Hermeneutik – die Lehre vom Verstehen und Umgehen
mit der Bibel
Warum
kommen „bibeltreue Dispensationalisten“ und „bibeltreue
Nicht-Dispensationalisten“ zu so unterschiedlichen Ergebnissen in der
Schriftauslegung? Die Ursache liegt in der Methodik, in der Herangehensweise an
die Schrift. Diese Methodik und die Grundannahmen über den Umgang mit der Bibel
bestimmen, zu welchen Ergebnissen man beim Bibelstudium kommt. Das bestimmt
letztlich auch unseren Glaubensinhalt.
Da uns
von Dispensationalisten vorgeworfen wird, eine falsche Hermeneutik zu haben
(nämlich die Schrift nicht buchstäblich genug auszulegen), möchte ich hier
meine Überzeugung wiedergeben und bitte um Hinweise, wenn irgendetwas daraus
als nicht schriftgemäß und bibeltreu beurteilt wird. Weiter unten zeige ich
meine Einwände gegen die dispensationalistische Hermeneutik auf.
Nicht-dispensationalistische
Überzeugungen zur Hermeneutik (Verstehensweise der Bibel)
(zuletzt
bearbeitet am 18.12.2005)
1. Die
Schrift ist vollständig von Gott inspiriert („gottgehaucht“), autoritativ,
unfehlbar und irrtumslos. Dies ist z.B. in der so genannten „Chicago-Erklärung“
niedergelegt, zu der ich stehe.
2. Sola
Scriptura – „Allein die Schrift“ – ist der höchste Grundsatz aller Theologie.
Daher müssen sich alle unsere Lehraussagen exegetisch beweisen lassen. Eine
dogmatische Vorentscheidung zugunsten einer Lehrvariante ist ebenso abzulehnen
wie eine „Eisegese“ – ein Hineinlegen in die Schrift.
3. Die
biblische Offenbarung und die göttliche Heilsökonomie sind fortschreitend. Im
Neuen Testament werden Wahrheiten offenbart, ohne die wir manche Aussagen des
AT nicht richtig verstehen. Das AT muss im Licht des NT ausgelegt werden. So
wird erst im NT das Volk Gottes offiziell um Gläubige aus den Nationen
erweitert (nach Eph 3,3ff und Röm 11,25 ein „Geheimnis“, also im AT nicht
geoffenbart). Im NT wird die Perspektive auf ein geistliches „Israel Gottes“
(Gal 6,16 etc.) entfaltet. Das NT erklärt atl. Prophetie (z.B. Offb erklärt Dan
und Hes; Apg 2,16ff > Joel
3,1; Apg 15,16 > Amos
9,11ff; Gal 4,27 > Jes 54
u.v.m. – siehe Tabelle
) Selbst die atl. Propheten haben nicht vollends verstanden, worauf sich ihre
Prophezeiungen beziehen (1Petr 1,10-12).).
4. Allein
der Literalsinn der biblischen Aussagen lässt auf die göttliche Bedeutung
schließen. D.h. z.B. historische Texte müssen historisch-buchstäblich und
Lehrtexte müssen als buchstäbliche göttliche Wahrheit verstanden werden.
Poetische und prophetische Texte können jedoch unter Umständen bildhaft gemeint
sein. Doch auch ein solches Bild und seine Bedeutung ergibt sich aus dem
Literalsinn des Textes und nicht aus einer verborgenen allegorischen oder
anagogischen (geheimen) „Kodierung“.
5. Die
Schrift muss allein durch die Schrift ausgelegt werden. D.h. keine menschlichen
Grundsätze (auch kein überbetontes Buchstäblichkeits-Prinzip) dürfen unsere
Hermeneutik bestimmen. Die Schrift muss in der Weise ausgelegt werden, wie sie
es selbst lehrt. Auch ob eine Schriftstelle buchstäblich oder bildhaft zu
verstehen ist, darf weder willkürlich noch durch menschliche Regeln entschieden
werden, sondern muss sich aus der Schrift selbst ergeben.
