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Der Mythos der konsequenten Buchstäblichkeit

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Von und Jack van Deventer und Hans-Werner Deppe

Viele Christen halten ein durchweg buchstäbliches Verständnis der Heiligen Schrift für den Prüfstein der Rechtgläubigkeit. Sie meinen, konsequente Buchstäblichkeit sei die einzige Hermeneutik (Verstehensweise der Schrift), die eine korrekte Bibelauslegung garantiere. Dispensationalistische Ausleger beanspruchen oft, die einzigen zu sein, die die Schrift wirklich konsequent buchstäblich auslegen, auch bzw. insbesondere die prophetischen Bücher der Bibel.

Was bedeutet „konsequente Buchstäblichkeit“ im Sinne des Dispensationalismus? Im herkömmlichen Sinne ist mit „buchstäblicher Hermeneutik“ die grammatisch-historische Methode gemeint, d.h. die Bibel so zu verstehen, wie es im historischen Kontext ursprünglich gemeint war. Heute wird der Begriff „buchstäblich“ oder „literal“ von Dispensationalisten aber dahingehend verstanden, dass er „nicht bildhaft“ meint. Hier wird ein wichtiger Unterschied deutlich: der Unterschied zwischen Literalsinn (Buchstäblichkeit im herkömmlichen Sinne) und Literalismus (überstrapazierte Buchstäblichkeit). Wenn der Bibeltext so verstanden werden soll, wie er ursprünglich vom Verfasser gemeint war, schließt das eine bildhafte Sprache nicht aus. Bildsprache kommt z.B. oft in der poetischen Sprache der Psalmen und anderer poetischen Bücher vor. Wenn der Verfasser in einem Bildwort gesprochen hat, bleibt der Ausleger auch dann beim Literalsinn, wenn er dieses Bildwort eben so versteht, wie der Verfasser es gemeint hat. Beim Literalismus hingegen würde man aufgrund einer übertrieben konsequenten Buchstäblichkeit das Bildwort wortwörtlich verstehen. Z.B. lesen wir in Psalm 22,13: „Viele Stiere haben mich umgeben, starke Stiere von Basan mich umringt.“ David reflektierte in diesem Psalm (abgesehen von der prophetischen messianischen Bedeutung) eine leidvolle Erfahrung der Verfolgung. Er benutzt hier bildhafte Rede, um seine Verfolger als „Stiere“ zu beschreiben. Wenn wir die „Stiere“ als bedrohliche Feinde verstehen, bleiben wir beim Literalsinn des Textes. Literalismus hingegen wäre, wenn man dies wortwörtlich versteht: dass David bzw. später der Messias am Kreuz, von buchstäblichen Stieren umzingelt gewesen sei. Um eine deutlichere Abgrenzung gegenüber dem berechtigen Anliegen der literalen Hermeutik, also der Auslegung im Literalsinn, abzusichern, sollten wir ein zu Unrecht überstrapaziertes buchstäbliche Verständnis jedoch Hyperliteralismus nennen. Was aber viele Dispensationalisten in der Theorie als ihre hermeneutische Grundlage beanspruchen – eine angebliche konsequente Buchstäblichkeit – wäre tatsächlich ein solcher Hyperliteralismus.

Die Überzeugung, angeblich konsequent buchstäblich an die Bibel heranzugehen, kann ein Gefühl der Überlegenheit bis hin zur geistlichen Unfehlbarkeit vermitteln. Ein ehemaliger Dispensationalist bekannte: „Ich war von der literalistischen Hermeneutik wie hypnotisiert. Ich war absolut überzeugt, dass dieses Auslegungsprinzip der Eckstein jedes wahren Bibelverständnisses sei und präsentierte es stets als Grundfelsen der dispensationalistischen Methode. Dieser Literalimus verlieh mir eine unbeirrbare Lethargie gegenüber allem, was Andersdenkende vorbringen konnten. Alle ihre Argumente wurden im Vorfeld abgewürgt mit Aussagen wie: ‚Sie befürworten keine buchstäbliche Hermeneutik.’“

Dieses Zeugnis illustriert die ernste Gefahr, dass Buchstäblichkeit als höherer Maßstab als die Bibel selbst betrachtet werden kann. Anstatt Schrift durch Schrift auszulegen, wird die Schrift durch ein literalistisches Sieb gepresst und dabei vorausgesetzt, dass Gott keine bildhafte Sprache verwendet – insbesondere nicht in der Prophetie.

