A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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Vorab: Den Text von Adolph Zahn findet man auf der Seite von Andras Gramlich Licht und Recht.

Adolph Zahn "Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

Inhaltsverzeichnis
Vorwort............................................................................................................................
Erster Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Deutschland.
Literatur............................................................................................................................

Einleitung
Einleitung und Einteilung....................................................................................................................
1. Die Erweckung.....................................................................................................................
2. Hegel...............................................................................................................................................
3. Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher...........................................................................................
4. Die Union.......................................................................................................................................
5. Die Theologen der Union...............................................................................................................
6. Das Luthertum................................................................................................................................
7. Die Theologen des Luthertums.......................................................................................................
8. David Friedrich Strauß und die kritische Schule............................................................................
9. Der Protestantenverein...................................................................................................................
10. Die Erneuerung des Rationalismus..............................................................................................
11. Die schwäbische Kirche...............................................................................................................
12. Die reformierte Kirche.................................................................................................................
13. Der Kampf mit Rom.....................................................................................................................
14. Die Zustände in den Gemeinen....................................................................................................
a) Die Predigt............................................................................................................................................
b) Das evangelische Pfarrhaus..................................................................................................................
c) Die evangelische Presse.........................................................................................................................
d) Die Lutherbibel....................................................................................................................................
e) Das Kirchenlied................................................................................................................................
f) Das geistliche Lied......................................................................................................................
g) Der Katechismus..........................................................................................................................
h) Das Bekenntnis............................................................................................................................
i) Liturgie....................................................................................................................................................
j) Das evangelische Volksbuch.............................................................................................................
k) Das Vereinsleben...............................................................................................................................
l) Die kirchliche Verfassung....................................................................................................................
m) Die evangelische Volksschule.................................................................................................................
n) Die Sekten............................................................................................................................................
15. Die Mission..................................................................................................................................
16. Statistisches..................................................................................................................................

Zweiter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Frankreich, Belgien, Skandinavien, Russland und Österreich-Ungarn.
I. Frankreich.......................................................................................................................................
1. Die Erweckung........................................................................................................................
2. Die kritische Schule................................................................................................................
3. Der Kampf um die Verfassung................................................................................................
Statistisches.................................................................................................................................
II. Belgien...........................................................................................................................................
1) Die belgische Missionskirche.................................................................................................
2) Die evangelische Nationalkirche............................................................................................
III. Dänemark.....................................................................................................................................
IV. Schweden....................................................................................................................................
V. Norwegen.....................................................................................................................................
VI. Russland.....................................................................................................................................
1. Die kirchliche Entwicklung..................................................................................................
2. Ein Bild der gegenwärtigen Lage.........................................................................................
VII. Österreich-Ungarn.....................................................................................................................
A. Österreich.
1. Die Toleranzzeit....................................................................................................................
2. Die Zeit der Gleichberechtigung...........................................................................................
3. Die Zustände in den Gemeinen.............................................................................................
B. Ungarn.
1. Gang der Entwicklung bei beiden Konfessionen und wissenschaftliche Tätigkeit..............
2. Die evangelisch-reformierte Kirche......................................................................................
3. Die evangelische Kirche Augsburger Konfession................................................................
Statistisches...............................................................................................................................

Dritter Abschnitt.
Die evangelische Kirche in der Schweiz und in den Niederlanden.
I. Die Schweiz..................................................................................................................................
1. Allgemeine Lage...................................................................................................................
2. Die theologisch-kirchliche Entwicklung in der deutsch-reformierten Schweiz...................
3. Die theologisch-kirchliche Entwicklung in der französisch-reformierten Schweiz.............
II. Die Niederlande...........................................................................................................................
1. Die neue Verfassung..............................................................................................................
2. Die Erweckung......................................................................................................................
2. Die Separation.......................................................................................................................
4. Die Groninger Schule. Verein der christlichen Freunde. J. H. Scholten. D. Chantepie de la
Saussaye. Moderne Theologie. Bestuur und Beheer.................................................................
5. Die klagende Kirche.............................................................................................................
6. Die Reformierten Kirchen in Niederland..............................................................................
7. Die verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften
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Vorwort.
Man kann unser Jahrhundert unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Zunächst unter dem, welchen Donndorf so schön dargestellt hat (Aus drei Epochen preußischer Geschichte 1892): wie in eine tief gesunkene und arme deutsche Welt errettend die Gnade Gottes eingegriffen hat: nach den Verwüstungen des Rationalismus bei der Erhebung in den Befreiungskriegen; nach dem Niedergang vor 1870 in dem grossartigen Siege über Frankreich und wie sowohl nach den Befreiungskriegen als nach 1870 Deutschland die Güte Gottes mit immer mächtigerem Abfall von Gott und seinem heil. Worte vergolten hat. Also große Undankbarkeit für empfangene Wohltaten bis zu dem Ausgange, dass sich der Deutsche immer mehr für den Atheismus erklärt. Undankbarkeit macht welk und lebensmüde. Man hat keine Freude mehr. Nach zwanzig Jahren des Reiches, wie altersgrau sind wir geworden. Dann kann man unser Jahrhundert mit dem Nachweis beleuchten, dass die Theologie von Schleiermacher bis Ritschl die Wahrheiten der Schrift und der Reformation nicht wieder erneuern konnte, vor allem das Verständnis der Rechtfertigungslehre verloren hat und unter dem Einfluss pantheistischer und rationalistischer Philosophie an die Stelle der reformatorischen Theologie einen bloßen Schein setzte. Unser Jahrhundert ein Jahrhundert der Täuschung. Dieser mussten auch die geschichtlichen Forschungen dienen, die das falsch Moderne in den guten Alten finden wollten und diese dazu verkehrten, bis zu der Komödie, die neuerdings die Ritschlianer mit Luther aufführen. Neben dem Scheine tritt die wahre Gesinnung des Jahrhunderts in fortgesetzten Attentaten gegen die gotteingebene Schrift auf: die frevelhafte Kritik von Strauss bis Wellhausen: der Abfall ohne Maske, Wissenschaft genannt. Zwei düstere Zeichen beleuchten und regieren unsere Zeit: die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes und die Kritik der unfehlbaren Schrift. Das eine Zeichen gibt Rom die Macht, Deutschland unter die Füße zu treten, das andere begräbt die Kirche der Reformation. In diesen teils verdeckten, teils offenen Verführungen sind es nur wenige Lehrer, die die Wahrheit der Reformation erneuern. Mein Buch ist nicht für die, die von Selbsttäuschung leben: mich hat ein großer Ernst und Schmerz bei dieser Schilderung begleitet.
Dr. Zahn.
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Erster Abschnitt.
Die evangelische Kirche in Deutschland. Literatur.
Rheinwald, Acta hist. ecclesiastica saec. XIX. für die Jahre 1835-1837. Hamburg 1838-40.
Jörg, Geschichte des Protestantismus in seiner neuesten Entwicklung. 1858.
Baur, Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. 1877.
Mücke, Die Dogmatik des 19. Jahrhunderts. 1867.
Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte. 2. Aufl. 1868; 3. Aufl. 1880.
Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus. 3. Aufl. 1849.
Gass, Geschichte der prot. Dogmatik im Zusammenhang mit der Theologie. 1867.
Dorner, Geschichte der protest. Theologie. 1867.
Kahnis, Der innere Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahrhunderts. 3. Aufl. 1874.
Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie. 4. Aufl. 1869.
Henke, Neuere Kirchengeschichte. 1880.
Landerer, Neueste Dogmengeschichte, herausgeg. v. P. Zeller. 1881.
Holtzmann und Zöpffel, Lexikon für Theologie und Kirchenwesen. 2. Auflage. 1892.
C. Meusel, Kirchl. Handlexikon. 1886 ff.
Calwer Kirchenlexikon. 1891 ff.
Perthes’ Handlexikon. 1891.
Zu den Handbüchern von Hase und Kurtz ist noch der Ergänzungsband von Herzog getreten von Koffmane besorgt. 1887.
G. Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit. 3 Bde. 1890.
Pfleiderer, Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant. 1891.
Wichtig sind die Kirchenzeitungen:
Kirchenblatt für das evang. Deutschland, herausgegeben von Moser, jetzt von Schott. 1852 ff.
Allgemeine Kirchenzeitung von Zimmermann. 1822 ff.
Evangelische Kirchenzeitung von Hengstenberg. 1827 ff.; von Zöckler fortgesetzt.
Zeitschrift für Protestantismus und Kirche von Thomasius und Hofmann. 1838 ff. Fortgesetzt in Neue kirchliche Zeitschrift von Holzhauser. 1890 ff.
Zeitschrift für die gesamte lutherische Theologie und Kirche von Rudelbach und Guerike. 1840 ff.
Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben von Müller und Nitzsch. 1850 ff.
Protestantische Kirchenzeitung von Krause, jetzt von Websky. 1854 ff.
Kirchliche Zeitschrift von Kliefoth und Meyer. 1854 ff.
Neue Ev. Kirchenzeitung von Messner. 1859 ff. Fortgesetzt in der Deutschen Ev. Kirchenzeitung von Stöcker seit 1887.
Allgemeine kirchliche Zeitschrift von Schenkel. 1859 ff.
Allgemeine lutherische Kirchenzeitung von Luthardt. 1868 ff.
Allgemeine kirchliche Chronik von Matthes. 1854 ff. Nachher von Gerlach, dann von Brandes bis 1890. Chronik der christl. Welt bis jetzt 51 Nummern.
Die angesehensten Literaturzeitungen sind die von Luthardt, von Schürer und Harnack und der theologische Jahresbericht von Pünjer, jetzt von Lipsius redigiert. Eine Quelle von Wert ist auch die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848 ff. und mit ihr der Reichsbote von Engel.
Aktenstücke des Oberkirchenrats. 1852 ff.
Verhandlungen der Kirchentage, 1848 ff. und der evangelischen Allianz, 1851 ff.
Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. 1882 ff.
Literatur. 7
Schaff and Jackson, Encyclopedia of living divines and Christian workers in Europe and America. New-York 1887.
Sell, Die geschichtliche Entwicklung der Kirche im 19. Jahrhundert. 1887.
Kampfschulte, Von Schleiermacher bis Ritschl. 1892.
C. von Hase, Kirchengeschichte, auf Grund von akademischen Vorlesungen. Letzter Halbband 1892.
Da viele der in Frage kommenden Männer in der Real-Encyklopädie von Herzog und in der deutschen Biographie behandelt sind, weise ich gleich hier ein- für allemal auf diese Quelle hin.

Einleitung und Einteilung.
Das neunzehnte Jahrhundert ist in seiner kirchengeschichtlichen Eigentümlichkeit nur dann zu verstehen, wenn man von den mächtigen göttlichen Impulsen ausgeht, welche seine Anfangszeit in der merkwürdigen Erscheinung der Erweckung befruchtend und anregend berührt haben. Auf ihr ruhen die großen Veränderungen in der Ideenwelt, in der Lehre und in dem Leben der Kirche. Indem sie mit hineingreift in einen großen Gärungsprozess, in dem sich die verschiedensten Elemente verbinden und wieder scheiden, tauchen Gestalten und Geister von rätselhaftem Gepräge auf: unter ihnen hervorragend zunächst der schwäbische Philosoph Hegel, dann der das theologische Denken für das ganze Jahrhundert wesentlich bestimmende Schleiermacher. Auf die Anregungen der Zeit ist es auch zurückzuführen, wenn Friedrich Wilhelm III. die Union in die Hand nimmt; ihr Ursprung und ihre Geschichte mit ihren angesehensten Theologen ist zu schildern. Zu einem positiven und für die Kirche wichtigen Tun werden weiter diejenigen durch die Erweckung angeleitet, die eine Erneuerung der alten biblischen und kirchlichen Wahrheit gegenüber den Zerstörungen des Rationalismus anstreben und hier hat der einflussreiche Hengstenberg seine wichtige Stelle mit seinen lutherischen Zeitgenossen. Sowohl die Union wie das Luthertum erfassen nicht die Tiefe des Abfalls von dem väterlichen Glauben: derselbe zeigt sich in seiner furchtbarsten Gestalt in der Wirksamkeit von Baur und Strauß, die eine neue kritische Schule schaffen. Die hauptsächlichsten Vertreter derselben werden uns bekannt. Zu ihr gehörig ist dann auch der Protestantenverein zu betrachten. Die letzte auffallende Erscheinung ist die Rückkehr zum Rationalismus in der Schule von Ritschl: nach langem, mühevollem Gang knüpft man wieder an den Philosophen Kant an. Besondere, durch ihre Eigentümlichkeit beachtenswerte Kirchen sind noch ins Auge zu fassen: die schwäbische und die reformierte Kirche. Wie wenig die evangelische Theologie die Kraft und Wahrheit der Reformation wieder gefunden hat, beweist zuletzt noch das ohnmächtige Eingen mit dem gewaltig auflebenden Rom. Von den kirchlichen und theologischen Bewegungen wenden wir uns zu den Zuständen in den Gemeinden, die wir nach den verschiedenen Beziehungen zu würdigen haben: der allgemeine Charakter derselben ist ein noch tiefer stehender als im vorigen Jahrhundert, aber es walten überall noch Wohltaten und Güter in ihnen von segensvoller Bedeutung.
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Die evangelische Kirche in Deutschland.

1. Die Erweckung.

Literatur: Büchsel, Die kirchlichen Zustände Berlins nach Beendigung der Freiheitskriege, 1870. A. Zahn, Meine Jugendzeit, 1882. Jacobi, Erinnerungen an den Baron Ernst von Kottwitz, 1882. Baur, Geschichts- und Lebensbilder aus der Erneuerung des religiösen Lebens in den deutschen Befreiungskriegen, 4. Aufl. 1884. Ernst Miescher, Anna Schlatter, 1885. Ihr Briefwechsel von ihren Enkeln Adolf und Michael Zahn, 1862 ff. Ranke, Jugenderinnerungen, 1877. Walther, Erinnerungen aus W. Appuhns Leben, 1885. G. Frank, Mysticismus und Pietismus im 19. Jahrhundert. Historisches Taschenbuch von Maurenbrecher, 1887. Hier auch die ganze polem.
Literatur über den Pietismus.
Gräfin Friederike von Reden von Eleonore Fürstin Reuß. 1888. Lebenserinnerungen eines
geistlichen Veteranen des Dr. th. E. W. Krummacher, herausgeg. von D. H. Krummacher, 1889. Adolf von Thadden Trieglaff. Ein Lebensbild von Eleonore Fürstin Reuß, 1890.


Eine der beachtenswertesten und wichtigsten Erscheinungen des neunzehnten Jahrhunderts ist die am Anfang desselben nicht nur durch Deutschland, sondern durch die ganze Welt bis in die Stationen der Heidenmission sich erstreckende Erweckung: ein geheimes Berührt werden von der Macht des heiligen Geistes, der in die Gemüter das Verlangen nach dem vergessenen Evangelium der Väter legte. Die Jahrhunderte der evangelischen Kirche sind immer mächtig, namentlich bei ihrem Beginn, von solchen nicht durch Menschen herbeigeführten Bewegungen ergriffen worden. Die Wohltat der Reformation, die Erhebung der Holländer und Puritaner, das Aufblühen der französisch-reformierten Kirche, das Erwachen des Pietismus ist auf starke göttliche Antriebe zurückzuführen, die ein Neues hervorriefen. Es scheint, als ob dieselben im Laufe der Zeit matter wurden auch durch die Schwäche der Menschen, denn das was am Anfang dieses Jahrhunderts geschah, ist nicht von der Gewalt gewesen wie in der Vergangenheit. Es ist aber das überall bestimmende Prinzip. Es ist ein Beweis für die auffallende Erscheinung, dass Moses Gesetz so bald in Israel vergessen wurde, dass in wirklich unglaublicher Weise der Rationalismus und die Pracht der klassischen, durchaus christusfeindlichen Literatur das Evangelium der Reformation in Vergessenheit gebracht hatten. Einige Jahrzehnte hatten genügt, es dem Volke zu rauben und so weit den stolzen Hohn zu treiben, dass Christi Name nun bald nicht mehr genannt sein würde. Vereinzelte und verborgene Kreise sind es, wenige Lehrer, die damals den goldenen Faden mit dem väterlichen Glauben festhielten. Wenn ein vereinsamter Gläubiger durch Deutschland reiste, vielleicht mit einem Empfehlungsbrief an diesen und jenen, dann konnte er bei Joh. Tobias Kießling1, dem Kaufmann, und Schönher, dem Prediger in Nürnberg, einkehren, bei dem lutherischen Pastor Stephan in Dresden, der nachher seine Freunde nach Amerika führte und in Schmach unterging († 1842), eine kräftige Predigt hören, den originellen und kernigen Pastor Roller2 in dem sächsischen Lausa besuchen, vor allem aber bei den Brüdergemeinen weilen, die die Lehre ihres Stifters von dem Sühntode Christi bewahrten und die zerstreuten Kinder Gottes sammelten. Er konnte dann in Berlin das edle und hingebende Wirken des Baron von Kottwitz3 , Alexanderstraße 6, beobachten und von dessen zärtlicher Gastfreundschaft umfangen werden. Noch dieser und jener Name wurde ihm im brüderlichen Kreise genannt, der etwas anderes und besseres bekenne, als die noch alle Kanzeln und Katheder beherrschenden Rationalisten: man sprach von Anna Schlatter in St. Gallen und ihrem Briefwechsel auch mit den Katholiken Boos, Gossner4 , Lindl und Sailer, von Prof. Kanne in Erlangen, der erweckliche Geschichten aus dem Reiche Christi mitteilte, von Professor Köthe in Jena, von Herrn von Meyer in Frankfurt und seinem Freunde, dem Arzt Passavant5 , von Jung Stilling6 in Karlsruhe, von einfachen Webern im Wuppertal, von dem Schlossermeister Meier in Bremen, von einem Turmwächter in Erfurt. Die Not und der Sieg der Franzosenzeit griff gewaltig mit hinein in diese stillen Regungen, die die Lande durchzogen, und bald erwachte überall ein herzliches Verlangen nach dem Wort der Gnade gegenüber den moralischen Leerheiten der gesunkenen Weisheit der Menschen. Was in kleinen Kreisen gepflegt wurde, es trat mit lauten Zeugnissen in die öffentliche Welt. Es mehrten sich die Prediger der vergessenen Wahrheit. Im Norden Deutschlands wirkten in Hamburg an der französisch-reformierten Gemeine Merle d’Aubigné, in Lübeck Geibel, im Wuppertal G. Daniel Krummacher in Bayern der Professor und Prediger Krafft; vom Wuppertal trug der Oberhofprediger Strauß7 das große Gut nach Berlin, wo der treue Pastor Jänicke an der Bethlehemskirche fast allein gewesen war8. Ganze Landstriche wurden allmählich ergriffen: Württemberg erwachte; in Rheinland, Westfalen und Lippe regte es sich, hier mehr das niedere Volk, in Schlesien ging der Adel voran, in Pommern hatte er viele Gesinnungsgenossen. Es war allerdings ein Frühling und der treue Patriarch von Kottwitz sah mit inniger Freude auf die beginnende Umgestaltung. Der Rationalismus erschrak vor dem Geiste des Mystizismus, der ihm nahte. In den „Halle’schen Jahrbüchern“ wurde er als eine Krätze oder Schafräude der Menschheit bezeichnet. Eine große Literatur hat gefragt, was doch der neue Pietismus sei. Eine herzliche Bruderliebe umfasste nur umso mehr die neugeborenen Gläubigen: sie hatte etwas wahres und warmes. Mancher Standesunterschied hörte auf. Zärtliche und bleibende Freundschaften wurden geschlossen. „Die Mystiker, welche sich früher nie von Angesicht kannten, sind gleich in den ersten Stunden so miteinander vertraut, wie sonst nach jahrelanger Freundschaft.“ Aber wie wir sagten: diese starke Anfassung unseres Volkes ist der in der alten Zeit nicht gleich. Es fehlte das Feuer der Leiden, das die Kirche der Reformation einst durchglüht hatte. Das Martyrium des Pietismus unserer Frühlingszeit ist ein geringes gewesen. Einschneidend haben doch nur die Lutheraner in Schlesien gelitten. Wohl wurde mancher treue Mann aus seiner Heimat vertrieben, da Serenissimus ihm dort keine Stelle in der Kirche geben wollte, auch reformierte Lipper sind nach Amerika ausgewandert9 , in Sulza in Thüringen wurde das Konventikelwesen mit zehntägigem Gassenkehren bestraft, aber wie bald heilte die Gunst der Zeit allen Schaden! Ohne Martyrium wird aber das Leben und die Lehre der Reformation nie lauter erkannt und nie lauter bewahrt. Die Prediger der Erweckung haben zu viel Ehre empfangen. Es ist kein gutes Zeugnis, wenn man von einem gesagt, er wäre gestorben satt vom Ruhme der Welt. Für die Beeinflussung der größeren Menge hat nachher der Pantheismus Hegels, die Täuschung Schleiermachers und die Freveltat von Strauß die Kraft des Pietismus gebrochen und seine Segnungen nur in vereinzelten kleinen Bächen dem Volke zuteil werden lassen. Er hat mit dem Mangel kirchlicher Lehre gerungen, aber auch seine Freunde kehrten nicht zu deren Klarheit und Ganzheit zurück: man glaubte unter den Einflüssen einer hochmütigen und verwirrenden Philosophie das alte Dogma verjüngen zu müssen, aber man zerbrach seine Formen ohne neue zu haben und verfiel in schrankenlosen Individualismus, der zuletzt nicht einmal mehr die Pietät der Alten vor dem Heiligen besaß. Aus den Erregungen dieser merkwürdigen Zeit tauchen gleich anfangs große trügerische Gestalten hervor, die wir zuerst betrachten müssen.
1 Schubert, Züge aus dem Leben des Joh. Kießling, 1859. Über ihn auch Bodemann, 1860. Ledderhose, Aus dem Leben des Joh. Tob. Kießling, 1882. Thomasius, Das Wiedererwachen des evang. Lebens in der lutherischen Kirche
Bayerns, 1867.
2 Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes. 11. Aufl. 1883. Von Rühle ein Lebensbild, 1878.
3 Über ihn ein Vortag von Jäckel, 1892.
4 Briefe des seligen Johs. Gossner an eine leidende Freundin, 1888.
5 Über ihn Hamberger 1857 und Gedenkblätter 1860 und 1867.
6 Von ihm eine Selbstbiographie, die sein Enkel Schwarz vollendete, 1817.
7 Abendglockentöne von Fr. Strauß, Berlin 1868. Ziethe, Berliner Bilder aus alter und neuer Zeit, 1886. Gnadenführungen Gottes in dem Leben des F. S. Dreger, 1860.
8 Sein Leben von Ledderhose, 1863.
9 Über diesen Auszug ein Schriftchen im Verlag der ref. K. in Cleveland: Geschichte des Missionshauses für die Feier
seines 25 jährigen Bestehens, 1885.
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Die evangelische Kirche in Deutschland.