Exkurs:
Muss Prophetie unbedingt buchstäblich verstanden werden?
Dispensationalisten
beanspruchen, die einzige theologische Auslegungsweise zu haben, die die Bibel
mit einer prinzipiellen und konsequenten Buchstäblichkeit verstehen will. Sie
lehren, weil sich alle Prophezeiungen des ersten Kommens Jesu buchstäblich
erfüllt haben, müssten sich auch alle noch ausstehenden Prophezeiungen
buchstäblich erfüllen. Dies ist jedoch ein menschlicher Grundsatz, der aus
folgenden Gründen anzuzweifeln ist:
a)
Keineswegs wurden alle im ersten Kommen Jesu erfüllten atl. Prophezeiungen
buchstäblich erfüllt, sondern z.T. bildhaft oder typologisch: z.B. „Licht“ und
„Finsternis“ in Mt 4,16; die "Gefangenen" in Jes 61,1; die
"Stiere" und "Hunde" in Ps 22,13.17; das Kommen Elias in
Johannes d.T. (siehe unten zu Punkt 12); die vielen Typologien in den Opfern,
im Tempeldienst und in anderen Vorbildern und Schatten etc. Siehe auch 1Mo
3,15: „... er wird dir den Kopf zermalmen ...“. Dies bezieht sich ebenfalls auf
das Kommen Jesu.
b) Ganz
offensichtlich gibt es bildhafte Prophezeiungen. Z.B. haben wir wohl kaum zu
erwarten, in der Ewigkeit buchstäbliche „Säulen“ zu sein wie in Offb 3,12
c) Das NT deutet atl. Prophezeiungen z.T.
bildhaft bzw. typologisch, z.B. Apg 15,16ff; Gal 4,27; Hebr 10,16 u.a. – siehe Tabelle
d) Weil
die göttliche Offenbarung im NT fortschreitet, also erweitert wird, z.B. durch
die dort offenbarten „Geheimnisse“, müssen atl. Prophezeiungen z.T. in neuem Licht
gesehen werden (z.B. die Teilhabe der Heiden am Heil muss berücksichtigt
werden).
d) Auch
Dispensationalisten legen entweder atl. Prophetie nicht konsequent buchstäblich
aus, z.B. die Sündopfer und Leviten aus Hes 40-48 (und greifen hier selbst zum
„Vergeistlichen“); oder gelangen bei buchstäblicher Auslegung in einen so
eklatanten Widerspruch zum NT, dass sie sogar von anderen Dispensationalisten
kaum noch ernst genommen werden. Auch beim Einfügen eines langen Zeitraums
zwischen der 69. und 70. Jahrwoche in Daniel 9,24-27 verlassen die
Dispensationalisten ihre Buchstäblichkeits-Maxime.
6. Die
Schrift ist nicht durch Brüche zwischen den „Haushaltungen“ oder durch
„Einschaltungen“ zerteilt (wie die Dispensationalisten lehren), sondern die
Epochen der Heilsgeschichte bilden ein zusammenhängendes Ganzes. Für das
richtige heilsgeschichtliche Verständnis sind sowohl Kontinuitäten als auch
Diskontinuitäten zu beachten.
7.
Christus ist der Schlüssel zur und der zentrale Inhalt der Bibel. Er ist der
wahre Same Abrahams und alle, die „in ihm“ sind, gehören zum erwählten Volk
Gottes, dem wahren Israel (Gal 3,29; 6,16 u.a.). Er ist der Repräsentant des
Volkes der Erlösten: Er hat das Gesetz erfüllt, stellvertretend für sie
gesühnt, sie sind mit ihm gekreuzigt und auferstanden, in ihm sind sie alle
geistliche Priester und erben das ewige Heil. Christus, sein Kreuz und seine
Auferstehung und damit das, was das NT als „geistlich“ bezeichnet, ist das
einzig richtige Weisheitsprinzip (1Kor 1-2). In diesem Sinne muss die Schrift
„neutestamentlich-geistlich“ verstanden werden und nicht
„alttestamentlich-irdisch-natürlich“ (1Kor 2,13-14).
