscheidung der (wahren von der falschen) Kirche sein, überall nämlich, wo dieser Dienst unversehrt und unverkürzt zutage tritt, da wird solche Kirche durch keinerlei Gebrechen oder Krankheiten des Lebenswandels daran gehindert, den Namen „Kirche“ zu tragen. Ferner wird dieser Dienst selber durch geringe Irrtümer nicht dermaßen verderbt, daß er etwa nicht für rechtmäßig zu achten wäre. Ich habe dann weiter gezeigt, daß die Irrtümer, denen solche Verzeihung zukommt, von der Art sind, daß durch sie die wesentlichste Lehre der Religion nicht verletzt wird und die Hauptstücke der Gottesverehrung, über die unter allen Gläubigen Einstimmigkeit herrschen muß, nicht unterdrückt werden; was die Sakramente angeht, so sind – das zeigte ich – jene verzeihlichen Irrtümer derart, daß sie doch die rechtmäßige Einrichtung des Urhebers dieser Sakramente nicht abschaffen oder ins Wanken bringen. Sobald dagegen in das Bollwerk der Religion die Lüge eingebrochen, die Hauptsumme der notwendigen Lehre verkehrt worden und die Übung der Sakramente zusammengestürzt ist, da ergibt sich ganz gewiß der Untergang der Kirche, genau wie es um das Leben eines Menschen geschehen ist, wenn man ihm die Kehle durchbohrt oder das Herz tödlich verwundet hat. Das läßt sich klar aus den Worten des Paulus beweisen, indem er lehrt, daß die Kirche auf die Lehre der Apostel und Propheten gegründet ist, „da Jesus Christus der Eckstein ist“ (Eph. 2,20). Wenn also das Fundament der Kirche die Lehre der Propheten und Apostel ist, in der den Gläubigen befohlen wird, ihr Heil auf Christus allein zu gründen, – wie soll dann das Bauwerk noch weiter Bestand haben, wenn man dies Fundament wegnimmt? Die Kirche muß also notwendig zusammenbrechen, wo diese Hauptsumme der Gottesverehrung, die sie allein aufrechterhalten kann, dahinfällt. Und dann: wenn die wahre Kirche „ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit ist“ (1. Tim. 3,15), so ist sicherlich da keine Kirche, wo Lüge und Falschheit die Herrschaft gewonnen haben.



IV,2,2

Eben so verhalten sich nun die Dinge unter dem Papsttum, und daraus läßt sich erkennen, was dort noch an Kirche übrig ist. Statt des Dienstes am Wort herrscht da ein verkehrtes und aus Lügen zusammengeschmiedetes Regiment, das das reine Licht teils auslöscht, teils erstickt. An die Stelle des Heiligen Abendmahles hat sich die abscheulichste Heiligtumsschändung eingeschlichen. Die Verehrung Gottes ist durch eine vielartige und unerträgliche Menge von Aberglauben entstellt. Die Lehre, ohne die das Christentum nicht bestehen kann, ist ganz begraben und beiseitegetan. Die öffentlichen Versammlungen (Gottesdienste) sind Schulen des Götzendienstes und der Unfrömmigkeit. Deshalb besteht keine Gefahr, daß wir etwa von der Kirche Christi losgerissen werden, wenn wir uns von der verderbenbringenden Teilnahme an soviel Schandtaten absondern. Die Gemeinschaft der Kirche ist nicht dergestalt eingerichtet, daß sie ein Band sein soll, mit dem wir in Götzendienst, Unfrömmigkeit, Unkenntnis Gottes und anderlei Böses verstrickt werden, sondern sie soll vielmehr ein Band sein, das uns in der Furcht Gottes und im Gehorsam gegen die Wahrheit erhält. Die Papisten mögen uns nun zwar ihre Kirche großartig preisen, damit der Eindruck entsteht, als ob es in der Welt keine andere gäbe, sie mögen alsdann auch, als ob sie ihre Sache bereits bewiesen hätten, alle für „Schismatiker“ erklären, die es wagen, sich dem Gehorsam gegenüber der Kirche, die sie da malen, zu entziehen, und alle für „Haeretiker“, die gegen die Lehre dieser Kirche zu mucksen wagen. Das mögen sie tun – aber mit was für Gründen beweisen sie, daß sie die wahre Kirche haben? Sie führen aus alten Geschichtsbüchern an, was einst in Italien, in Frankreich, in Spanien gewesen ist, sie berufen sich darauf, daß sie ihren Ursprung von jenen heiligen Männern herleiten, die einst mit gesunder Lehre die Kirchen gründeten und aufrichteten und diese Lehre selbst und die Erbauung der Kirche mit ihrem Blute bekräftigten. Sie behaupten weiter, daß die Kirche, die durch solche geistlichen Gaben und durch das Blut der Märtyrer geweiht war, durch die fortwährende Aufeinanderfolge der Bischöfe erhalten worden sei, damit sie nicht unterginge. Sie erinnern daran, welchen hohen Wert Irenäus, Tertullian, Origenes, Augustin und andere auf diese Aufeinanderfolge der Bischöfe gelegt haben. Was das nun für ein leichtfertiges Gerede, ja, was das ganz und gar für ein Gespött ist, das will ich denen, die es ein wenig mit mir erwägen wollen, ohne Mühe begreiflich machen. Ich würde die Papisten zwar auch selber auffordern, hierauf ernstlich ihre Aufmerksamkeit zu lenken, wenn ich die Zuversicht hätte, bei ihnen mit Lehren irgend etwas ausrichten zu können. Aber da sie jedes Achthaben auf die Wahrheit von sich geworfen haben und es ihnen jetzt nur noch daran liegt, auf jedem für sie gangbaren Wege ihre eigene Sache zu betreiben, so will ich nur weniges sagen, mit dessen Hilfe sich dann wohlgesinnte Männer, denen es ernstlich um die Wahrheit zu tun ist, aus ihren Betrügereien frei machen können. Zunächst möchte ich von den Papisten gerne erfahren, warum sie denn Afrika und Ägypten und ganz Asien nicht anführen. Der Grund liegt natürlich darin, daß in allen diesen Gebieten jene „heilige“ Aufeinanderfolge der Bischöfe aufgehört hat, die sie doch als die Wohltat preisen, vermöge deren sie ihre Kirchen aufrechterhalten hätten! Sie ziehen sich also darauf zurück, sie hätten deshalb die wahre Kirche, weil es dieser Kirche seit ihrer Entstehung niemals an Bischöfen gefehlt habe, da sie ja in ununterbrochener Reihenfolge aufeinander gefolgt seien. Aber was soll geschehen, wenn ich sie nun demgegenüber auf Griechenland verweise? Ich möchte also wiederum von ihnen wissen, warum sie denn behaupten, bei den Griechen sei die Kirche untergegangen, obwohl doch bei ihnen jene Aufeinanderfolge der Bischöfe, die nach ihrer Meinung die einzige Wächterin und Wahrerin der Kirche ist, niemals eine Unterbrechung erfahren hat. Sie machen die Griechen zu Schismatikern. Mit welchem Recht? „Sie haben sich eben von dem apostolischen Stuhl abgespalten und dadurch ihr Vorrecht verloren!“ Wieso verdienen nicht vielmehr die ihr Vorrecht einzubüßen, die von Christus selbst abfallen? Es ergibt sich also: der Vorwand der Aufeinanderfolge (der Bischöfe) ist eitel, wenn nicht die Späteren die Wahrheit Christi, die sie von ihren Vätern in die Hand gelegt bekommen haben, unversehrt und unverderbt erhalten und in ihr verharren.



IV,2,3

Darum haben die Römischen heutzutage keinen anderen Vorwand, als ihn vorzeiten augenscheinlich die Juden gebraucht haben, als sie von den Propheten des Herrn der Blindheit, der Unfrömmigkeit und des Götzendienstes beschuldigt wurden. Da beriefen sie sich großmächtig auf den Tempel, die Zeremonien und das Priestertum; denn das waren nach ihrer Meinung die Dinge, nach denen sie die Kirche mit kräftig wirksamem Beweis zu messen vermochten. Genau so machen es die Römischen heute: statt der Kirche stellen sie uns bloß gewisse äußerliche Larven vor Augen, die oftmals weit von der Kirche entfernt sind und ohne die die Kirche sehr wohl bestehen kann. Wollen wir sie widerlegen, so kann das daher auch allein mit dem Beweis geschehen, mit dem Jeremia gegen jene törichte Zuversicht der Juden kämpfte: sie sollten sich nicht mit verlogenen Worten rühmen und sagen: „Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!“ (Jer. 7,4). Denn der Herr erkennt je und je nur das für das Seine an, wo sein Wort gehört und ehrfürchtig beachtet wird. Obwohl also die Herrlichkeit Gottes zwischen den Cherubim im Allerheiligsten ihren Sitz hatte (Ez. 10,4), und obwohl Gott dem Volke verheißen hatte, er wolle dort seinen festen Platz haben, so zog er doch, sobald die Priester seinen Gottesdienst mit üblem Aberglauben verdarben, anderswohin und ließ diesen Ort ohne jede Heiligkeit zurück. Wenn jener Tempel, der zur immerwährenden Wohnstatt Gottes geweiht zu sein schien, von Gott verlassen und unheilig werden konnte, so besteht kein Anlaß, daß uns diese Leute vormachen, Gott sei dermaßen an Personen und Orte gebunden und an äußerliche Gebräuche gefesselt, daß er bei solchen Menschen bleiben müßte, die doch nur den Titel und den äußeren Anschein der Kirche haben. Das ist auch der Streit, den Paulus im Brief an die Römer vom neunten bis zum zwölften Kapitel führt. Denn es stürzte die schwachen Gewissen in heftige Verwirrung, daß die Juden, obwohl sie doch Gottes Volk zu sein schienen, die Lehre des Evangeliums nicht nur verachteten, sondern sogar verfolgten. Nachdem er also die Lehre (im ganzen) entfaltet hat, beseitigt er diese Schwierigkeit und bestreitet, daß jene Juden, die die Feinde der Wahrheit sind, die Kirche seien, und das, selbst wenn ihnen nichts abging, was man sonst zur äußeren Gestalt der Kirche verlangen könnte. Er bestreitet das aber, weil sie Christus nicht angenommen haben. Noch ein wenig deutlicher bringt er das im Brief an die Galater zum Ausdruck: da vergleicht er den Ismael mit Isaak und erklärt daraufhin, daß in der Kirche viele einen Platz haben, denen doch das Erbe nicht gehört, weil sie nicht von der freien Mutter geboren sind (Gal. 4,22ff.). Von da aus kommt er dann auch zu dem Vergleich zwischen einem zwiefachen Jerusalem; denn wie auf dem Berge Sinai das Gesetz gegeben wurde, das Evangelium dagegen von Jerusalem ausging, so gibt es auch viele, die als Knechte geboren und erzogen sind und sich doch unbekümmert rühmen, sie seien Kinder Gottes und der Kirche, ja, die hoffärtig auf die echten Kinder Gottes herabsehen, obwohl sie doch selber Entartete sind. Nun wollen auf der anderen Seite auch wir, wenn wir doch hören, daß einmal vom Himmel kundgemacht worden ist: „Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn“ (Gen. 21,10), uns auf diese unverletzliche Verordnung stützen und von da aus die törichten Ansprüche der Papisten wacker verachten. Denn wenn sie hochmütig auf das äußere Bekenntnis pochen – auch Ismael war beschnitten! Wenn sie das hohe Alter (ihrer Kirche) ins Feld führen – Ismael war der Erstgeborene, und doch wurde er verworfen, wie wir sehen! Fragt man nach der Ursache dafür, so zeigt sie uns Paulus: nur die werden zu den Kindern gezählt, die aus dem reinen und rechtmäßigen Samen der Lehre geboren sind (Röm. 9,6-9). Dementsprechend erklärt Gott, daß er nicht etwa deshalb an die gottlosen Priester gebunden ist, weil er doch mit ihrem Stammvater Levi einen Bund gemacht hat, nach welchem dieser sein Bote und Dolmetsch sein solle; ja, er wendet ihr falsches Rühmen, mit dem sie sich gegen die Propheten zu empören pflegten, gegen sie selber, nämlich dieses Rühmen, es müßte die Würde des Priestertums stets in besonderer Wertschätzung stehen (Mal. 2,1-9). Das gesteht er ihnen selbst gerne zu, und das ist ja gerade der Punkt, auf Grund dessen er mit ihnen streitet. Denn er ist ja – das sagt er selbst – bereit, seinen Bund zu halten. Da sie aber diesem Bunde ihrerseits nicht entsprechen, so verdienen sie es, verworfen zu werden. Da sieht man, was die Aufeinanderfolge (im Priesteramt) für eine Bedeutung hat, wenn sich mit ihr nicht auch die Nachfolge und die gleiche Art verbindet: nämlich nur die, daß die Nachfolger, sobald sie davon überführt sind, daß sie ihren Ursprung verlassen haben, jeglicher Ehre beraubt werden! Im anderen Falle wäre sonst auch jene verbrecherische Rotte (zu Christi Zeiten) des Namens „Kirche” würdig gewesen, weil Kaiphas der Nachfolger vieler frommer Priester war, ja, weil von Aaron bis zu ihm hin eine ununterbrochene Reihenfolge bestand! Aber selbst in irdischen Reichen würde man es nicht dulden können, wenn jemand die Tyrannei eines Caligula, Nero, Heliogabal oder ähnlicher Männer als den rechten Zustand der öffentlichen Gewalt bezeichnen wollte, weil diese Männer doch auf Leute wie Brutus, Scipio und Camillus gefolgt wären. Besonders aber im Kirchenregiment ist nichts leichtfertiger, als wenn man die Lehre beiseite läßt und die Aufeinanderfolge allein auf die Personen bezieht. Auch hatten aber jene heiligen Lehrer, die man uns gegenüber fälschlich ins Treffen führt, nichts weniger im Sinn, als schlechthin, gleichsam auf Grund eines erblichen Rechtes, zu beweisen, daß überall da Kirchen seien, wo stets ein Bischof auf den anderen gefolgt sei. Es war doch vielmehr so: es konnte kein Streit darüber bestehen, daß seit Anbeginn (der Kirche) bis auf jene Zeit in der Lehre keine Veränderung eingetreten war, und deshalb stellten sie eine Behauptung auf, die genügen sollte, alle neu aufkommenden Irrtümer zunichte zu machen, nämlich: jene Irrtümer stritten gegen die Lehre, die eben seit der Apostel Zeiten beständig und in einträchtiger Übereinstimmung beibehalten worden war. Es besteht daher kein Anlaß, weshalb unsere Widersacher noch weiter fortfahren könnten, aus dem Namen „Kirche“ einen trügerischen Schein zu machen. Gewiß, wir verehren diesen Namen mit der schuldigen Ehrerbietung. Aber wenn man zur Bestimmung (dieses Begriffs) kommt, dann „bleibt ihnen nicht nur das Wasser aus“, wie man sagt (Cicero), sondern sie bleiben in ihrem Schlamm stecken, weil sie nämlich an die Stelle der heiligen Braut Christi eine ekelhafte Hure setzen. Damit wir uns durch diese Verwechslung nicht betrügen lassen, soll uns neben anderen Mahnungen auch eine des Augustin zu Hilfe kommen; er spricht von der Kirche und sagt: „Sie ist es, die je und dann von der Menge der Ärgernisse verdunkelt und gleichsam in Nebel gehüllt wird, die je und dann in friedlichen Zeiten ruhig und frei erscheint, je und dann aber auch von den Wogen der Trübsale und Anfechtungen bedeckt und verstört wird.“ Er führt dann Beispiele dafür an, daß öfters die festesten Säulen der Kirche für ihren Glauben tapfer in der Verbannung lebten oder auch in der ganzen Welt ein verborgenes Dasein führten (Brief 93).
Simon W.

