Die große Drangsal und die
dreieinhalb Jahre
Von Hans-Werner Deppe
Die
unterschiedlichen Sichtweisen[1] über die Offenbarung zeichnen sich
durch ein verschiedenes Verständnis der „großen Drangsal“ (Offb 7,14) und der
Umschreibungen für einen Zeitraum von „dreieinhalb Jahren“ (Offb 11,2.3;
12,6.14; 13,5) aus. Ein richtiges Verständnis dieser Begriffe ist daher wichtig
für das richtige Verständnis der ganzen Offenbarung.
Das griechische Wort für
„Drangsal“ ist thlipsis und bedeutet
wortwörtlich „Enge, Bedrängtheit, Druck, Bedrängnis“. Das entsprechende Verb thlibo bedeutet „drücken, drängen,
quetschen“ und wird auch in diesem buchstäblichen Sinne im NT verwendet: „damit
sie ihn nicht drängten“ (Mk 3,9). In Mt 7,14 beschreibt es den „schmalen“ Weg,
durch den man sich zwängen muss. Dies deutet bereits an, dass der Weg der
Errettung ein Weg ist, auf dem man Druck erfährt. Luther hat thlipis stets mit „Trübsal“ übersetzt,
was den Sinn nicht optimal wiedergibt, sondern entgegen der eigentlichen
Bedeutung an Trübsinn und Traurigkeit anklingt. „Drangsal“ oder auch
„Bedrängnis“ sind treffende Übersetzungen, da sie den Gedanken des Drucks
vermitteln, unter den die Betroffenen geraten und dem nachzugeben sie gefährdet
sind.
Der Ausdruck „große Drangsal“ geht
auf Daniel 12,1 zurück: „Und es wird eine Zeit der Bedrängnis sein, wie sie nie
gewesen ist, seitdem eine Nation entstand bis zu jener Zeit.“ Auf diesen Vers
spielt auch der Herr Jesus in seiner eschatologischen Rede an: „Dann wird große
Bedrängnis sein, wie sie von Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und
auch nie sein wird“ (Mt 24,21;
vgl. Mk 13,19; Lk 21,22-23).
In Daniel 12 wird diese Zeit
außerdem als dreieinhalb Jahre beschrieben („Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit“
und 1290 bzw. 1335 Tage: 12,7.11.12; vgl. 7,25; 9,27). Bei Daniel und in der
Offenbarung ist mit der „großen Drangsal“ und den dreieinhalb Jahren
anscheinend ein und dieselbe Zeit gemeint.
Über wen oder was soll diese große
Drangsal kommen?
Soll
diese Drangsal über die Ungläubigen dieser Welt kommen? Über die Nation Israel?
Über die nominelle Christenheit oder über die wahren Gläubigen? An allen drei
Vorkommen – in Daniel, in der Endzeitrede Jesu und in der Offenbarung – ist mit
der großen Drangsal in erster Linie eine Prüfung der wahren Gläubigen gemeint.
Alle, die sich zum Volk Gottes zugehörig bekennen, geraten in Drangsal und
damit in die Versuchung, Gott untreu zu werden, doch die wahren Gläubigen
erweisen sich dabei als echt und bewährt.
Darüber
hinaus gibt es auch allgemeinere Aspekte der „großen Drangsal“, die sich auf
Angriffe auf die Nation Israel beziehen oder auch auf Gottes Zorn über diese
Welt.
Im ganzen Buch
Daniel finden wir das Grundmuster von Verführung und Abfall einerseits und
Prüfung und Bewährung andererseits. Daniel selbst ist das herausragende
Beispiel eines durch Drangsale geprüften und bewährten Gläubigen. In Kap. 11-12
empfängt Daniel eine Vision einer (von seiner Zeit aus gesehenen) künftigen
Bedrängung des Volkes Gottes und der Bewährung der echten Gläubigen, siehe z.B.
11,30-35. Das hat sich vor Christus unter Antiochus Epiphanes erfüllt: Ein
mächtiger Herrscher verführt die unbefestigten und verfolgt die treuen
Gläubigen. Daniel 11,36-45 setzt dieses Thema fort, jedoch ohne zeitlich an die
– heute bereits erfüllten – Ereignisse der vorherigen Verse direkt
anzuschließen. Diese prophetischen Verse wurden nicht unter Antiochus Epiphanes
erfüllt, sondern beziehen sich offenbar auf den im Neuen Testament
angekündigten „Sohn des Verderbens“ (1Thes 2,3-4). Daniel 12 fährt mit der
Beschreibung dieser Zeit der „großen Drangsal“ fort und bestätigt nochmals,
dass sie eine Zeit der Prüfung und Läuterung der Gläubigen sein wird (12,10).
