Argumente, die scheinbar für den Dispensationalismus sprechen

 

1.)  Die tausend Jahre in Offenbarung 20

Offenbarung 20,1-10 war für mich lange Zeit die Hauptstütze im Glauben an ein tausendjähriges Reich (wenngleich manche Dispensationalisten allein auf das AT als Grundlage für ihren Milleniumsglauben verweisen). Schließlich ist in diesem Schriftabschnitt sechsmal von „tausend Jahren“ die Rede - je einmal in den Versen 2-7. Ist das nicht eine überwältigende Beweislast dafür, dass es ein buchstäbliches Tausendjähriges Reich auf Erden geben wird?

Bei einer textauslegenden Herangehensweise an diesen Abschnitt stellen wir jedoch zunächst fest, dass die hier beschriebenen tausend Jahre nicht das Millenium der Dispensationalisten sind. Wir lesen hier nichts von einer Wiederherstellung Israels, nichts von einem Tempel- oder Opferdienst, nichts vom verheißenen Land und nichts von der Erfüllung dahingehender alttestamentlicher Prophezeiungen. Exegetisch gesehen ist es nicht richtig, dass die Dispensationalisten diesen Bibelabschnitt als „Joker“ gebrauchen, um alle ihre aus dem Alten Testament abgeleiteten Theorien hier hinein zu platzieren. Somit müssen wir unterscheiden zwischen a) der dispensationalistischen Vorstellung des Milleniums und b) der herkömmlichen Erwartung eines künftigen Milleniums. Letztere Sichtweise war in der Kirchengeschichte auch vor dem Aufkommen des Dispensationalismus bekannt. Manche Christen erwarteten ein Tausendjähriges Reich Christi auf Erden, jedoch ohne die dispensationalistische Lehre von der Wiedereinführung des jüdischen Systems. Zu dieser Sicht, dem so genannten „historischen Prämillenialismus“, habe ich eine zeitlang geneigt, nachdem ich mich vom Dispensationalismus abgewandt hatte. Der historische Prämillenialismus führt bei weitem nicht zu solch schwerwiegenden lehrmäßigen Problemen wie der Dispensationalismus mit seiner „Zwei-Völker-Gottes-Lehre“, der Ablehnung der Gültigkeit des Neuen Bundes und der „Zurück-zum-jüdischen-System“-Erwartung. Deshalb darf man den historischen Prämillenialismus nicht mit dem Dispensationalismus verwechseln. Die Dispensationalisten finden in Offenbarung 20 keinerlei Unterstützung für ihre speziellen Lehren, die sie vom historischen Prämillenialismus unterscheiden.

 

Auch wenn ich den historischen Prämillenialismus viel eher akzeptieren kann als den Dispensationalismus, möchte ich hier kurz auf die amillenialische Sichte von Offenbarung 20 eingehen. Zunächst ist festzuhalten, dass in Offb. 20,1-7 nichts von einem irdischen Reich steht. Daher hängt die Erwartung der „tausend Jahre“ als eine noch künftige Ära allein an der Annahme, dass die Offenbarung in strikt zeitlicher Reihenfolge geschrieben ist und sich dieser Abschnitt erst nach den in Kapitel 19 beschriebenen Ereignissen erfüllen wird. Aber die Offenbarung ist nicht strikt chronologisch. Z.B. wird in Kapitel 12 – nachdem in den vorigen Kapiteln bereits die endzeitlichen Siegel- und Posaunengerichte prophezeit wurden – die Geburt des Messias (12,5) und die darauffolgende Entwicklung beschrieben. Das ist nicht der einzige zeitliche Bruch in der Offenbarung. Das Endgericht wird nämlich im Laufe des Buches mehrmals erwähnt, obwohl es danach jeweils mit Ereignissen vor dem eigentlichen Ende fortfährt. Eine genauere Untersuchung ergibt, dass die Offenbarung in Zyklen verfasst ist, die sich steigern. Diese Struktur nennt sich „progressiver Parallelismus“ und ist aus der antiken Literatur bekannt; auch der 1. Johannesbrief hat eine ähnliche zyklische Struktur. Der Kommentator William Hendriksen gliedert die Offenbarung in seinem bekannten Buch „More Than Conquerors“ in sieben fortschreitende Zyklen, die sich alle vom ersten Kommen Jesu bis zum Endgericht bei seiner Wiederkunft erstrecken:

 

Zyklus

Abschnitt (Kapitel)

Endgericht in diesem Abschnitt

Christus und die sieben Gemeinden

1 – 3

1,7; 2,16.27, 3,3.10.

Sieben Siegel

4 – 7

6,12-17

Sieben Posaunen

8 – 11

11,15.18

Der Drache, das Tier und der falsche Prophet

12 –14

14,14.16

Sieben Schalen

15 – 16

16,15-21

Babylon und sein Fall

17 – 19

19,11ff

Die Vollendung

20 – 22

20,7ff

 

Sehr offensichtlich sind z.B. die Parallelen zwischen Offenbarung 12 und 20:

 

Offenbarung 12,7-11

Offenbarung 20,1-6

1. Himmlischer Schauplatz (V. 7)

1. Himmlischer Schauplatz (V. 1)

2. Kampf des Engels Michaels und anderer gegen Satan und sein Heer (V. 7-8)

2. Der Engel bindet Satan (V. 2)

3. Satan wird auf die Erde geworfen (V. 9)

3. Satan wird in den Abgrund geworfen (V. 3)

4. Der Drache, die  Schlange, die den Erdkreis verführt (V. 9)

4. Der Drache, die Schlange, die die Nationen verführt (V. 2-3.7-8)

5. Der Satan hat Wut und nur eine „kurze Zeit“(V. 12)

5. Der Satan wird für „kurze Zeit“ freigelassen (V. 3)

6. Der Fall Satans führt zur Herrschaft Christi mit seinen Heiligen (V. 10-11)

6. Der Fall Satans führt zur Herrschaft Christi (V. 4)

7. Die Mitherrschaft der Heiligen ist mit ihrem Überwinden „wegen des Wortes ihres Zeugnisses“ „bis zum Tod“ verbunden (V. 11)

7. Die Mitherrschaft der Heiligen ist damit verbunden, dass sie „um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen enthauptet worden waren“ (V. 4)

 

Demnach folgt Offenbarung 20,1-7 nicht zeitlich auf Offenbarung 19, sondern bezieht sich – wie auch Kapitel 1-19 - wieder aufs neue auf die Zeit zwischen den beiden Kommen Jesu mit einem besonderen Augenmerk auf die Zuspitzung vor seiner siegreichen Wiederkunft. Andernfalls wäre es auch schwer zu erklären, wie die „Nationen“ in Offb 20,3 vor der Verführungskunst Satans geschützt werden können, wo sie doch angeblich zuvor in Kap. 16 und 19 bereits gerichtet wurden.