Das Neue Testament ist voller Beispiele, wo Menschen irrten, weil sie nicht verstanden, dass der Herr Jesus in bildhafter Sprache redete. Als Jesus von einem Tempel sprach und seinen Leib meinte (Joh 2,21), meinten die Juden irrtümlicherweise, er rede vom buchstäblichen Tempel. Das warfen sie ihm sogar als Anklage bei seinem Verhör vor (Mt 26,61). Nikodemus’ buchstäbliche Auslegung ließ ihn verwundern, wie denn eine neue, abermalige Geburt aus dem Leib der Mutter heraus möglich sei (Joh 3,4). Als der Herr eine „Quelle lebendigen Wassers“ erwähnte, „die ins ewige Leben quillt“, missverstand die samaritische Frau dies als wortwörtliche Quelle (Joh 4,10-15). Kurz darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern dass er eine „Speise“ habe. Da die Jünger soeben Nahrung besorgt hatten, wunderten sie sich und verstanden zunächst nicht, dass er dies bildhaft meinte (Joh 4,32-34). Als er sie vor dem „Sauerteig der Pharisäer“ warnte (Mt 16,6ff), erlagen sie demselben Irrtum. Diese Beispiele, die fortgesetzt werden könnten, zeigen bereits, dass eine konsequent literalistische Verstehensweise zu falschen Schlüssen führen kann.

Auch im alltäglichen Sprachgebrauch würden wir groteske Situationen erleben, wenn wir immer alles konsequent buchstäblich verstehen würden. Wer z.B. balanciert die Zahnpastatube auf dem Scheitel, weil auf der Packung steht: „Tube auf den Kopf stellen“? Bildhafte Sprache ist also nichts Ungewöhnliches und kein Geheimcode, sondern Bestandteil des ganz normalen Sprachgebrauchs.

Das Problem der Literalisten ist, dass niemand wirklich die ganze Bibel konsequent literalistisch auslegt. Und da also niemand ein absolut konsequenter Literalist sein kann, kann auch niemand definieren, was „konsequente Buchstäblichkeit“ wirklich ist. Dispensationalisten haben versucht, Regeln aufzustellen, wann eine Bibelaussage ausnahmsweise nicht buchstäblich zu verstehen sei. Aber diese Regeln entstammen nicht der Schrift selbst, sondern sind menschliche Maßgaben. Außerdem sind solche Ausnahmeregeln stets ein inkonsequenter Kompromiss an dem Prinzip der konsequenten Buchstäblichkeit.

Wer den Anspruch der Literalisten auf konsequente Buchstäblichkeit einmal auf den Prüfstand stellt, wird staunen, wie eklatant inkonsequent sie sich an ihr System halten. Oswald T. Allis schreibt: „Dispensationalisten sind zwar extreme, aber sehr inkonsequente Literalisten. Sie sind Literalisten bei der Auslegung von Prophetie. Aber bei der Interpretation von geschichtlichen Bibelbüchern treiben sie die typologische Auslegung auf ein Extrem, das selbst von den eifrigsten Allegorikern kaum erreicht wird.“ C.I. Scofield, einer der einflussreichsten klassischen Dispensationalisten, war der Meinung, dass prophetische Schriften mit absoluter Buchstäblichkeit verstanden werden sollten, während „geschichtliche Schriften eine allegorische oder geistliche Bedeutung haben.“ Das ist eine bemerkenswert inkonsequente und widersprüchliche Hermeneutik. Tut die dispensationalistische Auslegungsmethode nicht der Einheit der Schrift Gewalt an? Ist es nicht so, dass nicht die buchstäbliche Hermeneutik den Dispenationalismus bestimmt, sondern dass der Dispensationalismus seine eigene Hermeneutik bestimmt – und das in inkonsequenter Weise?

Manche Dispensationalisten behaupten, alle alttestamentlichen Prophezeiungen über das erste Kommen Christi hätten sich in buchstäblicher Weise erfüllt – und deshalb sei Prophetie grundsätzlich buchstäblich zu verstehen. Doch diese Behauptung ist falsch, denn es gibt viele typologische und metaphorische Erfüllungen, angefangen bei der ersten Prophezeiung der Bibel überhaupt: dass der Messias der Schlange den Kopf zertreten wird (1Mo 3,15).