Im
neutestamentlichen Sinne können sich diese Prophezeiungen nicht nur auf
Gläubige aus der Nation Israel beziehen. Sofern die Erfüllung noch aussteht,
betrifft sie jetzt auch die Gläubigen aus den Nationen, die in der Gemeinde
zusammen mit den Gläubigen aus Israel „Miterben und Miteinverleibte und
Mitteilhaber“ (Eph 3,6) sind: Ausdrücklich wird in Daniel 12,1 „dein Volk“
definiert als alle, die „man im Buch aufgeschrieben findet“ (vgl. Offb 20,15),
also auch Gläubige aus den Nationen. Gleiches gilt für die in Dan 12,2-3
beschriebene Auferstehung: Hier gibt es nur zwei Gruppen, nicht drei: Verlorene
und Errettete. Dass Gläubige aus den Nationen ebenfalls als „Nachkommen
Abrahams“ gerechnet werden (Röm 4,16; Gal 3,7.29; 1Petr 3,6) und damit zu dem einen, am Kreuz vereinten wahren Volk
Gottes gehören, wird im NT an vielen Stellen gelehrt (z.B. Röm 11; Eph 2-3,
Hebr 11).
Auch in Matthäus 24
macht der Herr Jesus sehr deutlich, dass es seine wahren Jünger sind, die „Auserwählten“,
die in der Drangsal ausharren und sich bewähren müssen: „Seht zu, dass euch
niemand verführe …“ (V. 4), „Dann werden sie euch in Bedrängnis überliefern …“
(V. 8), „und dann werden sie viele verleiten … viele verführen … wer aber
ausharrt bis ans Ende, wird errettet werden“ (V. 10-13) „… falsche Christusse
und falsche Propheten … werden große Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich,
auch die Auserwählten zu verführen“ ( V. 24). Zumindest zum Teil haben sich
diese Prophezeiungen bereits 70 n.Chr. erfüllt, als im großen jüdischen Krieg
Jerusalem mitsamt dem Tempel von den Römern zerstört und die Nation Israel
zerschlagen wurde (V. 2.15; vgl. Lk 21,6.20.24). Die „große Drangsal“ (V. 21)
besteht u.a. darin, dass die Gläubigen eilig vor der Gewalt einer politischen
Macht fliehen müssen (V. 15-19). Diese Drangsal umfasst also sowohl Leid
aufgrund militärischer Angriffe wie auch Verführung durch falsche
Heilsverlockungen in dieser Notsituation (V. 23-26). Betroffen von dieser
Drangsal sind hier jedoch nicht nur die Gläubigen, sondern historisch gesehen
die ganze Nation Israel, die hier eine bis dahin noch nie dagewesene
Zerschlagung erlebte. Die an Jesus Gläubigen unter ihnen folgten den
Fluchtanweisungen Jesu und wurden in dieser Drangsal von Gott bewahrt und
beschützt.
Weil das, was dem
Volk Israel widerfuhr, aber oft eine typologische Vorschattung für das ist, was
später auf die Gemeinde bzw. die Welt zukommt (siehe auch unten die Tabelle
„typologische Ausweitung“), ist es aber durchaus denkbar, dass sich die „große
Drangsal“, durch die Israel im jüdischen Krieg 64-73 n.Chr. ging, ein
Vorschatten war für eine spätere weltweite Entwicklung (siehe auch unten, „Das
Prinzip der Hinauszögerung“).
In Offenbarung 7,14
ist die „große Drangsal“ gerade jene Lage, aus der die ganze große Schar der
Erlösten „kommt“, die sie also durchlebt und in der sie u.U. als Märtyrer
gestorben sind. Sie haben die Versuchung überwunden und empfangen jetzt ihren
Lohn, den ewigen Trost bei Gott (V. 15-17). Aus Offb 7,2ff (vgl. 9,4) wird
deutlich, dass Gott seine Auserwählten in der Drangsal durch eine
„Versiegelung“ schützt.