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IV,2,4

In dieser Weise quälen uns heutzutage die Römischen, und sie schrecken die Unerfahrenen mit dem Namen „Kirche“, obgleich sie selbst die Todfeinde Christi sind. Gewiß wenden sie daher Tempel und Priestertum und andere Larven dieser Art vor; aber dieser eitle Glanz, der die Augen schlichter Leute blendet, soll uns doch in keiner Weise dazu bewegen, daß wir uns zu der Annahme bereit erklären, da sei eine Kirche, wo das Wort Gottes nicht in Erscheinung tritt. Denn das ist das bleibende Kennzeichen, mit dem unser Herr die Seinen bezeichnet: „Wer aus der Wahrheit ist“, spricht er, „der höret meine Stimme“ (Joh. 18,37). Ebenso sagt er: „Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen“ (Joh. 10,14), „meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir“ (Joh. 10,27). Kurz zuvor hatte er aber gesagt: die Schafe folgen ihrem Hirten nach, „denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen der Fremden Stimme nicht“ (Joh. 10,4f.). Weshalb verfallen wir denn also bei der Beurteilung der Kirche ohne Grund in Torheiten, wo sie Christus doch mit einem völlig allem Zweifel entnommenen Merkzeichen versehen hat? Wo auch immer dies Merkzeichen zu sehen ist, da kann es nicht täuschen, sondern es weist mit Sicherheit darauf hin, daß da Kirche ist; wo es aber fehlt, da bleibt nichts übrig, was einen wirklichen Hinweis auf die Kirche geben könnte. Denn die Kirche ist nicht auf die Urteile von Menschen, nicht auf das Priestertum gegründet, sondern auf die Lehre der Apostel und Propheten, wie es Paulus in Erinnerung bringt (Eph. 2,20). Ja, man muß vielmehr Jerusalem von Babel, Christi Kirche von der Verschwörerrotte des Satans an dem Unterscheidungsmerkmal voneinander unterscheiden, an dem sie Christus unterschieden hat: „Wer von Gott ist“, spricht er, „der hört Gottes Worte; darum höret ihr nicht; denn ihr seid nicht von Gott“ (Joh. 8,47). Ich fasse zusammen: Die Kirche ist das Reich Christi; Christus aber regiert allein durch sein Wort; sollte es nun da noch irgendeinem Menschen dunkel sein, daß es Lügenworte sind, wenn man uns vormacht, Christi Reich könne ohne sein Zepter bestehen, das heißt: ohne sein heiliges Wort?



IV,2,5

Sie beschuldigen uns nun der Kirchenspaltung und der Ketzerei, weil wir eine (von der ihrigen) verschiedene Lehre predigten, weil wir ihren Gesetzen nicht Gehorsam leisteten, und weil wir unter uns besondere Zusammenkünfte zum Gebet, zur Taufe, zur Feier des Heiligen Abendmahles, dazu auch andere heilige Handlungen abhielten. Das ist gewiß eine sehr schwere Anklage; aber sie bedarf doch keineswegs einer langen und mühseligen Verteidigung. Ketzer und Schismatiker nennt man solche Leute, die eine Spaltung herbeiführen und dadurch die Gemeinschaft der Kirche zerreißen. Diese Gemeinschaft der Kirche wird nun durch zwei Bande zusammengehalten: durch die Einmütigkeit in der gesunden Lehre und durch die brüderliche Liebe. Von daher stellt Augustin folgenden Unterschied zwischen Haeretikern und Schismatikern auf: die Haeretiker verderben die Lauterkeit des Glaubens mit falschen Lehrmeinungen, die Schismatiker dagegen zerreißen, manchmal auch bei (Aufrechterhaltung der) Gleichheit des Glaubens, das Band der Gemeinschaft (Fragen zum Evangelium nach Matthäus,11,2). Dabei ist aber auch darauf zu achten, daß diese Verbundenheit in der Liebe von der Einheit im Glauben dergestalt abhängig ist, daß diese ihr Anfang, ihr Ziel, kurzum, ihre einzige Richtschnur sein muß. Sooft uns also die kirchliche Einheit gepriesen wird, wollen wir daran denken: hiermit wird von uns verlangt, daß unsere Gemüter in Christus einhellig und zugleich auch unsere Willensregungen in gegenseitigem Wohlwollen in Christus untereinander verbunden sind. So macht es daher Paulus: er ermahnt uns zur kirchlichen Einheit und setzt dabei als deren Fundament, daß ein Gott, ein Glaube und eine Taufe ist (Eph. 4,5). Ja, überall, wo er uns lehrt, das gleiche Urteil und den gleichen Willen zu haben, da fügt er sogleich hinzu: „In Christus“ oder „nach der Art Christi“ (Phil. 2,2.5; Röm. 15,5). Damit zeigt er, daß das, was außerhalb des Wortes unseres Herrn (an kirchlicher Gemeinschaft) geschieht, eine Rotte von Gottlosen und nicht eine einträchtige Gemeinschaft (conspiratio) der Gläubigen ist.



IV,2,6

Diesem Urteil des Paulus schließt sich auch Cyprian an: er findet den Brunnquell aller kirchlichen Eintracht darin, daß Christus der einige Bischof ist. Danach fügt er hinzu: „Die Kirche, die sich durch fruchtbares Wachstum weiterhin zu einer Vielheit dehnt, ist doch eine Kirche, wie ja auch die Strahlen der Sonne viele sind, aber das Licht eins, oder wie an einem Baum viele Äste sind, aber der Stamm nur einer ist, gegründet auf einer festen Wurzel. Und wenn von einer einzigen Quelle her gar viele Bäche fließen, so mag wohl bei dem Reichtum der überströmenden Wassermenge der Eindruck einer verstreuten Vielheit entstehen, aber es bleibt doch in der Quelle die Einheit. Nimm einen Strahl der Sonne von ihrem Körper weg, so läßt sich die Einheit der Sonne doch nicht teilen. Brich einen Ast vom Baum, so wird der abgeschlagene Ast nicht zu grünen vermögen. Trenne einen Bach von seinem Quell, so muß er in seinem Abgeschnittensein austrocknen. So breitet sich auch die Kirche, von dem Lichte des Herrn durchflossen, über die ganze Welt aus, aber es ist doch ein Licht, das sich da allenthalben ergießt“ (Von der Einheit der katholischen Kirche 5). Treffenderes hätte gar nicht gesagt werden können, um jene unzertrennliche Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, die alle Glieder Christi untereinander haben. Wir sehen, wie er uns immerfort zu dem Haupte selber zurückruft. Deshalb erklärt er auch, daß alle Ketzereien und Kirchenspaltungen daher rühren, daß man nicht auf den Ursprung der Wahrheit zurückgeht, daß man das Haupt nicht sucht und die Lehre des himmlischen Meisters nicht wahrt. So, nun sollen sie herkommen und schreien, wir, die wir uns von ihrer Kirche geschieden haben, wir seien Ketzer, wo doch diese Absonderung nur eine einzige Ursache gehabt hat, nämlich die, daß sie das reine Bekenntnis der Wahrheit auf keinerlei Weise zu ertragen vermögen. Dabei will ich aber noch mit Schweigen übergehen, daß sie uns mit Verfluchungen und Verwünschungen hinausgetrieben haben! Trotzdem genügt auch das schon mehr als genug zu unserer Freisprechung, sofern sie nicht auch die Apostel wegen Kirchenspaltung verdammen wollen, mit denen wir die gleiche Sache haben. Hat doch Christus, so sage ich, seinen Aposteln vorhergesagt, daß sie um seines Namens willen aus den Synagogen hinausgeworfen werden würden (Joh. 16,2). Nun galten aber die Synagogen, von denen er spricht, dazumal für rechtmäßige Kirchen. Da es also feststeht, daß wir hinausgeworfen worden sind, und da wir bereit sind darzulegen, daß dies um des Namens Christi willen geschehen ist, so muß man unzweifelhaft zuerst über die Streitsache eine Untersuchung anstellen, bevor man über uns irgend etwas in der einen oder anderen Richtung bestimmt. Aber das will ich ihnen, wenn sie es so wollen, gerne erlassen; mir genügt es voll und ganz, daß wir uns von ihnen haben wegwenden müssen, um uns zu Christus hinzuwenden!



IV,2,7

Aber was wir von all den Kirchen zu halten haben, die jene Tyrannei des römischen Abgotts mit Beschlag belegt hat, das wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir sie mit der alten Kirche in Israel vergleichen, wie sie uns bei den Propheten umrissen wird. Bei den Judäern und Israeliten war zu der Zeit die wahre Kirche, als sie in den Gesetzen des Bundes verharrten, indem sie nämlich durch Gottes Wohltat die Dinge in Besitz hatten, in denen die Kirche besteht. Die Lehre der Wahrheit hatten sie im Gesetz, der Dienst an dieser Lehre lag bei den Priestern und Propheten. Durch das Merkzeichen der Beschneidung empfingen sie den ersten Zugang zur Gottesverehrung, durch andere Sakramente wurden sie zur Stärkung ihres Glaubens geübt. Es besteht kein Zweifel, daß die Lobsprüche, mit denen der Herr die Kirche geehrt hat, auf ihre Gemeinschaft Anwendung fanden. Nachdem sie aber das Gesetz des Herrn verlassen hatten und daraufhin zu Abgötterei und Aberglauben entartet waren, geriet ihnen jenes Vorrecht teilweise in Verlust. Denn wer würde es wagen, denen den Titel „Kirche“ zu entreißen, denen Gott die Predigt seines Wortes und die Beobachtung seiner Sakramente in Bewahrung gegeben hat? Auf der anderen Seite: wer möchte es wagen, eine Versammlung ohne jede Ausnahme als Kirche anzusprechen, in der man Gottes Wort öffentlich und ungestraft mit Füßen tritt, eine Versammlung, in der sein Dienstamt, das doch der Hauptkraftträger und geradezu die Seele der Kirche ist, der Zerstörung anheimfällt?
Simon W.

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IV,2,8

Wieso nun – möchte vielleicht jemand sagen -, war denn bei den Judäern, seitdem sie zur Abgötterei abgefallen waren, kein Stücklein Kirche mehr übrig? Da ist die Antwort leicht zu geben. Zunächst behaupte ich, daß es bei dem Abfall selber bestimmte Stufen gegeben hat. Denn wir werden nicht sagen können, daß der Abfall Judas und Israels zu der Zeit, als sie beide zum ersten Male von der reinen Verehrung Gottes abwichen, derselbe gewesen wäre. Als Jerobeam gegen Gottes klares Verbot die Kälber machte und eine unerlaubte Stätte zu ihrer Verehrung weihte, da hat er die Gottesverehrung voll und ganz verdorben. Die Judäer haben sich zunächst mit gottlosen und abergläubischen Gebräuchen befleckt, bevor sie auch in der äußerlichen Form der Gottesverehrung den gesetzten Zustand übel veränderten. Gewiß hatten sie nämlich unter Rehabeam bereits allgemein vielerlei verkehrte Zeremonien eingeführt; aber trotzdem blieben in Jerusalem die Lehre des Gesetzes und das Priestertum, dazu auch die gottesdienstlichen Gebräuche, wie sie Gott eingerichtet hatte, bestehen, und deshalb fanden die Frommen dort (immer noch) einen erträglichen Zustand der Kirche vor. Bei den Israeliten wurden bis zur Regierung des Ahab die Verhältnisse keineswegs wieder in ihren besseren Stand zurückversetzt, ja, zu Ahabs Zeiten sind sie gar noch in einen schlimmeren Zustand versunken. Die Könige, die hernach, bis zum Untergang des Königtums, folgten, waren teils dem Ahab ähnlich, teils, wenn sie etwas besser sein wollten, folgten sie dem Beispiel des Jerobeam; alle ohne Ausnahme aber waren Gottlose und Götzendiener. In Judäa trugen sich je und dann vielfältige Veränderungen zu, da einige von den Königen die Verehrung Gottes mit falschen und ersonnenen abergläubischen Gebräuchen verkehrten, die anderen aber die zerrüttete Religion wieder aufrichteten – bis dann auch die Priester selber den Tempel Gottes mit unheiligen und abscheulichen Gebräuchen besudelten.



IV,2,9

Wohlan nun, jetzt sollen die Papisten, wenn sie es fertig bringen, bestreiten, daß der Zustand der Gottesverehrung – so sehr sie auch ihre Laster abschwächen mögen – bei ihnen ebenso verkommen und verdorben ist, wie er es im Reiche Israel unter Jerobeam war. Dabei aber ist die Abgötterei, die bei ihnen besteht, gröber, und auch in der Lehre sind sie um kein einziges Tröpflein reiner, wenn sie nicht gar auch hierin noch unsauberer sind als die Israeliten einst. Gott, ja, überhaupt jeder, der mit einigem Urteilsvermögen begabt ist, wird mir dafür Zeuge sein, und der Tatbestand selbst macht auch deutlich, wie rein gar nichts ich hier übertreibe. Wenn sie uns nun zur Gemeinschaft mit ihrer Kirche nötigen wollen, so fordern sie zweierlei von uns: erstens sollen wir an all ihren Gebeten, heiligen Handlungen und Zeremonien teilnehmen, zweitens sollen wir alles, was Christus seiner Kirche an Ehre, Macht und Gerichtsgewalt zuerteilt hat, auf ihre Kirche übertragen.

(1) Was das erste betrifft, so gebe ich zu, daß alle Propheten, die in Jerusalem waren, weder für sich allein geopfert noch von den anderen abgesonderte Versammlungen zum Beten gehalten haben, obwohl damals die Zustände dort ganz und gar verkommen waren. Denn sie hatten Gottes Gebot, kraft dessen ihnen befohlen war, beim Tempel des Salomo zusammenzukommen, und sie hatten auch die levitischen Priester; diese waren von dem Herrn als Vorsteher bei den heiligen Handlungen verordnet (Ex. 29,9) und, so unwürdig sie dieser Ehre auch sein mochten, noch nicht abgesetzt worden, und deshalb wußten die Propheten von ihnen, daß sie jenen Platz noch nicht mit Recht innehatten. Und dann, was die Hauptsache bei der ganzen Frage ist: sie wurden zu keiner abergläubischen Gottesverehrung gezwungen, ja, sie nahmen nichts an, was nicht von Gott eingerichtet gewesen wäre. Aber was findet sich bei diesen Leuten, ich meine: bei den Papisten, Ähnliches? Denn wir können mit ihnen kaum irgendeine Versammlung gemeinsam haben, in der wir uns nicht mit offener Abgötterei befleckten. Unzweifelhaft besteht doch das wichtigste Band ihrer Gemeinschaft in der Messe, die wir als die furchtbarste Heiligtumsschändung verabscheuen. Ob wir das nun mit Recht oder ohne Grund tun, das werden wir an anderer Stelle sehen. Für jetzt ist es genug, wenn ich zeige, daß unsere Sache in diesem Stück eine andere ist, als es die der Propheten war, die, wenn sie auch an den heiligen Handlungen der Gottlosen teilnahmen, trotzdem nicht gezwungen wurden, andere Zeremonien anzusehen oder zu üben, als die von Gott verordneten. Wollen wir nun ein in allen Stücken ähnliches Beispiel haben, so wollen wir es aus dem Reich Israel nehmen. Auf Grund der Einrichtung des Jerobeam blieb dort die Beschneidung bestehen, auch geschahen Opfer, das Gesetz wurde heilig gehalten, und es wurde der Gott angerufen, den man von den Vätern empfangen hatte; aber wegen der selbsterdachten und verbotenen Kultgebräuche wurde alles, was in Israel geschah, von Gott mißbilligt und verdammt (1. Kön. 12,31). Nun soll man mir aber einen einzigen Propheten oder auch nur irgendeinen frommen Mann nennen, der einmal in Bethel angebetet oder ein Opfer dargebracht hätte! Denn sie wußten eben, daß sie das nicht tun könnten, ohne sich dadurch mit irgendwelcher Heiligtumsschändung zu beflecken. Es ergibt sich also für uns: die Gemeinschaft der Kirche gilt bei den Frommen nicht soviel, daß man sich ihr, sofern sie zu unheiligen und befleckten Gebräuchen entartet, gleich anschließen müßte.



