Tägliche Lesung aus der Dogmatik von Eduard Böhl

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Das Gesetz hat einen dreifachen usus: der erste ist der usus politicus sive civilis. Dieser geht die Gläubigen und die Ungläubigen an. Zweitens gibt es einen usus elenchticus, letzterer geht nur die Wiedergeborenen an ; drittens gibt es einen usus normativus. Der erste gehört in den letzten § der Anthropologie; der zweite und dritte in die Soteriologie.

§ 46. Über das Verhältnis der Sünden zueinander


Die Sünde lernen wir kennen im Spiegel des Gesetzes Gottes. Gibt es nun aber eine Klassifikation der Sünden? An und für sich und abgesehen von der erlösenden Gnade sind alle Sünden gleich todeswürdig, oder mortalia; venial an sich und ohne weiteres verzeihlich ist keine. Für den Menschen in seinem natürlichen Zustande sind alle Sünden Todsünden. Denn wie Jakobus 2,10 sagt: so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem Gebot, der steht so da, als ob er sich an allen vergangen hätte. Die ganze Harmonie wird gestört, wenn auch nur ein Ton falsch gegriffen wird. Und Mose spricht aus Gottes Munde 5,Mose 27,26: „Verflucht ist jedermann, der nicht die Worte dieses Gesetzes erfüllt, sie zu tun“, ein Satz, den Paulus Gal 3,10 adoptiert. Auf jede Übertretung des Gesetzes, geschehe sie auch nur mit dem leisesten Gedanken, steht der Fluch, d.h. also das Urteil, daß man vor Gott zu leicht befunden, daß man nicht vollwichtig ist in Gottes Gericht. Dieser Fluch währt so lange, bis daß sowohl der ganze Wille Gottes erfüllt, als auch für die begangene Sünde Genugtuung geschehen ist. Also Gott gegenüber machen uns alle Sünden ohne Ausnahme gleich schuldig und gleich verdammungswert. Solches folgt schon daraus, daß bereits vor den Sünden im einzelnen der ganze Zustand, die verkehrte Stellung zu Gott, den Menschen verdammlich macht vor Gottes Gericht. Johannes sagt in diesem Sinne 3,36: wer an den Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm. Also der Zorn Gottes kommt nicht erst in Folge der einzelnen Tatsünde eigens über ihn, sondern er bleibt nur auf den Ungläubigen gerichtet, indem er schon zuvor da ist. Paulus in Röm 5,13.14 zeigt, daß, abgesehen von der einzelnen Sünde, der Tod sich wirksam erwies und uns alle beherrschte. Ein jeder Mensch hat überdies im Grunde seines Herzens ein dunkles Bewußtsein von der Todeswürdigkeit der Sünden. Röm 1,32; Hebr 2,15. Auch die kleinen Sünden mahnen uns nach jenen Schriftstellen gleich dem Pendelschlag der Uhr, daß wir geschäftigen Fußes die Bahn des Todesverderbens dahineilen und wir unsere Schuld noch täglich größer machen. (Heid. Kat. 13) Und vor Gott sind oftmals die Sünden groß, die nach menschlichem Urteil klein erscheinen. Wir meinen hier die Übertretung der Gebote der ersten Tafel, worin die rechten Hauptsünden gelegen sind, da wir hier nicht den Nächsten, sondern Gott an seiner Ehre verkürzen. Aber die menschliche Vernunft ist so antichristlich und atheistisch, daß sie den Grad der Sünden stets danach taxiert, ob man durch dieselben dem Menschen zu nahe getreten, ob man Menschen mehr oder weniger verletzte. Die Sünden gegen Gott schlägt die menschliche Vernunft gering an. Und nun gar jene Sünden, die stets im Volke Israel und selbst bei den Jüngern zu Tage traten, als man den Herrn kreuzigte! Welche Ethik weiß davon? welche Ethik – sie sei denn von Gottes Geist diktiert – weiß den Neid, Haß und Totschlag mit der Zunge, an dem Nächsten begangen, recht zu würdigen? Menschliches Urteil legt bei der Wertschätzung der Sünde einen ganz subjektiven Maßstab an; Gott aber sieht das Herz an. Ihm kommt alles darauf an, ob der Baum, an dem die Früchte wachsen, gut oder faul sei. Mt 7,17.18; 12,33. Die krassen Sünden, als da sind Mord, Ehebruch etc. offenbaren nur kräftiger das ohnedies vorhandene Verderben; obgleich Neid, Haß, sowie das Begehren nach einem Weibe, das nicht das unsrige ist, geschehe es auch nur mit den Augen, uns nach Jesu Auslegung (Mt 5,22.28) schon ebenso verdammlich machen, wie die groben Ausbrüche der Sünde. Zu diesen gehört schon ein gewisser Heroismus, dessen kleine Seelen unfähig sind. Es war ein bekannter Irrtum der Pharisäer, daß sie das Volk etliche Geboe als große betrachten lehrten, etliche dagegen als kleine, um deren Übertretung Gott sich weniger kümmere: Mt 5,18.19. Dagegen stellt Jesus das Jota und Häkchen des Gesetzes, d.h. die nach ihrer Meinung kleineren Gebote, als ebenfalls von hohem Gewicht hin. Mt 5,19: „Wer eins von diesen kleinsten Geboten auflöst und so die Menschen lehrt, der soll der kleinste heißen“, d.h. verworfen sein im Reich Gottes. Was freilich die Strafe der Sünden betrifft, so hat dieselbe Abstufungen auf dieser Welt; je nach dem Maß der begangenen Sünde und je nach der darin liegenden Verletzung des Nächsten, ist die Strafe größer oder geringer. Das fordert schon der gesunde Menschenverstand. Der Neid und Haß wird auch von Gottes Gesetz nicht so heimgesucht, wie der Mord. Das hat aber seinen Grund nicht darin, daß etwa der Haß Gott verzeihlicher und entschuldbarer erschiene; Mt 5,22; 1.Joh 3,15. Gott ist viel zu groß, als daß man mit ihm rechnen könnte, oder daß er etwas von seiner Gerechtigkeit vergeben würde. Gott hätte das Gebot „du sollst nicht töten“ nicht über ganz Israel ergehen lassen, wenn er auch nur einen solcher Missetat für unfähig gehallten hätte. Es liegt beim Unwiedergeborenen rein an den Umständen und am Charakter, daß sein Haß und Neid wider den Nächsten nicht bis zum Totschlag fortschreitet. Auch das mit der Sünde verbundene Schuldgefühl ist in der Praxis minder stark bei den feineren, als bei den gröberen Sünden. Aber auch davon ist die Ursache beim Menschen zu suchen. Das kommt daher, daß man die ersteren leichter vor sich und anderen entschuldigen kann, die letzteren dagegen nicht. Beim Mord z.B. nimmt die Sünde des Hasses und Neides eine solche Schreckensgestalt an, daß der verstockteste Sünder davor erschrickt und zurückbebt. In der Lieblosigkeit ist die Sünde zwerghaft klein – vor Gott jedoch ist solches ebenso verdammlich. Vor Gott sind alle Sünden in gleicher Weise Verschuldungen, um deren Vergebung wir unterschiedslos bitten sollen; Mt 6,12. Es liegt nur an unseres Herzens Härtigkeit und an dem Mangel der Erkenntnis der Sünde im Spiegel des Gesetzes, daß wir den Haß des Nächsten für eine geringere Schuld erachten, als z.B. den Mord des Nächsten. Und doch bewahrt den Menschen vor letzterem vielfach nur die Feigheit und die Furcht vor Strafe. Als allgemein feststehender Satz gilt bei allen protestantischen Dogmatikern der Satz: daß bei den Unwiedergeborenen alle tätlichen Sünden mortalia seien, sicut originale peccatum. S. Calvin und Wolleb bei Heppe I, 257.
Simon W.

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Will man aber eine gewisse Übersicht über die Sünde sich verschaffen, so betrachte man sie als einen Baum, an dem Unglaube und Verachtung des Wortes Gottes die Wurzel ist, und alle übrigen nur denkbaren Sünden die Äste und Zweige ausmachen. Und hier ist nun auch eine Einteilung der einzelnen Sünden aus verschiedenen Gesichtspunkten ganz berechtigt. Da können die Sünden zergliedert werden
1. in bezug auf das Objekt, in Sünden wider Gott und den Nächsten;
2. in bezug auf die Gebote, in Begehungs- und Unterlassungssünden;
3. in wissentliche und unwissentliche Sünden 4.Mose 15,29.30;
4. in fremde und eigene Sünden;
5. in verborgene und offenbare Sünden;
6. in innere und äußerliche, oder Sünden des Herzens und des Mundes.
Gegen diese Sünden tritt sodann eine Reaktion in der zeitlichen Strafe ein und zwar bald stärker bald schwächer, je nachdem die Tat war, zu der der Mensch sich hat hinreißen lassen. Es gibt also Arten und Grade des Bösen, es gibt ein beziehungsweise minder Böses oder verhältnismäßig Besseres, zwischen dem den Menschen die Wahl freisteht. Es ist dies das Gebiet der sogenannten bürgerlichen Gerechtigkeit (wovon s. § 49). Aber von da bis zur Wahl des schlechthin Guten (bonum spirituale) ist ein Sprung, der ohne die göttliche Gnade nicht gemacht wird. Der größere oder geringere Grad der Sünde gibt keinen Ausschlag bei der Frage, ob der Mensch gerecht vor Gott sei, ob er des ewigen Lebens teilhaftig werde, oder aber nicht. Das ewige Leben wird aus Gnaden geschenkt (Röm 6,23) und Barmherzigkeit widerfährt, wie Paulus sagt, auch dem Vornehmsten, dem Ersten der Sünder: 1.Tim 1,15.16.