Zitat:
„Die
alttestamentlichen Propheten und Autoren sprachen von den Herrlichkeiten des
kommenden messianischen Zeitalters in Begriffen ihrer eigenen vor-messianischen
Ära. Sie sprachen vom Volk Israel, vom Tempel, vom Thron Davids usw. Das alles
spiegelt die Sprache, Geschichte und Erfahrung des Volkes wider, dem diese
Prophezeiungen ursprünglich gegeben wurden. Doch im NT werden eschatologische
Themen neu interpretiert. Dort erfahren wir, dass diese alttestamentlichen
Bilder Schatten und Vorbilder waren für die herrlichen Realitäten, die in Jesus
Christus erfüllt sind. ... Das bedeutet, dass Jesus Christus der wahre Israel
ist, der wahre Tempel, der wahre Nachkomme Davids auf dessen Thron usw.“ (Kim Riddlebarger: A Case for Amillenialism, S. 37)
8.
Schrift allein durch Schrift auszulegen bedeutet auch, die klaren Lehraussagen
des NT zugrunde zu legen, und mit diesem Grundverständnis an die schwierigeren
Schriftaussagen heranzugehen. Klare Lehraussagen haben auch Vorrang vor
indirekt gezogenen Schlüssen aus beschreibenden Schriftstellen. Auch darf ein
unzutreffend buchstäbliches Verständnis atl. Aussagen (z.B. künftige Sündopfer
in Hes) nicht Lehraussagen des NT außer Kraft setzen (z.B. keine künftigen
Opfer laut Hebr). Der Grundsatz „schwierige Schriftstellen eines
Themenkomplexes müssen im Lichte klarer Schriftstellen desselben
Themenkomplexes ausgelegt werden“, ist seit der Reformation als analogia fidei („Analogie des Glaubens“)
bekannt und als grundlegend anerkannt.
Zitat:
„Wenn
nicht die Buchstäblichkeit die allgemeingültige Regel für die Auslegung von
Prophetie ist, wie sollen wir Prophetie dann auslegen? Natürlich gibt es viele
prophetische Schriftstellen, die buchstäblich verstanden werden sollen. Eine
hilfreiche Regel ist, dass die buchstäbliche Auslegung angenommen werden
sollte, außer bei folgenden Ausnahmen: a) wenn die Schriftstelle
offensichtliche bildhafte Sprache enthält, b) wenn das NT verlangt, diese
Stelle nicht buchstäblich auszulegen, c) wenn eine buchstäbliche Auslegung im
Widerspruch steht zu Wahrheiten, Prinzipien oder Aussagen, die aus einem
nicht-symbolischen Buch des Neuen Testamentes hervorgehen. Eine weitere Regel
ist, dass die klarsten nicht-symbolischen neutestamentlichen Schriftstellen die
Norm liefern für die Auslegung von Prophetie – und nicht die partiellen
Offenbarungen des Alten Testaments. Anders ausgedrückt: Wir sollten die klaren
und einfachen Schriftstellen als Grundlage annehmen, um die wahre Bedeutung der
schwierigeren Schriftabschnitte zu erkennen.“ (Floyd Hamilton: „The Basis of Millennial Faith“, in
William E. Cox [Hg.]: “Amillennialism Today”, S. 24.25; 53-54)
9. Auf die
Frage, ob und wie Gott seine atl. Verheißungen an Israel erfüllt, geht das NT
ausführlich und eindeutig ein. Schlüssel dafür sind z.B.; Röm 9-11; Gal 3-6;
Eph 2-3; Hebr 7-12, 1Petr 2 etc. und auch Einzelaussagen wie Mt 21,43; Apg
2,30ff; 15,16ff; 26,6-7; 1Thes 2,16 u.v.a.