IV,2,10

(2) Was nun aber die zweite Forderung der Papisten betrifft, so widersetzen wir uns da noch heftiger. Denn wenn man die Kirche dergestalt betrachtet, kann man ihr Urteil ehrerbietig annehmen, ihre Autorität anerkennen, ihren Ermahnungen gehorchen, daß man sich von ihren Züchtigungen bewegen lassen und die Gemeinschaft mit ihr in allen Dingen ehrfürchtig aufrechterhalten soll, so können wir den Papisten nicht zugeben, daß sie Kirche sind, ohne uns notwendig zugleich der verpflichtung zu Unterwerfung und Gehorsam zu unterziehen. Wir wollen ihnen gern zugestehen, was die Propheten den Judäern und Israeliten ihrer Zeit gewährt haben, als die Dinge dort in gleichem oder gar in besserem Zustande waren. Wir gewahren aber, wie sie immer wieder laut erklären, daß (in ihrem Volk) die Versammlungen etwas Unheiliges waren (Jes. 1,14) und daß man mit ihnen ebensowenig übereinstimmen dürfe, wie man Gott verleugnen darf. Und wahrhaftig, wenn das Kirchen waren, so ergibt sich, daß diese Männer von der Kirche Gottes abgesondert waren, also in Israel Elia, Micha und andere, in Juda aber Jesaja, Jeremia, Hosea und andere dieser Art, diese Männer, die von den Propheten, den Priestern und dem Volke ihrer Zeit schlimmer gehaßt und verflucht wurden als irgendwelche Unbeschnittene. Wenn das Kirchen waren, so ist die Kirche also nicht „ein Pfeiler der Wahrheit“ (1. Tim. 3,15), sondern eine Feste der Lüge, nicht ein Zelt des lebendigen Gottes, sondern eine Behausung der Götzen! Die Propheten hielten es also für erforderlich, sich von der Übereinstimmung mit den Versammlungen solcher Leute abzusondern; denn diese war ja nichts anderes als eine ruchlose Verschwörung gegen Gott. Aus dem gleichen Grunde wird der in einem schweren Irrtum sein, der die gegenwärtigen Versammlungen, die mit Abgötterei, Aberglauben und gottloser Lehre besudelt sind, als Kirchen anerkennt, in deren voller Gemeinschaft ein Christenmensch verharren müßte, und zwar gar soweit, daß er mit ihrer Lehre in Eintracht lebte. Denn wenn es Kirchen sind, so haben sie auch die Schlüsselgewalt inne; die Schlüssel aber haben einen unlöslichen Zusammenhang mit dem Worte, das doch in diesen Versammlungen niedergeschlagen ist. Ferner: wenn es Kirchen sind, so hat bei ihnen Christi Verheißung Gültigkeit: „Was ihr binden werdet …” (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Tatsächlich aber stoßen sie aus ihrer Gemeinschaft alle aus, die sich ohne Heuchelei als Knechte Christi bekennen. Folglich ist also entweder die Verheißung Christi ohne Inhalt, oder aber sie sind, wenigstens in dieser Hinsicht, keine Kirchen! Schließlich haben sie an Stelle des Dienstes am Wort Schulen der Gottlosigkeit und einen Pfuhl von Irrtümern aller Art. Daraus ergibt sich: entweder sind sie im Sinne unserer Beweisführung keine Kirchen – oder aber es wird kein Merkzeichen übrigbleiben, an dem man die rechtmäßigen Versammlungen der Gläubigen von den Zusammenkünften der Türken unterscheiden kann.



IV,2,11

Trotzdem – wie einst unter den Juden einzelne besondere Vorrechte der Kirche übrig waren, so sprechen wir auch heute den Papisten nicht ab, was der Herr unter ihnen als Spuren der Kirche aus der Zerrüttung hat übrigbleiben lassen wollen. Mit den Juden hatte Gott einmal seinen Bund geschlossen, und dieser behielt seinen Bestand mehr dadurch, daß er, auf seine eigene Festigkeit gestützt, gegen ihre Gottlosigkeit die Oberhand gewann, als daß er etwa von ihnen bewahrt worden wäre. Der Bund des Herrn ist also bei ihnen um der Sicherheit und Beständigkeit der göttlichen Güte willen verblieben; ihre Treulosigkeit konnte seine Treue nicht auslöschen, und auch die Beschneidung konnte durch ihre unreinen Hände nicht dermaßen verunheiligt werden, daß sie nicht zugleich auch ein wahrhaftiges Zeichen und Sakrament jenes Bundes Gottes gewesen wäre. Deshalb nannte der Herr auch die Kinder, die ihnen geboren wurden, seine Kinder (Ez. 16,20f.), und dabei konnten sie doch nur durch seine besondere Segnung etwas mit ihm zu tun haben! So hat er seinen Bund auch (den Menschen) in Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien und England in Bewahrung gegeben; damit nun dieser sein Bund, nachdem diese Gebiete unter die Bedrückung durch die Tyrannei des Antichrists geraten waren, trotzdem unverletzlich seinen Bestand behielt, so hat Gott daselbst erstens die Taufe erhalten, die das Zeugnis seines Bundes ist und die, mit seinem eigenen Munde geheiligt, trotz aller menschlichen Gottlosigkeit ihre Kraft behält, zweitens hat er es durch seine Vorsehung bewirkt, daß auch andere Überreste bestehen blieben, damit die Kirche nicht ganz und gar unterginge. Oft werden ja Bauwerke so niedergerissen, daß doch Fundamente und Ruinen übrigbleiben. Ebenso hat es Gott nicht geduldet, daß seine Kirche durch den Antichrist vom Fundament her umgestürzt oder dem Erdboden gleichgemacht wurde. Freilich hat er es zur Strafe für die Undankbarkeit der Menschen, die sein Wort verachtet hatten, zugelassen, daß eine furchtbare Zerstörung und Zerrüttung geschehen ist. Aber er hat doch gewollt, daß auch aus der Verwüstung noch ein halbeingestürztes Bauwerk übrigblieb.



IV,2,12

Obgleich wir also den Papisten den Namen „Kirche“ nicht rundweg zugestehen wollen, so leugnen wir deshalb doch nicht, daß es bei ihnen Kirchen gibt, sondern wir streiten mit ihnen allein über die wahre und rechtmäßige Gestaltung der Kirche, die sich einerseits in der Gemeinschaft an den Sakramenten findet, die die Zeichen des Bekenntnisses sind, andererseits aber vor allem in der Gemeinschaft der Lehre. Daniel (Dan. 9,27) und Paulus (2. Thess. 2,4) haben vorausgesagt, daß der Antichrist in Gottes Tempel sitzen werde; als Anführer und Vorkämpfer dieses frevlerischen und abscheulichen Reiches bei uns betrachten wir den Papst zu Rom. Damit, daß der Sitz des Antichrists in Gottes Tempel seinen Platz angewiesen erhält, wird angedeutet, daß sein Reich von der Art sein wird, daß es weder Christi noch der Kirche Namen abschafft. Daraus ergibt sich also deutlich, daß wir in keiner Weise leugnen, daß auch unter seiner Tyrannei Kirchen bleiben. Aber das sind eben Kirchen, die er mit seiner frevlerischen Gottlosigkeit entheiligt, mit seiner grausamen Herrschaft bedrückt, die er mit bösen, verderblichen Lehren wie mit giftigen Tränklein verdorben und beinahe ertötet hat, das sind Kirchen, in denen Christus halb begraben verborgen liegt, das Evangelium erdrückt, die Frömmigkeit vertrieben und die Verehrung Gottes nahezu abgeschafft ist, kurz, das sind Kirchen, in denen alles dermaßen verwirrt ist, daß darin eher das Aussehen Babels als das der heiligen Stadt Gottes zutage tritt. Kurzum, ich sage, daß hier Kirchen sind, sofern der Herr darin die Überbleibsel seines Volkes, wie jämmerlich zerstreut und auseinandergetrieben sie auch sein mögen, auf wundersame Weise bewahrt; Kirchen sind hier, sofern noch einige Merkzeichen der Kirche bestehen bleiben, und zwar vor allem die, deren Wirkkraft weder die Verschlagenheit des Teufels noch die Bosheit der Menschen zu zerstören vermag. Aber weil in diesen Versammlungen auf der anderen Seite die Kennzeichen ausgetilgt sind, auf die man bei dieser Erörterung vor allem schauen muß, so behaupte ich, daß sowohl die einzelnen Versammlungen, als auch der ganze Leib der rechtmäßigen Gestalt der Kirche ermangeln.
Simon W.

Der Pilgrim
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Drittes Kapitel: Von den Lehrern und Dienern der Kirche, ihrer Erwählung und ihrer Amtspflicht



IV,3,1

Jetzt müssen wir über die Ordnung sprechen, in der die Kirche nach dem Willen des Herrn regiert werden soll. Allerdings soll in der Kirche er allein regieren und herrschen, er allein soll in ihr auch die Führung und den höchsten Platz innehaben und diese Herrschgewalt allein durch sein Wort ausüben und walten lassen. Aber er wohnt ja nicht in sichtbarer Gegenwärtigkeit unter uns (Matth. 26,11), um uns seinen Willen in eigener Person mündlich zu eröffnen, und deshalb gebraucht er dabei, wie ich bereits ausführte, den Dienst und gleichsam die vertretungsweise Tätigkeit von Menschen. Das tut er freilich nicht, um sein Recht und seine Ehre auf sie zu übertragen, sondern nur, um durch ihren Mund selbst sein Werk zu tun, wie auch ein Handwerker zur Verrichtung seiner Arbeit ein Werkzeug verwendet. Ich bin nun genötigt, abermals zu wiederholen, was ich bereits oben auseinandergesetzt habe. Gott könnte dies sein Werk zwar auch rein aus sich selber, ohne jedes andere Hilfsmittel oder Werkzeug tun, könnte es ebenso auch durch die Engel verrichten; aber es gibt eine ganze Anzahl von Ursachen, weshalb er es lieber durch Menschen tut.

(1) Denn zunächst legt er damit dar, wie lieb und wert wir ihm sein sollen, und zwar auf die Weise, daß er aus den Menschen solche herausnimmt, die für ihn in der Welt den Botendienst tun, seines verborgenen Willens Künder sein, ja, die kurzum seine Person darstellen sollen. So beweist er auch durch die Erfahrung, daß es nicht ohne Belang ist, wenn er uns je und dann seine „Tempel“ nennt (1. Kor. 3,16f.; 6,19; 2. Kor. 6,16), da er ja aus dem Mund von Menschen heraus, wie aus seinem Heiligtum, mit den Menschen redet (vergleiche Augustin, Von der christlichen Unterweisung IV,27,59).

(2) Und ferner: es ist eine sehr gute und höchst nutzbringende Übung zur Demut, wenn er uns daran gewöhnt, seinem Worte zu gehorchen, ob es auch durch Menschen gepredigt wird, die uns gleich sind, ja, die uns zuweilen auch an Würde nachstehen. Wenn er selber vom Himmel herab redete, dann wäre es kein Wunder, wenn seine heiligen Kundgebungen ohne Verzug von aller Ohr und Herz in Ehrfurcht angenommen würden. Denn wer wollte sich vor seiner gegenwärtigen Macht nicht fürchten? Wer sollte nicht beim ersten Anblick so gewaltiger Majestät zu Boden geworfen werden? Wer würde von solch unermeßlichem Glanz nicht aus der Fassung gebracht werden? Wo aber irgendein Menschlein, das aus dem Staube hervorgegangen ist, in Gottes Namen redet, da beweisen wir unsere Frömmigkeit und Ehrerbietung gegen Gott selber mit einem besonderen Zeugnis, wenn wir uns seinem Diener gelehrig erweisen, obwohl er doch in keiner Hinsicht höher steht als wir. Aus diesem Grunde verbirgt er daher auch den Schatz seiner himmlischen Weisheit in zerbrechlichen, irdenen Gefäßen (2. Kor. 4,7): er will eben einen um so gewisseren Beweis dafür empfangen, wie hoch wir ihn achten.

(3) Und dann: zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Liebe war nichts geeigneter, als die Menschen durch das Band miteinander zusammenzufassen, daß einer zum Hirten eingesetzt wird, um die anderen zusammen zu unterweisen, die anderen aber, denen befohlen wird, Jünger zu sein, aus einem Munde die gemeinsame Unterweisung empfangen. Denn wenn sich jeder selbst genügte und keiner den Dienst eines anderen nötig hätte, dann würde bei der Hoffart unseres menschlichen Wesens jeder die anderen verachten und wiederum von den anderen verachtet werden. Der Herr hat also seine Kirche mit dem Band zusammengefaßt, von dem er zuvor gesehen hat, daß es die größte Festigkeit haben würde, um die Einheit aufrechtzuerhalten, indem er nämlich die Lehre des Heils und des ewigen Lebens Menschen zur Bewahrung übergeben hat, um sie durch ihre Hand den anderen mitzuteilen. Darauf hatte Paulus sein Augenmerk gerichtet, als er an die Epheser schrieb: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allem und durch alles und in uns allen. Einem jeglichen aber unter uns ist gegeben die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi“ (Eph. 4,4-7; nicht ganz Luthertext). „Darum heißt es: ‚Er ist aufgefahren in die Höhe und hat das Gefängnis gefangen geführt und hat den Menschen Gaben gegeben’ … Der hinuntergefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte. Und er hat etliche zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut werde, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters …, auf daß wir nicht mehr Kinder seien und uns bewegen und wiegen lassen von allerlei Wind der Lehre … Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der ganze Leib wächst zu seiner selbst Auferbauung, und das alles in der Liebe“ (Eph. 4,8.10-16; fast ganz Luthertext).



IV,3,2

Mit diesen Worten zeigt der Apostel zunächst, daß der Dienst von Menschen, den Gott zur Regierung seiner Kirche benutzt, das wichtigste Band ist, durch das die Gläubigen in einem Leibe zusammengehalten werden. Dann legt er ferner auch dar, daß die Kirche nicht anders unversehrt bewahrt bleiben kann, als wenn sie durch diese Mittel gestützt wird, welche der Herr nach seinem Wohlgefallen zu ihrer Erhaltung eingerichtet hat. Er sagt: „Christus ist aufgefahren in die Höhe, auf daß er alles erfüllte“ (Eph. 4,10; nicht Luthertext). Dieses „Erfüllen“ geschieht aber auf die Weise, daß er durch die Diener, denen er diese Amtspflicht aufgetragen und die Gnade zur Verrichtung dieses Dienstes gewährt hat, seine Gaben an die Kirche ausspendet und verteilt und sich so selber gewissermaßen als gegenwärtig erweist, indem er die Kraft seines Heiligen Geistes in dieser seiner Einsetzung zur Wirkung bringt, damit sie nicht eitel oder fruchtlos sei. So werden „die Heiligen zugerichtet“, so wird „der Leib Christi erbaut“ (Eph. 4,12), so „wachsen wir in allen Stücken an dem, der das Haupt ist“ (Vers 15), so fügen wir uns auch untereinander zusammen (Vers 16) und werden wir alle zur Einheit Christi gebracht, wenn nämlich unter uns das Prophetenamt in Kraft steht, wenn wir die „Apostel“ annehmen und die Lehre, die uns durch solchen Dienst zukommt, nicht verachten. Jeder also, der diese Ordnung, um die es in unserer Erörterung geht, und diese Art des Regiments abzuschaffen begehrt oder sie verkleinert, als sei sie weniger notwendig, der bemüht sich tatsächlich um die Zerstreuung oder lieber um den Zerfall oder den Untergang der Kirche. Denn weder das Licht und die Wärme der Sonne noch auch Speis und Trank sind zur Ernährung und Erhaltung des gegenwärtigen Lebens so notwendig wie das Amt der Apostel und Hirten zur Bewahrung der Kirche auf Erden.



IV,3,3

Deshalb habe ich oben daran erinnert, daß uns Gott die würde dieses Amtes oft mit allen nur möglichen Lobsprüchen gepriesen hat, damit es bei uns in höchster Ehre und Wertschätzung stehe, gleichsam als das kostbarste von allen Dingen. Er gibt dem Propheten die Weisung zu dem Ausruf, „lieblich“ seien die „Füße“ und glückselig sei das Kommen „der Boten, die da Frieden verkündigen“ (Jes. 52,7), er nennt die Apostel „das Licht der Welt“ und „das Salz der Erde“ (Matth. 5,13f.), und damit bezeugt er, daß er den Menschen eine einzigartige Wohltat zukommen läßt, indem er ihnen Lehrer erweckt. Auch hätte er dies Amt gar nicht leuchtender zieren können, als indem er sprach: „Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich“ (Luk. 10,16). Aber die herrlichste Stelle von allen findet sich bei Paulus im zweiten Korintherbrief, wo er diese Frage gleichsam als Thema behandelt. Da behauptet er also, daß es in der Kirche nichts Vortrefflicheres und Herrlicheres gibt, als das Amt des Evangeliums, weil es ja das Amt des Geistes (2. Kor. 3,8), der „Gerechtigkeit“ (2. Kor. 3,9) und des ewigen Lebens ist (zum Ganzen noch 2. Kor. 4,6). Diese Worte und ähnliche haben den Zweck, daß jene Art und Weise, die Kirche durch die Diener zu regieren und zu erhalten, die der Herr für alle Zeit gestiftet hat, bei uns nicht in Verachtung gerate und schließlich durch Geringschätzung in Abgang komme. Wie notwendig dies Amt nun ist, das hat uns der Herr nicht allein mit Worten, sondern auch an Beispielen gezeigt. Als er den Cornelius mit dem Lichte seiner Wahrheit reichlicher anstrahlen wollte, da sandte er einen Engel vom Himmel, der ihn zu Petrus weisen sollte (Apg. 10,3-6). Als er den Paulus zu seiner Erkenntnis berufen und in die Kirche einfügen wollte, da redete er ihn zwar mit eigener Stimme an, aber er schickte ihn doch zu einem Menschen, damit er von ihm die Lehre des Heils und die Heiligung der Taufe empfing (Apg. 9,6)! Es geschieht doch sicher nicht ohne Grund, daß der Engel, der Gottes Bote ist, selbst davon Abstand nimmt, Gottes Willen kundzumachen, sondern (dem Cornelius) die Weisung gibt, einen Menschen herbeizurufen, damit dieser ihn bekanntgebe; es geschieht nicht ohne Grund, daß Christus, der einige Lehrmeister der Gläubigen, den Paulus dem Lehramt eines Menschen anvertraut – den Paulus, den er doch in den dritten Himmel zu „entzücken“ und der Offenbarung unaussprechlicher Dinge zu würdigen beschlossen hatte (2. Kor. 12,2-4)! Wenn es so steht – wer will es dann jetzt wagen, jenes Dienstamt zu verachten oder als überflüssig zu übergehen, das Gott mit solchen Beweisen hat bezeugen wollen?
Simon W.