§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis)
Wir haben in der ersten Abteilung der Anthropologie die Beobachtung gemacht: daß der Mensch zwar im Bilde Gottes geschaffen worden, aber dabei sein besonderes Wesen für sich habe. Wir zählten § 34 die Wesensmomente des Menschen auf. Was wir nun dort als das dem Menschen eigentümliche Wesen bezeichnen mußten, ist auch nach dem Fall übrig geblieben. Wir müssen uns hier zunächst gegen die Meinung der Mehrzahl älterer und neuerer Theologen aussprechen, als ob unter die Folgen des Falles Adams auch eine solche Änderung des Wesensbestandes des Menschen zu rechnen sei, die durch die Erzeugung von dem einen auf den anderen übertragen würde. Es ist eine vielfach erörterte Frage: was es denn sei, das an dem natürlichen Menschen den Charakter ererbter Sünde habe? Die besten Lehrer der Kirche versuchen eine Antwort zu geben129; unter ihnen besonders Calvin, wo er gegen die Wiedertäufer polemisiert (in dem Consil. ad Micronium 1545 ; Corp. Ref. Opp. X, S. 175) und unter den Lutheranern Chemnitz und Gerhard (s. Loci von Joh Gerhard, loc. IX, § 49 bis 51 u. loc. X, § 94), wenn sie gegen Flacius und dessen Anhänger polemisieren. 130 Sie halten dafür, daß die Erbsünde nicht irgendwie zur Substanz des Menschen gehöre, sondern ein Akzidens sei. Nur ist, was aus diesem Satze notwendig folgt, nicht immer genügend beachtet worden. Man redet von Vergiftung und Korruption der menschlichen Natur, gleich als habe Adam bei seinem Falle das Gift in sich gesogen131 und dies sei nun durch die Zeugung von den Eltern auf die Kinder fortgepflanzt. Diese der Natur der Menschen inhärierende Korruption trennen sie nun zwar von der Natur; sie unterscheiden weislich zwischen den Begierden, den appetitus naturales, und der αταξια appetituum (s. Gerhard l. c.). Die verkehrte Richtung entscheidet auch bei ihnen alles – dennoch aber mischen sie den irreführenden Gesichtspunkt einer Krankheit, eines Verderbnisses oder eines Schadens ein. Aber auf solche Weise verirren wir uns in eine ma terialistische Anschauung von der Sünde. Der Apostel sagt jedoch in Röm 5,12 deutlich: die Sünde sei in dieWelt gekommen durch einen Menschen, und durch die Sünde der Tod; dieser aber sei zu allen Menschen hindurchgedrungen, auf welcher Grundlage (εφ ω) sie alle gesündigt haben. Hier haben wir Anfang, Mitte und Ende der Sünde; wir lernen sie hier nach ihrem Ursprung und ihrer wahren Gestalt kennen. Die Sünde trat ein in die Welt durch Adam – die Folge war der Tod133 in jener Ausdehnung, die ihm durch den Vergleich mit dem früheren Leben aus Gott beizumessen ist. Standen also ehemals die Menschen im Bilde Gottes und eben damit nach seiner Gleichheit da, so stehen sie nunmehr unter der Herrschaft des Todes und eben damit Gott ungleich und als Gesetzwidrige da (ανομοι). Was also nach Paulus sich von jener ersten Sünde (Adams) herschreibt und zu allen Menschen hin durchgedrungen ist, heißt Tod oder Todesverderben. Dasselbe besteht aber näher nach § 43 aus der carentia iustitiae originalis und dem daraus resultierenden impetus in omnibus viribus humanis contra legem Dei. Wiederholt redet die Schrift von diesem Tode (vgl. § 42). Paulus gibt sodann aber in Römer 5, 12ff. eine andere Reihe von Tatsachen an, die jener ersten Reihe parallel läuft. Er nennt den Gehorsam Christi (δικαιωμα) – ferner Leben Christi; – neues Leben oder δικαιωσις ζωης (Rechtfertigung, die das Leben mit sich führt), – und daraus endlich geht hervor das Herrschen der Gerechtfertigten in diesem Leben (s. Röm 5, V.16-21 vgl. S. 222). In Anbetracht dieser von Adam absteigenden und in Christus – in strengem Parallelismus dazu – aufsteigenden Linie, welche Paulus hier mit großer Meisterschaft zeichnet, bleibt der menschliche Wesensbestand seiner Substanz nach unberührt. Wir schreiben dem Falle Adams nicht die Gewalt zu, daß unsre Natur in Folge desselben substantiell geändert sei. Unsere menschliche Natur ist also nicht ihrer Substanz nach unrein und verderbt geworden, sondern lediglich akzidentiell, d.h. vi peccati Adamitici. Unsere Natur besaß vor dem Fall eine angeborene Gradheit (rectitudo), die erst seit dem Fall in Ungradheit (perversitas) zwar umgesetzt, aber nicht infolge einer Substanzveränderung verwandelt worden ist.
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (2. Teil)

Unsere Natur war stets abhängig und bestimmbar. Vor dem Fall war sie bestimmt durch das Bild Gottes. Nach dem Fall war sie aus der guten Wehr des Bildes Gottes (§ 33) entlassen, und ohne Halt, wie sie war, schwankt sie hin und her; das Gesetz Gottes wird übertreten; an die Stelle der Ordnung tritt die Unordnung und das Ende war der leibliche und ewige Tod, der auf diesen geistlichen Tod folgte. Alle Schriftstellen also, die von uns aussagen, daß wir unrein seien (Hiob 14,4), oder ein fauler Baum (Mt 7,17), oder wonach ανκαθαρσια uns beigemessen wird, 1.Kor 7,14, und dementsprechend von einem Reinigen von der Sünde reden, sind aus der symbolischen Sprache der heiligen Schrift zu erläutern. Sie sind uneigentlich gemeint; denn der Geist hat keine Farbe und ist nicht empfänglich für die sinnlichen Begriffe von rein und unrein. Wenn aber selbst die Engel (Hiob 15,15) unrein heißen im Vergleich zu Gott, so tritt schon darin zutage, daß wir es hier mit einem Verhältnisbegriff zu tun haben. In Anbetracht des Abstands von Gottes Heiligkeit, dessen Größe das göttliche Gesetz uns erst zur Erkenntnis bringt (Röm 4,15; 7,13), tritt die Unreinheit an den Geistern zutage. Aber an für sich ist die von Gott jedesmal bei der Zeugung neu erschaffende Seele ihrer ersten Art nicht entfremdet – sie ist ein einfaches, geistiges Wesen – aber nach dem Fall schwach, blöd und per accidens (infolge der ersten Sünde Adams) der Sünde unterworfen, fremd der Gerechtigkeit (Röm 6,20), dem Zorn Gottes ausgesetzt (Eph 2,3; Joh 3,36), tot in Sünden und Übertretungen (Eph 2,1), unter einem Gesetz der Sünde gefangen (Röm 7,23). Würden wir dagegen mit den Quäkern136 und anderen von einem Samen der Sünde sprechen, der sich durch Zeugung auf alle Menschen vererbte, so kämen wir, um der Schrift gerecht zu werden, nicht zum Abschluß, bis wir mit Flacius die ganze Natur des Menschen zur Sünde machten. Es bliebe sonst ja stets noch ein von diesem Samen unberührter, neutraler Boden im Menschen, der dem heiligen Geiste entgegenkommen könnte. Und freilich um dies letztere handelt es sich bei den Quäkern und allen Neueren, die bewußt oder unbewußt den Quäkern diese Theorie von der Erbsünde nachsprechen. Wir sagen dagegen: Die Leibes- und Seelenkräfte sind dem Menschen gelassen worden, aber sie sind geschwächt und in Disharmonie untereinander geraten. Was zunächst den Leib betrifft, so trat an die Stelle der Verwandlung des Leibes, wodurch er zu einer höheren Form des Daseins gelangt sein würde, jetzt Verwesung des Leibes, der dann spät erst die Auferstehung folgen sollte. Durch ein ganzes Heer von Übeln ward der Leib überdies geschwächt. Dieselben brachten einen langsamen Abzehrungsprozeß und eine kontinuierliche Abnutzung der menschlichen Kräfte, endlich den Tod hervor. Was zweitens den Geist betrifft, so ist zu sagen, daß die drei Grundvermögen, Verstand, Gefühl und Wille, dem Menschen gleichfalls geblieben sind, als von seiner Natur unabtrennlich. Der Verstand des Menschen aber ward in den Dingen Gottes gänzlich verdunkelt, da nicht mehr das helle Licht von oben ihm auf dem Pfade des Lebens vorleuchtete. Dabei blieb ihm für die Dinge dieses Lebens freilich Einsicht, Kraft und Geschicklichkeit übrig, so daß die Menschen zur Genüge ihre Erhabenheit über die Tiere auf allen Gebieten beweisen. Die Gefühle gerieten ins Schwanken und trachteten vergebens nach einem Halt gebenden Zentrum, das ihnen nur sehr vorübergehend gewährt ward, indem ja die verschiedenen Lebensinteressen keinen dauernden Halt zu geben vermögen. Was den Willen anlangt, so geriet dieser infolge mangelhafter Leitung seitens des Erkenntnisund Gefühlsvermögens auf Abwege: die Affekte bekamen die Oberhand und durchschnitten oftmals die Verbindung zwischen Verstand und Willen, oder sie umstrickten die Vernunft und lockten den Willen auf ihre Wege. Es kann bei solcher Lage der Dinge nicht mehr von einem nach allen Seiten hin freien Willen oder einem wirklichen liberum arbitrium des gefallenen Menschen die Rede sein. Denn der Wille ist eben ein in die vom Menschen erwählte Sphäre gebannter; es kann der Fall eintreten, daß er in bezug auf die Dinge Gottes ein unfreier wird, ein servum arbitrium – und dieser Fall ist eingetreten: wie solches nach der Schrift von Augustin, Luther und Calvin hervorgehoben wird. Vgl. Joh 8,34; Röm 6,17.20; vgl. 22; ferner die Anschauung, daß wir unter die Sünde beschlossen sind: Gal 3,22, Röm 11,32, sowie auch, daß ein Gesetz der Sünde uns in Beschlag nimmt (Röm 7,23), setzt ebenfalls dem Willen Schranken. Aus Liebe zur Philosophie behielten die alten lateinischen Kirchenväter freilich den Namen liberum arbitrium bei, und die griechischen Väter scheuten sich selbst nicht, das Prädikat αυτεξουσιος dem Menschen zu lassen, wonach er einer wäre, der aus eigenem Vermögen alles täte.137 Aber doch meinten viele der besseren Kirchenväter mit jenem freien Willen nur den Willen, sofern er sich auf das Gute richtet, also den Willen der Wiedergeborenen, den die Gnade unterstützt: 2.Kor 3,17; Joh 8,36; 15,5; vgl. Augustin bei Calvin, Inst. II. 2, § 8; und überhaupt Calvin kontra Pighium, C. II und III.
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (3. Teil)