10. „Vergeistlichen“
ist ein missverständlicher und als „Totschlagargument“ missbrauchter Begriff.
Damit kann a) ein willkürliches Allegorisieren gemeint sein oder b) ein
hermeneutisch richtiges Verstehen von AT-Stellen im Licht des NT. Ich lehne (a)
entschieden ab, halte aber (b) für richtig und wichtig.
Zitat:
„Weil
sich die Dispensationalisten einer literalistischen Auslegung der Bibel
verschrieben haben, sehen sie die alttestamentliche Prophetie als maßgeblich
dafür an, wie neutestamentliche Prophetie auszulegen ist. Z.B. muss nach ihrer
Hermeneutik das Buch der Offenbarung anhand des Buches Daniel ausgelegt werden.
Amillenialisten hingegen sehen die neutestamentlichen Aussagen als maßgeblich
für die Auslegung alttestamentlicher Eschatologie an. So betrachten
Amillenialisten das Buch der Offenbarung als von Gott gegebene Interpretation
des Buches Daniel. Das bringt Dispensationalisten oft in die Verlegenheit, auf
eine alttestamentliche Auslegung eines prophetischen Themas zu bestehen, das im
Neuen Testament – im Licht des in Jesus Christus angebrochenen messianischen
Zeitalters – neu interpretiert wird.“ (Kim
Riddlebarger: A Case for Amillenialism, S. 38)
11.
Manche Begriffe atl. Prophetie werden im NT neu gedeutet, so gibt es z.B. ein
himmlisches „Jerusalem“, ein himmlisches „Zion“ (Hebr 12,22) usw. Auch wird es
eine neue Erde und einen neuen Himmel geben. Somit können viele atl.
Prophezeiungen tatsächlich „buchstäblich“ in Erfüllung gehen – aber an ihren
himmlischen und neuschöpflichen Entsprechungen. Es ist auch keine unzulässige
„Vergeistlichung“, in der Tempelbeschreibung in Heseskiel 40ff einen
geistlich-ermahnenden Zweck zu sehen (siehe Hesekiel 43,10-11) und auch als den
wahren Tempel der Ewigkeit zu verstehen (Offb. 21,22; vgl. Joh 2,21; 1Kor 3,16
etc., vgl. die vielen Parallelen zw. Hes 40ff und Offb 21-22).
12. Atl.
Prophezeiungen können sich in folgenden heilsgeschichtlichen Zeiten erfüllen
oder erfüllt haben:
1. In der
Zeit vor dem ersten Kommen Christi, 2. In den Evangelien (erstes Kommen Christi),
3. In der Zeit der Apostelgeschichte, 4. In der Zerstörung Jerusalems und der
Trübsal und Zerstreuung der Juden im Jahre 70 n.Chr., 5. In der jetzigen Zeit,
6. Im fortschreitenden Abfall vor der Wiederkunft Christi, 7. Bei der
Wiederkunft Christi und seinem Gericht, 8. In dem neuen Himmel und der neuen
Erde. Die Möglichkeit einer Mehrfach- oder Teilerfüllung lehrt die Schrift aber
nicht.
Auch das
Kommen Elias in Johannes d.T. in Mt 17,10-12 ist kein Beispiel für eine
Mehrfacherfüllung. Dispensationalisten gebrauchen diese Stelle
zirkelschlussartig als Argument: Weil sie voraussetzen, dass Elia in Zukunft
buchstäblich noch einmal kommen wird, deuten sie Jesu Aussage so, dass er in V.
11 von einem heute noch künftigen Kommen Elias spricht und in V. 12 vom Kommen
Elias damals in der Person des Johannes. Der Herr Jesus sagt hier jedoch klar,
dass sich die Prophezeiung über das Kommen Elias aus Mal 3,23 in Johannes
bereits erfüllt hat – ohne nochmals erfüllt zu werden. In V. 11 bestätigt der
Herr lediglich die Prophezeiung Maleachis mit dessen Wortlaut im Futur. In V.