2. Hegel.

Literatur: Haym, Hegel und seine Zeit, 1857. Leo, die Hegelinge, 1838. Eritis sicut Deus, Roman von Wilhelmine Canz in Großheppach, 1854.

Seine große Bedeutung hat für eine Zeitlang darin bestanden, dass er den Theologen die sie erfreuende und täuschende Möglichkeit gewährte, das kirchliche Dogma spekulativ zu erneuern. Er gab den Anstoß, die kirchliche Lehrform mit einem spekulativen Stempel zu versehen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zu Stuttgart 1770 geboren, ist von 1818-31 Professor der Philosophie in Berlin. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts war an die Stelle Gottes und seines Wortes der menschliche Geist getreten. Nachdem Kant das von der Vernunft aufgerichtete Gebäude einer göttlichen Erkenntnis unterwühlt, indem er den Beweisen vom Dasein Gottes ihre Kraft und Gültigkeit nahm und überhaupt alle theoretische Erkenntnis übersinnlicher Dinge zweifelhaft machte; nachdem er die Entscheidung aller religiösen Fragen in das Gebiet der praktischen Vernunft verlegt und an die Stelle des göttlichen Gesetzes einen kategorischen Imperativ, ein Gesetz, das sich der Mensch selbst diktiert, gesetzt hatte richtete Fichte eine sogenannte moralische Weltordnung als Gott auf und setzte an die Stelle des Glaubens ein stolzes Bewusstsein, ein Sicheinswissen mit dem absoluten Ich, das er zur Weltachse bildete.

Schelling, der Begründer der Naturphilosophie, glaubte des Widerspruches von Geist und Materie sich am besten und kühnsten zu entledigen, wenn er die Identität von beiden behauptete und einem dunklen Urgrund die Freiheit zur göttlichen Tochter gab. Er verkündete die spekulative Konstruktion des Christentums, verstand dasselbe aber anders als die Theologen und weissagte ein ewiges Evangelium, neue dauerndere Formen, in die der Geist der neuen Zeit das Christentum kleiden werde. Professor Daub in Heidelberg suchte in seinem Sinne zu theologisieren. Hegel, sich anschließend an den ganzen Taumel der Zeit, ließ in seinem Geiste den Weltgeist seine Begriffe vollziehen und nach vielen dialektischen Metamorphosen zum Bewusstsein seiner selbst gelangen. Das Natürliche und Bestehende ist das Vernünftige und in allen Ordnungen des Staates und der Religion ist eine lebendig gegenwärtige, organisierte Vernunft zu erkennen. Auch das Christentum ist eine konkrete Ausprägung göttlicher Vernunft und Wahrheit.

Es ist die absolute Religion. Wie sich die Idee der allgemeinen Offenbarung Gottes in der Menschheit, in der Gattung, mit der besonderen in dem Individuum Jesu vereinige, ließ der Meister unbestimmt. Seine Schüler füllten die Kluft aus und benützten das ganze System, um die Einheit von Religion und Philosophie, von Glauben und Wissen zu proklamieren. Den von Hegel aufgestellten Satz, dass zwischen Religion und Philosophie nur der Unterschied der Vorstellung und des Begriffes sei, benützten die Hegelinge so, dass sie die christliche Wahrheit als absolute Wahrheit in der Form der Vorstellung verkündeten. Der ganze Inhalt der Vorstellung wurde in den Begriff gelegt. Damit glaubte man den Schlüssel gefunden zu haben, alle kirchlichen Lehren zu erneuern. Es war eine große Selbsttäuschung, die namentlich durch Karl Friedrich Göschel, seit 1846 Präsident des Konsistoriums der Provinz Sachsen, gepflegt wurde († 1861). Hegel begrüßte seine Bemühungen mit dankbarem Händedruck. Göschel sah nachher seinen Irrtum ein und endete seine reiche literarische Tätigkeit, die ihn zu Goethe und Dante und in die verschiedensten Gebiete geführt, mit einer Schrift über die Konkordienformel (1858). Da die Hegel’sche Philosophie unter der besonderen Gunst des preußischen Ministers Altenstein stand, der übrigens kühl an seinem gastlichen Tische die Frage erörtern ließ, ob das Christentum noch zwanzig oder dreißig Jahre bestehen werde, wurde sie die preußische Staatsphilosophie und ihre Schüler beherrschten die Lehrstühle. Ihr ganzer Wahn sollte nachher grausam und rücksichtslos durch Strauß zerstört werden. Der Freund desselben, Christian Märklin († 1849), war ehrlich genug zu bekennen, dass er, was nach dem Hegelschen System bloß die Form der Vorstellung sei, manchmal als Pfarrer ganz explizite als das Wesen der Sache geben müsse; so wenig wollten eigene Überzeugung und Bewusstsein der Gemeine ineinander aufgehen, dass immer ein heimtückischer, hinterlistiger Rest zurückbleibe. Er zog es darum nachher auch vor, aus voller Seele ein Heide zu sein10.Neben und mit Hegel erscheint eine andere Persönlichkeit mit geheimnisvoller Umhüllung.
10 Sein Leben von Strauß, 1851
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Die evangelische Kirche in Deutschland.

3. Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher.

Literatur: Schleiermachers Briefwechsel mit Gass, 1852. Aus Schleiermachers Leben, in Briefen, herausgeg. von Dilthey. 1860-63. Briefe an die Grafen zu Dohna, herausgeg. von Jacobi, 1887. Biographien von Dilthey, Auberlen, Schenkel. Baimann, Kahnis u. a. Seine Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen von Bender, 1876-
78. Seine Reden über die Religion von Ritschl, 1874. Die romantische Schule von Haym, 1870. Lommatzsch,
Geschichte der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin, 1889.


Er stammt von ausgewanderten Salzburger Protestanten ab. Sein Großvater war in das schwärmerisch-sektiererische Treiben des Wuppertales verflochten. Der Vater war ein nüchterner Mann und ging in den Wegen alter Rechtgläubigkeit. Als er reformierter Feldprediger in Breslau war, wurde ihm am 21. November 1768 Friedrich Ernst Daniel geboren. Die fromme Mutter leitete namentlich die Erziehung des frühverständigen Knaben. Die Eltern ziehen nach Pless und dann nach Anhalt. Nach einem guten philologischen Unterricht kommt er in die Erziehungsanstalt der Brüdergemeine in Niesky. Von den Bildern dieser Gemeinschaft wird er ergriffen und in Unruhe gesetzt. Zweifel über die Wahrheit der alten Geschichte hatten ihn schon früher gequält, jetzt hat er religiöse Skrupel. Mit seinem Herzensfreunde Albertini vertieft er sich in „abenteuerliche“ Studien. 1785 ist Schleiermacher auf dem Seminar in Barby. Die Beschränktheit des hier herrschenden Geistes spannt ihn los „von dem Joche, um durch eigenen Mut, freimütig und von jedem Ansehen unbestochen, die Wahrheit zu suchen“. Widerwillig gewährt der über den Unglauben des Sohnes tiefbekümmerte Vater die Erlaubnis, die Universität Halle zu besuchen. Ostern 1787 ist er hier angekommen „um in einem Chaos zu leben, wie das, ehe die Welt geschaffen wurde“. Er schließt sich an den Philosophen Eberhard an, der gegen die Kantischen Neuerungen lehrte, und kommt zur Lektüre des Platon und Aristoteles. 1789 setzt er seine philosophischen Studien in kleinstädtischer Einsamkeit bei seinem Onkel Stubenrauch zu Drossen in der Neumark fort. Das Eindringen in Kant gibt ihm die Überzeugung, dass unser Wissen sich auf die Welt der Erscheinungen beschränken müsse und dass allein die sittlichen Verpflichtungen unumstößlich seien. Er fürchtet nur seine Phantasie: sie könnte ihm seine Rechnung verderben. Alle Religion ist ihm Moral und alle Moral nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Diese bedarf keine Verbindung mit der Idee der Glückseligkeit, da dieselbe nur ein Bedürfnis des Begehrungsvermögens ist. Auch die vergeltende Gerechtigkeit Gottes ist in die rein moralische Erziehung des Menschengeschlechtes umzusetzen. Der Jüngling hat scheinbar kalt an einer Lebensfreude resigniert, nach der er doch Verlangen trug. Dabei belebt ihn die Frivolität des Lucian; der französische Skeptiker Montaigne wird seine Handbibel. Kränklich in dieser Zeit will er sterben: „da man nichts verliere, was der Mühe wert ist“. Er hat völlig mit dem Christentum gebrochen. Das Wahre desselben: eine Sammlung von Sittenlehren, vermischt mit Lehrsätzen, die nur auf die Juden Beziehung haben. Sein theologisches Examen 1790 macht er so, dass er „von theologischen Subtilitäten Red’ und Antwort gibt, die er im Herzen verlachte“. Die große Täuschung begann schon damals. Die Gönnerschaft des Oberkonsistorialrat Sack verschafft ihm die Hauslehrerstelle bei dem Grafen Dohna. Eine edle Geselligkeit tritt ihm entgegen. Er lernt hier zuerst „die Frauen kennen, die er nur vom Hörensagen kannte“.

Er wird freier und selbstgewisser und gewinnt die Zuversicht, sein eigenes Christentum in den Hauspredigten an die allgemeinsten Formen und Bilder der christlichen Lehre anzulehnen. Sein Herz verlangt nach Glückseligkeit, aber er muss seine Ideale verschließen. 1793 ist er in dem Gedickeschen Seminar in Berlin, von 1794 bis 1796 Hilfsprediger in Landsberg. Hier lernt er Spinoza kennen: er verbindet ihn mit Kant. 1796 kommt er in die Berliner Kreise und in die Gemeinschaft der romantischen Schule als Prediger an der Charité. Das schöngeistige Treiben mit aller Lockerheit sittlicher Verhältnisse unter dem Vortritt geistreicher jüdischer Frauen und Mädchen stand dort in Blüte. Mit ihnen lebte Schleiermacher zwischen 1796-1802. Die schöne Jüdin Henriette Herz zog ihn an: sie hatte einen Kopf, wie ihn Tizian malte. Das Weibliche beherrscht den Mann. Es ist vielfach der Mutterboden dessen gewesen, was man sein religiöses Gefühl genannt hat. Die Frauen verständen ihn, meinte er, am besten. Im Kreise der Herz sind die Reden über die Religion entstanden: ein Triumph des aufgeklärten Judentums über das Christentum. Henriette war Schleiermacher eine Ceres für seine innere Natur, eine Priesterin der Venus Urania: mit Behagen behandeln beide brieflich, dass ihr Verhältnis nur das der innigsten Freundschaft sein könne. Die jüdische Sybille ist die Prophetin der modernen Theologie. Friedrich Schlegel wird dann weiter der Freund und Leiter Schleiermachers. Nach dessen Urteil ist er ganz und gar moralisch. Ohne alle Lust zu schreiben, „rupft“ doch Schlegel unablässig an ihm und 1799 schreibt er das berühmte Buch: „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. „Dass ich rede“, sagt er, „es ist ein göttlicher Beruf, es ist das, was meine Seele im Universum bestimmt und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin“. Was hat dieser neue Priester der Welt geoffenbart? „Euer Gefühl“, sagt er, „insofern es Euer und des All gemeinschaftliches Sein und Leben ausdrückt, insofern Ihr die einzelnen Momente desselben glaubt als ein Wirken Gottes auf Euch, das ist Eure Frömmigkeit“. – „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick; und in diesen Einwirkungen alles Einzelne als eine Darstellung des Unendlichen in unser Leben aufzunehmen und davon sich bewegen zu lassen, das ist Religion“. – „Hat der Mensch die Menschheit gefunden, so kehrt das fromme Gefühl von den Wanderungen durch das ganze Gebiet der Menschheit geschärfter und gebildeter in das eigene Ich zurück und findet zuletzt alles, was sonst aus den entlegensten Gegenden zusammenströmte und es erregte, bei sich selbst“. – Religion ist also Schleiermacher das Aufgehen und Zusammenschmelzen mit dem Universum in allen seinen Formen und Gestaltungen. Danach ist es begreiflich, dass er von der Furcht in der Religion nichts wissen will, sondern nur von glühender, schwärmerischer Hingebung und Liebe; dass er von wahrer oder falscher Religion nicht gesprochen haben will, da jedes religiöse Gefühl in sich selbst Wahrheit und Leben sei; dass er Religion und Kunst nebeneinander stellt; dass er so entzückt redet von den Göttern der Griechen, von dem frommen Rom, das allen Göttern einen Altar errichtete, von dem göttlichen Plato, und dass ihm eine Zeit, wo die Philosophen religiös sein würden wie Spinoza und die Künstler fromm sein und Christum lieben wie Novalis, als die Feier der großen Auferstehung für Philosophie und Kunst erscheint. „Spinoza war voller Religion und voll hohen Geistes“. Neuere Bildungen der Religion werden sich neben dem Christentum gestalten. Nichts ist irreligiöser als von einer einzigen wahren Religion zu reden. Wer war Christus? Nie hat er behauptet, der einzige Mittler zu sein, der einzige, in welchem sich seine Idee verwirklicht. Er hat allerdings bis jetzt das Herrlichste in der Religion geschaffen. Es ist übrigens ein Frevel und eine Entstellung des Göttlichen, dass man sage, Christus sei ausgegangen von der Messias Idee seines Volkes. So weissagt der neue „Virtuos“ im Christentum. Es bedarf keines Beweises, dass diese von pantheistischer Schwärmerei und weltschmerzlicher Wehmut gefärbte „Religion“, die eine starke Subjektivität und feine Sinnlichkeit als Ersatz für die Zerstörungen der Dialektik forderte, nichts gemein hat mit dem „Glauben“ der Schrift und der Reformation, denn dieser ist eine nackte Gehorsamstat des Willens, der sich gegen Gefühl, Empfindung und Herz dem geoffenbarten Worte der Gnade unterwirft. Ein Verehrer für die Reden fühlte damals „den gewaltigen Flügelschlag eines vorüberziehenden englischen Herolds“: jedenfalls war ihre Wirkung nach allen Seiten groß. Die geistlichen Lieder von Novalis11 entstanden in der Zeit. Gleichzeitig mit den Reden ließ der vertraute Freund Schleiermachers, Fr. Schlegel, den Roman Lucinde ausgehen: ein ästhetischer und moralischer Frevel. In den vertrauten Briefen über die Lucinde trat Schleiermacher als Verteidiger derselben auf. Nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch sei die Lucinde. Der pantheistische Geist offenbart hier seinen inneren Kern. Schleiermacher dachte an sich selbst, denn unter dem Namen Leonore stellte er sein eigenes Verhältnis mit Eleonore, der Frau des Predigers Grunow in Berlin, dar; bis nach Stolp und Halle haben ihn diese unreinen Fesseln begleitet. Er ist an dem Abgrund nicht vorbeigekommen, der sich zu allen Zeiten der Mystik geöffnet hat. 1799 waren noch die Monologe von Schleiermacher geschrieben worden: „ein lyrischer Extrakt aus einem permanenten Tagebuche“. Sie sind eine Selbstcharakteristik seiner Persönlichkeit. 1802 wurde Schleiermacher Hofprediger in Stolp, 1804 ist er Professor und Universitätsprediger in Halle, in innigem Verkehr mit dem Philosophen Steffens12. Als 1806 die Universität dort geschlossen wurde, zieht er sich nach Berlin zurück, wo er, durch Stein und Hardenberg bewogen, bei der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität mitwirkt.