Abgesehen von der ziehenden und erziehenden Gnade hat der Mensch keinen freien Willen, um sich für das höchste Gut zu bestimmen. Die Seele kann nicht nach dem höchsten Gut verlangen; vergeblich berief sich Origenes, vergeblich die Scholastiker auf Röm 7,15.17.18-20. Dieses Kapitel geht nicht auf den natürlichen Menschen, sondern zunächst redet Paulus von sich und zwar von sich, dem Apostel, er schreibt nach der Bekehrung vor Damaskus. Der Unwiedergeborene könnte gar nicht sagen: so tue ich das Böse nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Das wäre eine Entschuldigung seiner selbst von der schlimmsten Art. Beim Wiedergeborenen dagegen verhält sich die Sache ganz anders, da sind diese Worte ein Bekenntnis der Ohnmacht zufolge der neu empfangenen Selbsterkenntnis. Er gesteht die Ohnmacht des eigenen Ich ein, welches immer noch der Sünde Dienste leistet, aber doch dagegen ankämpft. Also im Munde des Wiedergeborenen ist diese Klage von der Übermacht des Gesetzes in unseren Gliedern, das uns gefangen nimmt unter ein Gesetz der Sünde, ganz berechtigt; beim Unwiedergebornen aber wäre solches unerträglich. Daß Röm 7 vom Wiedergeborenen handle, erörtert Calvin im Gegensatz zu Pighius a.a.O. S. 356. Wir haben hier aber die Frage zu beantworten: tut etwa der gefallene Mensch alles gezwungen, und ist er bei seinem Handeln einer Gewalt unterworfen, die ihn wider Willen, wider die eigene Natur treibt? Da ist zu antworten, daß die Unfreiheit, die wir dem Menschen gegenüber Gott vindizieren, ihn nicht zum Zwange, zum zwangsweisen Tun verurteilt. Alles vielmehr, was die Menschen tun, geschieht mit Wissen und Willen und also mit Freiheit, d.h. sie verüben das Böse oder Gute nicht gezwungen, sondern gern, spontan, indem sie entweder freiwillig das Gesetz befolgen, oder sich freiwillig erheben über das Gesetz und über die Einsprache des Gewissens. Die Knechtschaft des Willens, von der die Schrift redet, ist nicht etwas passives, wobei der Mensch wider Willen böse wäre, sondern sie ist eine freiwillig übernommene, gern vom Menschen getragene – der Mensch weiß es nicht besser. Täte der Mensch das Böse wider Willen, dann wäre es kein Böses mehr, sondern eine Unvollkommenheit und Krankheit. Unter diesen Symptomen vollzieht sich denn auch erfahrungsgemäß das Böse nicht. – Ein ganz anderes aber ist es, ob nicht der Wille gebunden ist an die von der Menschheit eingeschlagene Richtung, die er jedoch immer freiwillig, weil er eben nicht anders berichtet ist, verfolgt. Sklavisch wäre er dann nur, insofern er nicht anders kann, als Gott und der Gerechtigkeit den Rücken zuwenden, Röm 6,17.20. Knechtisch heißt der Wille, insofern er von der Freiheit, zu der Gott in Christus Jesu beruft, sich abwendet: Gal 5,1.13. Die Dogmatik redet nicht vom knechtischen Willen, weil der Wille in Fesseln geboren wäre, die er widerwillig trüge. Dann wäre er ja keinWille mehr; zwangsweise auferlegtes Tun stände im Widerspruch mit dem Begriff des Willens. Hingegen widerstreitet diesem Begriffe nicht, daß der Mensch infolge der einen Abweichung Adams nunmehr in einer immer weiter vom Ausgangspunkt abführenden Richtung sich bewegt, und daß er in derselben sich gern bewegt und die entgegengesetzte Richtung haßt. Der Irrtum bezüglich der Willensfreiheit besteht in einer Überspannung des Begriffes „Wille“. Mit der philosophischen Verteidigung aber des freien Wahlvermögens ist es durchaus schlecht bestellt auch in der Gegenwart.138 Sowie man nämlich dem Menschen durch irgend welche Mittel höhere Wahrheiten mitteilen läßt, welche die Kraft haben, sich dem Verstande zu beglaubigen und von da aus auch Gemüt und Willen zu beeinflussen, so ist der Wille offenbar schon nicht mehr frei. Zwar fordern die Neueren139 eine solche gleichsam neutrale und objektive Darbietung an den Willen, damit es diesem möglich gemacht werde, sich frei seine Stellung zu wählen und nur durch sich selbst bestimmt zu sein bei seinem Handeln: aber man kommt nicht hinaus über Redensarten, welche lediglich die Schwierigkeiten zu verdecken dienen. Es gibt hier nur ein Entweder – Oder. Entweder bekommt der Wille von außen her einen Anstoß – sei es durch objektive Offenbarung, sei es durch ein im Innern niedergelegtes Sittengesetz (Röm 2,15) – oder er bekommt keinen Anstoß und er verhält sich in absoluter Indifferenz, durch nichts von vornherein präokkupiert. Nur im letzteren Falle ist er frei – und nicht schon prädisponiert, im ersteren Fall dagegen ist er unfrei, ein servum arbitrium.
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (4. Teil)

Beweisen wir dies und beginnen wir mit dem letzteren Fall, daß also der Wille eine ungeschmälerte Wahlfreiheit habe. Damit der menschliche Wille solche habe, dafür ist unbedingtes Erfordernis, daß er seine volle Selbständigkeit und Indifferenz gegenüber allen Anerbietungen von Seiten Gottes oder des Sittengesetzes im Innern sich zu bewahren weiß. Was immer ihm von dorther beigebracht werden will, muß ihn indifferent lassen und darf sich nicht auch innerlich durch Verstand und Gemüt hindurch an ihm bezeugen. Täte es dies, würde ihm das Gute in seiner lockenden, das Böse in seiner abstoßenden Gestalt sich präsentieren, so wäre der Wille bei seiner Wahl bestimmt; und würde er gleichwohl trotz des Beweises des Geistes und der Kraft, das dem Guten beiwohnt, sich abweisend dazu verhalten, so wäre er schon der Wille eines gänzlich bösen, ja verstockten Menschen. Denn jeder Mensch will in seiner Weise das Gute, und Objekt des Willens ist das Gute, d.h. dasjenige was ihm als solches erscheint (wie richtig Melanchthon sagt. Um also dem Willen seine völlige Independenz zu wahren, müßte man ihn gleich weit entfernt stellen von Einflüssen des Guten wie des Bösen. Würde sich nämlich diesem Willen das Gute durch innerliche Bezeugung aufdringen, so daß er einen inneren Zug zu ihm empfände, so müßte er von vornherein ein guter, ein auf das Gute angelegter, also unfreier sein; der Wille wäre bereits sittlich bestimmt. Würde der Wille dagegen vom Bösen sich beeinflussen lassen, so müßte er mit dem Bösen in einer inneren Wahlverwandtschaft stehen, d.h. des Bösen Art an sich tragen, weshalb er dann auch zugänglich für dasselbe erscheint. Bei dieser Reserve, die sich der Wille nach rechts und nach links, nach dem Guten wie dem Bösen hin auferlegen muß, kommt er dazustehen wie Buridans Esel zwischen den bekannten zwei Bündeln Heu. Er muß in absoluter Indifferenz verharren; oder, wenn er wählt, muß er blindlings zutappen und damit notwendig alles in die größte Unordnung bringen. Das Ende wäre die Zwangsjacke. Sehr richtig sagt W. Meyer in einem vortrefflichen Aufsatz über die Wahlfreiheit des Willens: „Wir werden, um den Willen in den Stand zu setzen, eine sittliche, die Selbstverantwortlichkeit begründende Entscheidung zwischen gut und böse zu treffen, niemals auskommen mit bloß formellen Begriffsbestimmungen, sondern wir werden ihm einen klaren Einblick gewähren müssen in das Wesen des Guten und Bösen“. Ganz natürlich; aber dann ist er eben schon nicht mehr frei, wie das im weiteren Verlauf jenes Aufsatzes vortrefflich auseinandergesetzt ist. Bei allen Zumutungen an den Willen, daß er sich entscheide für das Gute und gegen das Böse, setzen wir irgend ein Verhältnis, das der Wille zu diesen Kategorien bereits hat, voraus. Jene Freiheit, die zugleich frei ist von jeder Bestimmtheit, ist schlechte Willkür.
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (5. Teil)