Dass Offb. 20,1-10 eine Rekapitulation von Kap 19 ist, wird auch daran deutlich, dass es sich bei dem Sieg Jesu in Kap. 19,11-21 und Kap. 20,7-10 um ein und dieselbe Endschlacht handelt – die Schlacht von „Gog und Magog“. Diese Schlacht wurde bereits in Hesekiel 38-39 angekündigt. Während Offenbarung 19,17-18 genau die Ausdrucksweise von Hesekiel 39,4.17-20 verwendet („das große Mahl Gottes“, bei dem das Fleisch von „Großen und Kleinen“ von Vögeln und Tieren gefressen wird), wird in Offenbarung 20,8 ausdrücklich „Gog und Magog“ erwähnt (vgl. Hes 38;2; 39,1.6). Die Endschlacht von Gog und Magog ist anscheinend sowohl in Offb 19 als auch 20 beschrieben. Es ist die siebte und allerletzte der sieben Plagen, die in Kap. 15 angekündigt wurden und die den Zorn Gottes ein für allemal „vollenden“ (15,1.8).

 

Wie aber ist dann dieser Bibelabschnitt mit den „tausend Jahren“ zu verstehen?

Zunächst ist offensichtlich, dass wir in diesem Abschnitt mit bildhafter Sprache zu tun haben: Wohl kaum wird eine buchstäbliche Schlange mit einer buchstäblichen Eisenkette gebunden und mit einem buchstäblichen Schlüssel verschlossen.

Es sind drei Punkte, die hier beschrieben werden: 1. das Binden Satans (V. 1-3), 2. die Herrschaft Christi mit seinen Heiligen (V. 4-6) und 3. der letzte Aufstand Satans (V. 7-10). Dieses Schema kann sich sehr wohl auf die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Kommen Jesu beziehen:

1. Zweifellos wurde durch Jesu Heilswerk der Satan besiegt und in gewisser Weise „gebunden“, siehe z.B. Mk 3,27; Lk 10,18; Joh 12,31; 16,11; Kol 2,15 und Hebr 2,14. In der Zeit vor dem Kreuz waren die „Nationen“ vollständig unter dem Bann Satans, und Gott wirkte nur in und mit Israel. In der jetzigen Zeit der Evangeliumsverkündigung ist die Verführungsmacht des Feindes durch das Wort vom Kreuz gebrochen und aus allen Nationen werden Menschen errettet.  Dies schließt den fortdauernden Einfluss Satans nicht aus; er wirkt insbesondere durch seine dämonischen Götzen (1Kor 10,20) und Lehren (Eph 6,12; 1Tim 4,1) und durch die ihm untergebenen Ungläubigen (Eph 2,2; 1Petr 5,8-9). Auch 2Thes 2,6 deutet darauf hin, dass die Einflussmöglichkeit des Widersachers „zurückgehalten“ und auf ein von Gott bestimmtes Maß eingeschränkt wird bzw. wurde, sodass der letztendliche „Abfall“ und der „Sohn der Gesetzlosigkeit“ (2Thes 2,3) während dieser „tausend Jahre“ noch nicht vom Teufel auf den Plan gebracht werden können.

2. Die Szene mit den Thronen in Offb 20,4-6 spielt offenbar auf Daniel 7,9.22 an und findet anscheinend im Himmel statt, wo in der Offb. stets der Thron Christi und Gottes ist (Offb 1,4; 3,21; 4,2ff etc.). Die Verse 1-3 beziehen sich also auf die Situation auf der Erde; während die Verse 4-6 eine himmlische Perspektive bieten. Hier müssen wir bedenken, dass das Buch der Offenbarung zum Trost und zur Ermutigung von bedrängten Gläubigen während heftiger Christenverfolgung geschrieben wurde. Ihnen wird hier gezeigt, dass sie nicht zur Verlierer-, sondern zur Siegerseite gehören. Auch wenn sie von Menschen um ihres Glaubens willen getötet werden, so leben sie doch; sie herrschen mit und empfangen als Erben das Reich. Daher beziehen manche Ausleger das Mitherrschen nur auf die Seelen verstorbener Christen, die jetzt bei Christus weilen. Eine andere Sicht sieht in der „ersten Auferstehung“ die Wiedergeburt bei der Bekehrung, was mit anderen Schriftstellen von Johannes übereinstimmt (Joh 5,24-25; 1Jo 3,14; vgl. Kol 2,12). So gesehen lässt sich sagen, dass auch die lebenden Gläubigen bereits mit Christus in den Himmel versetzt sind (Eph 2,6; Kol 3,1) und sogar in gewisser Weise – verborgen und geistlich, auf keinen Fall irdisch-politisch – mit ihm „mitherrschen“ (Röm 5,17; Offb 1,5-6; 1Petr 2,9 – „königliches Priestertum“). Jedenfalls muss der meistens mit „sie wurden lebendig“ übersetzte Ausdruck (griechisch ezäsan, wörtlich „sie lebten“) keinesfalls die künftige leibliche Auferstehung meinen, denn es ist ausdrücklich erst „die erste Auferstehung“ (vgl. die zwei Auferstehungen in Joh 5,24-29).