Er wird dann 1809 Prediger an der Trinitatiskirche. Erhebend ist seine Tätigkeit als beredter und hinreißender Patriot. Die Not der Zeit, das Gericht über die Franzosen haben auch ihn geläutert und gereift; er wurde ein gewaltiger Mann, der, als er 1810 zum ordentlichen Professor der Theologie ernannt war, begeisterte Schüler um sich sammelte. Mit edlem Wort hat er nach den entsittlichenden Einflüssen der Fremdherrschaft die preußische Volkserhebung als eine Rückkehr zur Wahrheit bezeichnet. Aber er blieb in seinen geistigen Grundgedanken derselbe, den die Reden über die Religion schon zeigen. Wie er keinen persönlichen Gott hatte, so auch keinen wahren Gottessohn. „Christus ist nur eine Wirkung der unserer Natur einwohnenden Entwicklungskraft.“ Er ist am Kreuze nicht gestorben, es ist ein verborgener Lebenskeim in ihm geblieben. Wir wissen nicht, was er später für ein Ende genommen hat. Statt seiner persönlichen Wirksamkeit haben wir nur die Wirksamkeit seiner Gemeinschaft, sofern auch das von ihm noch vorhandene Bild ebenfalls nur durch diese entstanden ist und noch fortbesteht. Wie in dem Zentrum der christlichen Wahrheit, so wird auch in allen anderen Artikeln alles ins Menschliche und Diesseitige herabgezogen. Jeder tiefer Blickende fühlte bei seinen Predigten einen christlichen Vordergrund und einen von demselben ganz verschiedenen Hintergrund. Man hielt es damals sogar für Pflicht, sich der Vorstellungsweise der Gemeine anzubequemen. Schleiermacher verwarf die Vorstellung vom Teufel: im Berliner Gesangbuch, das so sehr das kirchliche Leben schädigte und wozu er den Antrieb gab, wollte er denselben durchaus festhalten. Man trug sich von ihm mit den widersprechendsten Äußerungen. Er hat überallhin die tiefsten Anregungen gegeben, ein Meister der genialen Methodik und Architektonik, aber nach seiner innigsten und wahrsten Überzeugung ist er im Diesseits hängen geblieben und fand, als er am Grabe seines einzigen Sohnes stand, keinen Trost und keine Hoffnung. 1804-1810 gab er die epochemachende Übersetzung des Platon heraus. 1806 erschien „die Weihnachtsfeier“, ein Gespräch, und im Jahre darauf ein kritischer Versuch über den sogenannten ersten Brief des Paulus an Timotheus. In seinen Vorlesungen über Dialektik sprach er seine eigentümliche Stellung dahin aus, dass alle Philosophie nur Postulate und Grenzbegriffe aufstelle, dazu dienend, dem Denken einen gewissen letzten Einheitspunkt zu geben, aber positiven Inhalt hat nur die Frömmigkeit, in welcher das Absolute als der Einheitspunkt des menschlichen Ich gefühlt und erfahren wird, das aber niemals objektiv fixiert werden kann, sondern rein individuell ist.

Der reifste Ausdruck seiner Gedanken ist die hochberühmte, durch neue Sprache glänzende, durch scharfsinnige Struktur auffallende Schrift: der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (1821-1822). Die Religion als Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit ergibt ein Gottesbewusstsein, mit dessen Analysierung es die Glaubenslehre zu tun hat. In Christo war dieses Gottesbewusstsein am stärksten: er hat die Christenheit angeregt: danach werden die einzelnen Dogmen kritisch beleuchtet.

Es ist häufig nachgewiesen worden, dass wir hier etwas völlig anderes haben als die Grundsätze der evangelischen Kirche, auch selbstverständlich etwas anderes da Schleiermacher das Alte Testament ganz verwarf als die Gedanken der hl. Schrift. Baur hat gemeint: man kann bei Schleiermacher den Gedanken an eine absichtliche Täuschung nicht unterdrücken bei der gar zu großen Vorsicht, mit welcher seine Glaubenslehre den Widerspruch mit der Kirchenlehre so viel als möglich zu umgehen und zu mildern sucht und bei der gesuchten Künstlichkeit, mit welcher er die kirchlichen Lehrsätze und Formeln in einen Sinn deutet, den er unmöglich für den wahren und einzigen halten konnte. Die „christliche Sitte“ (1834 von Jonas herausgegeben) ist ein Seitenstück der Dogmatik. Man hat Schleiermacher den Erneuerer der evangelischen Theologie genannt: man konnte dies nur, indem man gar nicht mehr wusste, was evangelische Theologie ist. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften hat er Reden und Abhandlungen geliefert; er hat sich für die Union und gegen die Agende ausgesprochen; er ist zuletzt noch in Gefahr gewesen, als Demagoge angeklagt zu werden und die Ungunst der Regierung nahm gegen ihn zu. Der immer mehr mächtig werdenden pietistischen Bewegung stand er hinderlich und abgeneigt gegenüber. Vor seinem Tode hat er ein Abendmahl gefeiert, das peinlich unangenehm berührt, und das da dem Kranken der Wein verboten war mit der diplomatischen Bemerkung eingeleitet wird: „Ich habe immer geglaubt und glaube es auch jetzt noch, dass der Herr Jesus das Abendmahl in Wasser und Wein gegeben hat“, worauf dann nur Wasser genommen wird. Der Herr sprach von dem Gewächs des Weinstocks. Er stirbt am 12. Februar 1834. Man kann Schleiermacher aus seiner Zeit verstehen: die christliche Wahrheit war das Versuchsfeld für eigene Systeme, aber man kann ihn nicht mit seiner Zeit entschuldigen. Er musste es wissen, dass sein System, in dem der Glaube kein Interesse an der Persönlichkeit Gottes hat, nicht der Wein der biblischen Wahrheit war. Und so steht am Beginn des Jahrhunderts eine geheimnisvoll verschleierte Truggestalt, die unzählig viele getäuscht hat und so einen unheimlichen verwirrenden Schein über die ganze kirchliche Entwicklung geworfen. Angeregt von ihm sind sowohl seine Linke, die vollen Schleiermacherianer, als seine Rechte, die mehr positiven Theologen. Nach seinem Tode erschienen seine Werke: 1. Abteilung: Zur Theologie. 2. Abteilung: Predigten. 3. Abteilung: Zur Philosophie. Als man 1866 das hundertjährige Gedächtnis seiner Geburt beging, wusste die Theologie noch immer nicht, was sie an dem Manne habe. Es kam zu ärgerlichen Streitigkeiten. Eine Berliner Zeitung erzählte ausführlich sein Verhältnis zur Grunow. Eine wahre Ironie führte ihn auf der anderen Seite als Bekenner des Wunderglaubens und Zeugen der Auferstehung vor. Von Luther weiß jedes Kind, was er gelehrt und dass er der Prophet Deutschlands war. Wer war Schleiermacher? Man kann hier nicht die Bemerkung unterdrücken: was hätte Janssen aus dem Leben Luthers gemacht, hätte er dazu den Stoff aus Schleiermachers Leben nehmen können! Hier zeigt sich aber der Unterschied der Jahrhunderte: in dem einen wirkt Gottes Wort und Geist im geängstigten Gewissen eine Macht der Weltumgestaltung, in dem unsrigen wirkt nur ein religiöses Gefühl, welches bei aller systematischen Virtuosität in ethischen Fragen doch für das praktische Leben die Sittengebote nicht genau nimmt und keine wahre Kraft für die Gemeine wird: die Signatur der ganzen folgenden Entwicklung13. Ein Jahrhundert des Scheines und der Täuschung
breitet sich vor uns aus.
11 Über ihn zuletzt Schubart, 1887.
12 Sein Leben von Petersen, 1884.
13 Welch ein Unterschied zwischen dem brieflichen Verkehr Luthers mit seinen Freunden und dem von Schleiermacher mit den seinen! In dem neuerdings herausgegebenen Briefwechsel Schleiermachers mit dem Grafen zu Dohna findet man auch nicht einen christlichen Gedanken.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Die evangelische Kirche in Deutschland.


4. Die Union.(Teil.1)
Literatur: Hering, Geschichte der kirchlichen Unionsversuche, 1836-38. Nitzsch, Urkundenbuch der evangelischen Union, 1854. Julius Müller, die evangelische Union, 1854. Schenkel, der Unionsberuf des evangelischen
Protestantismus, 1855. Wangemann, Sieben Bücher preußischer Kirchengeschichte, 1859. Nagel, der Kampf der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen seit Einführung der Union, 1809. Brandes, Geschichte der kirchlichen Politik des Hauses Brandenburg, 1872-73. Pinscher, Union und Konfession, 1873. Mücke, Preußens landeskirchliche Unionsentwicklung, 1879. Fabri, kirchenpolitische Fragen der Gegenwart, 1866. Die Unions- und Verfassungsfrage, 1877. Wangemann, die lutherische Kirche der Gegenwart in ihrem Verhältnis zur Una Sancta, 1883-84.



Es waren wesentlich die Einflüsse der die ganze Zeit wunderbar durchziehenden Anregungen zu heilsam Neuem, die den edlen, schlichten, in den Leiden der Franzosenzeit geprüften und durch die Errettung von der Hand der Dränger gehobenen Friedrich Wilhelm III., der Freude an dem Studium Luthers gewann, und durch einen Besuch in England, wo er die einige Nationalkirche sah, angeregt war, aus Veranlassung des Reformationsjubiläums am 27. September 181714 zu einer Kabinettsorder bewogen, in welcher er die Aufforderung aussprach, die bevorstehende Säkularfeier durch einen Anfang zur Wiedervereinigung der Lutheraner und Reformierten würdig zu begehen. Dies läge in dem Sinne seiner Vorfahren, wäre nur durch den unglücklichen Sektengeist verhindert worden; das sei möglich unter dem Einfluss jenes besseren Geistes, welcher das Außerwesentliche beseitige und die Hauptsache im Christentum, worin beide Konfessionen einig seien, festhalte; das sei den großen Zwecken des Christentums gemäß, entspreche den ersten Absichten der Reformatoren und liege im Geist des Protestantismus; viele Reformen in Kirchen und Schulen, welche bisher durch den Unterschied der Konfessionen gehemmt worden seien, würden dann möglich werden; wenn beide Teile ernstlich wollten, eine neue, belebte evangelische Kirche im Geiste ihres Stifters wollten, stehe kein Hindernis entgegen; aber er sei weit entfernt, diese Union aufdrängen zu wollen, die nur Wert habe, wenn weder Überredung noch Indifferentismus Teil daran hätten; er selbst werde das Fest durch Abendmahlsfeier in der vereinigten lutherischen und reformierten Gemeinde in Potsdam begehen. Eine Synode zu Berlin, welche 1817 unter Schleiermachers Vorsitz tagte, entschied sich dafür und schlug nach dem Vorbild der Brüdergemeine einen gemeinsamen mittleren Ritus vor: den Gebrauch des Brotbrechens und die Distributionsformel: Christus, unser Herr, sprach: Nehmet hin und esset usw. In den Lehren der Konfessionen sollte nichts geändert werden; von einem Übertritt zu einer anderen Kirche sei nicht die Rede. Der Anfang der Union ist also dieser: eine neu belebte evangelische Kirche mit zu Recht bestehenden Konfessionen. Die Union kein Konfessionswechsel. Hierin lagen die Samenkörner der unheilvollsten Händel, die die Kirche bis auf die Gegenwart nicht haben zur Ruhe kommen lassen. Ein Bild wüster Verwirrung entrollte sich mehr und mehr. Gewiss der König hat nicht in Gleichgültigkeit den Akt vollzogen: er stand unter dem Drang einer warmen Belebung, die die Zeit durchzog, aber doch ohne wirklichen Beruf: kein Mann zu einer solchen Tat, zu der er auch in dem Bischof Eylert15 und dem Minister Altenstein keine befähigten Gehilfen hatte. Mit Wohlwollen griff er ein Werk an, dessen Schwierigkeit er nicht verstand und das in seinem ganzen Verlauf nur die großen geschichtlich gewachsenen Äste des Reformationsbaumes brechen und knicken sollte.

Recht hat Landerer: „Dass dem König damals die Union als eine reife Frucht des Zeitalters zugefallen, ist in keiner Beziehung wahr. Zu früh war diese Union, weil sie in eine Zeit fiel, wo man erst wieder anfing, auf das ursprüngliche Wesen des Protestantismus sich zu besinnen; zu früh war die Union, weil die Strömung des dogmatischen Indifferentismus noch zu stark war, während sie der beginnenden restaurationistischen Tendenz nicht in ihrer Schwachheit gefallen konnte. Die Union war nicht dem Willen ihres Stifters nach, aber ihrem Wesen nach indifferentistisch und absorptiv und warf durch das ganze Jahrhundert den bitteren Zankapfel.“ Die Gleichgültigkeit hat sie anfangs begrüßt. Einsam war die Stellung von Harms16 in Kiel, der seine 95 Thesen gegen sie aufstellte: eine Weissagung aller Händel der Zukunft. „Herrlicher als die reformierte und katholische Kirche ist die evangelisch-lutherische Kirche. Sie hält und bildet sich am Sakrament wie am Worte Gottes.“ Das Wahre lag in ihnen, dass geschichtliche Kirchen nicht durch eine Kabinettsorder ihre Scheidewand verlieren.



Die Union ging ihren verhängnisvollen Weg weiter, als 1821 die preußische Hofagende als ein
eigenes Werk des Königs erschien, zu dem er seine besten Stunden benützt hatte, umgeben von allen möglichen Agenden aus Deutschland, und nun ihre Annahme überall empfohlen und befohlen, gewünscht und aufgezwungen wurde. Sie fand nicht viele Freunde, obwohl sie der König selbst schlicht und liebevoll in der Schrift: Luther in Beziehung auf die preußische Kirchenagende verteidigte. Auch Schleiermacher schrieb 1824 ein „Theologisches Bedenken“ gegen sie, mit Teilnahme für die Bedürfnisse der reformierten Gemeinen. Als Pacificus Sincerus wollte er nichts von dem liturgischen Recht deutscher Landesfürsten wissen. In dem „Gespräch zweier Christen“ folgte noch eine schärfere Kritik, obwohl er den König als Verfasser der genannten Schrift kannte. Die Agende war im Gegensatz gegen viele rationalistische Formulare etwas viel besseres, aber die Weise, wie sie eingeführt wurde, ist ein wahres Jammerstück byzantinischer Hofpolitik. Man erzwang überall den Schein des Gehorsams und verführte die Schwachen. Der Direktor des Brandenburgischen Konsistoriums ließ sich ins Finanzministerium versetzen, weil er den Jammer des Unionsschachers nicht mehr ansehen wollte. Der König, eigensinnig und gereizt, stritt mit persönlicher Liebhaberei für sein Werk. Als sie im Jahre 1830 bei dem dreihundertjährigen Jubiläum der Augsburgischen Konfession Gesetz und ziemlich allgemein angenommen wurde, rief sie auf einer Seite die erbittertste Opposition hervor. In Breslau war ihr Führer der Professor Scheibel, Prediger an der Elisabethkirche, ein hartnäckiger, aber in der Hauptlehre der lutherischen Konfession wohl erfahrener Mann. Der König war ihm bitterböse und bewirkte 1832 seine Entlassung. Der Philosoph Steffens, der Romantiker unter den Lutheranern,17 der Jurist Huschke organisierten den Widerstand. Letzterer lehrte mit entschiedener Klarheit: das Kirchenregiment ist juris divini.

1834 erschien die königliche Versicherung, dass mit der Union keine Konfessionsunion beabsichtigt sei. Diese drücke nur den Geist der Milde und der Mäßigung aus, welcher die Verschiedenheit einzelner Lehrpunkte der anderen Konfession nicht mehr als den Grund gelten lässt, ihr die äußere kirchliche Gemeinschaft zu versagen. Ganz unchristlich wäre es, zu gestatten, dass die Feinde der Union im Gegensatz zu den Freunden derselben sich als eine besonders Religionsgesellschaft konstituieren könnten. Dies betrieb man aber ganz entschieden in Schlesien. Es galt dem König als politische Rebellion. Es kam gegen die Lutheraner zu Gewalttaten, namentlich bei dem Pfarrer Kellner in Hönigern; das ihnen bereitete Martyrium, eines der wenigen, die das Jahrhundert kennt, war ein großer Fehler. Man gab den Leidenden den Schein, dass sie für das Biblische und Evangelische litten. Neuerdings hat Wangemann in seiner Una sancta diese Vorgänge anders beleuchtet als in seiner preußischen Kirchengeschichte, aber nicht ohne heftigen Widerspruch. Als die ausgepfändeten und eingekerkerten Lutheraner müde den Stab der Auswanderer ergriffen, betrübte dies den König; er soll sie sogar heimlich unterstützt haben. Ähnlich traurig waren die Vorgänge im Wuppertal. Der Bischof Ross, der Bevollmächtigte des Königs, drohte mit Absetzungsschema , die er schon in der Tasche habe. Ein Bedürfnis der Union lag nirgends vor. Der Frieden der Gemeinen wurde schwer geschädigt. G. D. Krummacher warnte; auf den Synoden hatte man tausend Bedenken; Petitionen gingen an den König. Dennoch wurde 1835 zugleich mit der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung die Agende abgezwungen, wenn auch bald darauf für die reformierte Gemeinde die kleinere Agende bewilligt wurde. Auch hier trat eine kräftige Losscheidung ein, die nachher zu der Bildung der blühenden niederländisch-reformierten Gemeine führte. Mit Recht sagten erfahrene Männer: der Niedergang des Wuppertals schreibt sich von 1835 her: da sank die Autorität der altväterlichen Kirche.
14 Delbrück, Die Jubelfeier der Reformation, 1817.
15 Von ihm: Charakterzüge und historische Fragmente aus dem Leben des Königs von Preußen, Friedrich Wilhelm III 1842-1846.
16 Über ihn haben Baumgarten 1885, Kaftan 1875, und Lüdemann 1878 geschrieben. Von ihm selbst ist auch eine Lebensbeschreibung vorhanden, 2. Auflage 1851.
17 Wie ich wieder Lutheraner wurde. 1831.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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5. Die Theologen der Union.