Wir müssen also irgend eine Bestimmtheit oder irgend einen dem Willen zugeführten Gehalt zugestehen. Und da bleibt nun freilich nichts übrig, als zu sagen: der Wille ist entweder gut oder böse, d.h. er ist entweder in einer guten oder in einer bösen Richtung befangen. Ein dritter Fall: daß man nämlich den Willen zwischen dem Guten und Bösen in suspenso stehen läßt, wo er dann erst das eine oder das andere beliebig sich zur Richtschnur seines Handelns dienen ließe – ist, wie wir oben gesehen, ein unvollziehbarer Gedanke. Es wird dabei immer vorausgesetzt, daß er es könne, weil das Gebot fordert, er solle es! Dies aber ist etwas gänzlich Erschlichenes – eine petitio principii. Ist aber der Wille in der einen oder anderen Richtung befangen, so folgt, daß wir es mit einem unfreien, d.h. nicht sich selbst setzenden, sondern einem irgendwie schon bestimmten Willen zu tun haben. Die meisten besonneneren Theologen reden daher auch von einem gebundenen Willen. Aber sofort wiederholt sich nun bei ihnen das alte Spiel; sie trachten alsbald doch wiederum eine Indifferenz des Willens herauszubekommen, damit die Freiheit in der Aneignung der Gnade nicht geschädigt, und der Wille nicht als Natur, sondern (was die Kehrseite ist) als Hervorbringer und Schöpfer seiner Zukunft dazustehen komme. Der Wille ist zwar gebunden, er bedarf der Erleuchtung von oben – aber er kann widerstehen, wie schon die Arminianer und die Lutheraner der nachklassischen Zeit behaupten. Für einige Augenblicke seiner Existenz entnehmen sie den Willen seinem Zustand der Gebundenheit, sie versetzen ihn in den reinen Äther der Indifferenz und lassen die göttliche Gnade den Atem einhalten, damit der Wille Zeit finde, entweder zu widerstehen oder nicht zu widerstehen. Denn nur so glauben sie, die Verantwortlichkeit für diese wichtigste Entscheidung im Leben dem Willen wahren zu können. Dagegen ist zu sagen, bliebe der Wille jemals allein und ohne Gottes Geist, käme ein Augenblick, wo die Freiheit der Entscheidung rein bei ihm läge; wäre er im gegebenen Momente der Entscheidung auf sich gestellt (s. Dorner II,2. S. 720), so müßte man ihm für diesen Moment eine über seine kreatürlichen Grenzen hinausgehende Kraft beimessen. Wir meinen die Kraft: aus sich selbst das ewige Gut, einen Moment wenigstens, zu schaffen und die Lücke, die Gottes Geist, bei seinem Ziehen läßt, aus eigenen Mitteln auszufüllen. Wenn der Wille aber das vermag, so kann er auch Himmel und Seligkeit143 schaffen, oder er bedarf ihrer nur zur Ergänzung und zur Ausfüllung jenes Glücks, dessen Urheber er, einen Moment wenigstens, selber ist, und nach Gottes Rechnung auch immer bleiben muß. Dorner steht auch wirklich nicht an (a.a.O. II,1. S.146) von einem Wunder der Freiheit zu reden, als einem Analogon der schöpferischen Macht, die aus Nichts etwas setzt. Statt aber also den Knoten zu zerhauen und mit Dorner von einem Wunder zu reden, bescheiden wir uns, ohne solche willkürliche Auskunft, den Willen streng nach dem Maß der heiligen Schrift zu messen. Wir gehen hier abermals, wie schon § 39, den Mittelweg zwischen dem Determinismus (oder Pantheismus) und dem Dualismus. Vom Pantheismus sind alle Theorien angekränkelt, welche Gott als die absolute Kausalität betrachten, welche keine Schranke, keine relative Kausalität, die nicht erst von ihr gesetzt wäre, zuläßt. Ob man nun in Schleiermacherscher oder in Hegelscher Weise diesen Determinismus faßt, – es ist dasselbige – man hat weder einen lebendigen persönlichen Gott, noch auch eine wahre Menschennatur. Schleiermacher, Chr. Glaube § 119 und 163 fand die Gnade in der von Christus ausgegangenen Mitteilung des höheren Gottesbewußtseins innerhalb der Gemeinde; er nahm eine göttliche Vorherbestimmung an, wobei aber der Gegensatz von Erwählten und Verworfenen zu einem fließenden wird – sie kommen alle letzlich herein. Vatke behauptet: Die Einwirkung der göttlichen Gnade ist nicht verschieden von der immanenten Entfaltung des tiefsten göttlichen Lebensgrundes im Menschen… das Denken – d.h. der höchste Standpunkt – läßt die Gnade aus dem Ansich des menschlichen Innern kommen. Ähnlich urteilt O. Pfleiderer, Grundriß § 177. Die Hegelianer sind nämlich naiv genug, sich (?) und andere glauben machen zu wollen, daß auch sie die altkirchliche Lehre von Gnade und Freiheit wieder zur Geltung gebracht hätten. Man weiß alles besser und dünkt sich selbst höher als Schleiermacher; aber dies erreicht man nur dadurch, daß man alle religiösen Begriffe auf das Wasser seiner im voraus fertigen Phraseologie setzt und sie also in das Phrasenweltmeer schafft, wo alle Hegelschen Begriffe sich lustig untereinander tummeln. Wer dann nachmals lebt, mag sehen, wie er sich damit abfindet. Apres nous le déluge!
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (6. Teil)


Der entgegengesetzte Abweg, der im Verlauf auch der protestantischen Lehrentwicklung immerdar schon und neuerdings ganz ungescheut hervortritt, ist der Dualismus. Mit diesem Dualismus ist der Synergismus oder Semipelagianismus der neueren Lutherischen und Vermittelungstheologie behaftet. Die göttliche Gnade wird, statt alleinige Heilsursache zu bleiben, erst semipelagianisch zur koordinierten und weiterhin zur subordinierten Mitursache mit der menschlichen Freiheit (Synergismus, Arminianismus, älterer Supranaturalismus), zuletzt aber wird sie pelagianisch zur bloß mittelbaren Wirksamkeit der allgemeinen dürftigst gefaßten Offenbarung und Vorsehung, wobei überdies die Präszienz im Interesse der Freiheit fallen gelassen wurde (Rationalismus, nach dem Vorgang der Socinianer).145 Hier nun macht man den Willen zum Gott, indem man die Willensfreiheit in die Fähigkeit, in jedem Momente sich frei für das Gute oder Böse zu entscheiden, verlegt und was der Mensch im moralischen Sinne ist, gänzlich von seinem freien Willen abhangen läßt (s. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2te Aufl. S. 48). Alles neben der Entscheidung des freien Willens Hergehende ist nebensächlich und im Grunde eher hinderlich. Man frönt besonders dem Irrtum, daß es an Gott und an den ungünstigen Umständen liegt, daß unser Wille noch nicht zur rechten Geltung, zur vollen Kraftäußerung gelangte, man hofft noch immer auf einen besonderen Aufschwung. Man hofft, daß ihm Flügel wachsen werden, damit er hinwegkomme über alle Hindernisse. Die Moral setzt ihm Flügel an, befestigt sie aber mit Wachs, und kommt nun das Feuer der Prüfung oder der Versuchung, so stürzt dieser mit wächsernen Flügeln begabte Ikarus hilflos zu Boden. Man hofft: alles wird gut werden. Man fängt nicht damit an zu erkennen, wie groß unsre Sünde und Elend sei, womit doch der erste Teil des Heid. Katechismus wohlweislich beginnt. Legen wir nun dar, was die Dogmatik auf Grund der heiligen Schrift über dieses Problem der Willensfreiheit zu lehren hat. in bezug auf die Kreatur steht fest, daß der Wille gebunden ist an den „status quo“ des Menschen. Es besteht ja zwischen dem Willen und dem Verstande die engste Verbindung. Aus der Verbindung beider geht die Wahl hervor. Ist nun dies Erkenntnisvermögen irre geleitet, dann natürlich auch der Wille. Erst dann, wenn das Erkenntnisvermögen vom heiligen Geiste erleuchtet ist, geht der Mensch rechte Wege. Vorher wird es dem Menschen unmöglich sein, sich aus sich selbst – aus purer Willkür – für das höchste Gut zu entscheiden. Also die Freiheit, von der wir reden, ist keine independente, die sich nach jeder Richtung beliebig betätigen könnte und so auch in der Richtung nach Gott hin. Es gibt keine Willensfreiheit, wobei man wie ein absoluter Monarch verführe. Dem Willen kommt nur eine „libertas a coactione“ zu, aber nicht „independentiae.“ Die Freiheit steht nicht im Gegensatz zu jeglicher Notwendigkeit, sondern nur im Gegensatz zum Zwang. Denn nur ein gezwungener Wille wäre kein Wille mehr. Ein irregeleiteter ist aber ein solcher, und zwar ist er frei in der eingeschlagenen Bahn sich zu bewegen, wenn er auch nicht die Fähigkeit besitzt, aus diesem Labyrinth den Rückweg zu finden.
Simon W.

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§ 47. Das Wesen des Menschen nach dem Fall (De viribus humanis) (6. Teil)