3. Nach dieser himmlischen Perspektive führen die Verse 7-10 unseren Blick wieder auf die Erde: der Satan wird wieder losgelassen und verführt nochmals die Nationen, sodass sich mit ihm die ganze Macht der Erde zum letzten Kampf gegen Gott und sein Volk versammelt. Diese Schlacht von „Gog und Magog“ ist, wie oben bereits gezeigt, offenbar dieselbe wie in Kapitel 19. Es ist „der Krieg“ (griechisch ton polemon mit Artikel), der auch bereits in 16,14 beschrieben wird: „... Geister von Dämonen ... die ausziehen zu den Königen des ganzen Erdkreises, sie zu versammeln zu dem Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“. Auch in 19,19 führen „die Könige der Erde und ihre Heere ... den Krieg“.

Wann wird das sein? Das Buch der Offenbarung zeigt – wie auch zahlreiche andere Stellen im NT -  dass sich vor der Wiederkunft Christi die satanische Verführung zuspitzen wird. Die Zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Christi umfasst demnach zwei Phasen: Das Gebundensein Satans – was zu einer Ausbreitung des Evangeliums und zu Erlösten in aller Welt führt - und Satans Freilassung, sodass er eine „kurze Zeit“ (12,12; 20,3) die Gläubigen bedrängen kann. Diese zwei Phasen werden unterschiedlich gewichtet: „tausend Jahre“ im Vergleich zu einer „kurzen Zeit“. Hierin scheint die ermunternde Botschaft zu liegen: Im Vergleich zu unserem geistlichen Sieg in der Verbindung mit Christus fällt die Bedrängnis kaum ins Gewicht. Da Zahlen in der Offenbarung vorwiegend symbolische Bedeutung haben, ist es müßig, ein Ende der „tausend Jahre“ konkret in der Geschichte aufzeigen zu wollen. Grundsätzlich sind zwei verschiedene Sichtweisen möglich: a) die zwei Phasen sind tatsächlich eine lange und eine kurze Epoche und zeitlich klar getrennt, und b) die zwei Phasen stellen aus geistlicher Sicht sowohl eine Gewichtung als auch eine Entwicklungstendenz dar. Letzteres würde bedeuten, dass die Verführung Satans nicht nur eine Phase, sondern ein ständiger Aspekt zwischen den beiden Kommen Christi ist, der sich fortschreitend ausprägt. Dies entspricht der neutestamentlichen Lehre, dass bereits zu apostolischen Zeiten „das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam“ (2Thes 2,7) war, aber erst kurz vor der Wiederkunft Christi sich vollends entfalten wird. Schon damals waren „viele Antichristen ausgegangen“, was aber nicht ausschließt, dass künftig noch „der Antichrist kommt“ (1Jo 2,18). Der Sieg Christi über diese teuflischen Mächte und ihre Untertanen wird aber ebenso real in der Zeit stattfinden wie seine damit verbundene Wiederkunft.

Nachdem in der Offenbarung bereits geschildert wurde, dass „das Tier und der falsche Prophet“ in den Feuersee geworfen werden (19,20), wird auch der Satan selbst dieses ewige Schicksal erleiden (20,10). Die Formulierung in V. 10 besagt jedoch nicht, dass dazwischen tausend Jahre liegen.

 

 

 

2. Lehrt Römer 11,26 nicht eine künftige Wiederherstellung Israels?

Römer 9-11 behandelt das Thema „Was ist mit Israel?“ Nach den ersten acht Kapiteln des Römerbriefes - der Darlegung des Evangeliums, das das Heil über die Grenzen Israels hinaus trägt - muss Paulus (insbesondere nach dem Thema Erwählung am Ende von Kapitel 8) auf dieses Thema eingehen, weil sich dem jüdischen und dem des AT kundigen Leser nun einfach diese Frage aufdrängt: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ (11,1). Wird Gott seine Verheißungen für Israel etwa nicht erfüllen?

Ich habe lange gedacht, dass gegen Ende dieser drei Kapitel Paulus seinen Argumentationsfaden dahin führt, dass anschließend an diese „Zeit der Gemeinde“ „ganz Israel errettet“ werde (11,26). Doch an dieser Stelle steht nichts von einer anschließenden Errettung Israels. Vielmehr schreibt Paulus: „... so (auf diese – zuvor beschriebene - Weise) wird ganz Israel errettet werden“.

 

Doch gehen wir die ganzen drei Kapitel kurz durch: In Römer 9,1-5 leitet Paulus das Thema ein mit seinem persönlichen Anliegen für sein eigenes Volk und der Bestätigung ihrer Privilegien – die darin gipfelten, dass aus ihnen „dem Fleisch nach der Christus ist“ (V. 5).

Dann geht Paulus auf den erwarteten Einwand seines imaginären Diskussionspartners ein: „Nicht aber, als ob das Wort Gottes hinfällig geworden wäre ...“ (V. 6) Nein, Gott steht zu seinen Verheißungen, nichts ist hinfällig! Wie das – wo doch das Volk der erwählten Kinder Gottes (Kap. 8) nunmehr durch das Evangelium nicht mehr auf die Israeliten beschränkt ist? Paulus Antwort: „ ... denn nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel“ (V. 6). Gottes Wort geht also in Erfüllung - aber nicht an dem rein ethnischen Israel, sondern an dem wahren Israel. Das NT benutzt den Begriff „Israel“ in zweifacher Weise: es gibt das „Israel nach dem Fleisch“ (1Kor 10,18) und andererseits das „Israel Gottes“ (Gal 6,16). Hier in Römer 9,6 bestätigt Paulus die klare Lehre, dass die Erlösung „nicht aus Geblüt“ ist (Joh 1,13). Nachkommen Abrahams - Israeliten nach dem Fleisch - haben zwar Privilegien, sind aber nicht errettet, nur weil sie Israeliten sind.

Dann nennt Paulus Beispiele dafür, dass nicht automatisch alle Nachkommen Abrahams zum wahren Israel gehören, sondern nur die „nach Auswahl“ „Berufenen“ „Gefäße des Erbarmens“ (V. 11 und 23). Diese Erwählten aus dem ethnischen Israel werden auch der „Überrest“ genannt: „Wäre die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres, nur der Überrest wird errettet werden“ (Röm 9,27).