Es ist eine Anzahl angesehener Männer, die die Union zu ihren Pflegern gehabt hat, aber die drei Grundwahrheiten der Reformation: die Freie Wahl der Gnade, die Knechtschaft des menschlichen Willens und die Gerechtsprechung des Gottlosen haben sie nicht erneuert. In halben Vermittlungen ist man stehen geblieben oft mit stolzen Worten, denn man gedachte alles zu erneuern. In Bonn und Berlin lehrte Karl Immanuel Nitzsch, Professor und Mitglied des Oberkirchenrates († 21. August1868) mit heraklitischem Dunkel und schwerfälliger Sprachform in vornehmer Feierlichkeit. Sein System der christlichen Lehre (6. Aufl. 1851) war ein vielgelesenes Buch: für die Union hat er ein Urkundenbuch herausgegeben. Schleiermacher hat Nitzsch als den bezeichnet, von dem er am liebsten sich wollte loben und tadeln lassen. Hat man ihn einen Spener des 19. Jahrhunderts genannt, so doch mehr im Dienst der Rhetorik, als der Wahrheit. Durch Freilassung und Freiheit wollte er zum rechten kirchlichen Leben gelangen und geht er darum in seinen Verfassungsgedanken von der Einzelgemeine aus als der Kirche im Kleinen. Rief man ihm zu: Union, dein Name ist Zweideutigkeit, so antwortete er: Bekenntnis, dein Name ist Zauber. Er war eine hohe, ehrfurchtgebietende Erscheinung und ein Hauch von Andacht flog durch den gefüllten Lehrsaal, wenn er das Katheder betrat. Diese wuchs bei manchen, wenn sie nicht verstanden, was er sagte, hatte er doch selbst zuweilen das Gefühl bei seinen Predigten, dass von allen Zuhörern nun kein einziger mehr ihn verstehe. Im Frühjahr 1867 erschien der letzte Teil seines großen Werkes: Praktische Theologie. Gegen Ende seines Lebens verfiel er in ein Traumleben in dem er sich plötzlich in eschatologischen Reden äußern konnte. Sein Panegyriker Beyschlag hat eine Lichtgestalt von dem Manne zeichnen müssen (1872), der jetzt schon weit hinter uns liegt und den auch das leere Schriftchen von Hermens (1886) nicht popularisieren kann, da er niemals populär war.
Isaak August Dorner, ein Württemberger, 1861 Oberkonsistorialrat und Professor in Berlin († 1884), hat eingehende Forschungen über die Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, eine Geschichte der protestantischen Theologie (in dieser dem katholischen Mitarbeiter auf seinem Gebiet weit überlegen) und zuletzt auch eine christliche Glaubenslehre geschrieben und war mit seinem schwäbischen Landsmann, dem Oberhofprediger Wilhelm Hoffmann,31 der das volle Vertrauen Friedrich Wilhelm IV. und ebenso seines Nachfolgers besaß, von großem Einflusse für die unionistischen Ideen. Einer der Hauptvertreter der sogenannten „Vermittlungstheologie“, mit seinem vertrauten Freunde, dem Rechtslehrer Emil Herrmann, auf Kirchentagen eifrig tätig.32 Auch Dorner hat einen Jesus „voll von Frieden und von ungestörter Heiterkeit“ gezeichnet, der nichts gemein hat mit dem, der für uns zur Sünde gemacht wurde. Julius Müller33 in Halle begründete seinen Ruf als Dogmatiker durch das Buch: die christliche Lehre von der Sünde (6. Aufl. 1878), in dem er wie in seinen dogmatischen Vorlesungen und Arbeiten für die „evangelische Union“ ein synergistisches System aufstellte, mit dem er die Prädestinationslehre bekämpfen wollte und das für die Rätsel der persönlichen Schuld zuletzt in einem vorirdischen Fall der Geister Hilfe suchte. Die Wirkung desselben war doch nur die, dass sich wider Schrift und Reformation der Irrtum von der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen verbreitete: dieser grundstürzende Wahn der ganzen modernen Theologie, als ob der Mensch, der aus böser Naturart nicht will, auch anders wollen könnte. Er starb am 27. Sept. 1878. Eine vornehme, feine Natur, die nicht gern die Schranken abgebrochen sah, die sie um sich baute. Viele Jahre war er krank und man sah auf den Leidenden mit Teilnahme, wenn er durch die Straßen Halles mit einem Buche ging, um im Freien zu lesen. Im Sinne der Union wirkte auch, wenn auch mehr „Pectoralist“ und fähig, den verschiedensten Richtungen sich hinzugeben, der Vater der neueren evangelischen Kirchengeschichtsschreibung, August Neander, jüdischer Herkunft, seit 1813 Professor in Berlin, wo er vielen durch seine warme, liebevoll eingehende Weise das Verständnis der kirchlichen Vergangenheit erschloss, die nach der trockenen und aburteilenden Weise des Rationalismus jetzt wieder verschiedenartige Persönlichkeiten, individuelles, reiches Leben zeigte. Hase hat seine Kirchengeschichte ein unsterbliches Werk genannt. Seine allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, seine Geschichte der Pflanzung und Leitung der christlichen Kirche durch die Apostel und sein Leben Jesu waren einst weit verbreitete Schriften, jetzt wenig gelesen, obwohl seine sämtlichen Werke nach seinem Tode noch einmal erschienen. Alles mit einer erbaulichen Tendenz nicht ohne Ermüdung und Einförmigkeit. Neuerdings hat Jacobi in Halle die dankbare Erinnerung eines Schülers auf sein Leben in verklärendem Glanze ergossen. Eine anima candida, die dem Gott der Hegelianer ein herzhaftes Pereat bringen konnte aber auch nichts von den Denunziationen der Rationalisten durch Hengstenberg wissen wollte; das Jahr 1848 erschien ihm anfangs als eine großartige Volksbewegung, denn wie vieles sah er aus seiner Studierstube an! Er starb am 14. Juli 185034 mit den Worten: Ich bin müde, lasst uns nach Hause gehen. Von noch größerer Bedeutung als er war sein Schüler und Freund August Tholuck in Halle. Er ist am 30. März 1799 in Breslau als Sohn eines Goldschmiedes geboren, wahrscheinlich polnischer Abstammung, was etwas seinen verschlungenen und eigenartigen Charakter erklärt. Eine harte, liebeleere Jugend ließ den im Hause einsamen Knaben nach seinem brennenden Wissensdurst Tag und Nacht unzählige Bände einer Leihbibliothek verschlingen; zu dumm um ein Goldschmied zu werden, überließ man ihn dann ganz seinen Büchern. Ebenso heftig im Ehrgeiz wie in prickelnder Lust zum Seltsamen und Unerhörten, von merkwürdiger Begabung für Sprachen begann er ein wild wechselndes Studium derselben. Der nach Freundschaft und Verkehr heiß sich Sehnende gab sich immer wiederkehrenden Selbstmordgedanken hin, wenn er zurückgestoßen, frohlockte aber umso mehr, wenn er von Mitschülern in liebevolle Gemeinschaft aufgenommen wurde. Er häuft in großer Menge ein ungeordnetes Wissen auf, voll Feindseligkeit gegen das Christentum, aber mit Gott in stetem Verkehr, doch wie der, der ihm das Glück seines Lebens abtrumpfen will und in dämonischem Trotze mit ihm eifert. Fast wie ein Faust erscheint er. Eine providentielle Leitung, die vielfach sein Leben bestimmt hat, bringt ihn zu dem Orientalisten von Diez in Berlin, nach dessen Tode zu dem Patriarchen Baron von Kottwitz, der mit seiner Liebe das Eis seines Wesens schmilzt. Ganz in pietistischer Wärme obwohl mit steter Neigung zu Häresien wird er Professor in Berlin, ein Freund Neanders und Hengstenbergs, Schleiermacher nicht angenehm, und geht nachher nach Halle 1826, wo ihn Gesenius und Wegscheider leiden mussten. Sein dortiges anfängliches Martyrium war doch ein sehr geringes, er hat auch Komplimente für den Rationalismus gehabt, als v. Gerlach und Hengstenberg den Zeitungskampf aufnahmen. 1828 und 1829 ist er vorübergehend Gesandtschaftsprediger in Rom. Bis zu seinem Tode am 10. Juni 1877 hat er in Halle als Professor, Studentenvater und Oberkonsistorialrat eine in aller Welt berühmte Tätigkeit geübt. Ein Brief mit der Adresse: „An Herrn Tholuck in Europa“ kam an ihn. Er hat vielen eine tiefe Anregung gegeben: sie bis an den Weg des Heiles geleitend, aber von ihnen scheidend, wenn sie mit einem bestimmten Bekenntnis auf denselben treten wollten und ihn in diesem Sinne vollenden. Mit der Macht der Zärtlichkeit für die ihm sympathischen jugendlichen Gemüter, aber auch mit dem Reiz der schädigenden Schmeichelei hat er die Studenten in sokratischer Weise an sich gefesselt. Eine rätselhafte dunkle Natur, die an sich selbst studierte, überall an anderen mehr den persönlichen Charakter liebte als die theologische Richtung: mit redlichem Hasse gegen jede Orthodoxie, in allem ein großartiger Eklektiker, der selbst staunte über die Menge von Gelehrsamkeit, die er mit sich schleppte. In seinen letzten Jahren voll wunderbaren Spürsinnes die Schwächen der orthodoxen Alten zu notieren. In diesen Forschungen schaut hinter jedem Strauch ein Satyr hervor. Von Strauß auf den Tod verwundet, hat er den Schlag nie überwunden, obwohl er zuletzt noch unter dem Zorn seines Kollegen Jacobi es mit dem erwachenden Luthertum versuchte.35 Seine Schriften: die wahre Weihe des Zweiflers (1823; 9. Aufl. unter dem Titel: die Lehre von der Sünde und dem Versöhner, 1870), seine Erklärungen der Bergpredigt, des Römerbriefes, der Psalmen, seine Predigten haben eine für ihre Tage tiefgehende Bedeutung gehabt. Auch seine geschichtlichen Studien, obwohl vielfach anekdotenhaft und formell ungeordnet und unbequem, haben für den Forscher den Wert wichtiger Quellen. Ein in manchem riesenhaftes Talent, erfüllt es gerade bei ihm mit Wehmut, dass er nicht die hohe, heilige Einfalt gehabt, sich den Wahrheiten der Schrift zu unterwerfen und so die Wichtigkeit seiner Zeitenpoche mit anderen Erfolgen zu krönen, als wie er sie selbst mit seinem Schüler und langjährigen, ihn in systematischer Ordnung ergänzenden Arbeitsgenossen Julius Müller erleben musste. Was Schwarz und Landerer von ihm sagen, entspricht der Wahrheit.36 Auf seinem Lebensabend liegt dasselbe traurige Dunkel wie auf dem von Nitzsch, Kahnis, Wichern, Leo. Mit Tholuck sein Leben lang befreundet waren der gemütvolle viel gebrauchte Exeget Hermann Olshausen (der einst auch in Königsberg in die theosophischen Ideen des Herrn Schönher und des neuerdings gerechtfertigten und zu Ehren gebrachten Pastor Ebe37 verflochten war) und Rudolph Stier38 († 1862 als Superintendent in Eisleben), der, obwohl ein Häretiker in der Lehre von der Genugtuung Christi, in weit verbreiteten exegetischen Werken, namentlich in den „Reden des Herrn Jesu“ als ein besonders biblischer Theologe galt. Er hat sich stark gegen die Anmaßungen des Luthertums in den unlutherischen Thesen ausgesprochen. Zu den vielen Freunden Tholucks, dieses Virtuosen in der Freundschaft, gehörte auch der ehrwürdige Direktor des Wittenberger Predigerseminars, Heinrich Leonhard Heubner.39 In Hannover wäre hier noch der Exeget Friedrich Lücke in Göttingen,40 in Berlin der Dogmatiker August Twesten, der auf der Generalsynode von 1846 wider das Nitzschentum mit Stahl verbunden war,41 in Baden der Prälat Ullmann42 zu erwähnen, dessen Schrift über die Sündlosigkeit Jesu viel gelesen wurde. Er hat die badische Kirche mit lutherischen Elementen liturgisch befruchten wollen, und dabei über das gefährliche Konkordat mit Rom geschwiegen. Seine Misserfolge haben ihn schmerzlich verletzt († 1865). In Bonn lehrte der viel benutzte fleißige Bleek mit der Exegese der Wahrscheinlichkeit. Sollen wir hier noch Joh. Peter Lange in Bonn erwähnen, den Lyriker unter den Theologen, der wenigstens seinen Namen durch sein „Theologisch-homiletisches Bibelwerk“, das seit 1857 erschien und in Deutschland und Amerika verbreitet wurde, bis in das nächste Jahrhundert tragen wird; oder Herrmann Cremer in Greifswald, der in seinem „Biblisch-theologischen Wörterbuch der neutestamentlichen Gräzität“ (1886 5. Aufl.) einen der wertvollsten, für alle Zeiten hochnützlichen Beitrag für die Sprachkunde des N. T. gegeben hat, oder den pietätsvollen, feinen Exegeten Fr. Ludw. Steinmeyer in Berlin, oder den unruhigen, agitatorischen Willibald Beyschlag in Halle, der, nachdem er seine eigene Familie, seine Lehrer und Freunde Nitzsch, Ullmann und Wolters (Pastor in Bonn und Professor in Halle) in feiner Redekunst verklärt hatte, nun auch in einem Leben Jesu das Urbild der Menschheit, den Sohn Josephs, in einer sittlichen Entwicklung nicht ohne Hinderungen sich allmählich zu einem Gott aufschwingen ließ? So hat die antike Welt Götter, Rom allmächtige Heilige werden lassen, während das christliche Bekenntnis bleibt: Gott ist, darum auch Jesus schon auf Erden der Seiende in den Himmeln.43 Beyschlag hat in den „blauen Blättern“ gegen alle Hierarchie gestritten, für die Altkatholiken, die doch die Rechtfertigungslehre nicht verstehen, geeifert aber kärglich gesammelt und ist nach viel Tadel der ungeschickten Alten und viel Lob der eigenen Theologie in der Gegenwart dahin versandet, dass der religiöse Glaube im deutschen Volke, die Sache im Großen und Ganzen genommen, zwischen Leben und Sterben liegt, ein glimmender Docht. Die Rechtfertigungslehre ist nach B. eine sittlich entnervende Lehre und der Lebensborn der Schrift ist erst seit 100 Jahren aufgeschlossen. Die Fülle seiner Beredsamkeit gefiel auch der letzten Generalsynode nicht mehr, obwohl sein Kollege Schlottmann ihn soweit versicherte, dass er – er möge noch so links stehen – dabei doch den Herrn noch recht lieb habe. Beyschlag charakterisiert eine Reihe von Theologen in unserem Jahrhundert, die mit ihrem offenbaren Heidentum und schwächlichen Menschendienst die Kultur mit dem Christentum versöhnen wollen, aber die Kinder des Marktes haben weder gelacht noch geweint. Die ganze Leben-Jesu-Literatur, diese große Anmaßung, in breiter Fülle von Strauß bis Beyschlag wird einmal im Gedächtnis der gläubigen Gemeine schwinden. Sie hat entweder Verächter und Spötter oder Bewunderer und Verehrer geschaffen, aber nie gläubige Unterwerfung. In Rom kam Beyschlag auf den Gedanken, den evangelischen Bund zu gründen: er konnte dem Papst keinen besseren Dienst in seiner Stadt tun, denn was stärkt Rom mehr als ohnmächtige Sticheleien. Es gab Blinde genug, die auf diesen Bund eingingen.44 Nimmt man von den Unionstheologen Nitzsch, Müller und Stier als besondere Vertreter der Richtung an, so hat Nitzsch in seinem Streit mit Kahnis die Rechtfertigungslehre verändert, Müller ein System der menschlichen Freiheit aufgestellt und Stier, der biblische Theologe, die biblische Genugtuungslehre bekämpft: also keine Erneuerung der Wahrheit der Reformation. Dabei fühlte man sich doch berufen, einen Consensus evangelischer Lehre aufzustellen. Die heftigen Kämpfe der Union haben in der neuesten Zeit wohl viel Literatur gebracht, aber keine hervorragenden Theologen. Die Gegenwart ist arm an bedeutenden Führern, ja selbst an großen Talenten. Mit Ehren ist Julius Köstlin45 in Halle zu nennen, der durch seine ausgezeichneten Lutherforschungen wenigstens für die Theologen wieder die Liebe zu dem deutschen Propheten wecken wollte, von dessen Stimme sich auch die Unionstheologie nicht hatte leiten lassen. Nirgends zeigt sich eine Regung ernstlicher Erweckung. Der Aufgang der Zahl der Theologie Studierenden in den letzten Jahren (1890 war ein Überschuss von 1131 vorhanden) beweist nur, dass alle übrigen Berufsarten überfüllt sind. Der Mangel an innerer Erfahrung und der geschwundene Verkehr mit der unsichtbaren Welt drückt die Jugend, die in buntem Eklektizismus zerstreute Notizen sammelt, nach kurzen Handbüchern alles eilig betreibt. Je mehr das Studium der Theologie Brotstudium wird, je mehr sich die Wissenschaft von jedem Einfluss lebendiger Erfahrung lossagt, um so trostloser gestaltet sich die Lage. Der Geist der Bekehrung hat sich von Studenten und Pastoren zurückgezogen und mit Recht betont man die Notwendigkeit derselben.46 Die Union spaltete sich in dem alten Preußen in die drei Gruppen der Konfessionellen, der Positiv-Unierten47 und der Mittelpartei,48 letztere mit dünner Linie von dem Protestantenverein geschieden, die beiden anderen Parteien sich mehr einander nähernd und in wichtigen Fragen gemeinsam handelnd. Die 2. ordentliche Generalsynode (1885) zeigte ihr volles Übergewicht. Auf der 3. ordentlichen Generalsynode zählte die konfessionelle Partei 54, die Ev. Vereinigung 49, die positiv-unierte Partei 82 Mitglieder.
31 Sein Leben von seinem Sohne, 1877-80.
32 Über beide Männer eine Gedächtnissrede von v. d. Goltz, 1885.
33 Über ihn Schulze, 1879, und Kähler, 1878.
34 Sein Leben von Krabbe, 1852, und Rauh, 1886. Erinnerungen an ihn von Schaff, 1886. Zum 17. Januar 1889 sein Leben von Wiegand. Ein Gedenkblatt von L. Schulze (Schrift. d. Inst. Judaicum zu Leipzig IV. 24.) Derbe Urteile über ihn bei de Lagarde: Über einige Berliner Theologen, 1890. Ein Gemenge von Wahrheit und Unsinn.
35 Über ihn der Sohn, 1889.
36 Sein Leben von Leopold Witte, 1884 und 1886. Vieles über ihn auch in Eilers: Meine Wanderungen durchs Leben, 1856-61. Erinnerungen an seinen Heimgang von seiner Frau, 1892.
37 Graf v. Kanitz: Auszug aus der Schrift: Aufklärung nach Aktenquellen, 1864. Von demselben ein Mahnwort, 1868. Life of Ebels by Mombert, 1882.
38 Sein Leben von seinen Söhnen, 1871.
39 Über ihn Mitteilungen von Koch, 1886. Schmiedes, Erinnerungen, 1892.
40 Ehrenfeuchter in den Studien und Kritiken, 1855. Ein Lebensbild von Sander, 1891. Dieser hat auch den Briefwechsel von L. mit Jacob und Wilhelm Grimm herausgegeben, 1891.
41 Über ihn Heinrici, 1889.
42 Sein Leben von Beyschlag, 1867.
43 Vergl. den ausgezeichneten Vortrag von Theodor Zahn: Die Anbetung Jesu im Zeitalter der Apostel, 1885.
44 Da wir 31 Mill. Evangelische auf unsere 17 Mill. katholische Mitbürger weder durch Wort noch durch Wandel einenEindruck machen, unser Licht also nicht mehr leuchtet, sollte man die Polemik aufgeben. Will man es denn immer
noch nicht einsehen, dass man völlig Bankrott gemacht hat.
45 Von ihm eine Autobiographie bei Wilda, Deutsche Denker, 9. bis 12. Heft, 1892. Der Lutherbiograph hat uns vonseinen eigenen Erfahrungen von Sünde und Gnade nichts mitgeteilt. Warum schweigt die moderne Theologie über
die allein wichtigen Erlebnisse?
46 Braun, Die Bekehrung der Pastoren, 1885.
47 Organ derselben die Kirchliche Monatsschrift von Pfeiffer und Jeep.
48 Organ derselben die deutsch-evang. Blätter von Beyschlag seit 1876.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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Adolph Zahn "Abriss einer Geschichte der evangelischen

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Die evangelische Kirche in Deutschland.