Denn das ist kein notwendiges Requisit für den Willen, daß er independent, rein auf sich selbst gestellt, beständig die Wahl zwischen Gut und Böse habe. Auch der Wille der guten Engel bewegt sich nicht auf der scharfen Linie zwischen zwei Gegensätzen, sondern in einem Element und ist doch frei, und so ist auch beim Menschen der Wille in einer bestimmten Richtung befangen. – Dann eben hat man, wo es sich handelt um den Willen des natürlichen Menschen, demselben die Freiheit zu lassen, in natürlichen Dingen zwischen Gut und Böse auszuwählen: was die Alten die Freiheit „in rebus externis“ nannten. Also in Dingen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, die gleichsam seinen Horizont nicht überschreiten, gibt es eine gewisse Freiheit. Und da ist es Sache der Erziehung, den Willen zu zügeln und ihm durch rechte Ausbildung des Verstandes und Pflege des Gemütes eine gute Leitung für das Leben zu geben. Die Pädagogik ruht auf den Voraussetzungen, daß der Wille in den Dingen dieses Lebens eine Wahlfreiheit habe, die freilich auch vielfach gemindert und durch viele Schwierigkeiten hindurchdringen muß. Jedoch die Freiheit, über den Stand hinauszukommen, in welchen wir durch Adams Fall geraten sind, besitzt der Wille nicht. Der Wille hat nicht die Kraft zu ermessen, was hier alles auf dem Spiel steht; er kann sich selbst nicht übertreffen, nicht selbst das Siegel der Sünde lösen, unter das wir beschlossen sind, Gal 3,22; Röm 11,32; er kann das Gesetz der Sünde und des Todes nicht brechen, unter das wir nach Gottes gerechtem Urteil dahin gegeben sind, seinen Willen zu tun, und nicht den Willen des Geistes des Lebens in Christus Jesu (Röm 7,23.25 ; 8,2). Denn wir haben es hier zu tun mit einem Gesetz der Sünde und des Todes. D.h. das Gesetz tötet und ruft der Sünde, weil es, zufolge der natürlichen menschlichen Verfassung, es nicht weiter bringt und bringen kann, als Tod und Sünde zu mehren. Und da liegt dann das Tötende des Gesetzes in der conditio meriti, die der Mensch sich gefallen läßt, nicht aber darin, daß das Gesetz befiehlt. Denn nicht das Tun des Gesetzes ist verkehrt, sondern das Tun unter der Bedingung von und mit der Aussicht auf Lohn. Der natürliche Mensch jedoch ist bei all seinem Tun und Lassen einem Gesetz, das nur Sünde und Tod wirkt, unterworfen, weil er gar nichts anderes weiß, als daß er sich durch das Gesetz das Leben erwerben müsse. In diesem Sinne sagt der Apostel, wir seien unter die Sünde verschlossen (Gal 3,22; Röm 11,32); ja, er nennt das Gesetz etwas, das die Sünde erst recht in Bewegung setzt (1.Kor 15,56). Von einer Freiheit also, wonach man sich entscheiden könnte für oder gegen das Heil, für oder gegen das Evangelium, so daß nun Gott diese Entscheidung respektieren müßte, davon weiß die heilige Schrift nichts. Das Heil wird aus Gnaden gegeben. Es ist eine Folge des Verdienstes Christi. Die Schrift kennt keine relative Unschuld oder Neutralität. Sie urteilt über den natürlichen Menschen nach Jer 13,23; sie weiß, daß nur da, wo der Geist des Herrn ist, oder wo uns die Wahrheit, oder der Sohn frei macht, die wahre Freiheit vorhanden ist. Joh 8,32.36. Trotz seines Verderbens ist aber der Mensch das frühere Geschöpf Gottes seiner Substanz nach geblieben. Die Menschen sind und bleiben hohe Geister – entthronte Könige: und die Entwicklung zum Schlechteren nimmt nur allmählich zu und tritt erst im Verlauf der Geschichte kraß auf. Nach der Geschichte ist der Satz, daß der Mensch böse sei, nicht so zu verstehen, als ob nichts als eine schwarze, finstere Seelensubstanz ihn erfülle; nein, es zeigt sich der Erfahrung nach auf dem schwarzen Hintergrunde mancher lichte Punkt, es zeigen sich manche semina virtutis und bessere Regungen, aber selbige erhöhen nur unser Unglück und unseren Unfrieden, denn aus ihnen zieht der Kampf im Innern, daß also die Gedanken einander verklagen, Röm 2,14.15, nur immer neue Nahrung. Es beginnt immer wieder derselbe Aufreibungsprozeß, bis nichts mehr übrig bleibt, und zwar um so schneller, je konsequenter man verfährt. Es herrscht nicht absolute Finsternis, es regt sich etwas im Innern, ohne zu einem bleibenden Resultat zu führen. Dies beweisen die vielfältigen Besserungs- und Reformationsversuche in der Geschichte der Menschheit. Wenn nämlich die Auflösung überhand genommen, wenn das innere Rad ganz ins Stocken zu geraten droht, dann treten Philosophen oder Religionsstifter auf, und es wird im Lichte, das jene leuchtenden Funken verbreiten, ein Übereinkommen getroffen, die Tugend wird das Ziel der Bestrebungen, und nun soll es auf einmal besser werden; man muß sich anstrengen, um aus dem status quo herauszukommen: das ist die Losung. Das Übermaß des Bösen ist es also, was den Menschen zeitweilig zur Besinnung bringt. Das Übermaß des Bösen gibt nach der Geschichte Anlaß zu einer gewissen rückläufigen Bewegung, oder zu einem Stillstand. Virgil erzählt in den Georgicis III, 537ff.: Als einst die Tiere von einer Pest ergriffen wurden, da sind selbst die Wölfe zahm geworden und haben vergessen zu rauben, die Hunde taten den in die Dörfer sich verirrenden Hirschen kein Leid an; der hohe Grad des Bösen hatte ihre Wildheit gezähmt. So auch hier. Nicht der reine Glanz des Guten ist das Motiv der Umkehr, sondern vielmehr das Leib- und Seelenmörderische des Bösen. Auch die biblische Geschichte gibt uns den Stoff zu ähnlichen Wahrnehmungen. Wir lernen auch hier: der Baum ist faul – darum wird auch die Frucht faul (Mt 12,33). So war Kain durchaus nicht von Anfang an ein so schwarzer Sünder. Er wird den Unterricht seiner Eltern genossen haben; er folgte seinem Vater nach in dessen Beruf, und daß er kein niederträchtiger Sünder war, zeigt schon der Umstand, daß er darüber zu Falle kam, daß Gott sein Opfer nicht gnädig anblickte, wohl aber dasjenige Abels. Darüber ergrimmte er so, daß er den Bruder erst haßte, also im Herzen Todschlag beging, und dann ihn wirklich erschlug. 1.Mose 4, vergl. mit 1.Joh 3,12-15. In der gleichen Weise läßt sich ein Anwachsen und eine Steigerung der Tatsünden, bis sie endlich zum Himmel schreien, überall wahrnehmen. Die erste welthistorische Steigerung zeigt sich gegen die Zeit der Sintflut hin 1.Mose 6,5; die zweite um die Zeit des Turmbaues zu Babel 1.Mose 11. Dann werden die Stämme des bisher geeinten Menschengeschlechts getrennt, und Gott läßt die Heiden ihre eigenenWege gehen. Apg 14,16. Abram wird berufen. Auch nach der Zerstreuung nimmt man eine Steigerung der Tatsünden wahr, die Paulus schließlich in Röm 1,18- 32 für seine Zeit schildert.
Simon W.

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Wir entnehmen aus den gegebenen Beispielen folgendes für die menschliche Entwicklung nach dem Fall: die aktuellen Sünden traten im Anfang der jeweiligen Entwicklung nicht gleich im höchsten Maße hervor; erst allmählich werden sie himmelschreiend. Aber darum ist die Voraussetzung bei dieser Entwicklung, das Todesverderben, die innerliche Gottentfremdung, also die Erbsünde – bei aller angeborenen und ererbten Kenntnis von Gott und seinem Gesetze immer die gleiche und immerdar – schon vorhanden. Diese Voraussetzung aber kann nur durch eine wahrhaftige Bekehrung aufgehoben werden. Man vgl. zu diesem § Calvin,Inst. II,2 und Contra Pighium; s. Corp. Reform., Operaomnia B. VII. Bernardi, In Cant. canticorum, sernmo VI,2.3.


§ 48. Gottes Verhalten zum gefallenen Menschen
Wir wollen nunmehr das Verhältnis Gottes zum Menschen nach dem Falle beleuchten. Der Mensch ist herausgefallen aus dem Stande, in dem allein er Gotte wohlgefiel. Gott ist stehen geblieben. Er bleibet, wie er ist (Ps 102, 28). Aber gerade deshalb wird es dem so schrecklich veränderten Menschen zur Unmöglichkeit, es in Gottes Nähe auszuhalten. Gottes Dasein ist ihm ein Vorwurf. Schon Adam, sahen wir, flieht vor Gott: und doch ist Gott derselbe geblieben. Sein an Adam gerichteter Ruf: „wo bist du?“ dünkt demselben ein Donner des Gerichts zu sein. Als einem zürnenden Richter steht Kain Gott gegenüber, als derselbe fragte: „wo ist Abel, dein Bruder?“ 1.Mose 4,9. Wo Gott sich nur zeigt, wo er eingreift, da senken sich die Augen scheu zu Boden, da erbebt der Mensch, wie der ungerechte Haushalter, den der an sich so gütige Hausherr vor sich fordert, Lk 16,5; er sucht sich schnell mit dem Gesetz abzufinden, so gut es geht. Das gleiche bezeugt der Evangelist Johannes. Das Licht, Christus, scheint in der Finsternis (unter allen Völkern Röm 10,18), aber die Finsternis nahm es nicht auf; die Menschen haßten das Licht, damit sie nicht in ihrer ganzen Finsternis offenbar, und ihre Werke gestraft würden Joh 1,5; 3,19.20. Was an sich so süß ist – Gottes Licht und seine Gegenwart, verkehrt sich in sein Gegenteil für den sündigen Menschen; er empfindet die Gegenwart des heiligen Gottes als die Gegenwart des zürnenden Richters. Warum das? Gott ist es eben, der die rechte Linie einhält, der sozusagen nicht aus der Wahrheit gewichen ist. Wenn nun das gleiche vom Menschen ofenbar nicht gilt, so wird derselbe in seinem Wahne, er wisse, was gut und was böse sei, hin und her irren, und wo er Gott in den Weg kommt – da empfindet er eine Reaktion des heiligen Gottes, die wir Zorn nennen; vgl. §16. Dieser Zorn Gottes ist keine böse Leidenschaft, so daß Gott etwa hier dem Menschen sich gleichstellte, sondern Zorn ist sein allerheiligster, durchaus würdevoller Wille, das Böse nicht ruhig anzusehen, sondern die Sünde zu strafen und nicht zuzulassen, daß der Sünder Gottes Wege, die nach dem Maße der Gerechtigkeit normiert sind, durchkreuze, kurz: daß er das Gesetz übertrete. Gott bleibt seinem Wesen ganz getreu, auch wo er zürnt; er kann es nur nicht ignorieren, daß der Mensch gefallen. Er kann sein heiliges Gesetz nicht einfach bei Seite setzen lassen. Gerade das wäre lieblos, wenn er den Menschen schalten ließe, wie er will, wenn er die Zügel lokkern würde. Also Gott muß wider die Sünder reagieren, wo immer sie ihm sich entgegenstellen. Selbst ein Mose lernte das Wesen Gottes in dieser Weise kennen. 2.Mose 4,24. vgl. Ps 7,12-14. Also weil wir Menschen so heftig Gott zuwider handeln, so ist auch die ganz gerechte und aus seinem Wesen fließende Reaktion eine heftige. Weil wir einen bitteren Geschmack haben, so ist auch die Süßigkeit der Güte Gottes uns bitter. Auf Seiten des Menschen findet die Änderung statt. Gott selber bleibt aber auch als zürnender, wie er ist; die Leidenschaft des menschlichen Zornes bleibt ihm fremd. Den Eindruck der Heftigkeit macht der Zorn Gottes deshalb, weil der Mensch mit Ungestüm Gotte entgegenwirkt, also gegen diesen Felsen anläuft und sein Gesetz beseitigt. Von dieser Empfindung des göttlichen Zornes auf Seiten des Menschen schreibt es sich auch her, daß die hebräischen Wörter, welche den Zorn Gottes bezeichnen, die Glut, Bitterkeit und Erregtheit148 des zürnenden Subjekts aussagen. Gott ist ein verzehrendes Feuer, sagt die Schrift 5.Mose 4,24; 9,3; Hebr 12,29. Weil eben die Menschen sich heranwagen an Gottes Heiligkeit, so empfinden sie dieselbe als ein Feuer, das sie aufreibt. Sie würden solches nicht empfinden, wenn sie auf ihrem Platze blieben, der durch das göttliche Gesetz untschrieben ist. Auch die Gott beigemessene Reue (1.Mose 6,6.7) sagt keine Selbstkorrektur der Gottheit aus, sondern stellt nur das Herzeleid, welches die damalige Menschheit, seine Geschöpfe, ihm bereitet, ins hellste Licht. Im unmittelbaren Anschluß steht ja 1.Mose 6,8: Noah aber fand Gnade vor Jahwe – und die Menschheit besteht also um Noahs (d.h. aber Christi) willen weiter.
Simon W.