Christen sind zu Drangsalen „bestimmt“
Der Begriff und Gedanke der
Drangsal durchzieht das ganze Buch der Offenbarung: In 1,9 bezeichnet Johannes
sich als „Mitgenosse in der Bedrängnis und dem Königtum und dem Ausharren in
Jesus“. Mit dem Wort „Mitgenosse“ zählt er zu denen, die um Jesu willen unter
Druck geraten, nicht nur sich selbst, sondern auch die Empfänger und Leser
seines Buches. In den sieben Briefen an die Gemeinden findet sich der Gedanke
der Drangsal und Prüfung mehrfach: „Ich kenne deine Bedrängnis … Der Teufel
wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr geprüft werdet, und ihr
werdet Bedrängnis haben zehn Tage …“ (2,9-10, an Smyrna). „Siehe, ich werfe sie
aufs Bett und die, welche Ehebruch mit ihr treiben, in große Bedrängnis …“
(2,22; an Thyatira). Die Gemeinden werden zum „Ausharren“ und „Überwinden“ aufgerufen. Sie sollen
Verführungen abweisen und in der Liebe und Treue zu Jesus bleiben. Die Mehrzahl
von ihnen hatte dem Druck durch Verfolgung, Verführung und falsche
Kompromissangebote zum Teil schon nachgegeben (außer Smyrna und Philadelphia).
Doch die wahren Gläubigen sind die Überwinder, die dem Druck „wegen des Blutes
des Lammes“ standhalten und über die gesagt wird: „Sie haben ihr Leben nicht
geliebt bis zum Tod“ (12,11; vgl. 6,9; 20,4). Sie sind es, „die dem Lamm
folgen, wohin es auch geht“ (14,4). Das „Lamm“, der Herr Jesus Christus, ist
ihnen vorausgegangen durch Leid, Verfolgung, Druck und Tod; er ist
„geschlachtet“ worden (5,6.9.12) und sie folgen ihm darin (6,9) bis zur
Herrlichkeit. „Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel
hinterlassen, damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt“ (1Petr 2,21). „Freut euch,
insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid …“ (1Petr 4,13; vgl. 2Kor
1,5; Kol 1,24).
In den Evangelien kommt der
Begriff „Drangsal“ (thlipsis) außer
in Jesu Endzeitreden noch in Mt 13,21 und Joh 16,21.33 vor. In Mt 13,21, dem
Gleichnis vom vierfachen Ackerboden, erweist sich ein äußerlich religiöser
Mensch als unecht, wenn „Bedrängnis entsteht“. In Joh 16,21.33 verheißt Jesus
seinen Jüngern: „In der Welt habt ihr Bedrängnis“. In der Apostelgeschichte
werden die neubekehrten Christen belehrt, dass sie „durch viele Bedrängnisse in
das Reich Gottes hineingehen müssen“ (14,22).
Paulus verwendet den Begriff
„Drangsal“ in seinen Briefen 24 Mal, und 22 Mal sind dabei Drangsale für
Christen in der Jetztzeit gemeint. Dies betrifft oft Paulus’ eigene Drangsal,
die er in Kontinuität zu den Leiden Christi sieht (Kol 1,24). Aber er lehrt
auch die Unabwendbarkeit von Drangsalen für Christen allgemein, z.B. im
Römerbrief (5,3; 8,35; 12,12) und schreibt an die Thessalonicher über die
Bedrängnisse, „dass wir dazu bestimmt sind“ (1Thes 3,3). Dies bekräftigt er in
2Tim 3,12: „Alle aber auch, die gottesfürchtig leben wollen in Christus Jesus,
werden verfolgt werden.“
Wir können also festhalten:
• Die Nachfolge Jesu bedeutet unweigerlich, in
dieser Welt durch Drangsal zu gehen.
• Solche Drangsal der Gläubigen durch
Verfolgung und Verführung ist ein Hauptthema der Offenbarung. Gerade in dieser
Situation der Drangsal soll das Buch der Offenbarung Trost spenden und zur
Treue ermahnen.
• Daher scheint es abwegig, dass die „große
Drangsal“ in Offb 7,14 ein Zeitraum sein sollte, der die Gemeinde gar nicht
beträfe. Vielmehr liegt es nahe, dass damit die ganze Geschichte der Gemeinde
Jesu gemeint ist.
Manche Ausleger meinen, diese
Drangsal werde eben deshalb „groß“ genannt, weil die Gesamtheit der Drangsale
im Laufe der Kirchengeschichte so enorm ist.
Wie diese Sichtweise, dass die
„große Drangsal“ aus der Offenbarung die ganze Interadvent-Periode (die Zeit
zwischen den beiden Kommen Jesu) umfasst, mit den „dreieinhalb Jahren“
zusammenpasst, werden wir weiter unten sehen. Zunächst möchte ich noch einige
Argumente anführen, die Sicht unterstützen, dass der „Drangsalabschnitt“ der
Offenbarung (Kap. 6-19) nicht allein in ferne Zukunft gehört:
Was bald geschehen muss – Naherwartung
In der Offenbarung wird „gezeigt“,
„was bald geschehen muss“; „die Zeit ist nahe“ (Kap. 1,1.3; 22,10). Allein
diese Aussagen legen nahe, dass die Erfüllung aus Johannes’ Sicht unmittelbar
bevorstand. Eine Auslegung hingegen, die die Erfüllung erst tausende Jahre
später ansiedelt, wird diesen Aussagen nicht gerecht.