12 sagt er dann, dass „Elia schon gekommen ist“, nämlich in Johannes. Auch in
Mt 11,14 sagt er über Johannes: „Er ist Elia, der kommen soll.“ Ebenso
eindeutig ist im selben Abschnitt Mt 11,9-10: „Dieser ist es, von dem
geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der
deinen Weg vor dir bereiten wird“ (vgl. Mal 3,1; dort handelt es sich um Elia;
s. Mal. 3,23). In Lukas 1,17 wird auch der Dienst des Johannes als der des angekündigten
„Elia“ identifiziert: „... um die Herzen der Väter zu bekehren zu den Kindern
... “usw. (vgl. Mal 3,24; vgl. auch Mal 3,1 mit Mt 11,10; Lk 1,76). Ebenfalls
Lukas 1,7 erkärt auch, dass dieses Kommen Elias nicht buchstäblich war, sondern
Johannes kam „in dem Geist und der Kraft des Elia“. Johannes war also nicht
Elia in Person, was er selbst in Joh 1,21 bezeugt. Johannes d.T. hat die
Prophezeiung aus Mal also erfüllt – nicht literalistisch, aber dennoch
vollends, wie der Herr Jesus es selbst bestätigt.
Ebenso
ist Apg 2,16ff kein Beispiel für eine Teilerfüllung. Dies wird von den
Dispensationalisten ebenfalls als Zirkelschluss-Argument angeführt. Weil die
Dispensationalisten noch eine künftige Erfüllung von Joel 3 erwarten, kann sich
Joel 3,1 ihrem Verständnis nach nicht vollständig in Apg 2 erfüllt haben.
13. Man
nimmt nichts von der Schrift weg, wenn man AT-Stellen im Lichte des NT
versteht, denn der (neutestamentliche) „Körper“ ist nicht weniger als der
(alttestamentliche) „Schatten“, die Erfüllung nicht weniger als die
Vorschattung - ganz im Gegenteil.
Man fügt
dabei auch nichts der Schrift hinzu, sondern fügt nur AT-Aussagen mit
NT-Aussagen zusammen. Dabei muss auf spekulativ-detaillierte Auslegung
verzichtet werden, wo dies ein „Über-die-Schrift-Hinausgehen“ wäre. Nicht alle
Details lassen sich allein mit der Schrift konkret und mit letzter Gewissheit
auslegen.
Einige
Einwände gegen die dispensationalistische Hermeneutik
Die
(klassische bzw. von Darby gelehrte) dispensationalistische Hermeneutik beruht
auf einigen unschriftgemäßen Prämissen (voraussetzenden Grundannahmen). Die
Dispensationalisten beanspruchen zwar, das einzige theologische System zu
haben, das auf konsequent buchstäblichem Verständnis der Bibel und ihrer Prophetie
beruhe, doch ist die Buchstäblichkeit nicht das wirklich grundlegende Prinzip
ihres Schriftverständnisses. Die grundlegendste Prämisse ist vielmehr
• die
These, dass es nicht ein, sondern zwei Völker Gottes gebe, die strikt zu
trennen seien: Israel und die Gemeinde.
Von
dieser Grundannahme ausgehend interpretieren sie die Schrift. Unter Kontra-Disp-Argumente
wird gezeigt, was von dieser Grundannahme der absoluten Diskontinuität zwischen
Israel und Gemeinde zu halten ist. Die Schrift lehrt einfach nicht, dass es
zwei getrennte Völker Gottes gibt. Zwar ist es richtig, die Bibel
heilsgeschichtlich zu lesen und verschiedene Phasen des Volkes und des Reiches
Gottes zu unterscheiden. Eine Behauptung von zwei grundverschiedenen Völkern
Gottes (und sogar zwei „Bräuten Christi“) geht jedoch weit über die Schrift
hinaus und widerspricht ihr.