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§ 48. Gottes Verhalten zum gefallenen Menschen (Teil 2)

Wir entnehmen aus den gegebenen Beispielen folgendes für die menschliche Entwicklung nach dem Fall: die aktuellen Sünden traten im Anfang der jeweiligen Entwicklung nicht gleich im höchsten Maße hervor; erst allmählich werden sie himmelschreiend. Aber darum ist die Voraussetzung bei dieser Entwicklung, das Todesverderben, die innerliche Gottentfremdung, also die Erbsünde – bei aller angeborenen und ererbten Kenntnis von Gott und seinem Gesetze immer die gleiche und immerdar – schon vorhanden. Diese Voraussetzung aber kann nur durch eine wahrhaftige Bekehrung aufgehoben werden. Man vgl. zu diesem § Calvin,Inst. II,2 und Contra Pighium; s. Corp. Reform., Operaomnia B. VII. Bernardi, In Cant. canticorum, sernmo VI,2.3.
Neben dem Zorn gibt Gott auch dem natürlichen Menschen seine Güte zu erfahren (vgl. Röm 11, 22). Er hat weder Adam noch auch Kain vernichtet, sondern er läßt sie seine Güte, Geduld und Langmut erfahren – ob dieselbe sie zur Buße leiten möchte nach Röm 2,4; 2.Petr 3,15. Uberdies tilgt Gott die großen Monumente seiner Macht und göttlichen Gesinnung gegen die Geschöpfe nicht von der Erde weg. Röm 1,20; Ps 19,1. Alles Gute, was Gott dem Menschen angedeihen läßt (Apg 14,17; 17,25- 28; Mt 5,45), soll ihn veranlassen, daß er zu Gott zurückkehre, und nicht an seiner Güte verzweifle, sich nicht verstocke in selbsterwählten Wegen, wie Kain tat 1.Mose 4,13.14. Und wie die Güte, so soll auch die Geduld und Langmut den Menschen zur Sinnesänderung leiten. Die Langmut Gottes, welche Noahs Zeitgenossen erfuhren, 1.Petr 3,20, und der Umstand, daß Gott zuwartet, nicht aber sofort alle Sünden nach Verdienst straft, Röm 2,4, vielmehr auch die Heiden vor Sünde behütet, z.B. 1.Mose 20,6 – alles dies sollte den Menschen zur Buße führen. Wir erinnern ferner an Ps 19. Hier sagt David, daß die ganze Schöpfung eine göttliche Pädagogie enthalte; die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, d.h. sie zeugen laut, daß Gott gütig sei gegen alle seine Kreaturen, daß er Licht und Leben ausströmen lasse über die Bösen und Guten, Mt 5,45. Solches wußten die Heiden gar wohl; ihr ganzer Kultus ruht auf der Verehrung der Sonne und des Lichtes; David ist es,der diesen Gefühlen den rechten, wohlbemessenen Ausdruck gibt. Die Himmel erzählen davon, daß Gott den Tod des Sünders nicht will – das ist es, was diese Offenbarung mit all ihren Segnungen über den ganzen Erdkreis hin bezweckt Ps 19,3.4. Wenn jeden Morgen sich über dem Sünder der Himmel aufs neue wölbt; wenn Gott alle Morgen die Menschen füllt mit Speise und Frohsinn oder Lebensmut; Apg 14,15-17; vgl. Ps 145,16; wenn er Plagen von ihnen abwendet und Balsam gießt in ihre Wunden – dann tut Gott ja das seine, um den Menschen zum Dank herauszufordern. Wenn Gottes Güte derartig erwärmend auf den Menschen herniederstrahlt, daß die Herzen unwillkürlich sich öffnen und dem Geber alles Guten entgegenschlagen, ja ihm die Ehre geben müssen: hat dann Gott die Schuld, wenn der Mensch sich dennoch bald wieder verhärtet wider die Sprache, welche der Himmel und das Firmament von der Güte und Herrlichkeit Gottes nach Ps 19,4ff.; Röm 10,18 reden? Wenn des Himmels beredte Verkündigung von der Güte Gottes den Menschen nicht beschämt, wenn ihn die Erkenntnis Gottes aus der Natur nicht niederbeugt und dann erhebt, daß er Gott anruft und ihm wahrhaft dankt, wer hat dann Schuld: Gott, der alle seine Geschöpfe geduldig trägt und pflegt, oder der Mensch?
Simon W.

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§ 48. Gottes Verhalten zum gefallenen Menschen (Teil 3)

Wer hat Schuld, wenn die Heiden verloren gehen, wo doch Gott sich in seiner Güte ihnen so nahe stellt? Wir sagen also eine Bürgschaft und ein Angeld für die Erlösung in Christus hat Gott dem natürlichen Menschen gegeben. Gottes Bereitschaft zu erlösen läßt sich aus der Sprache, die die Natur führt, ahnen. In der Himmel Verkündigung von der Herrlichkeit Gottes liegt, wie Calvin149 treffend bemerkt, ein Vorspiel des Evangelii – amplioris doctrinae praeludium. In der Natur schon wallt und wogt die Güte Gottes mit einer Gewalt, daß sie den sündigen Menschen billig zur innerlichen Umkehr und Beugung unter Gott bringen sollte, wenn eben das Herz des Menschen durch ein anderes Mittel als die allmächtige Gnade zu bekehren wäre. In der Natur hat Gott sich den Menschen zu erkennen gegeben, so daß sie ihn kraft ihrer angeborenen Gotteserkenntnis kannten, aber sodann Gott weder priesen noch ihm dankten (Röm 1,19-21). Es ist alles so eingerichtet, daß die Heiden ohne Entschuldigung seien. Röm 1,20. Gott hat sich ihnen gerade insoweit zu erkennen gegeben, als er dazu seinen Kreaturen gegenüber verpflichtet war, wenn wir von dem Gnadenwege vorerst noch absehen. Und das Gleiche wiederholt sich innerhalb Israels und der Christenheit. Gott offenbarte ihnen Christus durch Wort und Sakrament – aber obschon Israel Gottes Volk hieß, so haben sie es die längste Zeit die beste nicht weiter gebracht als bis zum Hohendienst, und nach dem Exil versanken sie in den toten Buchstabendienst. Und wo nicht die allmächtige Gnade hinzukommt in der Christenheit, da zieht man die Gnade ebenfalls auf Mutwillen und verkennt Gott. Zeichen und Wunder sah Israel zur Zeit Jesu – aber sie bekehrten sich nicht. Zeichen und Wunder sehen die Christen an denjenigen unter ihnen, die Gottes Wort lieb haben – aber sie bekehren sich nicht; Christus ist eben vielen gesetzt zum Fall (Lk 2,34). Statt daß man auf Gottes wohlgemeinte Absichten einginge und in seine liebreich dargebotene Hand einschlüge, stattdessen wurden die Heiden und auch die meisten Christen mehr und mehr zuToren; mit ihrer Weisheit kamen sie auf Narrheit hinaus. Die Heiden aber sind nur ein abschreckendes Beispiel von dem, was bei den Namenchristen und dem Israel kata. sa,rka ebenso sich findet. Es ging hier nach 1.Kor 1,21, daß nämlich die Welt mit ihrer Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte. Wie weit die Heiden es brachten, sehen wir aus Apg 17,22-31. Hiernach hat Gott die Menschen gemacht, daß sie ihn suchen sollten, ob sie ihn denn etwa greifen und finden möchten, indem Gott ja nicht ferne sei von uns, sondern wir allein in ihm Bestand hätten. Und ob nun gleich die Menschen Gottes Geschlecht seien (nach dem Worte eines griechischen Dichters, der es von Zeus gebraucht, und das Paulus akzeptiert), so haben sie es nicht weiter, als bis zum Götzendienst gebracht (V.29.) Die ganze heidnische Vorzeit in allen ihren Perioden wird von Paulus eine Zeit der Unwissenheit genannt. (V.30.) Nach V.23 sind sie nicht weiter als bis zu einem unbekannten Gott gekommen, und das mitten in der Stadt der höchsten Intelligenz, und obgleich sie, – wie wir dies im ersten Teil der Theologie § 2 sahen – eine angeborene Gotteserkenntnis besaßen. Und die Illustrationen zu der gesamten heidnischen Theologie und Weisheitslehre, sowie deren praktische Folgen im Leben lieferten die Sünden und Laster der Heidenwelt, die Paulus Röm 1,24ff. aufzählt, und liefern abermals jetzt die Sünden einer ganzen abgefallenen Christenheit. Das Wort: „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ veranlaßt uns über die gesamte Entwicklung der Menschheit vom Standpunkt des Wortes Gottes aus den Stab zu brechen. So schließen wir denn mit den Worten des Paulus Röm 2,12: Die, welche ohne ein Gesetz (wie das vom Sinai) gesündigt haben, gehen auch ohne den Richterspruch eines solchen Gesetzes verloren, d.h. sie bedürfen nicht eines positiven Gesetzes oder des historischen Evangeliums, um der Verdammnis anheimzufallen. Andrerseits werden die, welche unter einem Gesetz (wie Israel) stehen, zwar durch dasselbe gerichtet werden, aber gleichwohl verloren gehen. (Röm 2,12 ; vgl. Gal 6,15) Bei dem Gesetz also ist in alle Ewigkeit das Heil nicht zu schöpfen. Die Schuld liegt am Menschen ; das Gesetz und so auch Gott, der allerhöchste Gesetzgeber, bleiben rein, wenn sie gerichtet werden (Röm 3,4 vgl. Ps 51,6.)
Simon W.