 

In Kap. 10 geht es dann um die Gerechtigkeit aus Glauben, welche ein beträchtlicher Teil des ethnischen Israel nicht erlangt hat, bevor Paulus dann in Kap. 11 zu der Frage kommt: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ Seine Antwort „Das ist ausgeschlossen! Denn auch ich bin ein Israelit aus der Nachkommenschaft Abrahams, vom Stamm Benjamin.“ Paulus selbst war ein Beispiel für jemanden, an dem die Verheißungen an Israel in Erfüllung gehen.

Im darauffolgendem Abschnitt zeigt Paulus, dass der in Kap. 9 erwähnte erwählte Überrest auch seinerzeit bestand. Gott ist also keineswegs von seinen alten Prinzipien abgewichen. Paulus selbst war ein Beispiel für jemanden dieses erwählten Überrests. Es gehören jedoch noch viel mehr zu dem Überrest - so wie Elia nicht der einzige war, sondern noch 7000 andere (V. 2-4). „So ist nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Auswahl der Gnade entstanden“ (V. 5).

 

Und so gibt es eine „Vollzahl“ aus dem ethnischen Israel, die das Heil erlangen werden (V. 12). Diese Vollzahl wird eindeutig in der Jetztzeit gebildet, denn Paulus selbst strebte durch Judenmission danach, zum Erreichen dieser Vollzahl beizutragen (V. 13-15). Es ist „in der jetzigen Zeit ein (jüdischer) Überrest nach Auswahl der Gnade entstanden“ (V. 5) und es ist „jetzt“ – in der jetzigen Zeit des Evangeliums, in der Zeit zwischen den zwei Kommen Christi – wo Israeliten sowohl „ungehorsam gewesen“ sind als auch „Erbarmen finden“ (V. 31).

 

In V. 16-25 beschreibt Paulus das Volk Gottes als einen Ölbaum, wobei die Israeliten die „natürlichen Zweige“ sind. Ungläubige Juden wurden herausgebrochen und Gläubige aus den Nationen („wilder Ölbaum“) werden „eingepfropft“. Hier ist wichtig zu beachten, dass es nur einen Ölbaum gibt und nicht zwei. Es gibt keinen gesonderten Heilsplan Gottes für die Israeliten. Juden und Heiden haben Teil an ein und demselben Heilsplan. Demzufolge widerspricht gerade dieser Abschnitt der Lehre von zwei Völkern Gottes und von einer „Einschaltung“, nach der Gott sein Handeln mit Israel künftig wieder aufnehme.

Der Ölbaum wird also in der Jetztzeit gebildet aus gläubigen Juden und Heiden (V. 17-26). Natürlich werden auch Juden, die an den Herrn Jesus gläubig werden, als natürliche Zweige wieder in den Ölbaum eingefügt, bis ihre segensreiche Vollzahl erreicht ist. Heidenchristen sollen sich der Privilegien der Juden bzgl. des Evangelims (Röm 1,16) auch in der Jetztzeit stets bewusst sein und sie würdigen (V. 18-25).

Auch von den Heiden gibt es eine „Vollzahl“ (V. 25) der Erwählten. Wenn die Vollzahl der Juden und die Vollzahl der Heiden in den Ölbaum eingegangen sind, ist der Heilsplan vollendet. Der zum Gericht aufbewahrte Teil Israels ist „verstockt“ (V. 25) – d.h. ihr Gericht ist aufgeschoben (Verstockung heißt nicht, dass sie sich später doch noch bekehren können) – damit ausreichend Zeit besteht, bis auch der letzte zum ewigen Leben verordnete Heide bekehrt ist. Diese Teilhabe der Heiden an dem Heil, das ursprünglich nur Israel verheißen war, ist ein „Geheimnis“ (V. 25).

Auf diese Weise „wird ganz Israel errettet. „Ganz“ Israel kann nicht „alle Juden“ bedeuten, denn definitiv sterben viele Juden im Unglauben und gehen verloren. Offenbar bezieht es sich auf die Vollzahl der erwählten Juden, wohl einschließlich der Hinzugepfropften gläubigen Heiden. Das ist eben nicht „ganz Israel nach dem Fleisch“, sondern das wahre Israel aus Kap. 9,6 und das „Israel Gottes“ aus Gal 6,16. Auch Eph 3,6 lehrt, dass die Gläubigen aus den Nationen mit Israel in Christus „Miterben, Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung“ sind. Sie sind ebenso wie die gläubigen Juden „in Christus“, ihrem jüdischen Erretter, der „aus Zion“ (11,26) gekommen ist, d.h. aus Israel (vgl. 9,5). Dieses Kommen Christi „aus Zion“ hat bereit bei seinem ersten Kommen stattgefunden, denn da hat er auch bereits den in V. 27 genannten „Bund“ durch sein Blut eingeweiht, wodurch alle Gläubigen Zugang zu Gott haben (vgl. Hebr 10,16-17 u.a.).  Die gläubige „Auswahl“ der Juden sind „Geliebte um der Väter willen“ (V. 28.) Die anderen sind „hinsichtlich des Evangeliums Feinde“. Nicht alle Israeliten sind verstockt, es gibt viele, die „jetzt Erbarmen finden“ (V. 31).

 

Nachbemerkung: Manche Bewegungen in der Kirchengeschichte – wie die Puritaner und die Pietisten – haben in Römer 11 Hinweise auf eine künftige Massenbekehrung unter Juden gesehen. Ich glaube zwar nicht, dass die neutestamentliche Lehre mit ihrem Nachdruck auf persönlichen Glauben Raum gibt für eine nationale Bekehrung, aber eine Erweckung unter Juden wäre zweifellos hoch erfreulich. Wie zeitlich nah eine solche Erweckung an der Wiederkunft Jesu liegen könnte, sei dahingestellt. Doch auch wenn dem so sein sollte, hätte dies kaum etwas gemein mit dem dispensationalistischen Programm von Israel-Gemeinde-Dualismus, Vorentrückung und Wiederherstellung des jüdischen Systems.