Offenbarung 1,1 spielt an auf
Daniel 2,28-29.44, wo in Visionen die entsprechenden Ereignisse aus damaliger
Sicht für die „letzten Tage“ angekündigt wurden, die Erfüllung hier aber als
„bald“ in Aussicht gestellt wird. Was Daniel in weiter Ferne sah, sieht
Johannes als noch in seiner Generation beginnend (vgl. 1Jo 2,18). Die „letzten
Tage“ sind mit der neutestamentlichen Haushaltung bereits eingetroffen und als
Christen leben wir in diesem „Ende der Zeitalter“ (Apg 2,17; 1Kor 10,1; Jak
5,3; Hebr 1,1; 9,26; 1Petr 1,20; 1Jo 2,18; Jud 1,18). Diese Kontrast-Parallele zwischen Daniel und
Offenbarung wird auch dadurch verdeutlicht, dass Daniel sein Buch „bis zur Zeit
des Endes“ versiegeln sollte (Dan 12,4.9), Johannes jedoch nicht, „denn die
Zeit ist nahe“ (Offb 22,10).
Johannes spielt in der Offenbarung
nicht nur häufig auf das Buch Daniel an, und viele seiner Visionen stehen nicht
nur in Parallele zu den Visionen Daniels, sondern Johannes sieht die Erfüllung
endzeitlichen Prophezeiungen Daniel als nun unmittelbar bevorstehend bzw. schon
jetzt beginnend. Daniel sah den „Menschensohn“ (Dan 7,13; vgl. Offb 1,13) in
ganz ähnlich überwältigender Weise wie Johannes (vgl. Dan 10,5-9 mit Offb
1,13-18). Doch während Daniels Vision ausdrücklich erst „am Ende der Tage“, in
„fernen Tagen“, erfüllt werden sollte (Dan 10,14; vgl. 2,28), weckt die
Botschaft des Johannes eine Naherwartung. Auch der oft als Schlüsselvers oder Inhaltsangabe
der Offenbarung interpretierte Vers 1,19 (vgl. 4,1; 22,6) steht in Parallele zu
Daniel 2,29.45, was verdeutlicht, dass Daniels einst ferne endzeitliche
Prophezeiungen nun in greifbare Nähe gerückt sind. Sowohl Kapitel 2-3 als auch
4-22 beziehen sich immer wieder sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die
Zukunft und eine strikte Beschränkung von 2-3 auf Gegenwärtiges und von 4-22
auf Zukünftiges kann nicht konsequent behauptet werden.
Entrückung in Offenbarung 4,1?
Manche wenden ein, die Gemeinde
sei „ab Offenbarung 4 nicht mehr auf der Erde“, weil das Wort „Gemeinde“ in den
Kapiteln 4-21 nicht vorkommt. Das ist jedoch ein exegetisch sehr schwaches
„Argument aus dem Schweigen“, mit dem genauso gut behauptet werden könnte, dass
Israel ab Kapitel 7 nicht mehr auf der Erde sei, denn von Kapitel 7,5 – 21,11
kommt das Wort „Israel“ ebenfalls nicht vor. Außerdem beruht diese so genannte
Vorentrückungs-Theorie auf der Grundannahme, dass es zwei getrennte Völker
Gottes gebe. Denn ganz offensichtlich kommen in den betreffenden Kapiteln der
Offenbarung Gläubige – unter verschiedenen Bezeichnungen – vor. Aber wenn diese
Gläubigen erlöst sind durch das eine Erlösungswerk vom Kreuz, dann sind sie
auch vereint in dem einen neutestamentlichen Volk Gottes aus Juden und Heiden
(vgl. z.B. Eph 2,11 – 3,13; den einen
Ölbaum aus Röm 11 etc.). Das Volk Gottes des Neuen Bundes ist eins, am Kreuz
vereint worden zum einen Leib all
derer, die an den Herrn Jesus glauben. Da ist nicht Jude noch Grieche.