Um diese
These aufrecht zu erhalten, müssen die Dispensationalisten eine weitere These
aufstellen, auf deren Grundlage sie die Bibel deuten:
• Es gäbe
„Einschaltungen“ in völliger Diskontinuität zur Heilsgeschichte Israels
Diese
Sichtweise degradiert Gottes Heilsplan zu einem Heilsplan ausschließlich für
Israel, in dem das Heil für die ganze Welt nur in einer Nebenrolle auftaucht –
oder gewissermaßen als „Abfallprodukt“, weil das Volk Israel auf das erste
Kommen Jesu nicht so reagierte, wie es hätte reagieren sollen. Tatsache ist,
dass die Bibel keine „Einschaltungen“ lehrt.
Ferner
stellen die Dispensationalisten folgende Thesen auf, die für ihr
Bibelverständnis grundlegend sind:
• Die
Gemeinde und ihre Segnungen seien niemals Gegenstand prophetischer Aussagen.
Die hier
verlinkte Tabelle
listet zahlreiche Prophetien auf, in deren neutestamentlicher Erfüllung oder
Erklärung es um das neutestamentliche Gottesvolk oder seine Segnungen geht (das
Evangelium, der neue Bund etc.). Damit ist gezeigt, dass diese These einfach
falsch ist. Sie beruht übrigens auf der dispensationalistischen Grundannahme -
• Die
Gemeinde sei ein Geheimnis, was bedeute, dass alles, was im AT steht, nichts
mit der Gemeinde zu tun habe.
Die Gemeinde
wird im NT jedoch nicht als „Geheimnis“ bezeichnet. Eines der im NT
geoffenbarten Geheimnisse ist, dass Gläubige aus den Nationen Mitteilhaber an
dem Heil sein sollen, das im AT Israel verheißen war (Röm 11,25; Eph 3,3ff).
Auch Christus und sein Evangelium werden als Geheimnis bezeichnet (Röm 16,25;
1Kor 2,1.7; Eph 6,19; Kol 2,2; 4,3; 1Tim 3,16). Natürlich sind Christus und
sein Evangelium, das auch den Nationen gilt, sowie viele Segnungen und
Wahrheiten erst im NT offenbart worden, was jedoch nicht heißt, dass es dazu
keinerlei Bezugspunkte im AT gebe. Vielmehr bezeichnet Paulus seine
Evangeliumsbotschaft von Christus als das, was im AT angekündigt war: als
„Hoffnung Israels“ (Apg 28,20) und als „Hoffnung auf die von Gott an unsere
Väter geschehene Verheißung, zu der unser zwölfstämmiges Volk ... hinzugelangen
hofft (Apg 26,6-7).
• Die
Ewigkeit sei niemals Gegenstand atl. prophetischer Aussagen
Auch das
ist falsch; siehe z.B. Jes 65,17; 66,21 (vgl. 2Petr 3,13; Offb 21,1); 66,24
(vgl. Mk 9,48). Man suche auch einfach mit einer Konkordanz oder einem
PC-Programm nach dem Wort „ewig“ im AT (mein Programm meldet 424 Vorkommen).
Ebenfalls
nicht schriftgemäß sind, wie oben unter Punkt 12 bereits gezeigt, die
dispensationalistischen Thesen der
• Mehrfach-
bzw. Teilerfüllung von Prophetie.
Was ist nun aber von dem beanspruchten
• Prinzip
der konsequenten Buchstäblichkeit
zu
halten? Oben haben wir bereits gezeigt, dass es nicht stimmt, dass sich alle
Prophezeiungen über das erste Kommen Jesu buchstäblich und nicht geistlich oder
bildhaft erfüllt hätten. Bereits die erste Prophezeiung der Bibel ist ein
Beispiel dafür: Der Herr hat nicht buchstäblich einer Schlange den Kopf
zertreten.