 

 

3. Prophetie muss buchstäblich ausgelegt werden

Der Dispensationalismus nimmt für sich in Anspruch, die Bibel einschließlich der prophetischen Aussagen konsequent wortwörtlich zu interpretieren (außer dort, wo die Schrift selbst ausdrücklich sagt, dass der Abschnitt gleichnishaft oder symbolisch zu verstehen sei). Wenn es tatsächlich stimmt, dass Prophetie immer buchstäblich verstanden werden muss, dann hätte der Dispensationalismus tatsächlich einiges an Schlagkraft gewonnen.

Doch lässt sich das Prinzip einer konsequent buchstäblichen Auslegung von Prophetie aufrecht erhalten? Schauen wir uns die ersten Prophezeiungen der Schrift an: „... vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, wirst du gewisslich sterben“ (1Mo 2,17; Elberf.). Nun – starb Adam am Tag des Sündenfalls buchstäblich? Nein. Er starb geistlich; offenbar war die erste Prophezeiung der Schrift nicht natürlich-buchstäblich gemeint. Die nächste Prophezeiung ist das so genannte Ur-Evangelium: „... er [der Nachkomme der Frau] wird dir [der Schlange] den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen“ (1Mo 3,15). Ist dies buchstäblich gemeint bzw. hat sich dies buchstäblich erfüllt? Offenbar nein, es ist die geistliche Bedeutung des mit Schmerzen verbundenen Sieges Christi über den Widersacher.

(Mehr zu diesem Thema siehe Hermeneutik > Exkurs zu Punkt 5 und den Artikel Der Mythos der Buchstäblichkeit

 

 

4. Die 70. Jahrwoche Daniels

Die Grundlage für das prophetische Zeitraster der Dispensationalisten bildet die Prophetie der 70 Jahrwochen aus Daniel 9. Dort offenbart in Vers 24-27 der Engel Gabriel: „Siebzig Wochen sind über dein Volk und deine heilige Stadt bestimmt ...“ Die Nation Israel befindet sich zu der Zeit in der babylonischen Gefangenschaft. Gott verheißt hier, dass er Israel „von dem Erlass, Jerusalem wieder aufzubauen“ (V. 25) an gerechnet 70 „Wochen“ (hebräisch „Siebener“) Frist gewährt, „um das Verbrechen zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Schuld zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben“. Kurz gesagt: eine Gnadenfrist, in der Israel wiederhergestellt sein wird und die sich erstreckt bis zum Kommen des Messias („Gesalbten“, V. 26) und der anschließenden „Vernichtung“ und „Verwüstung“ (V. 27). Die Ausleger sind sich allgemein einig, dass es sich bei den Wochen um Jahrwochen handelt, d.h. dass die „70 Wochen“ insgesamt 70 mal 7, also 490 Jahre umfassen. (Die Zahl 70 x 7 wird in Mt 18,22 in Verbindung mit Vergebung genannt).

Vom besagten Erlass, Jerusalem wieder aufzubauen (über die genaue Datierung gibt es unterschiedliche Sichtweisen), an gerechnet, endeten diese 490 Jahre wenige Jahre nach der Himmelfahrt Christi. Die elementare Theorie der Dispensationalisten besagt jedoch, seit dem Ende der 69. Woche stünde die „prophetische Uhr still“, sodass wir uns jetzt in einer beliebig langen „Einschaltung“ befänden und die 70. Woche immer noch zukünftig sei. Diese 70. Jahrwoche Daniels sei die zu erwartende „große Trübsalszeit für Israel“. Vom Bibeltext her lässt sich feststellen, dass die 70 Jahre zwar unterteilt sind in 7 und 62 Jahre und 1 Jahr, aber im Text selber deutet nichts auf eine beliebig lange Lücke zwischen 69. und 70. Jahrwoche hin, ebenso wenig wie etwas auf eine Lücke zwischen den 7 und 62 Jahren hindeutet.

Wie begründen dann Dispensationalisten ihre Annahme, wo sie doch nicht direkt aus dem Text hervorgeht? Sie glauben, dass derjenige, der „einen Bund stark machen wird für die vielen“ (V. 27) der Antichrist ist. Dies sei der „kommende Fürst“, von dem auch in V. 26 die Rede ist. Der Antichrist sei es auch, der „zur Hälfte der Woche“ „Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lässt“ (V. 27). Und da sich die Zeitangaben einer „halben Jahrwoche“, also dreieinhalb Jahre (oder 42 Monate oder 1260 Tage) auch im NT in der Offenbarung finden, gehen Dispensationalisten davon aus, dass die 70. Jahrwoche Daniels jene Drangsalszeit sei, die vom Herrn Jesus und dem Apostel Johannes als Zeitphase vor der Wiederkunft Jesu vorausgesagt wurde.  Unterstützt wird diese Annahme durch die dispensationalistische Lehre der absoluten Diskontinuität zwischen Israel und Gemeinde, die das Stillstehen der prophetischen Uhr für Israel erklären soll.

Wir haben nun aber bereits gesehen, dass ein Zeitraum von 490 Jahren – buchstäblich verstanden – bereits  verstrichen ist und dass nichts im Text von einer etwaigen Lücke zwischen 69. und 70. Jahrwoche spricht. Auch an keiner anderen Bibelstelle finden wir etwas darüber, dass „die prophetische Uhr für Israel“ angehalten wurde. Als ersten Einwand sollten wir also festhalten, dass sich diese „Lückentheorie“ nicht auf das geschriebene Wort Gottes gründet, sondern aus indirekten Folgerungen abgeleitet ist.