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§ 49. Vom ersten Nutzen des göttlichen Gesetzes

Wenn es nach dem vorigen § nicht weiter mit den natürlichen Menschen, seien es nun Juden oder Heiden, kommt, als daß das Urteil Gottes über alle ohne Ausnahme, ein Verdammungsurteil ist – wozu soll ihnen dann noch das Gesetz dienen; warum hat Gott selber es in ihr Herz geschrieben; warum halten wir allen ohne Unterschied das Gesetz vor, und warum verpflichtet man auch die Unwiedergeborenen zur Beobachtung des Gesetzes? Wäre es nicht besser, Gott hätte ihnen das Zorn und Verdammnis wirkende Gesetz vorenthalten, und sie wären niemals mit dem Gesetz in Berührung gekommen? Nein, sagen wir: das Gesetz hat seinen Wirkungskreis schon außerhalb der Provinz des Glaubens. Es ist sein gutes Recht, daß es befiehlt und droht, unter Vorhaltung des Lohnes oder der Strafe. Und wie alles, was aus Gott hervorgeht, kehrt auch dieses Gesetz nicht leer zu seinem Urheber zurück, sondern tut, wozu er es gesandt. Es ist daher ein schwerer Irrtum, daß man in der Kirche oftmals durch falsche Darstellung den Schein erweckte, als ob das Gesetz etwas Böses sei (Röm 7,7) oder etwas, das jemals überflüssig werden könne. Wir fürchten uns nicht vor dem Gesetz, auch wo es gebietet, sondern beugen uns vor ihm, als dem göttlichen und guten, ohne welches das Leben nicht lebenswert sein würde. Und so urteilen wir vom Gesetz auch schon dort, wo es sich im Vorhofe der Heiden, oder gegenüber dem natürlichen Menschen nützlich erweist und hier bereits dasjenige tut, wozu es gesandt ist. Es hat aber das Gesetz, wie 1.Tim. 1,9.10 und Röm 2,14.15 bezeugt wird, einen bedeutenden Nutzen, noch ganz abgesehen von der erlösenden Gnade, bei den Heiden, den Juden und Namenchristen. Dieser große Nutzen des Gesetzes Gottes besteht darin, daß es durch seinZeugnis wider die Sünde den Menschen in gewisse Schranken weist, und demjenigen Fesseln anlegt, der sonst nicht einmal in seinem gesunden Instinkt einen Zaum finden würde, um seine losgelassenen Begierden zu zügeln. So sehr zu seinem Nachteil unterscheidet sich ja der Mensch vom Tiere. Gott läßt also das Gesetz bei den Völkern, insbesondere bei Israel, streng handhaben und verknüpft mit dem Gebot Lohn und Strafe. Auch bei den Völkern insgemein sorgte Gott für Handhabung des Gesetzes, indem er ihnen weise Männer verlieh, welche Gesetze vorschrieben (1.Petr 2,13). Das Gesetz soll die Bösen durch Strafe schrecken, die Guten mittelst Versprechung von Lohn locken. Furcht einzuflößen und Lohn zu verheißen ist seine vornehmste Bestimmung auf dieser untersten Stufe seiner Wirksamkeit. Es sieht auf diesem Gebiet das Gesetz noch völlig ab von der Gesinnung des Herzens. Dennoch bringt das Gesetz in diesem Stadium soviel zuwege, daß die Heiden, und die Ungläubigen überhaupt, ein jeder in seiner Weise, Gottesdienst, Liebe, Treue, Mäßigkeit, Keuschheit oder sogenannte gute Grundsätze loben, die Tugend ehren, das Laster dagegen verdammen. Röm 1,32; 2,1ff. Sie erweisen sich als solche, die sich selbst ein Gesetz sind, Röm 2,14, und die des Gesetzes Aufgabe in ihrem Innern verzeichnet haben (V.15) und demzufolge die Tugend und Frömmigkeit zu schätzen wissen. Aber freilich ist der Apostel weit entfernt, ihnen zuzugestehen, daß sie durch solche Gesetzesbefolgung wirklich Gerechtigkeit vor Gott erlangen. Zu hoch spannt er seine Forderungen Röm 2,7-10, als daß die Heiden und Ungläubigen sie erfüllen könnten. Auf diesem Gebiete, innerhalb des Vorhofes der Heiden, führt also das Gesetz keineswegs zu einer Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, – sondern es führt nur zu folgenden Resultaten. Die Stimme des Gesetzes erhält:
Simon W.

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§ 49. Vom ersten Nutzen des göttlichen Gesetzes (Teil 2)

1. den natürlichen Menschen in Furcht, daß er bange wird vor der Hölle, vor Gottes Gericht, oder den Qualen des Tartarus, kurz, vor der sera numinis vindicta. Und diese Furcht ist eine ganz heilsame. Alle sollen es wissen, daß auf die Übertretung der Gebote Gottes der Fluch folgen muß. Aber diese Furcht bessert den Menschen nicht dauerhaft. Sie richtet vielmehr Hochmut, Heuchelei und Verstocktheit an. Entweder glaubt man hoch gekommen zu sein, falls man die wichtigeren Gebote befolgt, und überhebt sich über den Nächsten; man tut so, als ob man das Gebot liebe. Und wird man endlich doch überführt, so will man das Gebot nicht übertreten haben. Der Dieb will kein Dieb, der Mörder will kein Mörder sein, bis man ihm das Messer auf die Kehle setzt, kurz der Mensch rechtfertigt sich selber – und verstockt sich. 2. Ein zweiter Hebel, der durch das Gesetz auf dieser Stufe in Bewegung gesetzt wird, ist die Lohnsucht. Es gibt eine Klasse von Menschen, die, um Lohn bei der Gottheit zu erlangen, das Gesetz zu erfüllen strebt. Diese Menschen können, weil sie ihrem Eigennutz frönen, es sehr weit bringen, ja einen Heiligenschein sich erwerben – aber bei alledem haben sie keinen inneren Frieden. Erscheint nun gleich zunächst das Gesetz als kraftlos um der Sünde willen; scheint es auch seinen göttlichenZweck nicht zu erreichen, so ist und bleibt es doch sehr notwendig im Hause und im Staat, wie nicht minder in der Kirche, und sein Nutzen ist ein sehr bedeutender. Das Gesetz dient, um dem allzugroßen Überhandnehmen der Sünde zu wehren. Dies ist der sogenannte usus legis politicus sive civilis, der erste wirkliche usus legis, der bei der Lehre vom Gesetz in Betracht kommt. Und so dienen bis auf heute die Gesetze und Ordnungen, ja auch die gute Sitte zur Abgrenzung und Sicherstellung der Lebenssphäre des Menschen. Und geschieht es nun, daß die Menschen nach diesen Geboten handeln, so gibt Gott seinen Segen zu solchem Handeln. Nach dem Maße, womit einer mißt, wird ihm wiederum gemessen. Was der Mensch sät, das wird er ernten. In dem Maße, als man z.B. ehrlich ist, fließen auch die Erwerbsquellen reichlicher, und es kommt das Erworbene auf die späten Erben. In dem Maße, als jemand fleißig ist, wird er gesegnet von Gott. Wer Vater und Mutter ehrt und sie im Alter unterstützt, dessen Tun wird nicht unbelohnt bleiben. Der Keusche hat gesunde Kinder zu erwarten, die auch den Eltern in der Keuschheit nacharten; der Mäßige und Sparsame desgleichen. Kurz Gott belohnt das Gute und bestraft das Böse. AlIe bürgerlichen und häuslichen Tugenden sind ihm wert, er sieht es gern, daß den Völkern seine Gesetze und Ordnungen in Fleisch und Blut übergehen. Es verhält sich damit wie bei einer Krankheit, wo auch der Arzt sich freut, wenn er die Krankheitserscheinungen durch geeignete Mittel zu lindern vermag; – daß die Krankheit selbst trotz alledem bestehen bleibt, weiß er dabei natürlich aufs genauste. All solcher bürgerlicher Gehorsam nämlich, solche äußerliche Beobachtung der Gesetze ist nicht genügend, um uns die Seligkeit zu verdienen. Denn unsere Tugenden schrumpfen zusammen und werden zunichte, wenn wir bedenken, daß das Gesetz geistlich ist und also eine Befolgung nach Geist und Wahrheit vom Menschen fordert laut Röm 7,14. Wo diese Beurteilung des Menschen Platz greift, dient das Gesetz nur, uns von unserer völligen Ungleichheit mit Gott150 zu überführen, und selbst alle in diesem § gerühmten Werke erscheinen da nicht als reines Gold, sondern als voller Schlacken, denn sie sind nicht in Gott getan. Vgl. dazu Melanchthon, Apol. B5,33 vgl. 35.
Simon W.