6. Das Luthertum.

Literatur: Ernst Wilhelm Hengstenberg von Bachmann und von Schmalenbach, 1876 bis 1891.

Wie der durch die Not der Franzosenzeit geläuterte König zu den Schriften Luthers zurückkehrte und in ihnen eine lebendigere und tröstlichere Welt fand, als in den Abstraktionen und Schemen des Rationalismus, wie überhaupt die ganze geistige Stimmung auf allen Gebieten des Forschens und Gestaltens nach Charaktervollem und Individuellem verlangte, wie der Wert und die Bedeutung der Geschichte wieder erkannt wurde, die nach anderem Maßstabe als dem des schablonenhaften schulmeisterlichen Rationalismus zu betrachten sei, wie man an der Lektüre des gedankenvollen Hamann, des kindlichen Lavater, des volkstümlich genialen Claudius mehr Freude gewann als an dem schalen Deismus des achtzehnten Jahrhunderts: so wandte man sich auch den Anfängen der evangelischen Kirche liebevoll zu, oft gleichsam aus völliger Unwissenheit auftauchend, als fände man etwas ganz Unbekanntes. Es war nicht nur die Ermüdung an dem rationalistischen Weisheitskram, nicht nur der allgemeine vielfach pantheistisch und schwärmerisch auftretende Drang nach mehr befriedigenden Formen des Denkens und Glaubens, sondern es waren vor allem die Wirkungen der oben geschilderten Erweckung, die unmittelbaren von Gott ausgehenden tiefen Impulse, mit denen er die Frühlingszeit dieses Jahrhunderts segnete. Der große Umschwung der Ideenwelt führte dann weiter zu den Schriften Luthers und der väterlichen Kirche zurück. Dies geht klar hervor aus den Bekenntnissen derer, die am Anfang dieses Jahrhunderts noch ganz befangen in den traditionellen Gedanken mit einmal von dieser oder jener Persönlichkeit, Lektüre und geistigen Gemeinschaft berührt ein neues wunderbares Licht erschauten. Dieses brachte sie in dem Bedürfnis nach überall mangelnder Lehre und Unterweisung zu der von dem Rationalismus mit Verachtung und Vergessenheit überschütteten kirchlichen Vergangenheit. Man begann ernstlich die altkirchliche Lehre zu erneuern. Hier tritt die große Bedeutung von Ernst Wilhelm Hengstenberg und der von ihm herausgegebenen „Evangelischen Kirchenzeitung“ hervor.

Hengstenberg ist einer der wenigen Theologen dieses Jahrhunderts, die noch andere als theologische Kreise weit und tiefgehend beeinflusst haben. Hengstenberg ist am 20. Okt. 1802 zu Fröndenberg in der Grafschaft Mark geboren, eine kräftige westfälische Natur, hat seine Studien in Bonn gemacht und konnte schon in seinem 22. Jahre auf dem Gebiete der Philosophie und des Arabischen gelehrte Arbeiten veröffentlichen. Ein Freund der burschenschaftlichen Bestrebungen ist er später Hauslehrer in Basel, wo er eine Bekehrung erlebte. Er habilitiert sich 1824 an der philosophischen und 1825 an der theologischen Fakultät in Berlin, wird zur Überraschung seiner Gegner sehr bald (1826) außerordentlicher und 1828 ordentlicher Professor der Theologie. Bis zum Jahre 1869, wo er am 28. Mai starb, hat er von Berlin aus durch die Ev. Kirchenzeitung eine gebietende Stellung eingenommen. Den Fortschritt in diesem Blatte beschreibt richtig Kahnis so: „Nie hat Hengstenberg die Schmach der Orthodoxie gescheut und mit den Sünden der Zeit zu buhlen, war nie die Art dieses charaktervollsten Theologen. So lange er mit den Philistern der Aufklärung im Kampfe stand, war seine Stellung angefochten genug, aber innerlich fest. Gegenüber den lutherischen Bewegungen aber fehlte dieser Kirchlichkeit auf dem Boden der Union die Kirche. Indes zeigt die Ev. Kirchenzeitung ohne Zweifel die tüchtigste und eingreifende Zeitschrift der Gegenwart einen die Zeichen der Zeit wunderbar treffenden Fortschritt vom unentwickelt Evangelischen zum Kirchlichen. War sie zuerst mit positiven Richtungen sehr verschiedenen Charakters verbunden, so gab der Hallesche Streit 1830 schon eine bestimmtere Wendung, bis 1840 das Vorwort, welches die Unhaltbarkeit des Pietismus dartat, den inneren Bruch mit der Richtung aussprach, welche zuerst wesentlich das Organ getragen hatte. Selbst der Union entfremdete sich Hengstenberg mehr und mehr.“ Landerer bezeichnet das Wesen dieser Richtung als die Verbindung der protestantischen Orthodoxie mit dem Pietismus. Als durch Benützung von Kollegienheften der Streit gegen die Hallenser Wegscheider und Gesenius losbrach, sagte sich Neander von der Kirchenzeitung los. Gegen Schleiermacher wurde gekämpft wegen seines Pantheismus und seiner dialektischen Taschenspielerei. Doch der Minister Altenstein hielt die Hegelsche Philosophie und Theologie noch aufrecht, bis das Ministerium Eichhorn und später das von Raumer die Gunst der Regierung brachte. Seitdem war Hengstenberg in seinen Neujahrsvorworten, den „Thronreden“, für viele das Orakel. In den Jahren 1830-40 stand er als Staatskirchenmann auf Seiten der Regierung gegen die separierten Lutheraner, während er selbst ursprünglich reformiert immer mehr lutherisch wurde; er fand die Union nach dem hohepriesterlichen Gebete, aber das Ordinationsformular der Generalsynode von 1840 macht ihm dieselbe verdächtig. Er erklärt sich dann für eine getrennte Organisation beider Kirchen innerhalb des allgemeinen Rahmens der Landeskirche. Jetzt der eifernde Lutheraner wird er von diesen als Bahnbrecher der Kirche verherrlicht. Er hat sich nun auch mehr von den seit 1848 oft stattlich besuchten Kirchentagen49 zurückgezogen. Auf dem ersten Kirchentage zu Wittenberg lag die Not der Zeit und der Duft brüderlicher Liebe; dann trennten sich die Lutheraner und Beyschlag verkündete seinen der Zeit entsprechenden Christus in Altenburg, bis der letzte Kirchentag in Halle 1872 selbst die halben Altkatholiken freundlich begrüßte. Die Kirchentage wurden auch durch die in Eisenach zusammentretende Konferenz der Kirchenregierungen von 1852 an geschwächt.50

Hengstenberg hat Großes für die Apologie und Exegese der heiligen Schrift geleistet und wenn sein Bild einmal aus den gehässigen Darstellungen der Gegenwart wieder ruhiger betrachtet wird, wird man dies gerechter anerkennen. Die Christologie des Alten Testaments, die er 1829 veröffentlichte, war eine Tat der heilsamsten, bis auf heute nachwirkenden Befreiung des Alten Testaments von rationalistischer Betrachtung. In seinen Beiträgen zur Einleitung ins Alte Testament, in seinem Kommentar über die Psalmen hat er vortreffliches Material auch für die praktische Erklärung gesammelt: ein brauchbarer, nützlicher Theologe und fleißiger, pietätsvoller Gelehrter, der sich manches Unterdrückten angenommen, viele gestärkt und gefördert hat und weit hinaussteht über die, die ihn „wissenschaftlich“ widerlegen wollten und oft nur an einzelnen Schwächen ihn greifen konnten. Viele Schmach ist auf ihn gefallen um der Wahrheit willen: ein Schrecken und Grauen der Liberalen und Freimaurer buhlte er auch nie um die Gunst des Hofes, der ihn auch in seinen letzten Jahren nicht liebte. Und doch als Bachmann 1876-81 sein Leben beschrieb, sagte er in der Vorrede: es wäre sein schon vergessen wie eines Toten, und auf seinem Lehrstuhle doziere die Kritik. So wenig sind wir berufen, ein Neues mit Erfolg zu pflügen. Neuerdings hat Treitschke in seiner viel gelesenen Geschichte unseres Jahrhunderts Hengstenberg mit den Ketzerrichtern Hoogstraten und Torquemada verglichen: ein großer Historiker bedarf zum Zweck der Rhetorik solcher abgelebten Schablone nicht.

Bei der Hochachtung, die jeder Positive Hengstenberg entgegenbringen muss, treten uns aber auch seine großen Mängel entgegen. Er irrte mit vielen seiner pietistischen und lutherischen Freunde darin, dass er meinte, man könnte einen ganzen geschichtlichen, überall noch nachwirkenden Zeitraum gleichsam wegwischen. Er wollte eine Herrschaft brechen, die alles im Besitz hatte und die dadurch nicht beseitigt war, dass man gewisse Erfolge zu verzeichnen hatte. Er unterschätzte die Tiefe der von der Reformation abgekehrten Volksströmung. Gerade die Geschichte Israels lehrt uns, dass, wenn der Abfall einmal Wurzel gefasst hat, er auch durch vorübergehende, reformatorische Beeinflussungen nie wieder völlig beseitigt wird, sondern mächtig weiter wuchert. Und dann ist der Schrift auch mit der eingehendsten Apologetik nicht überall gedient, denn sie hat in ihrer durch die Jahrhunderte reichenden Entstehung Rätsel, die man nicht lösen kann. Nicht der Beweis, sondern die innere Pietät und Erfahrung entscheidet über die Stellung zur Schrift. Hengstenberg hat sich oft mit seiner Apologetik lächerlich gemacht, und zahlte einem, wie v. Gerlach sagte, einen Dukaten in Pfennigen aus. Seine fortwährende Anklage der Häretiker, zu der er sich jeden Morgen aufraffte, entfernte dieselben nicht und wollte ebenso wie in der Restauration des alten Dogmas und in der Apologetik der Schrift etwas erzwingen, was Gott nicht erzwingt. Es ist einer der ergreifendsten und schmerzlichsten Augenblicke in seinem Leben, als er, der so viele gestürzt, nun sich durch seine Lehre von der Rechtfertigung selber stürzte. Er lehrte Stufen der Rechtfertigung, in denen sich die Rechtfertigung vervollkommne, statt von Graden der Aneignung der sündenvergebenden Gnade zu reden. Eben sowenig wie die Kindschaft wächst, wächst die Rechtfertigung: man hat beide oder hat sie nicht. Gewiss erlangt der Mensch die Seligkeit nur durch einen lebendigen, in guten Werken tätigen Glauben, aber diese Werke stehen in keinem entsprechenden Verhältnis zur Seligkeit, sind vielmehr auch bei den Besten mit Sünden befleckt, und darum wird dieselbe allein durch den Glauben empfangen. Es ist geradezu Verhängnisvoll, dass der angesehenste Theologe der Orthodoxie in unserem Jahrhundert die Lehre der mit ihr stehenden und fallenden ev. Kirche traurig verwirrte, Beweis genug, wie wenig auch er zu einer reformatorischen Tat berufen war. Seine Irrlehre aber rief weder in der Theologie noch in den Gemeinen fördernde Debatten hervor: man ging wie über vieles andere, so auch über sie hinweg.

In dem Kreise von Hengstenberg bewegte sich einer der wenigen Generalsuperintendenten, die eine größere Popularität genossen: der originelle Büchsel († 1889),51 der uns seine Erinnerungen als Landgeistlicher und als Berliner Prediger an der St. Matthäuskirche in belehrender, oft durch ihre Einfachheit anziehender Weise dargestellt hat. Er ist im März 1848 nicht mitgegangen, als Sydow den Denkstein heiligte, welcher die Gebeine der Märtyrer der Freiheiten und Rechte umschließen und wo die Seele heiliger Erinnerung wohnen werde. Auch Fr. W. Krummacher war dem aufrührerischen Gesindel nach gewallfahrt. Das Luthertum, welches Hengstenberg in seinen Bemühungen begleitete, hat sich in den Arbeiten von Hävernick, des sorgsam fleißigen und nüchternen C. Fr. Keil († 1888),52 des kräftiger Sprache mächtigen Joh. Heinr. Kurtz († 1890) mit seinen vielbenutzten Lehrbüchern große Verdienste um die Verteidigung des Kanons erworben, aber in seinen eifrigsten Rufern im Streit im blinden Fanatismus die ref. Kirche verkannt und geschmäht, so dass von dem (mit Georg Benedict Winer († 1858),53 dem feinen Kenner des neutestamentlichen Sprachidioms, einem Manne von bewundernswerter Akribie, und mit F. Ch. Baur) gelehrtesten Theologen dieses Jahrhunderts, dem Dänen Andreas Gottlob Rudelbach († 1862) in Kopenhagen,54 dem Mitarbeiter Guerickes an der Zeitschrift für die gesamte luth. Theol. u. K., der reformierte Göbe1 mit Recht sagte: er sei ein neuer Möhler in dieser Auffassung der symbolischen Gegensätze. Viel gefährlicher als in dieser gehässigen Herabsetzung der ref. K. wirkten aber manche Lutheraner durch ihre romanisierenden Ideen in der Lehre von der Kirche, dem Amt und den Sakramenten. Pastor Euen in Pommern, der eine wahre Idiosynkrasie vor Luther hatte, ging so weit, zu bezweifeln, ob noch jetzt die Rechtfertigungslehre der Mittelpunkt der Kirchenlehre sei und nicht vielmehr die Sakramente; andere lehrten eine Wirkung derselben ex opere operato und stellten sie höher als das Wort, behaupteten eine Einwohnung Christi durch die Kindertaufe ohne Glauben, ließen die Amtsträger in einem besonderen Amtsauftrag Vergebung der Sünden mitteilen, beinahe ein Sakrament der Sündenvergebung, wogegen dann so besonnene Männer wie Höfling in Erlangen protestierten. Wilhelm Löhe55 in Neuendettelsau vollzog sogar die letzte Ölung an einem Kranken. Diese stark romanisierenden Tendenzen, die das moderne Luthertum erniedrigen, hatten bei Männern wie Heinrich Leo,56 Philipp Nathusius und Ludwig v. Gerlach, dem geistvollen Präsidenten in Magdeburg und Verfasser der Rundschauen in der Kreuzzeitung, ihren Beifall. Leo immer mehr für Rom als für Wittenberg empfindend, klagte den in Bildung und Wesen beengten Luther an, mit gewaltig kämpfender Faust in ein Kunstwerk des menschlichen Geistes, die kath. Kirche geschlagen zu haben; er ging im September 1860 nach Erfurt, um mit Katholiken eine Parteibildung zu versuchen, die der lutherischen Schlachtordnung eine Flanken- und Rückendeckung beschaffen könnte; Nathusius konnte auch das Ora pro nobis an die Maria richten und v. Gerlach († 1877) findet sich nach vielen politischen Wandelungen immer Debatten lustig im Zentrum, wo er den Papst die Fahne des Evangeliums hoch halten ließ. Hier ist auch nicht der bis ins Alter jugendfrische, unermüdliche Parlamentarier Hans Hugo v. Kleist-Retzow,57 der letzte echte Konservative, zu übersehen († 1892), der gegen alle Revolution und für jede Kirche auch die Roms gestritten hat und dem Bismarck den Rat gab, er solle für sein Seelenheil katholisch werden. Er das Mitglied des Vorstandes der Generalsynode hat 1886 eifrig geholfen, den schmachvollen Frieden mit Rom zu schließen, was ihm dann von der Regierung bei seinen Wünschen für eine größere Freiheit der ev. K. dahin vergolten wurde, dass die Minister von ihren Sitzen verschwanden. Der bedeutendste unter diesen Scheinlutheranern war der geniale Historiker in Halle, von italienischem Blute stammend. Nach vielen Wandlungen auch einmal ein Prädestinatianer hat er nachher die Reformierten in Abstraktionen ersoffene und abgedampfte Naturen genannt. In allem das, was ein von ihm gebildetes Wort sagt: naturwüchsig. Sehr vieles Wahres in seinen Gedanken, dass die Theologie der Gegenwart nur noch „Wortbilder“ aus der Vergangenheit habe, deren ursprünglichen Sinn sie verloren. Als der starke Geist in den Verwirrungen einer furchtbaren Krankheit qualvoll langsam erlosch, sagte er oft zu mir: sola fide ist doch das allein Wahre. Es gehören diese romanisierenden Erscheinungen zu den verhängnisvollsten der modernen Kirchengeschichte. Friedrich Wilhelm IV. stand den eben erwähnten Kreisen sehr nahe, schwärmerisch hohe Ideen konnte er äußern für die eine christliche Kirche, obwohl dann auch wieder den Betrug des Papsttums klar durchschauend; aber edel und wohlwollend gewährte er Duldung und Förderung und so wuchs unter ihm heimlich und maulwurfsartig wühlend die kath. Kirche, die sich einer fast unabhängigen besonderen Abteilung im Kultusministerium erfreute. Die jetzige Übermacht Roms in Deutschland ist wesentlich auch in dem „Kulturkampf“ durch die kirchliche Partei gefördert worden, die sich mit dem Namen Luthers ohne dessen Geist und Bekenntnis schmückte. Die Geschichte zieht ihre Resultate nicht in kleinen Summen, sondern in den Wirkungen, die sie für die zuletzt entscheidenden Hauptmächte aufzeichnet, und in diesem Sinne hat das Luthertum für Rom gearbeitet.58 Auch darin hat es Rom genützt, dass es in der Zeit seines Einflusses nichts getan hat, um die Rechtfertigungslehre Luthers zu erneuern. Es ist in allen seinen Vertretern synergistisch gesinnt gewesen, selbst ein Harless dachte so, und so hat sich an uns das Wort Luthers erfüllt, dass wie den Kirchen des Orients so auch Deutschland das Wort genommen würde. Die Rechtfertigungslehre Luthers ist nicht mehr in Deutschland vorhanden. Und niemand erschrickt darüber.59 Im Kampf für das Volksschulgesetz erhoffte man auf neue mit Rom einen großen Gewinn zu erzielen, sah sich
aber getäuscht.60
49.Geschichte des deutsch-evangelischen Kirchentags, 1853.
50.Sein Leben aus seinem schriftlichen Nachlass, 1873-86.
51.Zum Gedächtniss D. Büchsel s. Leichenreden, gehalten am 17. Aug. 1889 von Gen.-Sup. Braun und P. Fischer, 1890.
52.Über ihn Delitzsch in der Vorrede zum Bibl. Commentar über die 12 kleinen Propheten von Keil, 1888.
53.Über ihn Schmidt in den Beiträgen zur sächs. Kirchengesch. 3. Heft. 1885.
54.Über ihn C. R. Kaiser, 1893.
56.Die Autobiographie: Meine Jugendzeit. 1880.
57.Über ihn die Encyclopädie der neueren Geschichte von Herbst. Gensichen in der Ev. Kirchenzeitung 1892, Nr. 34
und 35.
58-H. Baumgarten, Römische Triumphe, 1887
59.Man vergl. Böhl, Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Amsterdam 1890. Eine Amerikanerin sagt im Lutheran Observer über Deutschland: It seems to me what Luther said of other nations has come to the Germans.
60.Treitschke: Die evangelischen Orthodoxen halten die Ultramontanen für Gläubige und meinen, ihnen als Gläubige nahezutreten. Dieser Irrtum durchzieht unsere ganze Geschichte, von den fernen Tagen an, da die märkischen Lutheraner dem Siege der kath. Liga auf dem Weißen Berge zujauchzten bis herab zu den zahllosen Missgriffen der preußischen Kirchenpolitik des 19. Jahrhunderts.
Zuletzt geändert von Joschie am 01.04.2023 15:56, insgesamt 2-mal geändert.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Adolph Zahn "Abriss einer Geschichte der evangelischen

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Die evangelische Kirche in Deutschland.