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IV,3,4

Als solche, die nach der Einsetzung Christi dem Kirchenregiment vorstehen, verzeichnet Paulus zunächst die „Apostel“, dann die „Propheten“, drittens die „Evangelisten“, viertens die „Hirten“ und schließlich die „Lehrer“ (Eph. 4,11). Unter diesen haben bloß die beiden letzten ein regelmäßiges Amt in der Kirche; die anderen drei hat der Herr im Beginn seines Reiches erweckt, und er erweckt sie auch sonst zuweilen, je nachdem es die Notdurft der Zeiten erfordert. Was die Amtsaufgabe der Apostel ist, ergibt sich deutlich aus der Anweisung: „Gehet hin … und prediget das Evangelium aller Kreatur“ (Mark. 16,15). Ihnen werden keine bestimmten Gebiete zugeordnet, sondern sie bekommen den ganzen Erdkreis zugewiesen, um ihn zum Gehorsam gegen Christus zu bringen: sie sollen das Evangelium bei allen Völkern ausstreuen, bei denen sie es zu tun vermögen, und allenthalben Christi Reich aufrichten. So bezeugt es daher auch Paulus; er will sein Apostelamt bekräftigen, und dazu erinnert er daran, daß er Christus nicht irgendeine einzelne Stadt erworben, sondern das Evangelium weit und breit bekanntgemacht hat, auch daß er „nicht auf einen fremden Grund gebaut“, sondern vielmehr dort Kirchen gepflanzt hat, „wo des Herrn Name nicht bekannt war“ (Röm. 15,19. 20). Die Apostel wurden also ausgesandt, um den Erdkreis aus seinem Abfall zum wahren Gehorsam gegen Gott zurückzuführen und um Gottes Reich allenthalben durch die Predigt des Evangeliums aufzurichten oder auch, wenn man lieber will, um gleichsam als die ersten Baumeister der Kirche in der ganzen Welt ihre Fundamente zu legen (1. Kor. 3,10). „Propheten“ nennt der Apostel (Eph. 4,11) nicht jegliche Künder des Willens Gottes, sondern solche, die sich durch eine besondere Offenbarung auszeichneten. Derartige Menschen gibt es heutzutage entweder keine, oder aber sie sind weniger sichtbar. Unter „Evangelisten“ verstehe ich solche, die den Aposteln zwar an Würde nachstanden, aber nach ihrer Amtsverpflichtung sehr nahe an sie herankamen und gar an ihrer Statt wirkten. Von dieser Art waren Lukas, Timotheus, Titus und andere dergleichen, dazu vielleicht auch die siebzig Jünger, die Christus an zweiter Stelle nach den Aposteln bestimmte (Luk. 10,1). Zufolge dieser Deutung, die mir sowohl den Worten als auch der Meinung des Paulus zu entsprechen scheint, waren diese drei Amtsaufgaben in der Kirche nicht dergestalt eingerichtet, daß sie bleibend sein sollten, sondern sie sollten nur für die Zeit dasein, in der es galt, Kirchen aufzurichten, wo zuvor keine gewesen waren, oder aber Kirchen von Mose zu Christus herüberzuführen. Allerdings bestreite ich nicht, daß Gott auch nachher noch zuweilen Apostel oder wenigstens an ihrer Stelle Evangelisten erweckt hat, wie das ja zu unserer Zeit geschehen ist. Denn es bedurfte solcher Männer, um die Kirche von dem Abfall des Antichrists zurückzubringen. Das Amt selber bezeichne ich trotzdem als „außerordentlich“, weil es in regelrecht eingerichteten Kirchen keinen Platz hat. Dann folgen die „Hirten“ und „Lehrer“, ohne die die Kirche zu keiner Zeit sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen besteht meines Erachtens darin, daß die „Lehrer“ weder bei der Übung der Zucht noch bei der Verwaltung der Sakramente, noch bei den Vermahnungen und Ermunterungen die Leitung haben, sondern allein bei der Auslegung der Schrift, damit die lautere und gesunde Lehre unter den Gläubigen erhalten bleibt. Das Amt der „Hirten“ dagegen begreift dies alles in sich.


IV,3,5

Jetzt sind wir uns darüber klar, welche Ämter im Kirchenregiment mit zeitlich begrenzter Gültigkeit bestanden haben und welche dazu eingerichtet sind, immerfort bestehen zu bleiben, wenn wir nun die Evangelisten mit den Aposteln verbinden, so bleiben uns je zwei gleichartige Ämter übrig, die sich untereinander gewissermaßen entsprechen. Denn die gleiche Ähnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den früheren Propheten haben, besteht auch zwischen den Hirten (Pastoren) und den Aposteln. Das Amt der Propheten war hervorragender (als das unserer Lehrer), und zwar wegen der besonderen Gabe der Offenbarung, die den Propheten zuteil geworden war. Aber das Amt der Lehrer hat doch fast die gleiche Art und durchaus den gleichen Zweck. Ebenso hatten auch jene Zwölf, die der Herr auserwählte, um die neue Predigt des Evangeliums der Welt bekanntzumachen, an Rang und würde einen höheren Platz als die übrigen (Luk. 6,13; Gal. 1,1). Allerdings können auf Grund der Bedeutung und der sprachlichen Wurzel des Wortes alle Diener der Kirche regelrecht als „Apostel“ bezeichnet werden; denn sie werden ja alle von dem Herrn ausgesandt und sind seine Boten. Aber weil eben doch viel darauf ankam, daß man von der Sendung derer, die eine solch neue, unerhörte Sache vorbringen sollten, eine sichere Kenntnis hatte, so war es nötig, daß jene Zwölf, zu deren Zahl später noch Paulus hinzukam, vor allen anderen mit einem besonderen Titel ausgezeichnet wurden. Freilich gibt Paulus selbst diesen Namen an einer Stelle (Röm. 16,7) dem Andronikus und dem Junias, von denen er sagt, sie seien unter den Aposteln „berühmt“ gewesen, wenn er aber im eigentlichen Sinne sprechen will, dann bezieht er diesen Namen („Apostel“) allein auf den ursprünglichen Rang. Das ist auch der allgemeine Gebrauch der Schrift (Matth. 10,1). Trotzdem (d.h. trotz der unübertragbaren Besonderheit der Apostel) haben die Hirten (Pastoren) die gleiche Amtsaufgabe wie die Apostel – nur daß jeder einzelne von ihnen eine bestimmte, ihm zugewiesene Kirche leitet, wie die Amtsaufgabe der Pastoren nun beschaffen ist, das wollen wir noch deutlicher hören.



IV,3,6

Als der Herr die Apostel aussandte, da gab er ihnen, wie ich bereits vor kurzem ausführte, die Weisung, das Evangelium zu predigen und diejenigen, die da glaubten, zur Vergebung der Sünden zu taufen (Matth. 28,19). Zuvor aber hatte er ihnen aufgetragen, die heiligen Merkzeichen seines Leibes und Blutes nach seinem Beispiel auszuteilen (Luk. 22,19). Siehe, da haben wir nun ein heiliges, unverletzliches und bleibendes Gesetz vor uns, das denen auferlegt ist, die den Aposteln auf ihrem Platz nachfolgen, ein Gesetz, kraft dessen sie den Auftrag erhalten, das Evangelium zu predigen und die Sakramente zu verwalten. Daraus ergibt sich für uns, daß diejenigen, die diese beiden Aufgaben vernachlässigen, sich zu Unrecht als Träger des Amtes der Apostel ausgeben. Wie steht es nun aber um die Hirten (Pastoren)? Paulus spricht nicht nur von sich selber, sondern von ihnen allen, wenn er sagt: „Dafür halte uns jedermann: für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse“ (1. Kor. 4,1). Ebenso an anderer Stelle: „Ein Bischof soll sich an das zuverlässige Wort halten, das der Lehre gemäß ist, auf daß er mächtig sei, zu ermahnen durch die heilsame Lehre und zu strafen die Widersprecher“ (Tit. 1,9; erste Hälfte nicht Luthertext). Aus diesen und ähnlichen Stellen, die uns immer wieder begegnen, läßt sich entnehmen, daß auch die Amtsaufgabe der Pastoren vornehmlich in diesen beiden Stücken besteht: das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Unterweisung geschieht nun aber nicht allein in öffentlichen Predigten, sondern sie erstreckt sich auch auf persönliche Ermahnungen. So zieht Paulus die Epheser als Zeugen dafür heran, daß er ihnen nichts vorenthalten habe, das ihnen nützlich war, sondern daß er es ihnen verkündigt, sie öffentlich und hin und her in den einzelnen Häusern gelehrt und „beiden, den Juden und Griechen“, bezeugt hat „die Buße … und den Glauben an … Christus“ (Apg. 20,20f.). Ebenso fordert er sie kurz danach zu Zeugen dafür auf, daß er nicht „abgelassen“ hat, „einen jeglichen” von ihnen „mit Tränen zu vermahnen“ (Apg. 20,31). Es gehört aber nicht zu der uns jetzt beschäftigenden Aufgabe, die einzelnen Gaben eines guten „Hirten“ durchzugehen, sondern nur, zu zeigen, zu was für einer Tätigkeit sich eigentlich die, die sich „Hirten“ nennen, bereit erklären, nämlich dazu, ihr Vorsteheramt in der Kirche so zu üben, daß sie nicht etwa eine müßige Würde innehaben, sondern mit der Lehre von Christus das Volk zu wahrer Frömmigkeit unterweisen, die heiligen Sakramente verwalten und die rechte Zucht bewahren und üben. Denn allen, die in der Kirche zu Wächtern gesetzt sind, kündigt der Herr an, er werde, wenn einer durch ihre Nachlässigkeit in seiner Unwissenheit zugrunde gehe, sein Blut von ihren eigenen Händen fordern (Ez. 3,17f.). Auf sie alle bezieht sich auch, was Paulus von sich sagt: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte, wo mir seine Austeilung doch anbefohlen ist!“ (1. Kor. 9,16f.; Vers 17 nicht Luthertext). Kurzum, was die Apostel an dem ganzen Erdkreis geleistet haben, das soll jeder einzelne Hirt (Pastor) an seiner Herde tun, der er zugeordnet ist!



IV,3,7

Wenn wir den einzelnen Hirten (Pastoren) ihre besonderen Kirchen zuweisen, so leugnen wir freilich unterdessen nicht, daß der, der an eine Kirche gebunden ist, auch anderen Kirchen Beistand leisten kann, sei es, daß irgendwelche Wirrnisse vorkommen, die seine Anwesenheit erfordern, oder sei es auch, daß man in irgendeiner dunklen Frage seinen Rat erbittet. Aber zur Erhaltung des Friedens der Kirche ist jene Ordnung vonnöten, daß jeder klar umschrieben bekommt, was er zu tun hat: es sollen doch nicht alle miteinander unruhig daherstürmen, ohne Berufung unsicher hin und her laufen, auch nicht alle auf gut Glück an einem Ort zusammenströmen, auch sollen die, die mehr um ihr Wohlsein als um die Erbauung der Kirche besorgt sind, die Kirchen nicht nach ihrem Vergnügen im Stich lassen! Deshalb muß nach Möglichkeit allgemein an der Einteilung festgehalten werden, daß sich jeder mit seinen Grenzen begnügen und nicht in ein fremdes Gebiet einbrechen soll. Das ist auch kein Menschensündlein, sondern Gott hat es selber so eingerichtet. Denn wir lesen doch, daß Paulus und Barnabas in den einzelnen Kirchen zu Lystra, Antiochia und Ikonium Älteste eingesetzt haben (Apg. 14,22f.), und Paulus selber weist den Titus an, er solle „die Städte hin und her mit Ältesten besetzen“ (Tit. 1,5). So erwähnt er auch an anderer Stelle die Bischöfe der Philipper (Phil. 1,1) und wieder an anderer Stelle den Archippus, den Bischof der Kolosser (Kol. 4,17). Auch finden wir bei Lukas eine herrliche Rede von ihm, die er an die Ältesten der Gemeinde zu Ephesus richtete (Apg. 20,18ff.). Wer also die Leitung einer einzelnen Kirche und die Fürsorge für sie in die Hand genommen hat, der soll wissen, daß er an dieses Gesetz der göttlichen Berufung gebunden ist. Das bedeutet nicht, daß er gleichsam „an die Scholle gebunden“ wäre – wie die Rechtsgelehrten sagen -, also ein Leibeigener sein müßte, oder daß er geradezu festgekettet wäre und keinen Fuß von der Stelle rühren könnte, wenn der öffentliche Nutzen es (auch) erfordern sollte – sofern das (letztere) nur nach Regel und Ordnung geschieht. Nein, der, der an einen bestimmten Ort berufen ist, darf nicht selbst über seinen Wegzug nachdenken, soll auch seine Befreiung vom Dienst nicht etwa so suchen, wie er es für sich für bequem hält. Und dann: wenn es einem von Nutzen ist, an einen anderen Ort versetzt zu werden, so darf er das doch nicht aus persönlicher Entschließung unternehmen, sondern er muß die (Regelung durch die) öffentliche Autorität abwarten.
Simon W.

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IV,3,8

Daß ich übrigens die Männer, die die Kirchen zu leiten haben, ohne Unterschied als „Bischöfe“, „Älteste“, „Pastoren“ und „Diener“ bezeichnet habe, das habe ich zufolge des Sprachgebrauchs der Schrift getan, die diese Ausdrücke miteinander vermischt; denn sie erteilt allen, die den Dienst am Wort ausüben, den Titel „Bischof” zu. So geschieht es z.B. bei Paulus: eben hat er dem Titus die Weisung erteilt, hin und her in den Städten Älteste einzusetzen (Tit. 1,5), da fährt er gleich anschließend fort: „Denn ein Bischof soll untadelig sein …” (Tit. 1,7). So grüßt er auch an anderer Stelle (Phil. 1,1) mehrere Bischöfe in einer Kirche. Und in der Apostelgeschichte wird berichtet, daß er die „Ältesten“ von Ephesus zusammenberufen habe (Apg. 20,17), die er doch selber in seiner Rede (Apg. 20,28) als „Bischöfe“ bezeichnet! Hier ist aber nun zu bemerken, daß wir bisher ausschließlich diejenigen Amtsverpflichtungen aufgeführt haben, die im Dienst am Wort bestehen; andere hat auch Paulus im vierten Kapitel des Epheserbriefs, das wir anführten, nicht erwähnt. Im Brief an die Römer (Röm. 12,7f.) und im ersten Brief an die Korinther (1. Kor. 12,28) dagegen zählt er auch andere auf, so z.B. Machterweisungen (in Wundern), die Gabe, gesund zu machen, die Auslegung, die Leitung und die Fürsorge für die Armen. Unter diesen übergehe ich die, die bloß von zeitlicher Bedeutung gewesen sind; denn es ist nicht vonnöten, daß wir uns bei ihnen aufhalten. Es gibt aber zwei, die fortwährend bleiben, nämlich die Leitung und die Fürsorge für die Armen. Die „Regierer“ (1. Kor. 12,28) sind nach meiner Ansicht Älteste gewesen, die aus dem Volke ausgewählt waren, um zusammen mit den Bischöfen die Aufsicht über den Lebenswandel zu führen und die Zucht zu üben. Denn wenn Paulus sagt: „Regiert jemand, so sei er sorgfältig“ (Röm. 12,8), so kann man das nicht anders auslegen (als im obigen Sinne). Seit Anbeginn hatte also jede einzelne Kirche ihren Ältestenrat (senatus), der mit frommen, ernsten und heiligen Männern besetzt war; bei diesem lag auch die Gerichtsgewalt zur Besserung von Lastern (also: die „Sittenzucht“), von der wir hernach noch sprechen werden. Daß nun aber die Ordnung dieser Art nicht nur einem einzigen Jahrhundert zugehörte, das zeigt die Erfahrung selbst. Folglich ist also auch dies Amt der Leitung für alle Zeiten vonnöten.