Ganz abgesehen davon, dass die
Schrift nirgends lehrt, dass die Entrückung mehrere Jahre vor der eigentlichen
Wiederkunft Jesu stattfände, lehrt sie, dass die Gläubigen dem Herrn „entgegen
gerückt“ werden (1Thes 4,17). Dies zeigt, dass nicht der Herr den Gläubigen in
die Luft entgegen kommt, um mit ihnen wieder zurück in den Himmel zu gehen,
sondern dass die Gläubigen dem Herrn bei seinem Kommen auf die Erde „entgegen“
gerückt werden, vgl. dazu z.B. die Bedeutung von „entgegen“ in Mt 25,1; Apg
28,15 u.a.
Das „komm hier herauf“ in 4,1 kann
auch schwerlich mit der Entrückung der Gemeinde in Verbindung gebracht werden,
wie es manche Vorentrückungs-Vertreter tun. Obwohl sie ansonsten sehr auf
buchstäbliche Auslegung bedacht sind, gehen sie hier weit über die Textaussage
hinaus und sehen hier oder auch in Offb 3,10 eine Entrückung der Gemeinde, die
aber nicht der Aussageabsicht und dem Literalsinn dieser Texte entspricht.
Symbolische Sprache und Typologie
Die bereits erwähnte Parallele
zwischen Offenbarung 1,1 und Daniel 2,28.29.45 erklärt noch eine weitere
wichtige Eigenheit der Offenbarung: Sie tut Zukünftiges „kund“ (1,1b, Luther:
„deutet“). Das griechische Wort für „kundtun“ ist semaino, was „durch Zeichen bzw. Symbole verdeutlichen“ bedeutet.
In der griechischen Übersetzung von Daniel
2,28.29.45 steht dasselbe Wort (Elb.: „wissen lassen“, Hebr jedah, „bezeugen“; „lehren“,
„vermitteln“), und im Buch Daniel werden offensichtlich keine buchstäblichen,
sondern symbolhafte Visionen geoffenbart. Von daher es ist z.B. naheliegend,
dass die „Tiere“ in Offenbarung 13 ebenfalls wie ihre Parallelen in Daniel
keine buchstäblichen Tiere sind und auch nicht (nur) für Einzelpersonen stehen,
sondern – wie in Daniel ausdrücklich erklärt (Dan 7,23; 8,20ff) - für Reiche und
Mächte.
Überhaupt macht ein konsequentes
buchstäbliches Verständnis der Offenbarung keinen Sinn und mir ist auch kein
Ausleger bekannt, der eine solche Buchstäblichkeit in letzter Konsequenz
vertritt. Man kann entweder nur willkürlich bzw. durch menschliche Regeln
entscheiden, ob in der Offenbarung etwas buchstäblich oder symbolisch gemeint
ist, oder aber man geht aufgrund von Offenbarung 1,1 und dem literarischen
Genre dieses apokalyptischen Buches per se davon aus, dass es seine trostreiche
und ermahnende Botschaft vorwiegend in symbolträchtiger Sprache vermittelt.
Bei der Bildsprache der
Offenbarung handelt es sich aber nicht nur um Symbolismus, sondern vor allem
auch um Typologie – Dinge, die im Alten Testament vorgeschattet wurden
(ausdrücklich Beispiele siehe 1Kor 10,1-11; Kol 2,17; Hebr 8,5; 9,1-9) und die
in der Offenbarung thematisch wieder aufgegriffen werden. Obwohl die
Offenbarung kein einziges direktes Zitat aus dem AT enthält, ist sie durchsät
mit unzähligen Anspielungen auf AT-Stellen. Gelehrte zählten fast 400 von
solchen Bezügen oder Anspielungen auf das AT, und William Hendriksen meint,
„ein intensives Studium aller Kapitel der Apokalypse zeigt schnell, dass diese
Liste von vierhundert Bezugsstellen selbst noch unvollständig ist.“[2]
Wenn die Offenbarung zurückgreift
auf Dinge und Begriffe aus dem Alten Testament, ist in der Regeln nicht der
buchstäblich alttestamentlich-israelitische Typus gemeint, sondern das
neutestamentlich-geistliche Gegenbild. Man kann beobachten, dass das, was im Alten
Testament nur speziell auf Israel bezogen war, in der Offenbarung ausgeweitet
wird auf alle Gläubigen bzw. auf die ganze Welt. Ausleger bezeichnen dies als
„typologische Ausweitung“ oder „typologische Verallgemeinerung“. Im Folgenden