Auch bei der Auslegung anderer prophetischer Schriftstellen sind Dispensationalisten keineswegs konsequent buchstäblich. Wenn es nicht in ihr System passt, weichen sie freimütig vom Literalsinn des Bibeltextes ab. Einige Beispiele: In Daniel 9,24-27, den „siebzig Jahrwochen Daniels“, fügen sie einfach einen beliebig langen Zeitraum ein, sodass die im Literalsinn gemeinte Zeitspanne nicht mehr gilt. Während Dispensationalisten den Tempel und einige Opfer aus Hesekiel 40-48 buchstäblich verstehen, sehen die meisten von ihnen die in diesen Kapiteln häufig erwähnten „Sündopfer“ nicht als buchstäblich an. Die in Matthäus 24,1-33 genannten Ereignisse sollten den Worten Jesu zufolge zu Lebzeiten des damaligen „Geschlechts“, d.h. in der damaligen „Generation“ stattfinden (Vers 34), aber Dispensationalisten lehnen diesen Literalsinn ab. In Johannes 5,28-29 spricht der Herr Jesus von „einer Stunde“, in der sowohl die Auferstehung zum Leben, als auch die zum Verderben stattfindet. Im Dispensationalismus erstreckt sich diese „Stunde“ in Phasen, die über tausend Jahre auseinander liegen. Nach 2. Petrus 3,9ff ist das nächste Ereignis, das wir „erwarten“, die Wiederkunft des Herrn, und an jenem „Tag“ werden Himmel und Erde vergehen und es wird neue Himmel und eine neue Erde geben. Dispensationalisten fügen dem Literalsinn dieser Schriftaussagen diverse andere Zeiträume und Ereignisse hinzu. Nach Offenbarung 1,3 sollten die in diesem Buch geschilderten Ereignisse „bald“ geschehen, aber der Dispensationalismus macht aus dem „bald“ einen Zeitraum von mindestens zwei Jahrtausenden. Überhaupt stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Dispensationalisten entscheiden, was in der Offenbarung buchstäblich gemeint ist und was nicht. Wohl kaum werden sie die „Säule“ in Offb 3,12 so auslegen, dass Gläubige die Ewigkeit lang buchstäbliche Pfeiler in einem buchstäblichen Tempels sein werden. Aber was ist mit dem „Schlüssel“ und der „Kette“, mit dem der Satan in Offb 20,1 gebunden werden? Dispensationalisten beharren auf einer buchstäblichen Auslegung dieser Schriftstelle, da die nur hier vorkommende 1000-jährige Herrschaft für ihr System elementar wichtig ist. Letztlich können sie nur willkürlich oder durch willkürliche „Regeln“ bestimmen, was buchstäblich und was bildhaft zu verstehen ist.

Diese Widersprüchlichkeit hat viele veranlasst, sich vom Prinzip des dispensationalistischen Literalismus zu distanzieren. In den letzten Jahren ist ein so genannter „progressiver Dispensationalismus“ aufgekommen (ausgehend vom Dallas Theological Seminary), der den strikten Literalismus der Väter und Führer des Dispensationalimus ablehnt und nicht mehr die scharfe Trennung zwischen Israel und Gemeinde vertritt. Andere haben den Literalismus ihrer Vorgänger als zu simplizistisch verworfen. Diese Verwirrung über den Literalismus hat den Dispensationalimus in die Nähe einer Identitätskrise geführt und führende Dispensationalisten veranlasst, die Grundlagen ihres Systems zu hinterfragen.

Das Problem, schwierige Schriftstellen in einem „nicht sofort erkennbaren Sinne“ auslegen zu müssen, hat eigentlich jedes theologische System: Mit irgendwelchen Schriftstellen steht es immer im zumindest scheinbaren Konflikt, und diese Schriftstellen müssen dann wohl oder Übel anhand des theologischen Systems gedeutet werden. Da dies eine unumgängliche Notwendigkeit ist – sofern man nicht bei einem in sich widersprüchlichen Glauben landen will – bleiben nur die reformatorischen, aus der Bibel selbst hergeleiteten Auslegungsprinzipien „Scriptura sui ipsius interpres“ („Die Schrift ist ihr eigener Ausleger“) und „Analogia fidei“ („in der Entsprechung zum Glauben“, nach Röm 12,6). Dieses Prinzip besagt, dass schwer verständliche Schriftstellen anhand klarer Schriftstellen, die das gleiche Thema behandeln, ausgelegt werden müssen, also schwierige Schriftstellen durch klare Schriftstellen. Oder anders ausgedrückt: das „theologische System“ oder Glaubens-Grundgerüst muss aus den klaren Schriftaussagen hergeleitet werden, um dann auf dieser Grundlage schwierigere Schriftstellen richtig zu deuten. Dieses Prinzip wird im Dispensationalismus missachtet, denn er basiert vielmehr auf an die Bibel herangetragenen Vorannahmen wie die Zwei-Völker-Lehre und eben einem unbiblischen Hyperliteralismus.