7. Die Theologen des Luthertums.
Will man sich, hat man mit Recht gesagt, bei einem einfachen, angenehmen und klaren Schriftsteller über das moderne Luthertum unterrichten, so wird man dies bei dem Erlanger Gottfried Thomasius († 1875) tun, der ein lichtvolles Buch über Christi Person und Werk geschrieben, obwohl nicht ohne widersinnige Kenosis. Sehr verschieden von ihm ist sein Kollege Joh. Christian Konrad v. Hofmann, der eine theologische Schule gründete, die von ihm die exegetische Methode sich aneignete: die Gedanken eines Schriftstückes in architektonischer Weise aufzubauen und den ganzen Kanon als ein Meisterstück göttlicher Providenz mit heilsgeschichtlicher Entwicklung, wenn auch mit sehr gemäßigter Inspirationstheorie anzusehen. Ist er in der Lehre von den Sakramenten ein strenger Lutheraner und will sein „Schriftbeweis“ die Wahrheit des lutherischen Bekenntnisses als die der Schrift bestätigen, so hat er doch in der Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre nicht in „einer neuen Weise alte Wahrheit“ gelehrt, sondern dieselbe wesentlich verändert, von Schleiermacher und dem Philosophen v. Schaden abhängig, von seinen lutherischen Kollegen mit Recht verurteilt, die dann nach ihm die Säume ihrer Bekenntnistreue zu groß machten. Seine dialektisch fortschreitende, viel Neues behauptende, ermüdend geschriebene, große Auslegung des N. T. konnte er nicht vollenden. Er ist einer der eigentümlichsten und selbständigsten Theologen dieses Jahrhunderts († 1877). Eine feine Schilderung hat von ihm Luthardt in seinen Erinnerungen aus vergangenen Tagen gegeben (2. Aufl. 1891). Auch von Grau Erinnerungen. In Bayern haben wir auch Adolf Harless, erst in Erlangen und in Leipzig Professor, dann Oberhofprediger und Vizekonsistorialpräsident in Dresden, seit 1852 Präsident des ev. Oberkonsistoriums in München, woselbst er der ev. Landeskirche eine konfessionelle Färbung zu geben bemüht war († 1879). Ein scharfsinniger und gelehrter Exeget, wie sein Kommentar zum Epheserbrief beweist, ein guter Systematiker in seiner christlichen Ethik, stand ihm auch kernige, volkstümliche Redeweise zur Seite. Er hat auf seinen Lebensgang Licht geworfen in den Bruchstücken auf dem Leben eines süddeutschen Theologen (1873-75). Wie alle Lutheraner ist auch er im Synergismus stecken geblieben. Der Pastor Wilhelm Löhe in Neuendettelsau,61 tätig durch vielen Verkehr, Ausrüstung von Sendboten nach Amerika, eine Gesellschaft für innere Mission und einen Verein für Diakonie, für Luthers Schriften begeistert, verfiel nachher in romanisierende Liebhabereien († 1872). In Augsburg wirkte G. Ch. A. Bomhardt († 1869).62 Chr. Ph. H. Brandt († 1857) gab das „Homiletisch-liturgische Korrespondenzblatt“ heraus.63 Neuerdings sind in Erlangen Fr. H. R. Frank als Systematiker und Theodor Zahn als scharfsinniger und gelehrter Patristiker Theologen von Namen. Frank sagt von Ritschl, dass er das ganze Christentum in Frage stelle und Ritschl von Frank, dass ihm jede wissenschaftliche Bedeutung abgehe: so das Urteil der angesehensten Dogmatiker übereinander. – Frank ist auch kein biblischer und lutherischer Theologe, denn er lehrt: Es wäre ja das Sinnloseste von der Welt, zu behaupten, dass jemand widerwillig zum Glauben käme – eine Verleugnung der menschlichen Persönlichkeit, die nur durch Selbstsetzung gerettet werden kann.64 In Erlangen lehrte auch der Mineraloge Pfaff in christlich-apologetischem Sinne († 1886).65 In Hannover hat der Pastor Ludwig Harms66 in Hermannsburg in der Lüneburger Heide, in kräftigem Ernst und schlagender Predigtweise ein rechtes Original, seine Bauern und viele Gäste angezogen eine Missionsanstalt, ein Missionsschiff und Missionskolonien geschaffen († 1865). Sein Bruder ging zur Separation über, doch wollte man die Mission von der Separation reinlich trennen. Die gebildete Hannöversche luth. Freikirche trennte sich nachher wieder in zwei Lager.
Die Pastoren Münkel67 und Münchmeier, besonders aber Petri68 haben in Hannover gegen die Göttinger „Kathedermänner“ gestritten. In reformierter Lehre waren sie doch sehr unwissend. Eine maßvolle und in ausgezeichneten kirchengeschichtlichen Arbeiten wirksame Persönlichkeit ist der Abt von Lokkum Gerhard Uhlhorn. Sein „Kampf des Christenthums mit dem Heidenthum“ ist ein Volksbuch geworden. In Sachsen hat K. Fr. Kahnis († 1888)69 calvinistische Abendmahlslehre vergeblich mit Polemik gegen Calvin verschleiert; in der Trinitätslehre häretisch hat er sich auch von seinem alten und bewunderten Freunde Hengstenberg getrennt. Er hat in kurzen klaren Sätzen geschrieben, angenehmer zu lesen als die verschlungenen Perioden der Vermittlungstheologen. Franz Delitzsch galt als der Altmeister des A. T. und hatte in seinem Fach staunenswerte Kenntnisse: der Talmudist unter den Lutheranern auch den Juden angenehm, er selbst der Sohn eines Juden, wo er sie von dem rituellen Morde freispricht, weniger da, wo er vom Christentum und jüdischer Presse handelt, ein unermüdlicher Exeget des A. T., aber nicht ohne fortschreitende Zugeständnisse an die Kritik, bis zu dem Satze, dass die englische Vermittlung des Gesetzes den radius directus der unmittelbaren Offenbarung prismatisch gebrochen. In der Überfülle seiner oft künstlichen Worte mengt er Glauben und Unglauben manchmal zusammen. Als er seine neue Bearbeitung des Kommentars zur Genesis herausgab, frug man sich, ob er zur Rechten oder Linken gehöre, doch rettete er sich noch einen tiefen Graben zwischen alter und moderner Theologie. Er stirbt 1890.70 Ernst Luthardt, jetzt durch seine Kirchenzeitung und apologetischen Vorträge der einflussreichste lutherische Theologe, von geschmackvoller Feinheit und Klarheit der Darstellung. Die modernen Weltanschauungen bekämpfend zeigt er in der „Lehre vom freien Willen“, wie sehr auch er unter der Wirkung derselben steht, denn er hat alle Schriftgründe Luthers gegen den freien Willen aufgegeben.71 Der gelehrteste Theologe der Gegenwart ist neben Theodor Zahn wohl Otto Zöckler in Greifswald, seit 1882 der Herausgeber der „Ev. Kirchenzeitung“ von Hengstenberg, die nun recht klein geworden noch immer Gutes bringt. Auch seine theol. Handbücher und kurzgefassten Kommentare haben sich ein großes Gebiet erobert. Ein ungemein lebendiger und beweglicher Geist war W. Friedrich Besser, zuletzt Pastor in Waidenburg in Schlesien und Kirchenrat der luth. Freikirche († 1884). Er hat durch seine „Bibelstunden“ (6. Aufl.) weit hinaus gewirkt.72 Ein Abbild mancher wackeren lutherischen Kämpen war der Superintendent Meinhold in Kammin.73 Als der Vater der neuen Textkritik glänzte Konstantin Tischendorf mit 20 Ausgaben des N. T., glücklich auch in den wertvollsten Funden bis zu dem weltberühmten Codex Sinaiticus, das reichste Geschenk an den Kaiser des Ostens. Er stirbt 1874.74 An den Namen von Dr. Heinr. Aug. Wilh. Meyer († als Oberkonsistoralrat 1873 in Hannover) knüpft sich für immer der „Kritischexegetischer Commentar zum N. T.“, philosophisch ausgezeichnet und viel gebraucht mit steten Verbesserungen bis in die Gegenwart. Über die Verbreitung seiner Schriften hat B. Weiß in der siebenten Auflage des Commentars zum Matthäus berichtet. Man mag in Hessen den wildwachsenden A. Fr. Chr. Vilmar75 († als Professor der Theologie in Marburg 30. Juli 1868) wegen seiner gewalttätigen lügnerischen Angriffe gegen das gute Recht der reformierten Kirche in Kurhessen, seiner romanisierenden Liebhabereien in der Autorität des Amtes und der Wirksamkeit der Gnadenmittel beklagen, mag in ihm als dem Streiter für die Theologie der Tatsachen gegen die Theologie der Rhetorik selbst sehr viel Rhetorik finden, aber es ist doch in seiner Literaturgeschichte und in seinen nach seinem Tode herausgegebenen Vorlesungen und Bibelerklärungen unsagbar viel mehr markiger und nützlicher Gehalt mit herrlicher Sprache als bei denen, die ihm gegenüber mit ihrer Wissenschaft prunkten. In Marburg lehrte auch der Naturforscher und Gegner Darwins, Wigand, der bei seiner Beerdigung (1887) aller Welt verkündet haben wollte, dass ein im Glauben seliger Naturforscher bestattet werde. In Preußen hat sich namentlich der Missionsinspektor Wangemann des Luthertums in Geschichte und Dogmatik angenommen, aber später gereizt von den separierten Lutheranern hat er sie ebenso heftig in seiner „Una sancta“ befehdet und sich sogar mit der Aufrichtigkeit des Confessors Sigismund von Brandenburg und selbst mit Friedrich Wilhelm III. versöhnt, „dem besten Lutheraner seiner Zeit“. Treitschke ist indessen von seiner Rechtfertigung des Königs nicht überzeugt worden. In Halle hat H. E. F. Guericke († 1878), nachdem er sich mit der Union versöhnt, viele Jahre ein einsames Leben geführt, während seine Lehrbücher häufige Auflagen erlebten. In seinem ingrimmigen Kampfe in der Zeitschrift für lutherische Theologie gegen die ref. Kirche hat seine geschmacklose Form sein Arbeitsgenosse Ströbel mit packender Redeweise verbessert: dieser fast der einzige konsequente Lutheraner. In Rostock lehrte F. A. Philippi76 († 1883), in seiner Glaubenslehre der bevorzugte lutherische Dogmatiker; auch der Oberkirchenrat Theodor Kliefoth in Schwerin suchte in Gottesdienstordnung und Liturgie und ebenso in exegetischen Arbeiten die Gedanken des Luthertums zu vertreten. Als er Michael Baumgarten(† 1889)77 nicht korrekt in der Lehre fand, bewirkte er dessen Entsetzung als Professor in Rostock, der nun dafür sein Leben lang den Kampf gegen das mecklenburgische Kirchenregiment führte, und auf politischem und theologischem Fechtboden auch immer wieder an seine Kränkung erinnerte. Als der vortreffliche Professor Walther († 7. Mai 1887)78 in Amerika die Prädestinationslehre der lutherischen Kirche erneuerte, fand er mit Recht, dass alle Lutheraner Deutschlands Synergisten wären und von Luther in der entscheidendsten Sache abgefallen. Alle machten ja die Gnadenwahl abhängig von einem Verhalten des Menschen. Tholuck hatte schon vorher Thomasius bezichtigt, dass das Neu-Luthertum die altlutherische Abendmahlslehre nicht mehr besitze. Die Verfassungsgedanken des Luthertums, mit denen es sich in der Gegenwart beschäftigt, sind reformiert. Warum nun der große Name? Unser Jahrhundert ist ganz eklektisch: aus allen Zeiten Gedanken und diese mit den Ideen einer sogenannten modernen Weltanschauung verbunden, als ob in dem Lauf der Äonen ein flüchtiges Jahrhundert eine besondere Weltanschauung hätte, prunke auch jedes mit einer solchen. In der letzten Zeit regt sich in dem Luthertum Deutschlands eine entschiedene Opposition gegen das führende Organ in Leipzig, welche sich um die Neue Lutherische Kirchenzeitung von Pastor von Barm sammelt: die Gedanken der Missourier dringen weiter vor mit dem guten Rechte Luthers.
61 Sein Leben vollendet 1892 in 3 Bänden.
62 Über ihn Sperl, 1890.
63 Zu seinem Ehrengedächtniss ein Wort, 1857.
64 Diese Selbstsetzung ist der Grundirrtum der ganzen neueren Theologie.
65 Über ihn Ebrard in der Conserv. Monatsschrift, Januar 1886.
66 Sein Leben von seinem Bruder Theod. H., 1874.
67 Nachgelassene Schriften nebst einem Lebensbilde von Otto Meyer, herausgegeben von M. Frommel, 1889.
68 Über ihn E. Petri, 1888.
69 Über ihn Worte der Erinnerung und des Trostes, 1888.
70 Über ihn Zöckler im Daheim 1890, Nr. 28. Theol. Briefe der Professoren Delitzsch und v. Hofmann, herausgegeben von Os. Wilh. Volk, 1891. Dalman im Nathanael VI. Jahrg., Nr. 5, eine eigene Lebensskizze von ihm, Ev. luth. Kirchenztg. 1890, Nr. 25. Ein Palmblatt aus Juda von dem Rabbiner Dr. Kaufmann, 1890. Im Englischen eine Biographie von Curtiss, 1891.
71 Erinnerungen aus vergangenen Tagen. 2. Aufl. 1891.
72 Ein Lebensabriss von ihm mit Predigten, 1885.
73 Über ihn ein Aufsatz im Reichsboten, August 1889. Ein Gedenkbüchlein von der Familie, 1888.
74 Über ihn Volbeding, 1862.
75 Über ihn Leimbach, 1875 und Grau, 1886. Dr. Vilmars und seiner Anhänger Stellung zu den wichtigsten politischen und kirchlichen Fragen, 1865.
76 Sein Leben von Schulze, 1883.
77 Über ihn aus handschriftlichem Nachlass Studt, 1891. Vortreffliche Bemerkungen in dem Buche über den Kulturkampf.
78 Über ihn Martin Günther, Concordia-Verl. 1890.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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Joschie
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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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Die evangelische Kirche in Deutschland.