IV,3,9

Die Fürsorge für die Armen war den „Diakonen“ aufgetragen. Allerdings treten im Römerbrief zwei Arten von Diakonen auf; Paulus sagt da: „Gibt jemand, so gebe er einfältig … Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust“ (Röm. 12,8). Da Paulus hier zweifellos von den öffentlichen Ämtern der Kirche redet, so muß es also zwei voneinander unterschiedene Rangstufen gegeben haben. Wenn mich mein Urteil nicht täuscht, so bezeichnet er im ersten Gliede solche Diakonen, die die Almosen verwalteten. Im zweiten Gliede meint er dann solche Diakonen, die sich der Fürsorge an den Armen und Kranken geweiht hatten; von dieser Art waren die Witwen, die er im (1.) Brief an Timotheus erwähnt (1. Tim. 5,10). Denn die Frauen konnten kein anderes öffentliches Amt übernehmen, als wenn sie sich dem Dienst an den Armen widmeten. Wenn wir uns dies nun zu eigen machen – und das sollen wir durchaus tun! -, so wird es also (auch bei uns) zweierlei Diakonen geben: die einen dienen der Kirche, indem sie die Angelegenheiten der Armen verwalten, die anderen, indem sie für die Armen selber sorgen. Obwohl nun der Ausdruck „Diakonie“ eine sehr weitgehende Bedeutung hat, bezeichnet die Schrift doch in besonderer Weise solche Leute als „Diakonen“, die die Kirche als Vorsteher bei der Verteilung der Almosen und der Fürsorge für die Armen einsetzt und gleichsam zu Verwaltern des öffentlichen Armenvermögens bestellt. Ursprung, Einweisung und Amtsaufgabe dieser Diakonen werden von Lukas in der Apostelgeschichte beschrieben (Apg. 6,3). Als sich nämlich „ein Murmeln unter den Griechen erhoben hatte“, weil ihre Witwen bei dem Dienst an den Armen „übersehen“ würden, da entschuldigten sich die Apostel, daß sie dem doppelten Amt, der Predigt des Wortes und dem „Dienst zu Tische“, nicht Genüge zu tun vermöchten, und sie baten die Menge, man solle sieben rechtschaffene Männer erwählen, denen sie diesen Dienst auftragen konnten (Apg. 6,1ff.). Da sehen wir, was für Diakonen die apostolische Kirche gehabt hat und was für welche wir nach ihrem Vorbild auch haben sollten.



IV,3,10

Obwohl nun in der heiligen Versammlung alles „ehrbar und ordentlich zugehen“ soll (1. Kor. 14,40), so muß dies doch bei nichts sorgsamer festgehalten werden als bei der Einsetzung der (Kirchen-)Leitung; denn nirgends besteht größere Gefahr, wenn etwas unordentlich zustande kommt. Damit sich nun also unruhige und aufrührerische Menschen nicht ohne Grund eindrängen, um zu lehren oder zu regieren – was sonst geschehen würde -, so ist ausdrücklich verboten, daß sich jemand ohne Berufung ein öffentliches Amt in der Kirche aneignet. Will also jemand als wahrer Diener der Kirche angesehen werden, so muß er zuerst rechtmäßig berufen (rite vocatus) sein, ferner muß er aber auch seiner Berufung entsprechen, das heißt: er muß die ihm übertragenen Aufgaben anfassen und ausführen. Das läßt sich bei Paulus öfters beobachten: wenn er sein Apostelamt beweisen will, so führt er neben seiner Treue in der Amtsausübung fast stets auch seine Berufung an. Wenn sich ein so hervorragender Diener Christi nur deshalb die Autorität anzumaßen wagt, in der Kirche gehört zu werden, weil er durch den Auftrag des Herrn dazu bestellt ist, und wenn er nun treulich ausführt, was ihm aufgetragen ist, was ist es dann für eine Schamlosigkeit, wenn irgendein Sterblicher, dem dies beides oder eines von beiden abgeht, eine solche Ehre für sich verlangt! Aber weil wie über die Notwendigkeit, das (aufgetragene) Amt auf sich zu nehmen, schon oben kurz gesprochen haben, so wollen wir jetzt nur über die Berufung eine Erörterung anstellen.


IV,3,11

Die Behandlung der Berufung hat sich nun mit vier Fragen zu beschäftigen; wir müssen wissen, (1.) was für Leute zu Dienern (der Kirche) bestellt werden sollen, (2.) auf welche Weise das geschehen muß, (3.) wer die Einsetzung zu vollziehen hat und (4.) nach welchem Brauch und mit welcher Zeremonie die Einführung geschehen soll. Ich spreche dabei von der äußeren und feierlichen Berufung, die es mit der öffentlichen Ordnung der Kirche zu tun hat; jene verborgene Berufung dagegen, deren sich jeder Diener vor Gott bewußt ist, zu deren Zeugen er aber die Kirche nicht hat, übergehe ich. Diese verborgene Berufung ist das gute Zeugnis unseres Herzens, daß wir weder aus Ehrgeiz noch aus Habsucht, noch aus irgendwelcher anderen Begierde, sondern aus aufrichtiger Gottesfurcht und aus dem Eifer um die Auferbauung der Kirche heraus das uns angebotene Amt annehmen. Das ist, wie ich sagte, für jeden einzelnen von uns notwendig, wenn wir wollen, daß unser Dienst Gott wohlgefällig sei. Vor dem Angesicht der Kirche ist aber trotzdem auch der rechtmäßig berufen, der mit schlechtem Gewissen an sein Amt herangegangen ist, sofern nur seine Schlechtigkeit nicht offen zutage getreten ist. Man pflegt auch von amtlosen Leuten zu sagen, sie seien zum Dienst berufen, wenn man nämlich sieht, daß sie geeignet und fähig sind, dies Amt zu bekleiden, und zwar, weil die Bildung, wenn sie mit der Frömmigkeit und den anderen Gaben eines guten Hirten (Pastors) verbunden ist, eine gewisse Vorbereitung auf das Amt darstellt. Denn die Menschen, die der Herr zu einer so großen Aufgabe bestimmt hat, die rüstet er zunächst mit den Waffen aus, die erforderlich sind, um sie zu erfüllen, damit sie nicht leer und unvorbereitet kommen. Daher hat auch Paulus im (ersten) Brief an die Korinther, als er von den Amtspflichten selber sprechen wollte, zunächst die Gaben aufgezählt, mit denen die, die solche Amtspflichten ausüben, ausgerüstet sein müssen (1. Kor. 12,7-11). Aber weil dies bereits das erste von den vier Hauptstücken ist, die ich oben aufgestellt habe, so wollen wir jetzt weiter davon reden.



IV,3,12

Was für Leute man zu Bischöfen erwählen soll, das setzt Paulus an zwei Stellen gründlich auseinander (Tit. 1,7f.; 1. Tim. 3,1-7). Die Hauptsache ist dabei folgendes: es sollen nur solche erwählt werden, die von gesunder Lehre und heiligem Lebenswandel sind, und an denen keinerlei Gebrechen erkennbar ist, das ihnen die Autorität rauben und dem Amte Schande bringen könnte. Mit den Diakonen und Ältesten ist es ganz ähnlich bestellt (1. Tim. 3,8-13). Man muß immer darauf sehen, daß sie nicht unfähig oder ungeeignet sind, die Last zu tragen, die ihnen auferlegt wird, das heißt, daß sie mit den Fähigkeiten ausgestattet sind, die dazu notwendig sein werden, ihr Amt auszufüllen. So hat auch Christus die Apostel, als er sie aussenden wollte, mit den Waffen und Werkzeugen ausgerüstet, die sie nicht entbehren konnten (Luk. 21,15; 24,49; Mark. 16,15-18; Apg. 1,8). Und nachdem Paulus das Bild eines guten und wahren Bischofs gezeichnet hat, ermahnt er den Timotheus, er solle keinen zum Bischof erwählen, der diesem Bilde nicht entspräche, und sich damit nicht selber beflecken (1. Tim. 5,22). Die zweite Frage war, auf welche Weise man die Diener der Kirche einsetzen solle. Das beziehe ich nun aber nicht auf das Verfahren bei der Erwählung, sondern auf den gottesfürchtigen Ernst, der dabei zu wahren ist. Daher kommt das Fasten und Beten, das nach dem Bericht des Lukas die Gläubigen geübt haben, wenn sie Älteste einsetzten (Apg. 14,23). Denn sie sahen ein, daß sie ein Werk von höchstem Ernst verrichteten, und deshalb wagten sie nur mit tiefster Ehrfurcht und Sorgfalt, etwas zu unternehmen, vor allem aber übten sie eifriges Gebet, um den Geist des Rates und der Unterscheidung von Gott zu erflehen.



IV,3,13

Die dritte Frage in der oben aufgestellten Einteilung war die, von wem die Diener der Kirche erwählt werden sollten. Hierfür läßt sich nun aus der Einsetzung der Apostel keine sichere Regel entnehmen; denn diese hatte einen von der gewöhnlichen Berufung der übrigen wesentlich verschiedenen Charakter. Denn es war ja ein außerordentliches Amt, und deshalb mußten seine Träger durch den Mund des Herrn selber berufen und eingesetzt werden, damit dieses Amt durch ein besonders herrliches Kennzeichen sichtbar gemacht wurde. Die Apostel waren also mit keinerlei menschlicher Erwählung, sondern allein mit dem Auftrag Gottes und Christi ausgerüstet, als sie sich an ihr Werk machten. Daher kommt es auch, daß die Apostel, als sie einen anderen Apostel an die Stelle des Judas setzen wollen, nicht etwa wagen, einen einzelnen bestimmt zu ernennen, sondern zwei in ihre Mitte stellen, damit der Herr durch das Los bekanntgebe, welcher von ihnen nach seinem Willen jenen Platz einnehmen solle (Apg. 1,23-26). In diesem Sinne muß man es auch verstehen, daß Paulus erklärt, er sei „nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen“ zum Apostel bestellt worden, sondern von Christus und von Gott, dem Vater (Gal. 1,1.12). Das erste nämlich: „nicht von Menschen“ – das hatte Paulus mit allen frommen Dienern am Wort gemeinsam. Denn es hat nie jemand diesen Dienst recht ausüben können, ohne von Gott dazu berufen zu sein. Das zweite dagegen kam einzig und als etwas Besonderes dem Apostel zu. Wenn er sich dessen also rühmt, so erhebt er nicht nur den Anspruch, das zu besitzen, was ein wahrer und rechtmäßiger Hirte (der Kirche) haben muß, sondern er weist auch die Kennzeichen seines Apostelamtes vor. Denn es gab ja bei den Galatern Leute, die sich bemühten, seine Autorität zu verkleinern und ihn deshalb für einen gewöhnlichen Jünger erklärten, den die ursprünglichen Apostel hinzugewählt hätten. Um nun seiner Predigt die ihr zustehende Würde, gegen die sich nach seiner Kenntnis jene Nachstellungen richteten, unverkürzt zu erhalten, hielt er es für erforderlich, zu zeigen, daß er den übrigen Aposteln in keiner Hinsicht irgendwie nachstand. Deshalb versichert er, daß er nicht, wie ein gewöhnlicher Bischof, durch das Urteil von Menschen erwählt worden ist, sondern durch den Mund und das deutliche Offenbarungswort des Herrn selber.
Simon W.

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IV,3,14

Daß es aber durchaus nach der Ordnung einer rechtmäßigen Berufung zugeht, wenn die Bischöfe durch Menschen ernannt werden, das wird kein vernünftiger Mensch leugnen; denn es sind in dieser Sache gar viele Zeugnisse der Schrift vorhanden. Dem widerspricht auch, wie gesagt, nicht das Zeugnis des Paulus, nach welchem er „nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen“ gesandt worden ist (Gal. 1,1); denn er spricht an dieser Stelle nicht von der ordentlichen Erwählung der Diener (der Kirche), sondern schreibt sich das zu, was den Aposteln besonders zukam. Freilich: obwohl der Herr den Paulus von sich aus kraft eines besonderen Vorrechts bestimmte, so hat er es doch auch bei ihm so gehalten, daß er sich zugleich der Ordnung kirchlicher Berufung bediente. Denn Lukas berichtet: „Da aber die Apostel fasteten und beteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir aus Paulus und Barnabas zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe“ (Apg. 13,2; ungenau). Wozu diente nun diese Aussonderung und Handauflegung, nachdem doch der Heilige Geist die von ihm ausgehende Erwählung bereits bezeugt hatte? Doch nur zur Wahrung der kirchlichen Ordnung, kraft deren die Diener (der Kirche) durch Menschen bestimmt werden! Gott hätte also eine solche Ordnung durch keinen klareren Beweis bekräftigen können, als indem er den Paulus, von dem er doch schon zuvor gesagt hatte, er habe ihn den Heiden zum Apostel bestimmt, trotzdem auch von der Kirche erwählt sein lassen wollte. Das gleiche kann man auch aus der Erwählung des Matthias sehen (Apg. 1,23). Denn weil das Amt eines Apostels von solch hoher Bedeutung war, daß sie es nicht wagten, nach ihrem Urteil einen einzelnen in diese Rangstufe mit aufzunehmen, so stellten sie zwei in die Mitte, auf deren einen das Los fallen sollte. Das geschah, damit auf diese Weise die Erwählung ein merkliches Zeugnis vom Himmel her empfing, zugleich aber doch die Ordnung der Kirche durchaus nicht übergangen wurde.



IV,3,15

Es ist nun die Frage, ob der Diener von der ganzen Kirche gewählt werden soll oder bloß von seinen Amtsgenossen und von den Ältesten, die die Zucht zu üben haben, oder aber, ob er auch kraft der Autorität eines einzelnen eingesetzt werden kann. Manche übertragen tatsächlich dieses Recht auf einen einzelnen Menschen und ziehen dazu das Wort des Paulus an Titus heran: „Derhalben ließ ich dich in Kreta, daß du solltest … besetzen die Städte hin und her mit Ältesten …” (Tit. 1,5). Oder ebenso das Wort an Timotheus: „Die Hände lege niemand zu bald auf“ (1. Tim. 5,22). Jene Leute täuschen sich aber, wenn sie meinen, Timotheus habe in Ephesus oder Titus auf Kreta eine Regierungsgewalt ausgeübt, so daß sie also beide nach ihrem Gutdünken alles bestimmt hätten. Denn ihre Vorsteherschaft hatte nur den Zweck, daß sie dem Volke mit guten und heilsamen Ratschlägen vorangingen, nicht aber, daß sie allein, unter Ausschluß aller anderen, durchführten, was ihnen gefiel. Damit nun nicht der Eindruck entsteht, als ob ich mir hier selber etwas ausdächte, so will ich meine Darlegung mit einem ähnlichen Beispiel deutlich machen. Lukas berichtet von Paulus und Barnabas: „Und sie ordneten ihnen hin und her Älteste in den Gemeinden“ (Apg. 14,23); aber er bezeichnet zugleich auch die Art und Weise oder das Verfahren, indem er nämlich sagt, das sei durch eine Stimmabgabe geschehen (vgl. Urtext, Apg. 14,23). Er sagt nämlich: „Mit Aufrecken der Hände wählten sie… für jede Kirche Älteste“ (wörtlich; ausgelassen ist: „ihnen“). Es war also so: Paulus und Barnabas selbst wählten zwei Männer, die ganze Menge aber bezeugte, wie das die Griechen bei Wahlen gewohnt waren, mit aufgehobener Hand, welchen (von den beiden) sie haben wollte. Die römischen Geschichtsschreiber drücken sich nämlich nicht selten so aus, der Konsul, der eine Volksversammlung gehalten habe, habe neue Amtspersonen „gewählt“, und diesen Ausdruck verwenden sie nur aus dem einen Grunde, daß er eben die abgegebenen Stimmen in Empfang genommen und das Volk bei der Wahlhandlung geleitet hat. Nun ist es aber sicherlich nicht glaubhaft, daß Paulus dem Timotheus und dem Titus mehr zugestanden hätte, als er sich selber an Rechten genommen hat. Wir sehen aber, daß er die Gewohnheit hatte, die Bischöfe auf Grund der Stimmabgabe des Volkes zu wählen. Die oben genannten Stellen sind also dergestalt aufzufassen, daß sie dem allgemeinen Recht und der Freiheit der Kirche keinen Abbruch tun. Sehr treffend ist es daher, wenn Cyprian behauptet, es sei aus Gottes Autorität herzuleiten, daß der Priester in Gegenwart des Volkes vor aller Augen erwählt und durch öffentliches Urteil und Zeugnis als würdig und geeignet bestätigt werde (Brief 67). Wir sehen ja auch, daß man es bei den levitischen Priestern auf Weisung des Herrn so gehalten hat, daß sie vor ihrer Weihe dem Volke vor Augen gestellt wurden (Lev. S,4-6; Num. 20,2s. 27). Auch die Einreihung des Matthias in die Amtsgenoffenschaft der Apostel und ebenso die Wahl der sieben Diakonen geschah nicht anders als im Beisein und unter Billigung des Volkes (Apg. ),15 ff.; b,2-7). „Diese Beispiele“, sagt Cyprian, „zeigen, daß die Ordination eines Priesters nur unter Mitwiffen des anwesenden Volkes geschehen soll, damit die Ordination recht und rechtmäßig erfolgt, weil sie vor dem Zeugnis aller eine Prüfung durchgemacht hat“ (Brief 67). Es ergibt sich also: nach Gottes Wort rechtmäßig ist die Berufung eines Dieners da, wo auf Grund der einhelligen Meinung und der Billigung des Volkes diejenigen gewählt werden, die als geeignet erschienen sind. Die Leitung aber bei der Wahl sollen andere Pastoren innehaben, damit die Menge sich nicht etwa durch Leichtfertigkeit, üble Treibereien oder auch durch Aufruhr versündigt.