 

Für die Auslegung von Vers 26-27 möchte ich hier zwei Ansätze vorstellen, die sich lediglich in der Deutung der zweiten Hälfte der 70. Woche unterscheiden. Gehen wir also zunächst auf die ersten 69-einhalb Wochen ein: Nach 7 plus 62 Wochen kam der Messias, doch er wurde „ausgerottet“, an ein Kreuz genagelt (V. 26a). Nachdem die Führerschaft und der Großteil der Juden den Messias verworfen hatten, neigte sich die Gnadenfrist für die Nation Israel dem Ende und Jerusalem wurde durch die Römer zerstört, die Nation zerschlagen und das Volk getötet oder zerstreut (V. 26 b). Genau so ist es geschehen.

Kommen wir zu Vers 27: Wer ist „er“ – der einen Bund „stark machen“ wird? Die zuletzt genannte Person ist der Messias (V. 26; der „kommende Fürst“ wird in V. 27 nicht direkt als Person genannt, sondern nur als Zusatz zu seinem „Volk“). Und so war es auch: Jesus, der Messias, bekräftigte den neuen Bund in seinem Blut. Etwa dreieinhalb Jahre lang verkündigte er das Heil, das durch Glauben an ihn erlangt wird. Dann, zur „Hälfte der Woche“ erfüllte und beendete er alle schattenhaften „Schlachtopfer und Speisopfer“ (V. 27a) durch sein ein für allemal gültiges Opfer am Kreuz.

 

Was ist nun mit der verbleibenden zweiten Hälfte der 70. Woche? Ohne mich hier ausdrücklich auf eine bestimmte Sicht festzulegen, möchte ich die zwei verbreitetsten nicht-dispensationalistischen Sichtweisen kurz vorstellen:

Sicht 1) Auch nach Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi war Gottes Augenmerk zunächst noch besonders auf die Nation Israel gerichtet: Ihnen galt das Evangelium zuerst, und ihnen wurde es zunächst ausschließlich verkündet. Von den 70. Jahrwochen verblieben nach Jesu Himmelfahrt noch dreieinhalb Jahre. Nach dieser Zeit (also im Lauf der Apostelgeschichte) hatte sich gezeigt, dass die bis dahin noch nicht gläubig gewordenen Juden das Evangelium endgültig von sich gestoßen hatten. „Zu euch musste notwendig das Wort Gottes zuerst geredet werden; weil ihr es aber von euch stoßt und euch selber des ewigen Lebens nicht für würdig haltet, siehe, so wenden wir uns zu den Nationen“ (Apg 13,46). Später schrieb Paulus: „Der Zorn ist endgültig über sie gekommen“ (1Thes 2,16). Die ungeheure Drangsal, die damals über Israel kommen sollte, sagte auch der Herr Jesus in Mt 24 voraus.  Daniel 9,27 ist demnach eine weiterführende Rekapitulation von Vers 26; beide Verse beschreiben das Werk des Messias und die auf seine Verwerfung folgende Zerstörung der Nation durch die Römer.

Sicht 2) Da sich in der Offenbarung Zeitangaben finden, die dreieinhalb Jahren entsprechen (11,2.3; 12,6.14; 13,5; vgl. Dan 7,25; 12,7.11-12) wird eine Verbindung gesehen zwischen der zweiten Hälfte von Daniels 70. Jahrwoche und dem in der Offb. genannten Zeitraum. In der Offenbarung ist damit jedoch anscheinend in symbolischer Weise der gesamte Zeitraum zwischen den beiden Kommen Jesu, also die Zeit der bedrängten und verfolgten Gemeinde gemeint. Die Zeit der Gemeinde wäre dann eine ausgedehnte Hinauszögerung des Endes der 70. Jahrwoche. Zwar geht diese Sicht ebenso wenig wie die dispensationalistische Lückentheorie aus Daniel 9 selbst hervor. Doch bieten die mehrmaligen Nennungen entsprechender Zeitangaben in der Offb. schriftgemäße Anhaltspunkte, sodass diese Sicht in exegetisch und gesamttheologisch nachprüfbar wäre, was an dieser Stelle jedoch vorerst zu weit führen würde. Dazu müsste auch der Begriff der „Drangsal“ ausführlich studiert werden. Hier nur der Hinweis, dass dem Zeugnis der Schrift zufolge die gesamte Zeit der Gemeinde eine Zeit der Drangsale ist, in der alle Gläubigen „Mitgenossen in den Drangsalen ... in Jesus“ (Offb 1,9) sind. Auch Paulus verwendet das Wort „Drangsal“ 23 Mal, wobei es sich 21 Mal auf die gegenwärtige Zeit bezieht.

 

 

5. Der Tempel in Hesekiel 40-48

In Hesekiel 40-48 ist ein großartiger Tempel beschrieben, und Dispensationalisten glauben, dass im Tausendjährigen Reich dieser Tempel buchstäblich aufgerichtet sein wird und dort die beschriebenen Opfer als Gottesdienst dargebracht werden. Ihrer Ansicht nach müssen diese neun prophetischen Kapitel buchstäblich verstanden werden, weil alles andere dem Wort Gottes nicht gerecht werde.

Wir haben jedoch oben bereits gesehen, dass es durchaus Prophezeiungen im Alten Testament gibt, die ganz offenbar nicht buchstäblich gemeint sind. Als ein weiteres Beispiel nennen wir die Prophezeiung aus Jesaja 2,2, wo es heißt, dass „der Berg des HERRN höher sein wird als alle anderen Berge“. Bedeutet das, dass Jerusalem höher als der Mount Everest liegen wird? Wohl kaum. Hier handelt es sich um bildhafte Rede, und das bemerkenswerterweise im Zusammenhang des verheißenen messianischen, allumfassenden Friedensreiches. Insbesondere Visionen können bildhafte Lehrstücke vermitteln, das sehen wir an Petrus in Apostelgeschichte 10. Als das Tuch mit dem Krabbelgetier vom Himmel kam und er aufgefordert wurde, davon zu essen, verstand er es zunächst buchstäblich und lehnte ab. Die Bedeutung der Vision war jedoch nicht der buchstäbliche Verzehr buchstäblicher Insekten, sondern eine bildhafte geistliche Lektion.