eine Tabelle mit einigen wenigen Beispielen für solche -
Typologische Ausweitungen in der Offenbarung
AT – Israel, das
wahre bzw. das nur äußerliche |
Offb – die
Gemeinde bzw. die Welt |
2Mo 19,6: Könige
und Priester (Israel) |
Offb 1,6; 5,10: Könige
und Priester (Gemeinde) |
Kleider gewaschen
(Jes 1,18; 64,6; Sach 3,3-5) |
Offb 7,14; 22,14
Kleider gewaschen (vgl. 1,5) |
Sach 12,10:
Wehklagen werden alle Stämme Israels |
Offb 1,7:
Wehklagen werden alle Stämme der Erde |
2Mo 3-10: Plagen
über Ägypten |
Offb 6-16: Plagen
über die Welt |
Dan 1,12: 10 Tage
Ungemach für Daniels Freunde |
Offb 2,10: „10
Tage“ Ungemach für Ephesus |
Dan 7,25; 12,7:
3,5 Jahre Drangsal für Israel |
Offb: „3,5 Jahre“
Drangsal für die Gemeinde |
Dan 4,27: das große
Babel, Zuchtrute Israels |
Offb: Babylon die
Große, Zuchtrute der Welt |
Babylon fällt |
Offb 16,19: Die
Städte der Nationen fallen |
Sodom, Ägypten,
Jerusalem (genannt in Offb 11,8) |
Offb 11,8-9:
Völker und Stämme und Sprachen |
Hesekiel 37;27; 44,9;
48,35: Der Tempel für Israel |
Offb 21,3: Gott
und das Lamm als Tempel für die Gläubigen (vgl. Joh 2,21; Apg 7,48) |
Hes 47,12:
Heilende Blätter für Israel |
Offb 22,2:
Heilende Blätter für die Nationen |
Hes 14: Schwert,
Hunger, wilde Tiere |
Offb 6,8: Schwert,
Hunger, wilde Tiere |
Hes 2,9-10:
Gerichtsbuch über Israel |
Offb 5,1; 10,8-11:
Gerichtsbuch über die Welt |
Der Messias als
König Israels |
Der Messias als
„Fürst der Könige der Erde“ (Offb 1,5; 19,16; vgl. 5,9-10) |
Manna für Israel |
Offb 2,17: Manna
für die Gemeinde |
Hesekiel: Das
untreue Israel als Hure |
Offb: Die untreue
Christenheit als Hure |
Das treue Israel
als Braut |
Die treue Gemeinde
als Braut |
Jerusalem, Zentrum
Israels |
Das neue Jerusalem,
Zentrum des Himmels |
Die zeitliche Struktur der Offenbarung
Um einordnen zu können, auf welche Zeit sich die
verschiedenen prophetischen Visionen der Offenbarung beziehen, muss man die zeitliche
Struktur dieses Buches verstehen. Offenbar werden nicht einfach chronologisch
aufeinander folgende Dinge beschrieben. Z.B. wird in Kapitel 12 – nachdem die
vorherigen Kapitel bereits die endzeitlichen Siegel- und Posaunengerichte
beinhalteten – die Geburt des Messias (12,5) und die darauffolgende Entwicklung
beschrieben. Das ist nicht der einzige zeitliche Bruch in der Offenbarung. Das
Endgericht wird nämlich im Laufe des Buches mehrmals erwähnt, doch danach fährt
Johannes jeweils wieder mit vorausgehenden Ereignissen fort. Manche Ausleger
haben sieben Zyklen aufgezeigt, die sich steigern. Diese Struktur nennt sich
„progressiver Parallelismus“ oder „progressive Rekapitulation“ und ist aus der
antiken Literatur bekannt; z.B. hat auch der 1. Johannesbrief eine ähnliche
zyklisch-fortschreitende Struktur wie eine Spirale. Der Kommentator William
Hendriksen gliedert die Offenbarung in seinem bekannten Buch „More Than
Conquerors“ in folgende sieben fortschreitende Zyklen, die sich alle vom ersten
Kommen Jesu bis zum Endgericht bei seiner Wiederkunft erstrecken:
Zyklus |
Abschnitt (Kapitel) |
Endgericht in diesem Abschnitt |
Christus
und die sieben Gemeinden |
1 – 3 |
1,7;
2,16.27, 3,3.10 |
Sieben
Siegel |
4 – 7 |
6,12-17 |
Sieben
Schalen |
8 – 11 |
11,15.18 |
Der
Drache, das Tier und der falsche Prophet |
12 –14 |
14,14.16 |
Sieben
Posaunen |
15 – 16 |
16,15-21 |
Babylon
und sein Fall |
17 – 19 |
19,11ff |
Die
Vollendung |
20 – 22
|
20,7ff |
Demnach behandeln diese sieben Zyklen alle denselben
Zeitraum aus unterschiedlicher Perspektive und mit steigender Zuspitzung und
allmählicher Verlagerung auf das letztendliche Gericht.