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§ 50. Resultat

Aus dem Inhalt des zweiten Teils der Dogmatik ergibt sich die allgemeine Unfähigkeit des Menschengeschlechtes, aus eigener Kraft seine uranfängliche Bestimmung zu realisieren. Der Mensch kann den Stand im Bilde Gottes (1.Mose 1,26) nicht aus eigenen Kräften wiedereinnehmen. Der Mensch ist von Natur ein in der Schuldhaft Geborener; er ist als solcher dem ewigen Zorne Gottes und ewigen Strafen ausgesetzt. Gott ist ihm gegenüber zu nichts verbunden. Wenn nun Gott den Menschen trotz seiner Ohnmacht verpflichtet, sein Gesetz zu halten, so tut er das nicht in der Hoffnung, daß der Mensch das Gesetz doch endlich noch erfüllen werde, sondern kraft seines innersten Wesens, weil er Kreaturen, die ohne Gesetz leben, vor sich nicht dulden kann. Wenn Gott den Menschen für die Gesetzesübertretungen straft, so tut er dies, um den Rechtsanspruch des beleidigten Gesetzes zu wahren, welches dem Sünder flucht 5.Mose 27,26; Gal 3,10; es soll sozusagen keine Verjährung eintreten. Der Fluch des Gesetzes liegt auf uns, s. auch Gal 3,13, und wir sind verpflichtet, denselben zu tragen und dabei immer noch das Gesetz vollkommen zu halten. Diese Verbindlichkeit hat Gott den Menschen nicht abgenommen. Es ist der Mensch also noch immer ein für seine Gedanken, Worte und Werke verantwortliches Wesen. Und darin irren die Neueren nicht, daß sie solches betonen und den Menschen ein sittliches Wesen nennen. Es darf mit Bestimmtheit behauptet werden und wurde dies auch von uns § 48, daß in dem Menschen semina übrig seien, die nur der Entwicklung bedürfen, um wieder zu einer Art von sapientia, religio und politia zu erwachsen. Hierauf legt mit Recht Comenius, Didactica magna p. 30.47 allen Nachdruck. Und im Blick hierauf pflegen unsre Alten von Resten des Ebenbildes Gottes zu reden (vgl. oben § 34 am Ende). Aber darin irren unsre neueren Theologen gewaltig, daß sie den Trugschluß machen: weil das Gesetz dem Menschen unbedingt gebietet, er solle es befolgen, so müsse er es auch können, und sein Wille sei also frei151 dazu. Daß das göttliche Gesetz stets unbedingt gebietet, gehört zu seinem Wesen; aber jenes andere, daß der Mensch eben deshalb das Gesetz befolgen könne, gehört nicht unbedingt zum Wesen des kreatürlichen Menschen; es gehört wohl zum bene esse, aber nicht zum esse. Und es ist nur einer der zahlreichen Trugschlüsse der neueren Theologie und Philosophie, von dem Sollen, welches die Pflicht und das Gesetz den Menschen vorschreiben, den Schluß zu machen auf das Können. Wie aber dann, wenn der Apostel uns in denWeg tritt mit dem Ausspruch: Gott hat alles unter Sünde – oder Ungehorsam – beschlossen, auf daß die Verheißung käme durch den Glauben an Jesum Christum, gegeben denen, die da glauben (Gal 3,22; vgl. Röm 11,32)? Gibt es da noch einen andren Rekurs als den auf Jesum Christum? Ist nunmehr nicht Jesus Christus an die Stelle aller, die also unter Ungehorsam beschlossen sind, getreten – und nimmt er – der Feisch gewordene Logos – nicht auf seine Schultern die Last, welche zu tragen wir insgesamt als unfähig uns erweisen? Ja, ist es nicht ein wunderbarer Tausch, des Lobpreises der Aeonen würdig, daß an unsre Stelle eintritt der Sohn eines Menschen, der zugleich der im Himmel Seiende heißt (Joh 3,13), und unter das Gesetz getan wird und also die unter des Gesetzes Fluch Befindlichen freikauft (Gal 4,4.5)? Wenn also dieser Christus von Ewigkeit her nach Gottes Rat dem Menschengeschlecht einverleibt erscheint, so ist das Gesetz eine höchste Wohltat, gerade da, wenn es auf Erfüllung dem Menschen gegenüber besteht. Denn der Mensch Christus Jesus ist es, der es an unsrer Stelle erfüllt, und es zeigt sich also oder wird sich alsbald zeigen, daß der göttliche Ratschluß, indem er Christus einschloß in dieses Geschlecht, ja vielmehr indem er von allen andren absieht und allein auf ihn als Retter Bedacht nimmt, nicht über das Ziel hinausschießt, wenn er – was wir in diesem § feststellen müssen – vom Menschen Dinge fordert, die zu erfüllen er nicht imstande erscheint. Daß das Gesetz so unerbittlich bleibt, trotz der Schwachheit des Fleisches, findet seine Lösung in der Sendung des Sohnes Gottes, der zugleich des Menschen Sohn wird. Dieser erfüllt, was dem Gesetz darzustellen unmöglich war. Durch sein Tun und Leiden leistet er Gott alles das, was bis dahin vergeblich von seinen Brüdern geheischt ward. Und das Gesetz Gottes hat also nicht vergeblich an den Menschen seine Forderungen gestellt – denn Christus Jesus ist auch ein Mensch – und auch er unterzieht sich mit seinen Brüdern, ja vielmehr für sie, allen Verpflichtungen, die auf allem Fleische liegen. Eine doppelte Verpflichtung ist es aber, die auf allem Fleische liegt:

1. Die Verpflichtung, Gottes Gesetz vollkommen zu halten, oder die obligatio ad obedientiam, sofern ja Gott uns von dem Gehorsam nicht entbunden hat, sondern der Mensch selbst die süßen Bande des Gehorsams von sich warf.

2. Für den also Gefallenen besteht die Verpflichtung, alle Strafen der Sünde und die Abbüßung der Schuld auf sich zu nehmen, d.h. die obligatio ad poenam. Denn Sünde und Sündenstrafe sind unabtrennlich voneinander. Und eben diese doppelte obligatio, diese Leistung, die der Mensch, wie wir wissen, nicht abtragen kann, obschon Gott trotz seiner Ohnmacht sie von ihm fordert, erfüllt Jesus Christus. Wie solches geschieht, darauf gibt der dritte Teil Antwort.
Simon W.

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III. TEIL Soterologie
Lehre vom Erlöser nach seiner Person und seinem Werke

I. LEHRSTÜCK: Die Person des Erlösers

§ 51. Einleitung
Wir haben uns im ersten Teil mit der Erkenntnis Gottes und im zweiten Teil mit der Erkentnnis des Menschen beschäftigt. Damit haben wir nun die Voraussetzungen der Lehre vom Erlöser erledigt. Wir wenden uns nunmehr im dritten Teil der Dogmatik zu dieser Lehre vom Erlöser, oder zur Lehre von Christi Person und Werk. Diesen Teil nennen wir Soteriologie, denn derselbe hat zunächst und hauptsächlich vom Erlöser (vom σωτηρ) zu handeln. Erst aus der Erkenntnis der Person des Erlösers fließt uns die Erkenntnis seines Erlösungswerkes, welches in einem besonderen Lehrstück zur Sprache kommen wird. Was nun Erlöser bedeutet, ist nicht zunächst aus dem Griechischen zu entnehmen, sondern wir müssen aufs Hebräische zurückgehen. Diese heilige Sprache ist die Vorratskammer, aus der die profanen griechischen Wörter erst mit ihrem wahren Inhalt erfüllt werden müssen. Da übersetzt nun die LXX das hebräische Verbum, welches dem deutschen „erlösen“ entspricht, mit σωζειν. Die Wurzel ישע weist auf einen weiten Raum; das Verbum bedeutet „geräumig sein“, „amplus et patulus fuit“, und das für unser „erlösen“ gebräuchliche Hifil heißt: „es jemandem geräumig machen“, oder „Raum machen für ihn“. Gehen wir nun dem Hebräischen Wort für „erlösen“ weiter nach, so kommen wir notwendig auf die Vorstellung der Enge oder Beengung, in welcher der zu Erlösende sich befindet, während der Erlöser ihm Raum macht und aus der Enge in die Weite, in einen luftigen, erquickenden Raum versetzt. Der Erlöser ist also eigentlich einer, der da Raum macht, ein Bahnbrecher, der allen Widerstand überwindet, so daß andere es leicht haben, vgl. Mi 2,13. Es ist gar wohl zu beachten, daß unser Heiland Jesus hieß, was von ישועה abzuleiten ist, wie solches der ausdrückliche Befehl des Engels Mt 1,21 an die Hand gibt. In Jesu ist Erlösung, der weite, freie Raum für uns in der Beengung Sitzende in persona erschienen. Wer in Jesu bleibt, ist im weiten Raume, im neuen Leben, das der Enge und dem Tode entgegentritt. Ganz übereinstimmend damit heißt nun die Botschaft von Jesus Christus ευαγγελιον, was aus dem Hebräischen „besorah“ den Sinn einer erheiternden, fröhlich machenden Botschaft erhält. Das Evangelium ist die erfreuende Ankündigung an die in Betrübnis Dasitzenden (Mt 4,16), daß der von ihnen längst erwartete Erlöser endlich erschienen sei: Röm 1,1-3. Damit entfallen alle irrigen Meinungen, als ob das Evangelium etwa eine neue vervollkommnete Lehre, eine lex perfecta, eine neue Summe von Geboten, Lebensanschauungen und Lebenssitten enthalte, wie solches die Socinianer (Catech. Racov .p. 145.), die römisch-katholische Kirche (s. Bellarmin, De iustificatione L. IV, Kap 2 und 3), und nach ihnen die Rationalisten annehmen. Man vgl. dagegen Lk 2,29-32; Mt 4,13-17; Jes 61,1f u.a.m.
Simon W.

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