Und wenn in Hesekiel 40-48 vom wahren Tempel Gottes die Rede ist, müssen wir bedenken, dass dem Neuen Testament zufolge der Herr Jesus selbst und seine Gemeinde dieser neue wahre Tempel sind. (Weiter unten werden wir auf die starken Parallelen zwischen Hesekiel 40-48 und Offb 21-22 eingehen.)

Der Herr Jesus hat gesagt:

 

„Es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berg, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet ... Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden ... Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh 4,20-24; vgl. Apg 7,48).

 

Kann es dieser Aussage zufolge überhaupt noch möglich sein, dass Gott einst wieder irdisch-zentral in einem buchstäblichen Tempel in Jerusalem angebetet wird? Dispensationalisten sagen ja, der Herr spräche ja schließlich nur von einer „Stunde“ ohne ortsbeschränkte Anbetung. Ob sie meinen, dass in Zukunft nicht nur wieder in einem buchstäblichen Tempel in Jerusalem, sondern auch nicht mehr „in Geist und Wahrheit“ angebet wird, ist mir nicht klar. Denn „nicht in Jerusalem“ und „sondern in Geist und Wahrheit“ gehören ja zusammen.

Ebenso müssen wir in Frage stellen, ob es im Einklang mit dem Neuen Testament stünde, wenn die in Hesekiel beschriebenen Opfer wieder eingeführt würden. Dem Hebräerbrief zufolge ist dies nicht möglich, denn Christi ein für allemal gültiges Opfer hat alle anderen blutigen Opfer überflüssig und veraltet gemacht (Hebr 8,13; 9,10ff; 10,9.17-18). Dispensationalisten behaupten, die Opfer des Tausendjährigen Reiches seien „nach hinten fallende Schatten“, so wie die Opfer des AT Schatten voraus auf das künftige Opfer Christi waren. Sie geben damit zu, dass diese Opfer Schatten sind. Aber alle Schatten sind abgeschafft, nachdem mit Christus und seinem Opfer das Wirkliche gekommen ist. Die „Schatten nach hinten“ sind eine kluge Idee, aber sie werden nicht nur nicht im Neuen Testament gelehrt, sondern sie widersprechen dem Neuen Testament.

Außerdem muss man, wenn man Hesekiel 40-48 buchstäblich versteht, nicht nur schattenhafte Gedenkopfer erwarten, sondern „Sündopfer“ (Hes 40,39; 42,13; 43,19ff; 45,17), die ausdrücklich „Sühnung erwirken“ (Hes 43,20; 45,17). 

Der in Hesekiel beschriebene Opferdienst wird offenbar von einer Priesterschaft nach der Ordnung Aarons („Leviten“: 43,19; 44,10; 45,5 u.a.) ausgeübt. Auch das widerspräche – wenn buchstäblich verstanden – dem Neuen Testament, denn das aaronitische Priestertum ist hinfällig geworden, weil der Herr Jesus Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks ist (Hebr 7) und alle, die durch sein Blut erlöst sind, sind ein heiliges und Priestertum, das „geistliche Schlachtopfer“ darbringt. Die Bibel lehrt, dass die „Priester“ in der im AT verheißenen Heilsewigkeit nicht nur aus einer bestimmten Abstammung kommen, sondern unter anderem auch aus den Nationen (Jes 66,20-21; vgl. 1Petr 2,5.9 u.a.).

Die Dispensationalisten sind sich aber anscheinend nicht einig, ob das von ihnen erwartete Opfersystem jüdischer Natur ist oder nicht. So widerspricht sich z.B. Pentecost selbst, wenn er auf S. 541 von „Bibel und Zukunft“ einerseits M.F. Unger zitiert, der dies einer „Wiederherstellung des Judentums“ zuordnet, „bei der die Israeliten unmittelbar und die Nationen nur mittelbar sowie in der Unterordnung unter die Juden gesegnet werden“, aber andererseits auf S. 545 desselben Buches schreibt: „Das Opfersystem beinhaltet keinen wiederhergestellten Judaismus, sondern die Aufrichtung einer neuen Ordnung.“

Ein weiteres Problem bei der buchstäblichen Auslegung ist, dass demzufolge nicht der Herr Jesus, sondern David als König in Jerusalem regieren wird (Hes 34,23; 37,24). An diesen Stellen ist aber eindeutig von dem guten Hirten die Rede, dem Herrn Jesus (vgl. Hes 34,11-31 mit Joh 10; Hebr 13,20; 1Petr 2,25; 5,4), von dem David ein Typus war. So sehen wir, dass bereits vor den umstrittenen Kapiteln 40-48 eindeutig bildhafte Rede gebraucht wird. Dies müssen wir auch berücksichtigen bei der Verheißung der inneren Erneuerung durch den Geist Gottes (36,26-27; vgl. Hebr 8,10; 10,16) und der geistlichen Auferweckung (Hes 37). Dies ist zwar buchstäblich dem „Haus Israel“ verheißen, aber das NT lehrt, dass auch Heiden an dem Heil, das Israel verheißen war, gleichberechtigt teilhaben (Eph 2-3 u.a.). Die Vision von den auferstehenden Totengebeinen in Hesekiel 37 verdeutlicht außerdem, dass Hesekiels Offenbarung den Charakter bildhafter Sprache hat. Auch Dispensationalisten erkennen an, dass sich wohl kaum buchstäbliche Skelette, die in einem Tal aufgehäuft sind, als Heer auf die Füße stellen werden. Dies scheint ebenso bildhaft gemeint zu sein wie die Prophezeiung einige Verse vorher, dass Gott Menschen „ein neues Herz“ gibt und „das steinerne Herz wegnimmt“ (36,26).

Ebenfalls Zweifel am buchstäblichen Verständnis von Hesekiel 40-48 lässt der Umstand aufkommen, dass das dort beschriebene Territorium mit seinen Ausmaßen gar nicht in das Gelobte Land passt.

Aus neutestamentlicher Perspektive gesehen, muss man unbedingt die Parallelen zwischen Hes 40-48 und Offenbarung 21-22 beachten.