8. David Friedrich Strauß und die kritische Schule.(Teil.1)

Wie wenig die angestrebte Erneuerung der kirchlichen Lehre dem allgemeinen Geiste und der
Welt der Gebildeten zusagend war, wie die Menge ganz andere Wege ging als die pietistische Wohlmeinung, bewies der große Beifall, den das Auftreten von David Friedrich Strauß hervorrief. Er ist der begabteste und gewaltigste Kritiker unseres Jahrhunderts mit glänzendem Scharfsinn, klassischer Darstellungsgabe ausgerüstet, ein großes schwäbisches Talent, in seinem Wagstück erst dann möglich als die Philosophie den stolzen Wahn in den Menschengeist geworfen, der alle Pietät vor dem überlieferten Heiligen verloren hatte: der Zögling aller Angriffe gegen den Glauben seit dem vorigen Jahrhundert: der Brennpunkt des zerstörenden Unglaubens. Zu Ludwigsburg in Württemberg am 27. Januar 1808 geboren, bezieht er mit der „Geniepromotion“ das Stift in Tübingen, diese Schule bedeutender Männer, wird 1832 dort Repetent und hält zugleich philosophische Vorlesungen an der Universität.
Im Jahre 1835 Strauß und sein Freund der Berliner Professor Vatke rühmen es frivol als ein ausgezeichnetes Weinjahr erschien von ihm „das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (4. Aufl. 1840), „in dem er alle Zweifel gegen die evangelische Geschichte zusammenfasste, mit dialektischer Virtuosität bis aufs äußerste steigerte“ und die Geschichte Jesu für einen Mythos erklärte, der nach Maßgabe des alttestamentlichen Messias Bild von dem dichtenden urchristlichen Gemeindegeist geschaffen sei. Der Eindruck, den das Buch hervorrief, war ein ungeheurer. Es verbreitete einen lähmenden Schrecken. Mancher orthodoxe Theologe wurde krank und elend. In alle Häuser drang dasselbe ein. Als es die vierte Auflage erlebte, konnte ihm der Verfasser das Zeugnis geben, dass keine Zeile über das Leben Jesu bis dahin ohne seine Anregung geschrieben sei. Die Gegenschriften bilden eine unübersehbare Literatur. Strauß antwortete 1837 in seinen Streitschriften. Er gesteht darin, dass Hegels Unterscheidung von Begriff und Vorstellung ihn dahin gebracht habe, nicht nur wie Marheineke u. a. die Vorstellung etwas abzuschäumen, sondern die Vorstellungsform zu überwinden. Er sitze auf der linken Seite der Hegelschen Schule, Göschel u. a. auf der rechten. Als er von seiner Repetentenstelle entfernt und Professoratsverweser in Ludwigsburg wurde, zog er sich bald darauf nach Stuttgart ins Privatleben zurück. In der 3. Auflage des Lebens Jesu machte er Zugeständnisse an die positive Theologie, nahm dieselben aber nachher wieder zurück. Seine Berufung nach Zürich ruft den Volksunwillen auf. Er bleibt in Schwaben und gibt sein zweites Hauptwerk: „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampf mit der modernen Wissenschaft dargestellt“ (1840-41) heraus, in dem er zeigt, dass die Geschichte des Dogmas auch seine Kritik sei und die fortschreitende Auflösung desselben beweise. Hierin überschüttet er die rechte Seite der Hegelianer mit Hohn: seine Auffassung Hegels sei die allein richtige: das Dogma ist das Produkt des idiotischen Bewusstseins und wo ein Philosoph sich Christ nennt, mag er Gründe dazu haben, Grund aber gewiss nicht. Die Hegelsche Schule zerfiel immer mehr. Über die Hegelinge hatte schon vorher Leo am glücklichsten geschrieben. In der Schrift gegen Friedrich Wilhelm IV. stellt Strauß denselben ironisch in Parallele mit dem Romantiker Julian auf dem Thron der Cäsaren. Als Abgeordneter für Ludwigsburg nimmt er im württembergischen Landtag eine konserrative Stellung ein. Er ist mit einer berühmten Sängerin unglücklich verheiratet gewesen und hat die Ehe gelöst, wie er auch einst in Zwiespalt mit seinem Vater lebte. Ein herzloser Mann nicht ohne kleinlichen Geiz. An verschiedenen Orten ging er seiner schriftstellerischen Muse nach und förderte manche ausgezeichnete geschichtliche Monographie ans Licht, wie namentlich die Vorträge über Voltaire, in vollendeter Sprache geschrieben. Als Renan sein Leben Jesu in die Welt wirft, ergreift auch Strauß das alte Thema und sieht auch die neu ausgegebene Bearbeitung des Lebens Jesu „für das Volk“ vier Auflagen erleben. Gegen die Angriffe, die er von Schenkel und Hengstenberg dafür erfährt, schleudert der schneidige Polemiker die Schrift: Die Halben und die Ganzen (1865). In einer Kritik der herausgegebenen Vorlesungen von Schleiermacher über das Leben Jesu sucht er das völlig Unhaltbare dieser Auffassung zu beweisen. Kurz vor seinem Tode hat er auch das letzte über Bord geworfen in tiefer Erbitterung in der Schrift: Der alte und der neue Glaube (11. Aufl.1881). Er soll wie ein Philosoph still und fest dem Tode ins Angesicht gesehen haben (1874) zu Ludwigsburg, doch einsam und auch mit seinem Freunde Vischer zerfallen, indem er sich eigentlich immer nur dann glücklich gefühlt hatte, wenn er seine formvollendeten, zerstörenden Bücher mit architektonischem Reize aufbaute: mit Voltaire einer der größten Frevler am Heiligtum in allen Zeiten. Seine Schriften hat sein Freund Zeller gesammelt (1876-78), derselbe und Hausrath haben sein Leben beschrieben. Auch in Vatkes Lebensbeschreibung ist viel von ihm die Rede. Ein schwäbischer Schriftsteller sagt von ihm: „In der niedersten Hütte wie im Palast der Könige war der Name Strauß auf jeder Lippe. Man hätte erwarten sollen, sein Auftreten und Wirken werde Volk und Zeit mit fortreißen. Statt dessen war es ein Glanz ohne Inhalt, dem Feldherrn fehlte das Heer. Es zeigte sich das bald deutlich schon im Jahre 1848, dessen Bewegung seiner Sache so überaus günstig zu sein schien, dass zwischen ihm und dem Volke keine innere Gemeinschaft bestand; es zeigten die damaligen Wahlen und seine damalige öffentliche Tätigkeit, dass er das Volk und die Zeit, und das Volk und die Zeit ihn nicht verstand, fast vergessen und verschollen lebte der große Denker, ein harmloser Verfasser klassisch geschriebener Lebensbilder, viele Jahre, um erst kurz vor seinem Tode noch einmal die Welt durch den Glanz seines Namens zu erhellen. Es war der Glanz, den ein berstendes Meteor ausstrahlt, wenn es von einem mächtigen Weltkörper angezogen und verschlungen wird. Denn in seinem alten und neuen Glauben fällt Strauß kopfüber, ein Erfasster, nicht ein Erfassender, dem nun aufgegangenen Gestirn der darwinischen Lehre zu, um willenlos und urteilslos daran zu zerschellen.“ Vischer hat in Stuttgart bei der abgöttisch tollen Feier seines 80jährigen Geburtstages noch einmal von dem großen lösenden Gedanken gesprochen, den Strauß in die Religionswissenschaft gebracht. Strauß war ein Schüler von Ferdinand Christian Baur in Tübingen, dem großen Kritiker und Historiker, der die Mängel von Strauß dadurch zu ersetzen suchte, dass er die Kritik der evangelischen Geschichte durch die Kritik der evangelischen Urkunden ergänzte. Der Gedanke derselben ist, dass der uranfängliche Gegensatz von Paulinismus und Petrinismus nachher durch die Erscheinung des Evangelium Johannis 180 nach Christo zur versöhnenden Einheit der Idee durchgeführt wurde. „Das Hauptargument für den späteren Ursprung unserer Evangelien bleibt immer dies, dass sie, jedes für sich und noch mehr alle zusammen, so vieles aus dem Leben Jesu auf eine Weise darstellen, wie es in der Wirklichkeit unmöglich gewesen sein kann.“ Seine beiden Grundirrtümer: der eine, dass die Apokalypse judenfreundlich sei, während sie in eben solchem Gegensatz gegen Jerusalem steht, wie das Evangelium Johannis, und der andere, dass in Gal. 2 eine Lehrdifferenz beschrieben werde, während nur von einem Irrtum der Praxis die Rede ist, offenbaren die Haltlosigkeit der ganzen das N. T. in lauter Tendenzschriften auflösenden Hypothese. Der Sieg des paulinischen Geistes war schon am Schluss des ersten Jahrhunderts ein allgemeiner: Petrus in seinem ersten Briefe ein Schüler Pauli. Baur, zuerst ein Schüler Schleiermachers, dann dem logischen Schematismus der Hegelschen Schule verfallen mit ihren auseinandergehenden und dann wieder sich in einem höheren Begriff zusammenschließenden Gegensätzen, hat große dogmengeschichtliche Werke geliefert, dann gegen Möhlers Angriff den Protestantismus verteidigt und zuletzt sich ganz in nt. Kritik vertieft: als echte Schriften bleiben nur die Offenbarung Johannis und die vier größeren Briefe des Paulus stehen. Das Werk: Der Apostel Paulus (2. Aufl. 1867) fasste die Ansichten des rastlosen Gelehrten zusammen, ebenso das spätere: Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrh. (3. Aufl. 1863). Dazu sind noch, von ihm selbst besorgt oder nach seinem Tode herausgegeben, andere kirchengeschichtliche Arbeiten von großer Verständlichkeit und Klarheit gekommen. Baur gründete die Tübinger Schule, die in Zeller, Schwegler, Köstlin, Hilgenfeld ihre Vertreter fand und noch bis in die Gegenwart Männer wie Holsten, Holtzmann und Keim wesentlich wenn auch modifiziert bestimmt hat. Baur und Strauß wollen voraussetzungslose Kritiker sein, aber ihr Postulat ist die Voraussetzung der Unmöglichkeit des Wunders, obwohl dann doch wieder die Bekehrung Pauli ein Wunder sein soll, nur kein echtes. Baur stirbt 1860. In seiner äußeren Erscheinung ein schwerer schwäbischer Mann: eine große von hochaufsteigenden Haaren umfasste klare Stirn ruhte auf einem Gesichte von kalter Objektivität und einem Ausdruck der Augen, der nur den äußeren Schein der Dinge schematisch und logisch fasste. Ein kalter Intellektualismus. Wenn bei einer Disputation im großen Speisesaal des Stifts einer seiner Schüler soweit ging, das Selbstbewusstsein Jesu mit dem des Muhammed in Parallele zu stellen, so konnte er sich doch langsam und gewaltig von seinem Sitze auf dem „Herrentrapp“ erheben, um dem kecken Disputanten einen drohenden Blick zuzuwerfen. „Meine Ansichten“, äußerte er, „kann man nicht auf der Kanzel mitteilen“, während doch die Wahrheit von den Dächern verkündet werden soll. Die Weise dieser Kritik hat die Methode der Behandlung des N. T. geschärft; auch die konservativen Theologen namentlich in der modernen Liebhaberei für nt. Lehrbegriffe bestimmt, aber nichts Gewisses gewonnen, sondern nur eine namenlose Verwirrung in die Einfachheit und Einfalt der nt. Schriften gebracht. Von Baur und Strauß ist ein unübersehbares Unglück über die evang. Kirche aller Länder gekommen; es war der giftige Mehltau, der überall auf die Erweckung fiel. Henke aber hat in seiner Kirchengeschichte von den Gaben des Herrn in Baur geredet. So völlig frivol sind wir geworden.79 Bei der hundertjährigen Feier des Geburtstags von Baur sagte Weizsäcker: Es ist Recht und Pflicht, ihn zu feiern. So begräbt sich der Protestantismus mit eigenen Händen. Die in Flor stehende Kritik steigerte Bruno Bauer ins Maßlose und L. Feuerbach erregte die Menge mit der Behauptung, dass die Religion nur die Drehkrankheit des selbstsüchtigen Menschenherzens sei und der Mensch das sei, was er esse. Im Grunde weiß die Unvernunft auch nicht mehr. Bald erhob sich nun mit dem jungen Deutschland das spottende Judentum, das den armen Vetter Christus beklagte und seine vergifteten Lieder sang: bis in den Moment des Sterbens voll Spott über den Gott, dessen Geschäft es ist, Sünden zu vergeben. Wir haben hier noch eine Anzahl kritischer Theologen zu erwähnen. Es ist eine Reihe von gelehrten und scharfsinnigen Kräften, die an der Kritik sich meistens selbst verzehrten. In Berlin lehrte ein Freund von Schleiermacher, W. M. L. de Wette.80 Als er an die Mutter Sands, des Mörders von Kotzebue, ein Trost schreiben schickte, brachte er die ganze theol. Fakultät in die Gefahr der Absetzung, wurde seines Lehramts enthoben, ging dann nach Weimar und 1822 als Professor nach Basel, wo er bis 1849 eine Anzahl geschätzter Lehrbücher für das A. T. und ein exegetisches Handbuch zum N. T. herausgab. Auch seine Übersetzung der Bibel fand vielen Beifall. Sein kritischer Grundsatz war der: dem gebildeten Verstand muss die Unechtheit des Pentateuch von vornherein klar sein. Die Himmelfahrt Christi war ihm ein Wunder, das heutzutage kaum noch dem Rohesten zusagen kann. Er klagte:
Ich fiel in eine wirre Zeit,
Die Glaubenseintracht war vernichtet;
Ich mischte mich mit in den Streit,
Umsonst, ich hab’ ihn nicht geschlichtet.
79 Worte der Erinnerung an ihn von s. Collegen, 1861. Festrede von Weizsäcker, 1892. Zeller in der Nationalztg., Juni 1892.
80 Über ihn Schenkel, 1849, Hagenbach, 1850, Lücke, Stud. u. Krit., 1850, Wiegand, 1879, und Stähelin, 1880.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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8. David Friedrich Strauß und die kritische Schule.(Teil.2)

Im Wesentlichen teilte seine Ansichten der durch klassische Kenntnisse der Sprache und einen bedeutenden Psalmenkommentar bekannte, in Marburg und Halle wirkende Hermann Hupfeld81 († 1866), der sich wunderte, dass Jesaja 53 so merkwürdig mit Jesu Leiden stimmte und der in den Quellen der Genesis einen Elohisten herausschälte, ehrwürdig durch Alter und etwas langweilig, vor dem mehr unterhaltenden Jehovisten entstanden: eine Idee, die nachher Wellhausen zerstörte. Da er in der Hochströmung der Richtung, die Hengstenberg leitete und den er fanatisch bekämpfte, sein Dozentenamt führte, war sein Alter einsam und nicht ohne Bitterkeit, denn er sah überall „die Grimassen der Welt“. Er hat sich selbst am besten charakterisiert in der Vorrede zu seinem Psalmenkommentar. Eine merkwürdige Erscheinung auf hohem Kothurn mit infalliblen Aussprüchen schritt durch die Zeit G. H. A. Ewald in Göttingen, ein berühmter Orientalist, der mit scharfer Kritik warme Begeisterung verband, aber weniger gefiel, wenn eitlen Reichstag auf Seiten der welfischen Opposition apostrophierte († 1875). Die Tübinger Schule setzte sich fort in Hilgenfeld, Volkmar und Keim und wiederholte bandwurmartig und ermüdend die Gedanken vom Judenchristentum und Heidenchristentum, als ob darin das ganze Geheimnis des apostolischen Zeitalters bestände. Keim in Zürich und Gießen versuchte sich in üppiger Sprache an dem Leben Jesu, das nach seinem einsamen Tode (1878) auch zur Vergessenheit herabstieg. Offenbar hat das Gehirnleiden, dem er früh erlag, auf die Hervorbringung seiner Bücher eingewirkt. Den Vorwurf, dass die Evangelien Tendenzschriften wären, ließ man allmählich mehr fallen. Die minutiöse Detailforschung und kritische Kleinklauberei nahm aber weiter so zu, dass die Systeme über die Entstehung der Synoptiker sich gegenseitig erstickten und die akademische Jugend dabei verödete. Sie kann sich nicht mehr zurechtfinden und steht der Schrift als einem rätselhaften Mosaik gegenüber, dessen geschickte Zusammen Geflicktheit selbst die Weisesten nicht auffinden können. Auch die, welche die Tübinger Behauptungen nicht annahmen, übten eine pietätlose Behandlung der Schrift, die in ihrer literarischen Entstehung und Form wie ein anderes menschliches Buch behandelt wurde. Die Vernichtung der Autorität der Bibel ist die Saat vieler akademischer Lehrstühle. Stolze Apologeten suchten sich zu helfen, indem sie die alles beweisenden und dadurch kleinen Apologeten in den Schatten stellten: sie selbst aber waren in dem treibenden Fluss einer Bewegung, die den Zweifel in die Herzen aller geworfen hatte. Als Bernhard Weiß in Berlin die Forschungen über das Leben Jesu zu einem gewissen Abschluss brachte, konnte er auch ein Meerwandeln Jesu und eine schöpferische Brotvermehrung nicht glauben und seine ganze kritische Methode war, obwohl scheinbar konservativ, ebenso subjektiv wie die seiner Gegner. Das Töchterlein des Jairus war schon vom Tode erwacht, als Jesus es auferweckte: so günstig lagen für ihn die Verhältnisse. Weiter hat noch Carl Weizsäcker in einem großen Werke über das apostolische Zeitalter (2. Aufl. 1892) in schrankenloser Willkür die Evangelien und die Apostelgeschichte behandelt, von welcher letzteren doch in beschämender Weise Ranke sagt, dass sie gute Kunde mit einfacher Darstellung verbinde. Nach W. ist Jesus in einem misslungenen Wagnis umgekommen und sein Leib im Grabe verwest. Beyschlag erzählt uns in seinem Leben Jesu, dass Jesus in Kana sich als ein glücklicher Hypnotiker erwiesen und bei dem Speisungswunder in geschickter Weise vorhandene Vorräte benutzt habe. Pfleiderer wusste in seinem Urchristentum, dass die Bekehrung Paulus die Vision, nicht die Vision die Bekehrung hervorgerufen. Das sind doch nur Erscheinungen der fortschreitenden Verwesung des Protestantismus. Im Allgemeinen herrscht auf nt. Gebiet Erschöpfung: man hat es zu keinem einzigen feststehenden Resultat gebracht. In dem nicht apostolischen Ursprung des 2. Petrusbriefes glaubte die Kritik doch noch etwas in den Händen zu haben, aber der scharfsinnige Theodor Zahn hält immer noch an der Echtheit desselben fest. Das 2. Kap. des 2. Petrusbriefes schildert übrigens trefflich die Theologen der Kritik. Das heilige Leiden, das allein die Schrift beweist, fehlt überall. 1885 gedachte man an die Aufhebung des Ediktes von Nantes. Was ist der traurigste Zug im Charakter der Gegenwart? Es hat sich ihr die strafende und züchtigende Liebe Gottes entzogen. Wir sind weder die Wahrheit wert noch die Leiden um derselben. Und wenn Gott eine so blühende Kirche wie die französisch-reformierte durch ein furchtbares Gericht wegwischte, was wird er dann von unserem durch Unglauben verdorbenen Gesehlechte wissen? Eine kurze Episode der Refuge mit Leiden und Bekenntnis ist mehr wert, als dies ganze Jahrhundert.
Lebhafter ist jetzt die kritische Bewegung auf dem Boden des A. T. Julius Wellhausen, erst Professor der Theologie in Greifswalde, dann resignierend Professor der Orientalistik in Halle, jetzt in Göttingen, nahm mit Scharfsinn die Hypothese von Reuß, Vatke, Graf auf, dass ein sogenannter Jehovist etwa um 800 entstanden, dann das Deuteronomium um 621, aus einem priesterlichen und prophetischen Komplott hervorgegangen, doch später von dem Mithelfer Jeremias selbst als eine vom Lügengriffel der Schreiber geschriebene Lüge bezeichnet, die Anfänge des Pentateuch gebildet, ein Teil der wichtigsten kultischen Gesetze aber als Priestercodex in und nach dem Exil gemacht sei, indem Esra endlich damit herausrückte.82 Denn noch einmal habe sich nach dem klaren Zeugnis der Propheten der israelitische Geist in tiefsinnige aber auch von hierarchischen Tendenzen durchzogene Symbolik hineingelebt. Der Hochmut lehrt hier, dass alle Apologetik nur geschehe, ut aliquid fecisse videatur. Dies alles in burschikosem Ton. W. bezeichnet seine Stellung mit den Sätzen: „Die israelitische Religion hat keine historischen Heilstatsachen, sondern die Natur zur Grundlage; das Verhältnis Jahves zu Israel war von Haus aus ein natürliches; was man so eigentlich für das Theokratische in der Geschichte Israels ausgibt, ist durch Bearbeitung hineingebracht“. Gewaltstreiche lösen zuletzt alle Schwierigkeiten. Eine Anzahl von lärmenden Gelehrten hat sich ihm angeschlossen; namentlich glänzt Gießen in hämischem Spott über alle Apologetik. Sehr bald hatte der neue Wahn das A.T. in ein Chaos verwandelt. Ein heilloser Schwindel von Hypothesen blüht. Cornill in Königsberg musste die Torheit in ein spaßhaftes Kompendium zusammenfassen. Er ist schon bei 3 J’s. und einem Rj. in der Genesis angekommen. Siegfried in Jena nannte diese Komödie die Höhe der Wissenschaft. Die gläubige Gemeine wird bei dem Zeugnis der jüdischen Kirche, des Herrn und der Apostel bleiben. Jene unreinen Geister aber werden das heiligste Problem nie lösen. Die Untersuchungen in diesen Fragen haben eine solche Zerteilung in lauter minutiöse Fündlein und Quellen bewirkt, dass alle Sicherheit gegenüber dem A. T. zerbröckelt ist und die akademische Jugend in der Wildnis der Verwirrung sich ergeht. Der Blick auf die Einleitungswissenschaften gehört zu den trostlosesten der Gegenwart. Noch immer werden ganze Theologengeschlechter von den „untersuchenden“ Professoren vergiftet. Mit der Pflege der Kritik auf den Universitäten hängt es auch zusammen, dass unser Jahrhundert von einem ununterbrochenen, oft in Massenprotesten auftretenden Kampf der Provinzialkirchen mit den theologischen Fakultäten durchzogen ist. Letztere eifern dann für ihre Lehrfreiheit, auch wo sie Lehrfrechheit geworden ist und flüchten sich unter den Schutz des neutralen Staates gegen ihre eigenen Zöglinge, die sich für die Bedürfnisse ihres Amtes von den Lehrern verlassen sehen. Für Engländer und Amerikaner ein unbegreifliches Schauspiel: die Kirche gegen ihre eigenen Lehrstätten voll Misstrauen und diese um sich besorgt selbst bei den Wünschen der Synoden, die sie doch sonst so fördern wollen. Ein Riss bis zur Karikatur, wenn die Fakultäten sich vornehm gegen die Kirche auf die Höhe der Wissenschaft stellen. Probst von der Goltz sprach das klassische Wort aus: der Klerus darf nicht entscheidend an der Berufung der Professoren mitwirken, denn er befindet sich nicht immer in Übereinstimmung mit der Wissenschafts-Theologie. Das reine Gegenteil von der geschlossenen Erziehung des römischen Klerus, der Einheit von Bischof und Akademie oder Seminar.83 Wäre die Kritik ein Erwachen des Wahrheitssinnes, den auch die scharfsinnigsten Alten wie Calvin nicht besaßen, wären ihre Resultate Aufhellungen zu Gunsten der Wahrheit, so hätte sie erbauend und erleuchtend gewirkt, aber ihr Weg ist der Ruin der Kirche und sie selbst überall eine Tochter des Abfalles von Gott. Daher bindet sie sich auch selbst mit den nächtlichen Stricken ihres eigenen Wirrwarrs,84 ihrer Hypothesen und tausendfachen Fragment lein und Urkunden. Die Krankheit ist aber so groß, dass von ihr ein Wort aus dem geschmähtesten Buche gilt: es war kein Heilen mehr. Das verbürgt auch die stumpfe Gleichgültigkeit, so dass niemand mehr erschrickt, wenn das heilige Buch zerschnitten und in das Kaminfeuer der winterlich erstorbenen Kirche geworfen wird. Das Schriftprinzip des Protestantismus ist ihm durch Missbrauch zum Fluch geworden. Gott hat auf den Eifer der Kritik mit dem Gericht der Verödung geantwortet. Die Kirche der Reformation ist am Schluss des Jahrhunderts allen ihren Feinden erlegen und hat den letzten Einfluss auf das Volks leben verloren.
81 Über ihn Riehm, 1867.
82 Vortreffliche Aufsätze über die Frage im Ev. Kirchen- und Schulblatt für Württemberg von Oehler und Färber, 1885 und 1886. Vgl. auch m. Schrift über das Deuteronomium, 1890.
83 v. Nathusius, Wissenschaft und Kritik im Streit um die theol. Facultäten. Ztfr. d. chr. Volksl. Bd. XI. Heft 8.
84 Zöckler: Wider die unfehlbare Wissenschaft. S. 36 ff., 1887.
85 Eine Lebensskizze von ihm hat Rudloff gegeben, 1887.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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9. Der Protestantenverein.