IV,3,16

Jetzt ist noch das Verfahren bei der Ordination übrig, dem wir bei der (Besprechung der) Berufung den letzten Platz gegeben haben. Es steht nun fest, daß die Apostel, wenn sie jemanden in ein Amt einsetzten, keine andere Zeremonie angewandt haben als die Handauflegung. Dieser (gottesdienstliche) Brauch ist nach meiner Meinung von der Sitte der Hebräer hergekommen: wenn diese etwas gesegnet oder geweiht haben wollten, so stellten sie es durch Auflegung der Hände gleichsam Gott dar. So legte Jakob dem Ephraim und dem Manasse, als er sie segnen wollte, die Hände aufs Haupt (Gen. 48,14). Diesem Brauch hat sich auch unser Herr angeschlossen, als er über den Kindlein betete (Matth. 19,15). Nach meiner Ansicht hatte es die gleiche Bedeutung, wenn die Juden auf Grund der Vorschrift des Gesetzes ihren Opfern die Hand auflegten. Die Apostel deuteten also durch die Handauflegung an, daß sie den, den sie in sein Amt einwiesen, Gott zum Opfer darbrachten. Freilich haben sie die Handauflegung auch an denen geübt, denen sie sichtbare Gnadengaben des Heiligen Geistes zuteil werden ließen (Apg. 19,6). Wie dem nun auch sei – dies war jedenfalls der allgemein übliche Brauch, wenn sie jemanden in ein kirchliches Amt beriefen. In dieser Weise haben sie die Hirten und Lehrer, aber auch die Diakonen (zu ihrem Amt) geheiligt. Allerdings besteht nun kein klares Gebot hinsichtlich der Handauflegung, aber wir sehen doch, daß sie bei den Aposteln in fortwährendem Gebrauch war, und die Tatsache, daß sie diesen Brauch so gründlich innehielten, soll für uns doch soviel gelten wie ein Gebot. Es ist auch sicherlich von Nutzen, daß durch ein derartiges Merkzeichen einerseits dem Volke die Würde des Amtes ans Herz gelegt, andererseits aber auch der, der ordiniert werden soll, daran gemahnt wird, daß er jetzt nicht mehr sein eigener Herr ist, sondern Gott und der Kirche zu Dienste gegeben. Außerdem wird es auch kein leeres Zeichen sein, wenn es nur zu seinem reinen, ursprünglichen Sinn zurückgeführt wird. Denn weil der Geist Gottes in der Kirche nichts umsonst eingerichtet hat, so werden wir auch von dieser Zeremonie, die doch von ihm ausgegangen ist, die Erfahrung machen, daß sie nicht ohne Nutzen bleibt, wofern sie nur nicht in einen abergläubischen Mißbrauch verkehrt wird. Schließlich müssen wir noch wissen, daß nicht etwa die ganze Menge ihren Dienern die Hände aufgelegt hat, sondern allein die Hirten (der Kirche). Allerdings ist es ungewiß, ob die Handauflegung immer durch mehrere geschah oder nicht. Sicher ist aber, daß es bei den Diakonen, bei Paulus und Barnabas und bei einigen wenigen anderen so gemacht worden ist (Apg. 6,6; 13,3). Andererseits erwähnt Paulus an anderer Stelle, daß er dem Timotheus die Hände aufgelegt habe, nicht aber mehrere andere. Er sagt: „Um solcher Ursache willen erinnere ich dich, daß du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände“ (2. Tim. 1,6). Denn was wir in dem anderen Brief von der Handauflegung des „Presbyteriums“ lesen (1. Tim. 4,14), das verstehe ich nicht so, als ob Paulus von der Amtsgenossenschaft der Ältesten (also von unserem „Presbyterium“) spräche, sondern ich fasse es so auf, daß dieser Ausdruck die Ordination selber (als Vorgang) meint (Übersetzung der Stelle also etwa: „durch die Handauflegung, die zum Ältestenamt gehört“); es ist also, als ob Paulus sagte: Sorge dafür, daß die Gnade, die du durch die Auflegung der Hände empfangen hast, als ich dich zum Ältesten einsetzte, nicht wirkungslos sei.



Viertes Kapitel: Vom Zustand der Alten Kirche und von der Regierungsweise, die vor dem Papsttum in Übung stand




IV,4,1

Bisher ging unsere Erörterung um die Ordnung des Kirchenregiments, wie sie uns aus Gottes reinem Wort überliefert ist, und um die Dienstämter, wie sie von Christus eingesetzt sind. Damit uns nun das alles klarer und vertrauter sichtbar wird und sich auch besser in unserem Herzen festsetzt, wird es von Nutzen sein, in diesen Dingen die Gestalt der Alten Kirche näher zu betrachten, die uns gewissermaßen ein Bild der göttlichen Einsetzung vor Augen stellen wird. Freilich haben die Bischöfe jener Zeiten viele Kirchensatzungen ausgehen lassen, in denen sie mehr zum Ausdruck zu bringen scheinen, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist. Aber sie haben ihre ganze Regierungsweise doch mit solcher Vorsicht nach jener einzigen Richtschnur des Wortes Gottes eingerichtet, daß man leicht sehen kann, wie sie in dieser Hinsicht fast nichts gehabt haben, was Gottes Wort fremd wäre. Aber selbst wenn in ihren Einrichtungen noch einiges zu wünschen übrig sein könnte, so haben sie sich doch in aufrichtigem Bemühen angestrengt, Gottes Einsetzung zu wahren, und sie sind auch nicht viel von ihr abgeirrt; deshalb wird es also sehr förderlich sein, hier kurz durchzugehen, was das denn für eine Ordnung war, die sie so gewissenhaft eingehalten haben. Wie wir nun oben dargelegt haben, daß uns in der Schrift drei Arten von Dienern (der Kirche) anbefohlen werden, so hat auch die Alte Kirche alles, was sie an Dienern besaß, in drei Ordnungen eingeteilt. Aus der Ordnung der Presbyter („Priester“) wurden nämlich teils (1.) die Hirten und Lehrer erwählt; der übrige Teil hatte (2.) die Leitung bei der Aufsicht über den Lebenswandel und bei der Zuchtübung; (3.) den Diakonen war die Fürsorge für die Armen und die Verteilung der Almosen anvertraut. Die Bezeichnungen „Lektor“ und „Akoluth“ aber bezogen sich nicht auf bestimmte Amtsaufgaben. Es war vielmehr so: die Leute, die man „Kleriker“ nannte, gewöhnte man von Jugend auf durch bestimmte Übungen an den Dienst der Kirche, damit sie besser erkannten, wozu sie bestimmt waren, und damit sie zu gegebener Zeit desto gründlicher vorbereitet an ihre Amtspflichten herantreten konnten. Das werde ich bald noch eingehender darlegen. Demzufolge zählt Hieronymus, nachdem er das Bestehen von fünf Ordnungen in der Kirche behauptet hat, folgende auf: Bischöfe, Presbyter („Priester“), Diakonen, Gläubige und Katechumenen; dem übrigen „Klerus“ und den Mönchen weist er keinen eigenen Platz an (Zu Jesaja 19,13).
Simon W.

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IV,4,2

Man bezeichnete also alle, denen das Lehramt aufgetragen war, als Presbyter („Priester“). Diese wählten nun aus ihrer Zahl in jeder Stadt einen aus, dem sie besonders den Titel „Bischof“ gaben. Das geschah, damit nicht, wie das gewöhnlich eintritt, aus der Gleichheit (im Rang) ein Zwiespalt erwüchse. Aber der Bischof hatte nicht einen solchen Vorrang an Ehre und Würde, daß er etwa über seine Amtsgenossen die Herrschaft ausgeübt hätte. Er führte vielmehr in der Versammlung der Presbyter ein Amt, das den Aufgaben des Vorstehers (consul) im Rat (senatus) entsprach: der soll bekanntlich über die Geschäfte berichten, die Meinung der anderen erfragen, ihnen mit Rat, Ermahnung und Ermunterung vorangehen, mit seiner Autorität die ganze Verhandlung leiten und schließlich ausführen, was im gemeinen Rat beschlossen ist. Auch geben die Alten selber zu, daß diese Regelung nach den Erfordernissen der Zeit durch menschliches Übereinkommen eingeführt worden ist. So sagt Hieronymus in seiner Auslegung des Titusbriefs: „Zwischen Presbyter und Bischof besteht kein Unterschied; und bevor auf Eingeben des Teufels in der Religion Zwiespältigkeiten entstanden, so daß man im Volke sagte: ‚Ich bin paulisch’ oder: ‚Ich bin kephisch’ (1. Kor. 1,12), wurden die Kirchen durch gemeinsame Beratung der Presbyter regiert“ (Zu Kap. 1). „Später hat man dann, um alle Keime der Uneinigkeit auszureißen, alle Sorge auf einen übertragen. Wie also die Presbyter wissen, daß sie der Gewohnheit der Kirche zufolge dem unterworfen sind, der die Leitung hat, so müssen auch die Bischöfe wissen, daß ihr Vorrang über die Presbyter und ihre Verpflichtung, mit ihnen zusammen die Kirche zu leiten, mehr aus der Gewohnheit als aus der Wahrheit der Anordnung des Herrn erwachsen ist.“ (Ebenda). An anderer Stelle aber legt er doch dar, daß diese Regelung schon althergebracht sei; er sagt nämlich, in Alexandria hätten die Presbyter von dem Evangelisten Markus an bis auf Herakles und Dionysius stets einen aus ihrer Mitte erwählt und ihm eine höhere Rangstufe gegeben, und diesen hätten sie „Bischof“ genannt (Brief 146, an Euangelus bzw. Euagrius). Jede einzelne Stadt besaß also ein Kollegium von Presbytern, die „Hirten“ und „Lehrer“ waren. Denn sie übten alle an dem Volke das Amt der Lehre, der Ermahnung und der Zucht, das Paulus den Bischöfen auferlegt (Tit. 1,9), und, damit sie Samen hinterließen, gaben sie sich auch Mühe, die Jüngeren, die sich dem heiligen Kriegsdienst verschrieben hatten, zu erziehen. Jeder einzelnen Stadt war nun ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, das aus ihr seine Presbyter entnahm und gleichsam zu dem Leibe jener Kirche zugerechnet wurde. Die einzelnen Kollegien waren, wie gesagt, zur Wahrung der Ordnung und des Friedens einem einzigen Bischof unterstellt; dieser hatte zwar nach der Würde den Vorrang vor den anderen, aber doch so, daß er der Versammlung der Brüder unterworfen war. Wenn nun das Gebiet, das unter seinem Bistum stand, zu groß war, als daß er allenthalben allen Berufspflichten eines Bischofs genügen konnte, so wurden über dies Gebiet hin an bestimmten Orten Presbyter bestellt, die bei weniger wichtigen Geschäften die Vertretung des Bischofs wahrnehmen sollten. Diese nannte man „Landbischöfe” (Chorepiscopi), weil sie für jenen Landstrich den Bischof darstellten.



IV,4,3

Was nun die Amtspflicht betrifft, von der wir jetzt sprechen, so mußten der Bischof wie auch die Presbyter der Austeilung des Wortes und der Sakramente obliegen. Denn nur in Alexandria bestand, wie uns Sokrates im neunten Buche der „Historia tripartita“ berichtet, die Regelung, daß der Presbyter keine Predigt an das Volk halten durfte; dort hatte ja Arius die Kirche in Verwirrung gebracht. Trotzdem verhehlt Hieronymus nicht, daß ihm diese Maßnahme mißfällt (Brief 52). Jedenfalls hätte man es für etwas Ungeheuerliches gehalten, wenn sich jemand als Bischof ausgegeben hätte, ohne sich auch mit der Tat als wahrer Bischof zu erweisen. Es bestand also zu jenen Zeiten eine solche Strenge, daß man alle Diener der Kirche nötigte, ihre Amtsaufgaben so zu erfüllen, wie es der Herr von ihnen fordert. Auch berichte ich hier nicht allein von der Gewohnheit eines einzigen Zeitalters; denn nicht einmal zur Zeit (Papst) Gregors (I.), als die Kirche schon beinahe verfallen oder jedenfalls von ihrer vorigen Reinheit wesentlich entartet war, wäre es erträglich gewesen, daß sich ein Bischof der Predigt enthielt. Er sagt selber an einer Stelle: „Ein Priester stirbt, wenn man von ihm keinen Klang vernimmt; denn er fordert den Zorn des verborgenen Richters gegen sich heraus, wenn er ohne den Klang der Predigt einhergeht” (Brief 24). Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: „Wenn Paulus bezeugt, er sei ‚rein von aller Blut’ (Apg. 20,26), so werden in diesem Worte wir überführt, wir gebunden und für schuldig erklärt, die wir Priester heißen, die wir zu den Übeltaten, die wir für uns selber haben, auch noch den Tod anderer zufügen; denn wir morden soviel Menschen, wie wir Tag für Tag lau und schweigend zum Tode wandern sehen“ (Predigten über Ezechiel, XI,10). „Schweigend“ nennt er sich und andere, weil sie weniger eifrig am Werk wären, als es sein sollte. Wenn er nicht einmal die schont, die ihre Amtspflicht nur halb erfüllten, was würde er dann wohl getan haben, wenn sie jemand ganz unterließe? Lange Zeit hatte es also in der Kirche Geltung, daß die erste Aufgabe des Bischofs darin bestünde, das Volk mit dem Worte Gottes zu nähren und die Kirche öffentlich und in Sonderheit mit gesunder Lehre zu erbauen.



IV,4,4

Daß aber jede Provinz unter ihren Bischöfen einen Erzbischof hatte, daß ebenso auf der Synode von Nicäa Patriarchen eingesetzt wurden, die den Erzbischöfen an Rang und Würde überlegen sein sollten, das diente zur Aufrechterhaltung der Zucht. Allerdings kann man bei dieser Erörterung nicht übergehen, daß man diese Regelung sehr selten angewandt hat. Jene Rangstufen sind vor allem aus folgendem Grunde eingerichtet worden: wenn in irgendeiner Kirche etwas vorkam, was nicht gut von wenigen in Ordnung gebracht werden konnte, so sollte es vor die Provinzialsynode gebracht werden können; erforderte der Umfang oder die Schwierigkeit der Angelegenheit auch noch eine weitergehende Verhandlung, so wurden die Patriarchen in Gemeinschaft mit den Synoden zugezogen, von welchen dann nur noch eine Berufung an ein allgemeines Konzil möglich war. Die so geregelte Regierungsweise haben einige als „Hierarchie“ bezeichnet: das ist nach meiner Ansicht ein unpassender, jedenfalls der Schrift ungewohnter Name. Denn der Heilige Geist hat verhüten wollen, daß sich jemand, wenn es um die Regierung der Kirche geht, eine Obergewalt oder eine Herrschaft erträumt. Wenn wir aber die Bezeichnung weglassen und allein die Sache anschauen, so werden wir finden, daß sich die Bischöfe der Alten Kirche keine Gestalt der Kirchenleitung haben erdenken wollen, die anders gewesen wäre als die, welche Gott in seinem Worte vorgeschrieben hat.