 

Thron Gottes, Gegenwart Gottes

Hes 43,7; 48,35

Offb 21,3; 22,1b.3

Sündlosigkeit, absolute Heiligkeit

Hes 43,7-9

Offb 21,4f.8.27; 22,3.14f

ewig

Hes 43,7b.9

Offb 22,5

Maße, einzelne herrliche Beschreibungen

Hes 43,10b.13; 48,16-17 u.a.

Offb 21,15-17

Wasserstrom aus Tempel bzw. Thron Gottes

Hes 47,1ff

Offb 22,1-5

Baum am Flussufer, der jeden Monat Frucht trägt

Hes 47,12

Offb 22,2

Tore der Stadt mit den Namen der Söhne Israels (Die zwölf Namen der Apostel auf den Grundsteinen verbinden das alttestamentliche mit dem neutestamentlichen Gottesvolk – Offb 21,14)

Hes 48,30-35

Offb 21,12f

 

Anscheinend hat Hes 40-48 also mit der Ewigkeit zu tun, die auch in Offb 21-22 beschrieben wird. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn auch in Hesekiel wird gesagt, dass Gott sein Heiligtum „für ewig“ in die Mitte seines Volkes platziert (Hes 37,25.26.28). „Menschensohn, siehe die Stätte meines Thrones und die Stätte meiner Fußsohlen, wo ich mitten unter den Söhnen Israel wohnen werde für ewig“ (43,7; vgl. 43,9). Es handelt sich also um keine zeitlich beschränkte, nur tausend Jahre währende Sache, sondern um etwas Ewiges.  Hesekiel verheißt nirgends ein nur tausendjähriges Reich auf der Erde, sondern vielmehr ewige Gemeinschaft mit Gott. Der Tempel wird dort Gott selbst bzw. „das Lamm“ sein (Offb 21,22).

Dies führt uns zu der Intention von Hesekiels Gesicht: Die Herrlichkeit, die Hesekiel in dem Tempelgebilde sah und dem Volk verkündete, sollte das Volk zur Buße führen. Sie sollten die vollkommenen Maße des wahren Tempels Gottes vergleichen mit ihrem unvollkommenen Leben und „sich schämen“ (Hes 43,10-11, vgl. 36,32). Es ist der Blick auf den Herrn selbst, der unser Leben reinigt.
Manche Dispensationalisten behaupten, ein bildhaftes oder typologisches Verständnis würden den vielen Detailangaben Hesekiels ihre Bedeutung rauben. Doch sind wir uns nicht einig, dass ein irdisches, buchstäbliches Heiligtum – sei es die damalige Stifthütte oder der spätere Tempel oder ein angeblicher künftiger Tempel – wenn auch real, so doch immer ein typologischer Schatten für eine höhere geistliche Wirklichkeit ist? Gerade Dispensationalisten sind bekannt für ihre typologischen Auslegungen von Maßen, Zahlen, Tempelgeräten, Festen usw. Wenn aber der Typus die eigentliche Bedeutung ist, wird keinesfalls eine „Bedeutung geraubt“, wenn es nach der vollkommenen schriftlichen Offenbarung nicht mehr zum materiellen und nur schattenhaften „Anschauungsunterricht“ kommen sollte.

Als ein weiteres Argument weisen Dispensationalisten darauf hin, dass sich Hesekiels Tempelsystem durch einige Auslassungen vom mosaischen Heiligtum unterscheidet; so werden z.B. kein Hoherpriester, kein Rauchopferaltar, kein Schaubrottisch und kein trennender Vorhang genannt. Dispensationalisten nehmen dies als Hinweis, dass es sich um keine Rückkehr zum mosaischen System handle und daher theologisch möglich sei (wobei sie immer noch nicht die erwähnten Sündopfer erklären können.) S.A. Ellisien schreibt in „Von Adam bis Maleachi“: „War die Beschreibung des Tempels als symbolische Darstellung der Gemeinde gedacht, hätten die genannten Geräte unmöglich weggelassen werden dürfen; sie sind doch entscheidend für das Tempelritual.“ Abgesehen von dem Missverständnis, dass bei einem metaphorischen Verständnis dieser Tempel nicht unbedingt eine „symbolische Darstellung der Gemeinde“ ist – sondern vielmehr vom Herrn selbst (Joh 2,21; Offb 21,22) -, will dieser Einwand die neutestamentliche Gemeinde auf typologischer Ebene mit der alttestamentlichen Ordnung gleichsetzen. Das ist aber falsch. In der neutestamentlichen Heilszeit ist z.B. der trennende Vorhang abgeschafft (Hebr 10,20), und von daher ist es einleuchtend, dass bei Hesekiel kein Vorhang erwähnt wird. Darüber hinaus ist es ohnehin problematisch, exegetische und theologische Argumente auf Auslassungen zu begründen.

Dispensationalisten wenden außerdem ein: „Sollte sich die Tempelverheißung, als Ermutigung für Israel gedacht, in der Gemeinde erfüllt haben, ist sie eine Irreführung und Vorspiegelung falscher Hoffnungen für die Menschen, an die sie gerichtet war (43,7.10).“ (S.A. Ellisen in „Von Adam bis Maleachi“). Wer so etwas behauptet, verkennt die Tatsache, dass das Evangelium „den Juden zuerst“ gilt (Röm 1,16). Das NT lehrt keine zwei Heilswege oder Heilspläne für zwei verschiedene Völker Gottes. Das neutestamentliche Heil in Christus ist „die Hoffnung Israels“ (Apg 28,20; vgl. 26,6-7). Insbesondere die Juden sind eingeladen, das Heil in Christus und damit die Erfüllung der alttestamentlichen Heilsverheißungen anzunehmen. Das ist weder eine „Irreführung“ noch eine „Vorspiegelung falscher Hoffnungen“. Oder wer wird behaupten, Juden müssten enttäuscht sein, wenn sich ihre alttestamentlichen Verheißungen „nur“ in Christus und seinem ewigen Heil erfüllen?

 

 

 

In Vorbereitung / Planung:

Die alttestamentlichen Wiederherstellungs-Verheißungen

Matthäus 23,39

Apostelgeschichte 1,6

Matthäus 17,10-12

etc.