Für ein grundsätzlich fortschreitend-rekapitulatives
Verständnis der Offenbarung ist nicht unbedingt dieses Schema von sieben Zyklen
zwingend erforderlich. Gregory Beale führt in seinem monumentalen Kommentar zur
Offenbarung etliche verschiedene mögliche Gliederungen verschiedener Ausleger
an, die die Struktur der Offenbarung allesamt fortschreitend-rekapitulativ
deuten.[3]
Die rekapitulierende, aber doch
fortschreitende Struktur der Offenbarung führt zu zwei entscheidenden
Schlüssen:
• Die Wiederkunft Jesu und das Endgericht
können nunmehr ohne Weiteres eintreffen, da nicht unbedingt erst noch
vorgelagerte Prophezeiungen erfüllt werden müssen.
• Bis zur Wiederkunft Jesu ist mit einer weiter
fortschreitenden Zuspitzung der Drangsal zu rechnen, wie sie in der Offenbarung
dargestellt wird: Abfall, Machtsteigerung des antichristlichen Systems, Zucht-
und Strafgerichte Gottes usw.
Die Schule des Präterismus sieht
die Drangsalsprophezeiungen der Offenbarung bereits in der Frühzeit des
Christentums gänzlich erfüllt. Die Schule des Historizismus sieht eine
Erfüllung im Laufe der Kirchengeschichte. Die Schule des Futurismus erwartet
eine rein zukünftige Erfüllung. Wer hat Recht? Ganz ohne
postmodern-pluralistisch zu sein, kann man hier sagen: Alle haben ein wenig
Recht. Bereits sehr früh hat sich das in den Zyklen der Offenbarung beschriebene
Schema von Abfall, Drangsal und Gericht elementar erfüllt, und das Schema
wiederholte und steigerte sich im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder und
wird sich bis zur Wiederkunft Jesu noch weiter steigern.
Nehmen wir z.B. die Prophezeiung des
Antichristen bzw. der beiden „Tiere“ aus Offenbarung 13. Johannes schreibt in
1Jo 2,18, dass schon seinerzeit viele „Antichristen“ am Werke waren (vgl. 2Jo
1,7). Diese religiösen Verführer entsprechen dem zweiten Tier aus Offb 13. Auch
Nero und andere Cäsaren hatten etwas höchst Antichristliches, allerdings mehr
auf politischer Ebene, was dem ersten Tier entspricht. Römische Macht und
christlicher Abfall haben sich schließlich im römischen Papsttum vereint, und
in diesem haben sich eigentlich bereits alle Prophezeiungen über den „Sohn des
Verderbens“ aus 2. Thessalonicher 2 erfüllt (der bzw. das „Zurückhaltende“ in
2Thes 2,6.7 wird häufig als Nero oder als damaliges römisches Kaisertum
interpretiert). Auch Luther und andere bedeutende Reformatoren, Theologen und
Prediger (z.B. Spurgeon) sahen im Papst den Antichristen. Es muss demnach nicht
unbedingt noch „der“ Antichrist kommen, bevor der Herr Jesus wiederkommt. Aber
es kann durchaus noch eine Person
oder Macht kommen, in der das Antichristliche noch zu einem letzten Höhepunkt
kulminiert. Bei seiner Wiederkunft wird der Herr Jesus alles Antichristliche
„mit dem Hauch seines Mundes“ beseitigen – seien es Personen oder
Machtstrukturen.
Das Prinzip der Hinauszögerung
Eine weitere
wichtige Hilfe zum Verstehen und Einordnen der Aussagen in der Offenbarung und
in anderen prophetischen Passagen des Neuen Testaments ist das Prinzip der
Hinauszögerung. Diese Tatsache wird in einem der klarsten eschatologischen
Abschnitte des Neuen Testaments gelehrt, in 2. Petrus 3: „Dies eine aber sei
euch nicht verborgen, Geliebte, dass beim Herrn ein Tag ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“ (Vers 8). Petrus geht in diesem
Zusammenhang konkret auf die Naherwartung seiner gläubigen Zeitgenossen ein und
erklärt, dass der Herr seine Wiederkunft nicht entgegen seiner Verheißung
verzögert. Für Gott sind Zeiträume relativ. Es war richtig, dass die damaligen
Christen das Kommen des Herrn als „bald“ erwartet haben. Aber dieses „bald“
kann bei Gott einen Zeitraum bedeuten, der aus unserer menschlichen Sicht wie
in Zeitraffer auf Jahrtausende ausgedehnt ist. Gott verfolgt damit die
Erfüllung seines Heilsplans (2Petr 3,9) und hält in den Gläubigen beständig die
heiligende Erwartungshaltung wach (V. 11ff). Auch die Endzeitrede Jesu in
Matthäus 24, in der die Ereignisse zwischen Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.)
und Wiederkunft Jesu sehr zeitnah beieinander angesiedelt zu sein scheinen,
kann so verstanden und eingeordnet werden.