IV,4,5

Auch mit den Diakonen war es damals nicht anders bestellt als unter den Aposteln. Sie nahmen nämlich die täglichen Gaben der Gläubigen und die jährlichen Einkünfte der Kirche ein, um sie dem rechten Gebrauch zuzuführen, das heißt: um sie teils zur Unterhaltung der Diener, teils zum Unterhalt der Armen zu verteilen. Das geschah aber nach dem Ermessen des Bischofs, dem sie auch alle Jahre über ihre Verwaltung Rechenschaft ablegten. Die kirchlichen Rechtssatzungen erklären zwar den Bischof allenthalben für den Verteiler aller Güter der Kirche. Aber das ist nun nicht so aufzufassen, als ob er selber von sich aus dafür Sorge getragen hätte. Es ist vielmehr so ausgedrückt, weil es seine Aufgabe war, dem Diakon vorzuschreiben, wer in die öffentliche Unterhaltung durch die Kirche aufgenommen werden sollte, ferner: an wen das vergeben werden sollte, was übrig war, und wieviel jeder davon erhalten sollte, – und weil er die Aufsicht darüber hatte, ob der Diakon getreulich ausführte, was seine Amtspflicht erforderte. Denn in den Rechtssatzungen (Canones), die man den Aposteln zuschreibt, steht zu lesen: „Wir gebieten, daß der Bischof den Besitz der Kirche in seiner Gewalt habe. Denn wenn ihm die Seelen der Menschen anvertraut sind, die doch kostbarer sind (als der Besitz), so gehört es sich noch viel mehr, daß er für die Gelder Sorge trage. Es soll also mit seiner Vollmacht alles durch die Presbyter und Diakonen an die Armen ausgeteilt werden, damit es mit Furcht und aller Sorgfalt verwaltet werde“ (Canones Apostolici 40). Und auf dem Konzil von Antiochia (341) wurde beschlossen, die Bischöfe, die ohne Mitwissen der Presbyter und Diakonen den Besitz der Kirche verwalteten, sollten in ihre Grenzen zurückgewiesen werden (Kap. 25). Aber eine längere Erörterung über diesen Punkt erübrigt sich, da aus sehr vielen Briefen des Gregor mit Sicherheit hervorgeht, daß auch noch zu jener Zeit, als sonst die kirchlichen Ordnungen bereits reichlich verdorben waren, die gründlich beobachtete Sitte fortdauerte, daß die Diakonen unter Leitung des Bischofs die Verwalter für die Armen waren. Die Subdiakonen sind ursprünglich wahrscheinlich den Diakonen beigegeben worden, damit diese ihre Hilfe im Dienst an den Armen in Anspruch nehmen sollten. Aber diese Unterscheidung ist allmählich verwischt worden. Archidiakonen aber begann man zu bestellen, als der Umfang des Vermögens eine neue und gründlichere Art der Verwaltung erforderte. Allerdings erwähnt Hieronymus, daß dies schon zu seiner Zeit geschehen sei (Brief 146 an Euangelus bzw. Euagrius). Bei den Archidiakonen lag nun die oberste Verwaltung der Einkünfte, des Besitzes, der Hauseinrichtung und der täglichen Gaben. Daher kündigt Gregor dem Archidiakon von Salona an, daß man ihn selber dafür verantwortlich machen werde, wenn etwas von den Gütern der Kirche durch Nachlässigkeit oder durch jemandes Betrug in Verlust geriete (Brief I,10). Daß man ihnen aber die Lesung des Evangeliums vor dem Volke und die Ermahnung zum Gebet übertrug und daß sie ebenso bei der Feier des Heiligen Abendmahles zur Darreichung des Kelches herangezogen wurden, das geschah, um ihr Amt zu zieren, damit sie es mit um so größerer Ehrfurcht wahrnähmen: sie wurden eben durch solche Merkzeichen daran gemahnt, daß ihre Tätigkeit nicht irgendeine weltliche Verwaltung darstellte, sondern eine geistliche, Gott geheiligte Amtsaufgabe.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,4,6

Hieraus läßt sich auch ein Urteil darüber gewinnen, welchen Gebrauch man von den kirchlichen Gütern machte und wie man sie austeilte. Immer wieder wird man in den Beschlüssen der Synoden wie auch bei den alten Schriftstellern (den Grundsatz vertreten) finden, alles, was die Kirche an Grund und Boden oder an Geld in Besitz habe, sei das Vermögen der Armen. Deshalb wird in jenen Dokumenten je und dann den Bischöfen und Diakonen das Liedlein gesungen, sie sollten bedenken, daß sie nicht ihren eigenen Besitz verwalteten, sondern den, der für die Notdurft der Armen bestimmt sei, und wenn sie diesen nun in Untreue verschwinden ließen oder verschleuderten, so würden sie eine Blutschuld auf sich laden, von da aus werden sie dann ermahnt, diesen Besitz mit großem Zittern und höchster Ehrfurcht, gleichsam vor dem Angesicht Gottes, ohne Ansehen der Person an die zu verteilen, denen er zukomme. Daher rühren auch jene ernsten Beteuerungen bei Chrysostomus, Ambrosius, Augustin und anderen Bischöfen ihrer Art, mit denen sie ihre Lauterkeit vor dem Volke versichern. Da es nun aber recht und billig und auch vom Gesetz des Herrn so verordnet ist, daß die, die der Kirche ihren Dienst weihen, auch aus öffentlichen Mitteln der Kirche unterhalten werden, und da es zu jener Zeit zudem auch einige Presbyter gab, die Gott ihr Vermögen geweiht hatten und darüber freiwillig zu Armen geworden waren, so geschah die Verteilung dergestalt, daß es den Dienern nicht an Unterhalt fehlte, zugleich aber die Armen nicht vernachlässigt wurden. Trotzdem hütete man sich unterdessen, daß nicht die Diener selber, die doch den anderen ein Vorbild der Genügsamkeit bieten sollen, soviel hatten, daß sie ihre Einkünfte zu Üppigkeit und Vergnügen mißbrauchen konnten; sie sollten vielmehr nur soviel bekommen, daß sie damit ihrer Notdurft Genüge leisten konnten. „Denn die Kleriker, die von ihrem elterlichen Vermögen bestehen können“, sagt Hieronymus, „die begehen, wenn sie etwas annehmen, was den Armen zukommt, eine Heiligtumsschändung und essen und trinken sich durch solchen Mißbrauch selbst das Gericht zu“ (Aus dem Decretum Gratiani II,1,2,6).



IV,4,7

Ursprünglich war die Verwaltung (des Kirchenvermögens) frei und freiwillig, da die Bischöfe und Diakonen von selbst treu waren und da für sie die Lauterkeit ihres Gewissens und die Unschuld ihres Lebens an der Stelle der Gesetze stand. Als aber dann hernach aus der Begehrlichkeit und dem üblen Treiben gewisser Leute ein böses Vorbild erwuchs, da hat man, um solche Laster abzustellen, Rechtssatzungen aufgestellt. Diese teilten die Einkünfte der Kirche in vier Teile, ein Teil wurde den Klerikern zugewiesen, der zweite den Armen, der dritte diente dazu, die heiligen Gebäude und andere Baulichkeiten in gutem Zustande zu erhalten, der vierte wurde für die ortsfremden wie auch für die einheimischen Armen bestimmt. Freilich weisen andere Rechtssatzungen diesen letzten Teil dem Bischof zu; aber das bringt keine Veränderung gegenüber der dargelegten Einteilung. Denn die Absicht ist dabei nicht, daß dies Gut dem Bischof selbst gehören soll, so daß er es selber verschlingen oder nach Gutdünken verschwenden könnte, sondern es soll dazu dienen, daß er der (Pflicht zur) Gastfreundschaft, die Paulus von einem Bischof fordert, genügen kann (1. Tim. 3,2). So legen es auch Gelasius und Gregor aus; denn auf die Frage, weshalb ein Bischof für sich etwas beanspruchen dürfe, gibt Gelasius keinen anderen Grund an als den: er müsse in den Stand versetzt werden, den Gefangenen und Fremdlingen etwas zuteil werden zu lassen (Decretum Gratiani II,16,3,2). Noch klarer redet Gregor; er sagt: „Der apostolische Stuhl hat die Gepflogenheit, dem eingesetzten Bischof die Weisung zu geben, man solle alle eingehenden Mittel in vier Teile einteilen; und zwar soll der erste Teil dem Bischof und seinen Hausgenossen zukommen, damit er gastfrei sein und Herberge bieten kann, der zweite Teil soll für den Klerus, der dritte für die Armen und der vierte für die Instandsetzung der Kirchen bestimmt sein“ (Decretum Gratiani II,12,2,30). Der Bischof durfte also nichts zu seinem eigenen Gebrauch entnehmen außer dem, was zu mäßiger und einfacher Kost und Kleidung hinreichte. Wenn jemand anfing, Verschwendung zu treiben, sei es durch Üppigkeit oder durch Prunk und Prachtentfaltung, so wurde er alsbald von seinen Amtsgenossen zurechtgewiesen, und wenn er nicht gehorchte, so wurde er seiner Ehrenstellung für verlustig erklärt.



IV,4,8

Was sie aber weiter auf die Ausschmückung der Heiligtümer verwendeten, war im Anfang sehr wenig. Als dann die Kirche ein wenig reicher geworden war, da hielten sie doch in dieser Hinsicht die maßvolle Schlichtheit bei. Jedoch verblieb alles Geld, das sie daran verwandten, unverkürzt den Armen, wenn eine größere Not eintrat. So machte es z.B. Kyrill: als das Gebiet von Jerusalem von einer Hungersnot heimgesucht wurde und dem Mangel nicht anders abgeholfen werden konnte, da verkaufte er die (gottesdienstlichen) Gefäße und Gewänder und verbrauchte den Ertrag zur Ernährung der Armen (Historia tripartita V,37). Ähnlich machte es der Bischof Akatius von Amida, als eine große Menge von Persern beinahe Hungers gestorben wäre: er rief die Kleriker zusammen, hielt eine treffliche Ansprache an sie: „Unser Gott hat weder Schüsseln noch Kelche nötig; denn er ißt nicht und trinkt nicht“ – und dann ließ er die Gefäße einschmelzen, um den Armen Nahrung und Lösegeld zu verschaffen (Historia tripartita XI,16). Auch erwähnt Hieronymus bei einer Strafrede gegen die allzu große Pracht der Kirchengebäude mit Ehren den Bischof Exuperius von Tolosa, der den Leib des Herrn in einem geflochtenen Körbchen und das Blut des Herrn in einem Glase trug, aber keinen einzigen Armen Hunger leiden ließ (Brief 125). Was ich eben von Akatius sagte, das berichtet Ambrosius von sich selber; als ihn nämlich die Arianer beschuldigten, er habe zur Loskaufung von Gefangenen die heiligen Gefäße zerbrochen, da entschuldigte er sich mit folgenden trefflichen Worten: „Der, der die Apostel ohne Gold ausgesandt hat, der hat auch die Kirche ohne Gold versammelt. Die Kirche hat zwar Gold – aber nicht, um es aufzubewahren, sondern um es auszuteilen und den Menschen in ihren Nöten zu Hilfe zu kommen. Wozu soll man auch bewahren, was niemandem etwas nützt? Wissen wir etwa nicht, wieviel Gold und Silber, die Assyrer aus dem Tempel des Herrn weggenommen haben? Ist es, wenn andere Hilfe mangelt, nicht besser, daß der Priester sie zum Unterhalt der Armen einschmelzen läßt, als daß sie ein heiligtumsschändender Feind davonträgt? Wird (sonst) der Herr nicht sagen: ‚Weshalb hast du es zugelassen, daß soviel Arme Hungers gestorben sind, wo du doch Gold hattest, von dem du Nahrung hättest schaffen können? Weshalb sind so viele Gefangene davongeführt und nicht losgekauft worden? Weshalb sind so viele vom Feind getötet worden? Es wäre besser gewesen, du hättest die Gefäße lebendiger Menschen erhalten als die aus Metall!’ Auf diese Fragen wirst du keine Antwort geben können; denn was wolltest du sagen? Willst du etwa antworten: ‚Ich hatte Angst, es könnte dem Tempel Gottes an Zierat mangeln’? Er würde dir entgegnen: ‚Die Sakramente verlangen nicht nach Gold, und was nicht mit Gold erkauft wird, das wird auch nicht durch Gold wohlgefällig. Der Zierat der Sakramente ist die Loskaufung der Gefangenen!’„ (Von den Amtspflichten der Diener II,28,137f.) Kurzum, wir sehen, daß es sehr richtig war, wenn der gleiche Ambrosius an anderer Stelle sagt, alles, was die Kirche damals besaß, sei zum Unterhalt der Armen bestimmt gewesen, oder wenn er ebenso erklärt, ein Bischof besäße nichts, was nicht den Armen gehörte (Brief 18,16; 20).



IV,4,9

Das, was wir aufgezählt haben, das waren die Ämter der Alten Kirche. Denn die anderen, die die kirchlichen Schriftsteller erwähnen, waren eher Übungen und Vorbereitungen als bestimmte Ämter. Denn jene heiligen Männer wollten gern ein Pflanzgärtlein der Kirche hinterlassen, und sie nahmen dazu junge Menschen, die sich im Einvernehmen und mit Billigung ihrer Eltern dem geistlichen Kriegsdienst verschrieben, in ihre Treue und Obhut und auch in ihre Zucht auf, und diese bildeten sie nun von zartem Alter an so aus, daß sie einst nicht ungeschult und als Neulinge an ihre Amtstätigkeit herantraten. Alle nun, die solchen Anfangsunterricht genossen, wurden mit einer allgemeinen Bezeichnung „Kleriker“ genannt. Ich möchte freilich, man hätte ihnen einen anderen, besser zutreffenden Namen beigelegt. Denn diese Benennung ist aus Irrtum oder jedenfalls aus verkehrter Gesinnung erwachsen; Petrus nämlich nennt die ganze Kirche den „Klerus“, das heißt das „Erbe“ des Herrn (1. Petr. 5,3; Grundtext). Die Einrichtung selbst dagegen war heilig und äußerst heilsam, bestand sie doch darin, daß die, welche sich und ihren Dienst der Kirche weihen wollten, unter der Hut des Bischofs so erzogen wurden, daß nur der in den Dienst der Kirche trat, der gut vorgebildet war, seit früher Jugend die heilige Lehre in sich aufgenommen, auf Grund einer recht strengen Zucht eine gewisse Haltung des Ernstes und einer heiligen Lebensführung sich angeeignet hatte, keine weltlichen Sorgen kannte und an geistliche Sorgen und Bemühungen gewöhnt war. Wie man nun angehende Kriegsleute durch Übungsgefechte zum wahren, ernsthaften Kampfe heranbildet, so gab es bestimmte Anfangsgründe, in denen jene Jünglinge zur Zeit ihres Klerikertums geübt wurden, bevor man sie in die eigentlichen Ämter beförderte. Man trug diesen Männern also zunächst die Fürsorge für das Öffnen und Schließen der Kirchengebäude auf und nannte sie „Türhüter” (ostialii). Nachher nannte man sie „Akoluthen“: diese sollten dem Bischof mit häuslichen Dienstleistungen beistehen und ihn fortwährend begleiten, und zwar erstens der Ehre wegen, zweitens aber auch zur Verhütung jeglichen Argwohns. Außerdem aber gab man ihnen auch Gelegenheit, auf der Kanzel die Lesung zu halten (als „Lektoren“). Das geschah, damit sie dem Volke allmählich bekannt würden und sich einen guten Ruf erwürben, auch damit sie es lernten, den Anblick aller Leute zu ertragen und im Beisein aller zu reden: sie sollten eben nicht, wenn sie Presbyter geworden waren und hervortraten, um ihr Lehramt auszuüben, vor Scham aus der Fassung geraten. Auf diese Weise wurden sie von Stufe zu Stufe befördert, um ihren Fleiß bei jeder einzelnen Übung zu beweisen, bis daß sie (schließlich) „Subdiakonen“ wurden. Ich will nur zeigen, daß es sich hier mehr um Anfängerübungen von Neulingen handelt als um die Ausübung von Diensten, die zu den wahren Ämtern der Kirche zu rechnen wären.