Eine allein auf der Schrift basierende Hermeneutik erkennt jedoch an, dass im Neuen Testament viele alttestamentliche Aussagen, insbesondere Prophezeiungen, bildhaft-typologisch gedeutet werden. Eine bildhafte Deutung ist also nicht unbedingt eine willkürliche Interpretation aufgrund von Wunschdenken, sondern das, was das Neue Testament selbst vorgibt.

Einige Beispiele: Lukas 3,5 beschreibt den Dienst von Johannes dem Täufer: „Jedes Tal wird ausgefüllt und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden“, was eine bildhafte Erfüllung von Jesaja 49,11 ist. In Galater 4,27 zitiert Paulus Jesaja 54,1: „Freue dich du Unfruchtbare …“ Während bei Jesaja damit zunächst Jerusalem bzw. Israel gemeint zu sein scheint (ebenfalls bildhaft), deutet Paulus diese Aussage auf das „Jerusalem droben“ (4,26), d.h. auf das neutestamentliche Volk Gottes des neuen Bundes (typologisch). In Apostelgeschichte 15,16 zitiert Jakobus den Propheten Amos, der die „Wiederaufrichtung der Hütte Davids“ vorausgesagt hatte. Jakobus sieht dies in der Heidenmission erfüllt. Viele weitere Beispiele könnten angeführt werden. Z.B. ist das Buch der Offenbarung ganz sicher nicht konsequent buchstäblich gemeint, sondern es greift Hunderte von alttestamentlichen Schriftaussagen auf und wendet deren wahre geistliche Bedeutung auf das Volk Gottes des neuen Bundes an.

Wer alttestamentliche Prophezeiungen über „Israel“ nicht auf das Volk des alten Bundes bezogen versteht, sondern auf das Volk Gottes des neuen Bundes, betreibt keine unzulässige Allegorisierung, sondern betrachtet alttestamentliche Aussagen im Licht des Neuen Testaments. Diese Sichtweise ist notwendig, denn sonst würde man die im Neuen Testament gegebene fortschreitende Offenbarung ignorieren, ja, letztendlich die Erfüllung in Christus missachten, was Unglauben bedeute würde. In Christus erfüllen sich alle Verheißungen Gottes, in ihm ist Gottes Ja und Amen zu seinen Verheißungen geschehen. Er ist der wahre Tempel, das wahre Opfer, der wahre Hohepriester, der wahre David, der wahre Same Abrahams, das wahre Israel usw.

Patrick Tschui behauptet in einer Schrift gegen die reformatorische Theologie: „Die Bibel kennt kein geistliches Israel“. Stimmt das? Dann dürfte die Bibel auch kein geistliches Jerusalem, keinen geistlichen David, keinen geistlichen Tempel, keine geistlichen Opfer, kein geistliches Priestertum usw. kennen. Doch das Neue Testament nennt diese Dinge sehr wohl und lenkt unser Augenmerk darauf. Vom System des alten Bundes sagt das NT hingegen, dass es hinfällig, weil „veraltet“ und „dem Verschwinden nahe“ ist (Hebr 8,13). Auch wenn der Begriff „geistliches Israel“ so nicht in der Schrift vorkommt (ebenso wenig wie z.B. „Dreieinigkeit“), so unterscheidet das NT ausdrücklich zwischen einem „Israel nach dem Fleisch“ (1Kor 10,18) und einem „Israel Gottes“ (Gal 6,16). Und das NT macht deutlich, dass gläubige Christen ein geistliches Israel sind: Sie sind wahre Juden (Röm 2,29; vgl. 9,6-7; vgl. Offb 2,9; 3,9); Kinder Abrahams (Gal 3,7.29; 4,28; Röm 4,16; 1Petr 3,6; vgl. Joh 8,39ff), die Beschneidung (Phil 3,3; Kol 2,11; Röm 2,29), ein heiliges, auserwähltes Volk zum Besitztum Gottes und ein königliches Priestertum (1Petr 2,9; vgl. 2Mo 19,6) etc. Der Dispensationalist Rainer Schmidt versucht in seinem Buch „Jesus und die Israel-Frage“ (S. 54) solche Stellen so zu deuten, dass damit ausschließlich Judenchristen gemeint seien, aber das ist ein verzweifelter exegetischer Salto Mortale, der den klaren und vielfachen Aussagen der Schrift widerspricht.

Wer auf einen konsequenten Literalismus (Hyperliteralismus) pocht oder diesen für sich beansprucht, wird diese Wahrheiten des Evangeliums nicht erkennen können.

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