Die hier dargelegten
Dinge wie die Beziehungen zwischen Daniel und der Offenbarung, die typologische
Ausweitung, der fortschreitende Parallelismus und das Prinzip der
Hinauszögerungen bieten uns nun das nötige Rüstzeug, um auch den Zeitraum von
„dreieinhalb Jahren“ richtig zu interpretieren.[4]
Die dreieinhalb Jahre
Die dreieinhalb
Jahre werden in der Offenbarung zuerst in 11,2 genannt. Hier steht der Zeitraum
offenbar in Parallele zu einer Aussage des Herrn aus Lukas 21,24, dass nämlich
„Jerusalem von den Nationen zertreten wird“, „bis die Zeiten der Nationen
erfüllt sein werden.“ (Vlg. Jes 5,5; 63,18; Dan 8,13). Die Parallele ist jedoch
keine direkte buchstäbliche, sondern die „heilige Stadt“ in der Offenbarung ist
das „himmlische Jerusalem“ (21,2.10; 22,19). Während der eigentliche innere
Bereich geschützt ist, „zertreten“ die ungläubigen, aber religiösen Menschen
den äußeren, sichtbaren Bereich. Die Parallele zum irdischen Jerusalem ist also
eine typologische, daher ist auch die Zeitangabe typologisch zu verstehen.
Kistenmaker schreibt:
„Dementsprechend
nimmt Johannes diese Prophezeiung Jesu und wendet sie nicht auf das irdische
Jerusalem, sondern auf die Gemeinde an, für die das neue Jerusalem ein Bild
ist. Die Nationen sind keine Nicht-Juden, sondern Nicht-Christen, die alles
Heilige mit Füßen treten und es profan machen. Das Zertreten der heiligen Stadt
bezieht sich auf eine Zeit der Verfolgung, welche die Christen während ihrer
ganzen Geschichte erleiden. Man beachte aber, dass Gott die Dauer begrenzt.
Diese Periode umfasst die Zeit von der Himmelfahrt bis zur Wiederkunft Jesu.
Ich schließe daraus, dass in der Offenbarung Zeitangaben zusammenfassende
Begriffe sind, die nicht als buchstäbliche Jahre oder gar Jahrhunderte
verstanden werden sollten. Chronologische Zeit ist in diesem Buch von
untergeordneter Bedeutung, denn nicht Zeitangaben, sondern Prinzipien sind die
bestimmenden Elemente der Offenbarung.“ (Kistenmaker: Revelation, S. 327).
In Daniel 7,25 und
12,7 bezieht sich die Zeitangabe von dreieinhalb Jahren wohl auf den
Makkabäer-Krieg, als der Tempel von Juni 167 bis Dezember 164 v.Chr. entweiht
worden war. Hier in der Offenbarung ist es der Zeitraum, in welchem die
Ungläubigen durch Satans Führung die von Gott bewahrten Gläubigen bedrängen
(11,2; 12,6.14) und in welchen den Ungläubigen durch Gottes Zeugen der Bußruf
gepredigt wird (11,3).
(Fortsetzung folgt)
© Betanien Verlag,
2006
[1] Präterismus: bereits um 70 n.Chr. bzw. in den ersten Jahrhunderten
erfüllt, Historizismus: Erfüllung der
beschriebenen Ereignisse im Verlauf der Kirchengeschichte, Idealismus (vor allem im Amillenialismus): Erfüllung der
geistlichen Prinzipien im Verlauf der Kirchengeschichte, Futurismus (vor allem im Prämillenialismus bzw.
Dispensationalismus): Ab Offb 4 rein zukünftige Erfüllung der beschriebenen
Ereignisse.
[2]
„More Than Conquerors“, S. 49.
[3]
Gregory K. Beale: „The Book of Revelation“, S. 108-151. Darunter ist z.B. auch eine
bemerkenswerte chiastische (kreuzförmige) Gliederung, die zeremoniell dem
Laubhüttenfest entspricht (S. 141-144).
[4] Selbstverständlich ist unsere
Wertschätzung gegenüber Glaubensgeschwistern mit einer anderen Sicht dadurch in
keiner Weise eingeschränkt. So hat z.B. mein Newsletter-Koautor Joachim
Schmitsdorf ein anderes Verständnis der Offenbarung als ich.