IV,4,10

Ich habe oben dargelegt, daß bei der Berufung der Diener die erste und zweite Frage darum geht, welche Leute man zu Dienern wählen und welchen ehrfürchtigen Ernst man dabei walten lassen soll. In dieser Hinsicht ist nun die Alte Kirche der Vorschrift des Paulus und dem Beispiel der Apostel gefolgt. Denn man pflegte zur Erwählung der Hirten (Pastoren) mit höchster Ehrerbietung und unter eifriger Anrufung des Namens Gottes zusammenzukommen. Außerdem hatte man eine feste Form der Prüfung, nach der man den Lebenswandel und die Lehre derer, die erwählt werden sollten, gemäß jenem Richtmaß des Paulus erfragte. Nur versündigten sie sich hier recht sehr durch unmäßige Strenge, indem sie nämlich mehr von einem Bischof verlangen wollten, als es Paulus tut (1. Tim. 3,2-7); vor allem forderten sie mit fortschreitender Zeit die Ehelosigkeit. Aber in den übrigen Punkten haben sie es der Beschreibung des Paulus entsprechend gehalten. Was nun die Frage betrifft, die wir an dritter Stelle nannten, nämlich: wer die Diener einsetzen soll, so haben die Alten da nicht immer die gleiche Ordnung innegehalten. In alter Zeit wurde nicht einmal in die Schar der „Kleriker“ jemand aufgenommen ohne Zustimmung des ganzen Volkes. So entschuldigt sich Cyprian nachdrücklich, weil er einen gewissen Aurelius ohne Befragung der Kirche als Lektor eingesetzt hatte; denn dies war gegen die Sitte, wenn auch nicht ohne Grund geschehen. Seine Vorrede aber lautet dabei: „Bei der Einsetzung von Klerikern, teure Brüder, pflegen wir euch zuvor zu Rate zu ziehen und in gemeinsamer Beratung den Lebenswandel und die Verdienste des einzelnen zu erwägen“ (Brief 38). Aber weil bei jenen geringeren Übungen keine große Gefahr bestand – denn man nahm diese Leute ja zu einer lang andauernden Erprobung und nicht zu einer wichtigen Amtsaufgabe an -, so hat man aufgehört, dazu die Einwilligung des Volkes zu erbitten.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,4,11

Späterhin hat das Volk auch bei den übrigen Rangstufen mit Ausnahme des Bischofsamtes durchgängig dem Bischof und den Presbytern das Urteil und die Auswahl überlassen: diese sollten also darüber befinden, welche Leute dazu geschickt und würdig wären. Anders war es, wenn der Fall vorlag, daß für die Parochien neue Presbyter bestimmt wurden; dann mußte nämlich die Menge an dem betreffenden Ort ausdrücklich zustimmen. Es ist auch kein Wunder, daß das Volk in dieser Beziehung weniger Gewicht darauf legte, sein Recht zu wahren. Denn es wurde ja kein Mensch zum Subdiakon gemacht, der sich nicht als Kleriker, und zwar unter der damals bestehenden Strenge der Zucht, durch eine lang andauernde Probe bewährt hatte. Wenn er auf dieser Rangstufe erprobt war, so wurde er als Diakon eingesetzt, und von da aus gelangte er zu der Ehre des Presbyteramtes, wenn er sich als treu erwiesen hatte. Es wurde also niemand befördert, der nicht tatsächlich viele Jahre hindurch unter den Augen des Volkes seine Prüfung durchgemacht hatte. Auch bestanden viele Rechtssatzungen zur Bestrafung ihrer Vergehen, so daß die Kirche nicht mit schlechten Presbytern oder Diakonen belastet zu werden brauchte, wenn sie die vorhandenen Hilfsmittel nicht vernachlässigte. Allerdings wurde auch bei den Presbytern stets die Einwilligung der Bürger verlangt; das wird auch (im Decretum Gratiani) Distinktion 67, und zwar im Canon 1 bezeugt, der dem Anaklet zugeschrieben wird. Schließlich geschahen alle Amtseinweisungen zu festgesetzten Zeiten des Jahres, damit sich niemand heimlich ohne Einwilligung der Gläubigen einschlich oder mit gar zu großer Leichtigkeit ohne Zeugen befördert werden konnte. Bei der Erwählung der Bischöfe wurde dem Volke seine Freiheit lange Zeit hindurch erhalten: es sollte also niemand aufgedrängt werden, der nicht allen genehm war. Auf dem Konzil zu Antiochia (341) wurde daher verboten, daß man jemand gegen den Willen des Volkes aufnötigte. Das bestätigt auch Leo I. mit Nachdruck. Daher kommen die folgenden Aussagen: „Erwählt werden soll der, den der Klerus und das Volk oder (wenigstens) die Mehrheit begehrt“ (Brief 14,5). Ebenso: „Der, der einst allen vorstehen soll, soll auch von allen erwählt werden. Denn wenn jemand zum Vorsteher ernannt wird, der noch unbekannt und nicht geprüft ist, so bedeutet das ja notwendig, daß man ihn den Leuten aufzwingt“ (Brief 10,6). Oder ebenso: „Erwählt werden soll der, der von den Klerikern gewählt und vom Volke begehrt worden ist, und der soll dann von den Bischöfen der Provinz mit Wissen und Willen des Metropoliten eingesegnet werden“ (Brief 167). Die heiligen Väter haben sich dermaßen in acht genommen, daß diese Freiheit des Volkes nur ja auf keine Weise verkürzt würde, daß die zu Konstantinopel versammelte allgemeine Synode ihre Absicht, den Nectarius (zum Patriarchen von Konstantinopel) einzusetzen, nicht ohne die Zustimmung des ganzen Klerus und des Volkes verwirklichen wollte, wie sie es in ihrem Brief an die römische Synode bezeugt hat. Wenn daher ein Bischof einen Nachfolger für sich bestimmte, so hatte das nur dann Gültigkeit, wenn das ganze Volk es beschloß. Dafür begegnet uns bei Augustin nicht nur ein Beispiel, sondern geradezu auch eine feste Verfahrensform, und zwar bei der Benennung des Eraclius (Brief 110). Theodoret berichtet, Athanasius habe den Petrus zu seinem Nachfolger bestimmt, aber er fügt gleich hinzu, die Priesterschaft habe dies gelten lassen und die Obrigkeit samt den vornehmsten und dem ganzen Volke hätten es durch ihre Zustimmungserklärung gebilligt (Kirchengeschichte IV,20).



IV,4,12

Allerdings, das gebe ich zu, bestand auch eine sehr begründete Ursache für den Beschluß des Konzils von Laodicäa, der verbot, die Erwählung den Volksmassen zu überlassen (Kap. 13). Es kommt nämlich kaum jemals vor, daß so viele Köpfe eine Sache in einhelliger Meinung recht ordnen, und durchgängig bleibt wahr, was man gesagt hat: „Die Menge ist unbestimmt und spaltet sich in einander widersprechende Bestrebungen auf“ (Vergil). Aber gegen diese Gefahr hat man ein sehr wirksames Mittel angewandt. Zuerst nämlich wählten die Kleriker allein. Dann stellten sie den Erwählten der Obrigkeit oder dem Rat und den Vornehmsten vor. Diese beratschlagten über die Sache, und wenn ihnen die Erwählung recht erschien, so bestätigten sie sie; dünkte sie ihnen nicht richtig, so erwählten sie einen anderen Mann, der ihnen besser zusagte. Dann (erst) wurde die Sache der Menge vorgelegt, die nun zwar an jene zuvor abgegebenen Entscheidungen nicht gebunden war, aber doch weniger Aufruhr machen konnte. Oder man machte auch bei der Menge den Anfang, aber das geschah nur, damit man erführe, wen sie am meisten begehrte; nachdem man dann die Wünsche des Volkes vernommen hatte, vollzogen schließlich die Kleriker die Erwählung. So durften weder die Kleriker bestellen, wen sie wollten, noch hielten sie sich auf der anderen Seite daran gebunden, törichten Wünschen des Volkes zu willfahren. Diese Ordnung setzt Leo (I.) an einer Stelle fest. Er sagt: „Man muß die Wünsche der Bürger, die Zeugnisse der Leute aus dem Volk, die Entscheidung der Amtspersonen und die Wahl der Kleriker abwarten“ (Brief 10,4). Ähnlich sagt er: „Man soll sich an das Zeugnis der Amtspersonen, an die Einwilligung der Kleriker und an die Zustimmung des Rats und des Volkes halten“, „anders zu verfahren, besteht keine Ursache“ (Brief 10,6; 167). Auch jener Beschluß der Synode zu Laodicäa hat nur den Zweck, daß sich die Kleriker und die Vornehmen nicht von der unbesonnenen Menge mitreißen lassen, sondern im Gegenteil, wenn es erforderlich ist, die törichten Begehrungen der großen Masse mit ihrer Weisheit und ihrem Ernst niederhalten.



IV,4,13

Diese Art der Erwählung war auch noch zu Gregors Zeiten in Kraft, und sie hat wahrscheinlich auch noch lange danach fortgedauert. Es sind bei Gregor sehr viele Briefe vorhanden, die hierfür ein klares Zeugnis abgeben. Jedesmal nämlich, wenn es sich irgendwo um die Ernennung eines neuen Bischofs handelt, so pflegt Gregor an den Klerus, an den Rat und an das Volk zu schreiben, zuweilen auch an den Fürsten, je nachdem, wie die Regierung der betreffenden Stadt eingerichtet ist. Und wenn er etwa infolge des ungeordneten Zustandes der Kirche einem benachbarten Bischof die Aufsicht bei der Wahl aufträgt, so fordert er doch stets einen feierlichen Beschluß, der durch die Unterschrift aller (Beteiligten) bekräftigt sein muß. Auch dies steht in mehreren Briefen zu lesen. So war ein gewisser Constantinus zum Bischof von Mailand ernannt worden; nun hatten sich aber wegen der Einfälle fremdländischer Heerhaufen viele Mailänder nach Genua geflüchtet: da hielt nun selbst in diesem Falle Gregor die Erwählung nur dann für gesetzmäßig, wenn auch diese Geflüchteten zusammenberufen würden und ihre Zustimmung erklärten (Brief III,30). Ja, es sind noch nicht fünfhundert Jahre verflossen, seit Papst Nikolaus (II.) für die Erwählung des römischen Bischofs (1059) das Verfahren festsetzte, es sollten zunächst die Kardinalbischöfe vorangeben, dann sollten sie den übrigen Klerus zu sich hinzunehmen, und schließlich sollte die Wahl durch die Einwilligung des Volkes in Kraft gesetzt werden. Am Schluß führt er dann auch den oben erwähnten Erlaß Leos (I.) auf und gibt die Anweisung, dieser solle auch weiterhin in Geltung stehen. Selbst wenn einmal die Bosheit der Gottlosen dermaßen um sich gegriffen hat, daß die Kleriker zur Durchführung einer reinen Wahl aus der Stadt heraus zu gehen genötigt sind, so gibt Nikolaus doch das Gebot, es sollten stets einige Leute aus dem Volke mit dabeisein (Decretum Gratiani I,23,1). Die Einwilligung des Kaisers war, soweit sich erkennen läßt, nur in zwei Kirchen erforderlich, nämlich in der zu Rom und zu Konstantinopel, weil dies die beiden Residenzen des Reiches waren. Allerdings wurde Ambrosius mit einer Vollmacht des Kaisers Valentinian nach Mailand gesandt, um die Wahl eines neuen Bischofs zu leiten; aber das war etwas Außerordentliches, und es geschah wegen der schweren Parteiungen, in die die Bürger gegeneinander entbrannt waren. In Rom aber war in alter Zeit die Autorität des Kaisers bei der Ernennung des Bischofs von solcher Bedeutung, daß Gregor erklärt, er sei auf seinen Befehl in die Leitung dieser Kirche eingesetzt worden, obwohl er doch in feierlichem Verfahren vom Volke erbeten worden war (Brief I,5). Die Gepflogenheit war dabei nun folgende: wenn die Standespersonen, der Klerus und das Volk jemanden bestimmt hatten, so erstatten die ersteren dem Kaiser alsbald Bericht, damit er entweder durch seine Bestätigung die Wahl bekräftigte oder sie durch seine Ablehnung nichtig machte. Dieser Gewohnheit widersprechen die von Gratian gesammelten Erlasse nicht; in ihnen wird nichts anderes ausgesprochen, als daß es auf keine Weise ertragen werden dürfe, daß der König unter Aufhebung der kanonischen Wahl einen Bischof nach seinem Belieben einsetzte; ferner wird verfügt, die Metropoliten dürften einen Bischof, der unter gewalttätiger Machtausübung ernannt worden sei, nicht einsegnen. Denn es ist etwas anderes, ob man die Kirche ihres Rechtes beraubt, so daß alles dem Gutdünken eines einzigen Menschen überlassen wird – oder ob man dem König oder dem Kaiser die Ehre gibt, mit seiner Autorität die rechtmäßige Wahl zu bestätigen.



IV,4,14

Jetzt müssen wir weiter die (vierte) Frage behandeln, nach welchem Brauch die Diener der Alten Kirche nach ihrer Erwählung in ihr Amt eingewiesen wurden. Diesen Vorgang haben die Lateiner „Ordination“ oder „Einsegnung“ (Weihe), die Griechen „Cheirotonia“ oder zuweilen auch „Cheirothesia“ („Handaufhebung” oder zuweilen auch „Handauflegung”) genannt; freilich bedeutet „Handaufhebung“ (cheirotonia) im eigentlichen Sinne jenes Wahlverfahren, bei dem die Stimmabgabe durch Aufrecken der Hände kenntlich gemacht wird. Nun gibt es einen Beschluß des Konzils in Nicäa, nach welchem der Metropolit mit allen Bischöfen der Provinz zusammenkommen sollte, um den, der erwählt worden war, zu ordinieren. Wenn aber infolge der weiten Entfernung oder durch Krankheit oder einen anderen Notfall ein Teil am Erscheinen verhindert war, so sollten doch mindestens drei zusammenkommen, und die Abwesenden sollten ihre Einwilligung schriftlich versichern. Als dann diese Rechtssatzung aus der Gewohnheit kam und dadurch in Abgang geriet, wurde sie nachher noch von vielen Synoden erneuert. Die Anordnung, daß alle oder wenigstens die, die keine Entschuldigung hatten, gegenwärtig sein mußten, hatte den Zweck, daß eine um so strengere Prüfung der Lehre und des Lebenswandels dessen vorgenommen wurde, der ordiniert werden sollte. Denn ohne solche Prüfung wurde die Ordination nicht vollzogen. Auch geht aus den Worten des Cyprian hervor, daß diese Bischöfe nicht erst nach der Wahl herbeigerufen wurden, sondern daß sie in alter Zeit gewöhnlich auch bei der Wahl selbst zugegen waren, und das hatte den Zweck, daß sie gleichsam als Leiter wirkten, damit bei der Menge kein Durcheinander entstünde. Cyprian erklärt nämlich zunächst, das Volk habe die Vollmacht, würdige Priester zu erwählen und unwürdige abzulehnen; dann aber fügt er kurz nachher zu: „Deshalb muß – wie das auch bei uns und in fast allen Provinzen geschieht – auf Grund der göttlichen und apostolischen Überlieferung fleißig darauf geachtet und gehalten werden, daß zum gehörigen Vollzug der Ordinationen die Bischöfe der betreffenden Provinz alle in der Gemeinde zusammenkommen, für welche man den Vorsteher ordiniert, und daß der Bischof in Gegenwart des Volkes erwählt wird“ (Brief 67). Aber da das Zusammenkommen der Bischöfe oft allzulange Zeit in Anspruch nahm und Gefahr bestand, daß einige Leute diesen Verzug als Gelegenheit zur Stimmenwerbung mißbrauchten, so kam man zu dem Beschluß, es sei ausreichend, wenn die Bischöfe nach vollzogener Erwählung kämen und den Erwählten nach einer gesetzmäßigen Untersuchung einsegneten.
Simon W.

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