Außerdem
halten sich auch die Dispensationalisten nicht konsequent an das Prinzip der
Buchstäblichkeit, sondern nur dort, wo das Ergebnis ihrem theologischen System
entspricht.
Von besonderer Tragweite ist zudem das für
Dispensationalisten typische
•
Fehlende exegetische Herangehen an die Schrift
Exegetisches
Herangehen an die Schrift heißt, die Glaubenslehre nur aus dem fortlaufenden,
zusammenhängenden Auslegen der Schrift herzuleiten. (Siehe dazu die
Ausführungen oben). Bei Dispensationalisten ist oft zu beobachten, dass sie a)
ihre theologischen Grundannahmen zum höchsten Maßstab machen und sich die
Exegese diesen dogmatischen Vorgaben beugen muss, und dass sie b) nicht
zusammenhängende Bibelabschnitte als Grundlagen ihrer Lehre heranziehen,
sondern ihre Lehre auf Einzelverse und gesammelte in der Schrift verstreute „Hinweise“
aufbauen.
Ein
Beispiel für eine mangelhafte „Exegese“ von Dispensationalisten sei hier
genannt. Sie begründen die Vorentrückungslehre u.a. mit der Beobachtung, dass
das Wort „Gemeinde“ ab Offb. 4 nicht mehr vorkommt. Daraus schließen sie, dass die
Gemeinde dann nicht mehr auf der Erde ist. Wenn dies ein berechtigtes
hermeneutische Vorgehen und richtige Exegese wäre, dann wäre die Gemeinde
jedoch auch nicht im Himmel, denn auch in Offb. 21-22 wird das Wort „Gemeinde“
nicht erwähnt!
Weitere
fragwürdige unter manchen Dispensationalisten vertretene Ansichten über
Bibelauslegung sind:
•
Geschichtliche Bibeltexte hätten eine allegorische oder typologische Bedeutung,
die wir zu ergründen hätten.
Das ist
eine direkte Aufforderung, über das hinaus zu denken, was geschrieben steht.
Manche AT-Stellen werden durch die apostolische Autorität und Inspiration des
Heiligen Geistes im NT ausdrücklich allegorisch oder typologisch gedeutet. Die
Schrift autorisiert uns nicht, bei historischen Schrifttexten eine über den
Literalsinn der Schrift hinausgehende Deutung hineinzulegen. Gewiss dürfen
typologische Vergleiche gezogen werden wie zwischen bestimmten Personen des AT
und dem Herrn Jesus oder z.B. zwischen der Wüstenwanderung Israels und dem
Leben als Christ. Dabei müssen wir uns jedoch hüten, über die Schrift
hinauszugehen und lehrmäßige oder für
alle Gläubigen verbindliche Aussagen aufzustellen, denen wir
göttlich-offenbarende Autorität zusprechen.
Gottes
Wort besteht in dem geschriebenen Bibeltext. Worte sind keineswegs, wie Goethe
sagte, „Schall und Rauch“. Schon gar nicht sind Gottes Worte Schall und Rauch,
sondern sie sind Gottes Kraft. Wer sich mit Gottes direkten Aussagen nicht
zufrieden gibt, sondern stets dahinter einen verborgenen Sinn sucht, sollte aufrichtig
seinen geistlichen Zustand hinterfragen.
• Die
wirkliche biblische Wahrheit könne nur von besonders geistlichen Christen
erkannt werden.
Abgesehen
davon, dass dadurch die Christen in zwei Gruppen gespaltet werden, steht diese
Ansicht in direktem Widerspruch zu 1Kor 4,6: Geistliche Christen denken nicht
über das hinaus, was geschrieben steht. Die echte biblische Lehre entnehmen sie
in Einfalt und Demut den klaren Schriftaussagen, anstatt diese zu „verdrehen“
(2Petr 3,16).
© 2005,
Hans-Werner Deppe