Literatur: Schenkel, der deutsche Protestantenverein u. s. Bedeutung in der Gegenwart, 2. Aufl., 1871. Bluntschli, Denkwürdiges aus meinem Leben, 1884. Richard Rothes Leben von Nippold, 1873-74. Verhandl. der Protestantentage in 16 Bänden. Die Arbeit des Protestantenvereins während der letzten 25 Jahre von Hoenig, 1888.

Auf einer halbjährlich in Durlach in Baden gehaltenen Versammlung wurde im August 1863 der Vorschlag gemacht, regelmäßig wiederkehrende Versammlungen solcher deutschen Protestanten anzuregen, welche in der orthodoxen kirchlichen Restauration nur den Weg sehen, um das deutsche Volk immer mehr dem Christentum zu entfremden. Nach einer Vorversammlung in Frankfurt geschah die wirkliche Gründung des Vereins am 7. und 8. Juni 1865 zu Eisenach, wo sich 300 Theologen und 200 Laien zusammenfanden, um die begeisternde Rede des „Heiligen des Vereines“ Richard Rothes anzuhören, der die Geistlichen anklagte, dass sie nicht mit der Bildung ihrer Zeit Frieden machten und so dem überall unbewusst waltenden Christentum entgegen kämen. Riefen schon die Thesen des Generalsuperintendenten K. Schwarz85 aus Gotha über die protestantische Lehrfreiheit Gegensätze hervor, die anfangs noch überwunden wurden, so war doch nachher für eine orthodoxe Rechte kein Platz mehr in dem Verein und trennten sich die also Gesonnenen von ihm. Er organisierte sich in Orts- und Bezirksvereinen, stellte einen engeren und weiteren Ausschuss an die Spitze und hielt Deutschland durchwandernd regelmäßige Protestantentage ab, bei denen auch in großen und stark liberal gefärbten Städten wie Berlin und Hamburg die Teilnahme immer geringer, die Zuhörer immer spärlicher wurden. Am Schluss der badischen Synode von 1881 starb plötzlich an einem Schlage, als er ging den Großherzog zu begrüßen und nachdem er jubelnd ein Schriftwort ausgerufen, das auf seine Arbeit keine Beziehung hatte, der berühmte Leiter der Protestantentage, der Rechtslehrer Bluntschli. Er hatte sich nach den Mitteilungen aus seinem Leben ein Gemenge merkwürdiger Ideen gebildet, in denen selbst die zweite Sendung eines Sohnes Gottes erhofft wurde.
Auf einer halbjährlich in Durlach in Baden gehaltenen Versammlung wurde im August 1863 der Vorschlag gemacht, regelmäßig wiederkehrende Versammlungen solcher deutschen Protestanten anzuregen, welche in der orthodoxen kirchlichen Restauration nur den Weg sehen, um das deutsche Volk immer mehr dem Christentum zu entfremden. Nach einer Vorversammlung in Frankfurt geschah die wirkliche Gründung des Vereins am 7. und 8. Juni 1865 zu Eisenach, wo sich 300 Theologen und 200 Laien zusammenfanden, um die begeisternde Rede des „Heiligen des Vereines“ Richard Rothes anzuhören, der die Geistlichen anklagte, dass sie nicht mit der Bildung ihrer Zeit Frieden machten und so dem überall unbewusst waltenden Christentum entgegen kämen. Riefen schon die Thesen des Generalsuperintendenten K. Schwarz85 aus Gotha über die protestantische Lehrfreiheit Gegensätze hervor, die anfangs noch überwunden wurden, so war doch nachher für eine orthodoxe Rechte kein Platz mehr in dem Verein und trennten sich die also Gesonnenen von ihm. Er organisierte sich in Orts- und Bezirksvereinen, stellte einen engeren und weiteren Ausschuss an die Spitze und hielt Deutschland durchwandernd regelmäßige Protestantentage ab, bei denen auch in großen und stark liberal gefärbten Städten wie Berlin und Hamburg die Teilnahme immer geringer, die Zuhörer immer spärlicher wurden. Am Schluss der badischen Synode von 1881 starb plötzlich an einem Schlage, als er ging den Großherzog zu begrüßen und nachdem er jubelnd ein Schriftwort ausgerufen, das auf seine Arbeit keine Beziehung hatte, der berühmte Leiter der Protestantentage, der Rechtslehrer Bluntschli. Er hatte sich nach den Mitteilungen aus seinem Leben ein Gemenge merkwürdiger Ideen gebildet, in denen selbst die zweite Sendung eines Sohnes Gottes erhofft wurde. Aus der Schule des Vereins tauchte das „Charakterbild Jesu“ von Professor Schenkel in Heidelberg auf († 1885), das nur ein Spiegelbild seiner eigenen Ingrimmigkeit gegen alles orthodoxe Schriftgelehrtentum war, zu der er sich aus pietistischen Anfängen allmählich im Drange seines leidenschaftlichen Ehrgeizes entwickelt hatte. Allgemeine Proteste erhoben sich gegen dasselbe, waren aber unnötig. Anfangs gaben die geistvollen Bemühungen und Apologien von Rothe dem Verein einen gewissen Glanz, aber das Misstrauen der Kirchenleitungen, die heftige Polemik gegen alles kirchliche Bekenntnis bis zum frivolsten Spott über das Apostolikum, welche das mit gelehrten Kräften unterstützte Organ desselben: die protestantische Kirchenzeitung und ihre Freunde führten, die Unfruchtbarkeit an allen Werken innerer und äußerer Mission, die gänzliche Gleichgültigkeit des Volkes auch gegenüber diesen Zugeständnissen an seinen Unglauben brachten denselben immer mehr in Missachtung und so blieben auch die Hilfeleistungen, die derselbe dem Staate gegen Rom leistete, gebrochen und wenig anerkannt. In einem „Andachtsbuch“, in Flugblättern suchte er in das Volk einzudringen, aber kaum hinausgehend über die Moral und Kritik des Rationalismus, wenn auch mit Bedürfnissen für die Lehre von der Versöhnung, hat er mit seinen oft wilden Agitationen nur die religiöse Stumpfheit des Volkes vermehrt, das auch von dieser Seite nur theologischen Hader erblickte. Neuerdings hat er einen Missionsverein gegründet, aber mit wenig durchsichtiger Absicht, wenn auch nicht ohne Erfolg. Pfarrer Buss in Glarus, der sich dafür bemüht, wurde in einem Heidelberger Jubiläumsscherz gleich zum Doktor der Theologie gemacht. Unter seinen theologischen Führern sind noch Krause,86 Sydow,87 Lisco zu nennen; in Bremen ist der Schweif ganz kotig geworden; von Laien der Kammergerichtsrat Schröder, der aber nicht mehr der Berliner Kreissynode präsidiert. In der preußischen Generalsynode schwach vertreten wird die Stimme dieser Protestanten nur noch wenig gehört, was sie dann mit Zorn über die Berliner Hofprediger vergalten. Als 1885 in der Karwoche der Generalsuperintendent Karl Schwarz in Gotha starb, stand am Sonnabend, wo Christus im Grabe ruhte, die Geistlichkeit des Landes im Amtsornat am Feuerofen. Bei dem heuchlerischen Friedensschluss mit Rom 1886 hat der Verein einen Aufruf an das deutsche Volk erlassen. Er gefiel damit keiner Partei und ist wohl mit diesem „dumpfen Schlag auf die Kulturpauke“ aus dem öffentlichen Leben für immer abgetreten. Auf dem Lästertag in Wiesbaden avancierten noch die Hofprediger zu Hofschneidern. Die Frivolität dieser Kämpfer gegen Rom stand auf der Höhe: sie ist nun allen offenbar geworden. Als Hoenig auf 25 Jahre der Tätigkeit zurückblickte, meinte er, dass der Verein die Gemeinden gar nicht gekannt hätte. Er hat nun selbst bekannt, dass er nichts fertig gebracht: nur eine Vorfrucht des Sozialismus.88 Die angesehensten Theologen dieser theologischen Richtung sind Richard Rothe und Karl v. Hase. Ersterer, am 28. Januar 1799 in Posen geboren, ward 1823 preußischer Gesandtschaftsprediger in Rom, dann Professor am Predigerseminar in Wittenberg und 1832 zweiter Direktor und Ephorus dieser Anstalt, 1837 erster Professor in Heidelberg, 1849 in derselben Eigenschaft in Bonn und von 1854-1867 wieder in Heidelberg, wo er am 20. August stirbt. Man hat ihn den gedankenreichsten und scharfsinnigsten Theologen der Neuzeit genannt, keineswegs aber war er nach seinen praktischen Wirkungen der bedeutendste, vielmehr in seinen letzten Lebensjahren auch unter den Gebildeten sich einsam und verlassen fühlend, nach Stille, wenn auch nicht nach Ruhe verlangend, um seine architektonisch hochstrebenden, eisig kalten und eisig spitzigen Spekulationen aufbauen zu können, in denen er das Wesen Gottes und das Wesen des Menschen dialektisch und theosophisch in Klarheit der Rede begreifen wollte und konnte. In unerhörter Weise die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen zum Prinzip und Wert eines moralischen Prozesses machend, in dem der Mensch mit scheinbar wenig notwendiger Mithilfe der Gnade sich aus sich selbst in langsamer Entwicklung vervollkommnet. Der reinste und lauterste Gegensatz der paulinischen und lutherischen Wahrheit, ein System voll riesiger, geistiger Vermessenheit, in dem sich noch einmal der menschenverherrlichende Geist des ganzen Jahrhunderts zusammenfasste, jetzt schon durch die neueste Theologie als nicht geziemende metaphysische Betrachtungen des „Dinges an sich“ zu den Toten gelegt. Es ist derselbe stolze Wahn auf protestantischer Seite wie die Unfehlbarkeitserklärung auf römischer. Denn „Ihr werdet sein wie Gott“ bleibt die Signatur unserer Tage. Die dogmatische Spekulation stand auf der Höhe: sie sollte von derselben jählings herabstürzen. Rothe, anfangs pietistisch gefärbt, dann von dem Pietismus unbefriedigt, mehr spekulativ und moralisch gerichtet fand sich zuletzt in der Gesellschaft des Protestantenvereins, die ihm eben so wenig ganz zusagte, wie sein Kollege Schenkel, der doch die ihm fehlende agitatorische Seite ersetzen sollte. Sein Hauptwerk ist die viel angestaunte „theologische Ethik“ (2.Aufl. 1869-71). Die von ihm verteidigte Wahlfreiheit des menschlichen Willens, die Bestimmung aus sittlicher Indifferenz zu sittlicher Vollkommenheit ist auch dialektisch untersucht ein Widersinn.89 Nach seinem Tode erschienen viele seiner Vorlesungen und Predigten. Sein ihn bewundernder Historiker ist Professor Nippold in Jena. Mit besonderer Teilnahme wendet sich stets auch der Positive zu Karl v. Hase,90 dem Nestor protestantischer Kirchengeschichtsschreibung, diesem bis ins 90. Jahr tätigen mit der besten und umsichtigsten Kunde in rätselhaft packender, eigenartiger, unnachahmlicher Schreibekunst ausgezeichneten Gelehrten. Seit 1830 lehrte er in Jena als der Theologe nicht allein Thüringens; einst ein Gegner des Generalsuperintendenten Röhr, der die letzten krampfhaften Versuche machte, den alten Rationalismus in seiner Predigerbibliothek zu retten, ist er selbst nicht über einen ästhetischen Rationalismus hinausgekommen, der mit dem Christentum, das in seinem Anfang, Entwicklung und Vollendung Wunder und Weissagung ist, in feinsinniger, überall Verständnis suchender und ahnender Weise beschäftigt, dieses Wunder und diese Weissagung bestreitet, auch wo sie auf den unzweideutigen Zeugnissen beruhen. Vorsichtig und weise genug, um der negativen Kritik nicht überall zu folgen, bleibt er doch in einem Gesetz des geschichtlichen Werdens stehen, das weder die Zeugnisse der Schrift noch die Geheimnisse des Glaubens erklärt. Ein Geschichtsschreiber, der den tiefsten Pulsschlag der Kirchengeschichte: das Wunder des Glaubens an sich selbst nicht erfahren, obwohl von fesselndem Reiz, den feiner, zuweilen auch boshafter Humor umspielt. „Immer der Alte“, sagte mit Recht Hengstenberg. Bezeichnend für ihn ist es, wenn er in der von ihm aufgebrachten neuen und Unheils vollen Disziplin des Lebens Jesu Jesus und Judas als zwei tatkräftige Charaktere bezeichnet. Von ihm haben wir das bedeutendste Buch dieses Jahrhunderts in dem Rahmen seiner inneren Beschränkung: Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche (4. Aufl. 1878). Ferner sind von ihm weltbekannt sein „Hutterus redivivus“ in 12 Auflagen und seine Kirchengeschichte. Lebensheiter bis zuletzt hat er am Spätabend noch eine ausführliche Kirchengeschichte aufgrund akademischer Vorlesungen ausgehen, lassen.91 Berühmt sind auch seine meisterhaft geformten kleinen Essays. Hase hat einmal tapfer gegen Baur die Authentie des Ev. Johannis verteidigt, doch zuletzt einsam in dem schreienden Chor der Freisinnigen hat er einen Jünger erdichtet, der die Erinnerungen des Meisters niedergeschrieben. Benders Werk über die Religion hat er in seinem hohen Alter ernst und sinnvoll genannt. Ob auch ihm alle Religion zur Illusion geworden und so seine Ideale geendet? In den Annalen seines Lebens schaut er durchwärmt von der Sonne und Schönheit des vielbesuchten Italiens mit vergnügtem Frohsinn auf sein arbeitsreiches Leben zurück. Hase ist nur mit Schleiermacher, Müller, Tholuck und Rothe ein Beweis, dass es Gott unserem Jahrhundert nicht gegeben hat, Luthers Glauben in wahrer Angst des Gewissens in seiner vollen Lauterkeit wieder zu behaupten. Hase † am 3. Jan. 1890. Nach seinem Tode erschienen seine gesammelten Werke in 12 Bänden.92 Hierher ist auch Richard Adelbert Lipsius in Jena († 1892) zu stellen. Sein Hauptwerk: Lehrbuch der evang.
prot. Dogmatik. 2. Aufl. 1879.
85 Eine Lebensskizze von ihm hat Rudloff gegeben, 1887.
86 Über ihn Späth, 1873.
87 Sein Leben von Marie Sydow, 1885.
88 Vergl. Th. Franke, ein Laienzeugniss über 25 Jahre Protestantenverein, 1889.
89 Vergl. die Wahlfreiheit des Willens, in ihrer Nichtigkeit dargelegt von Waldemar Meyer, 1886.
90 Ideale und Irrthümer, Jugenderinnerungen, 1873. Erinnerungen an Italien in Briefen an die künftige Geliebte in der Gesamtausgabe seiner Werke, Bd. XI, 1. Halbbd. 1890.
91 Angefangen (fortgesetzt von G. Krüger.)
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10. Die Erneuerung des Rationalismus.

Aus der vielen Literatur nur: Thikötter, Darstellung und Beurtheilung der Theologie Albrecht Ritschls, 1883. Heer, der Religionsbegriff A. Ritschls, 1884. Vom Meister selbst: Theologie und Metaphysik, 1883. Haug, Darstellung und Beurtheilung der A. Ritschlschen Theologie, 1885. Stählin, Kant, Lotze, Albr. Ritschl, 1888. Schriften von Lipsius, Pfleiderer, Frank etc.

Wie wenig die ganze dogmengeschichtliche Entwicklung unseres Jahrhunderts den Rationalismus überwunden hat, wie alles nur schwache Versuche waren, die gegen ihn die Wahrheit der Reformation erneuern wollten, beweist nicht nur auf philosophischem, sondern auch auf theologischem Gebiete die Rückkehr zu Kant, der als der wahre und einzige Philosoph aufs neue gepriesen und studiert wurde. „Zurück zu Kant“.93 Nachdem von allen stolzen Gebilden der Philosophie nur ein Aschenhaufen übrig geblieben war, nachdem die vielgerühmte „gläubige Spekulation“ so wenig eine notwendige Entwicklung gebracht hatte, dass sie vielmehr immer eine geschmeidige Buhlerin des Spinozismus war94 und mit unreinem Schmuck geziert hatte, was in sich selbst rein und gewiss ist,95 frug man sich in aller Bescheidenheit, ob der Mensch überhaupt etwas erkennen könne. Man wollte wieder nüchtern werden. Es ist Albrecht Ritschl, Sohn eines pommerschen evangelischen Bischofs, der seit 1864 Professor und Konsistorialrat in Göttingen, nachdem er anfangs der Schule Baurs angehört, dann dieselbe bekämpft, sich später in dem großen Werke: „die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (3 Bde. 2. Auflage 1884) und in seinen geschichtlichen Studien über den reformierten und lutherischen Pietismus, die Kantischen Grundlagen aneignete, um auf ihnen ein von Scharfsinn und hervorragender Gelehrsamkeit getragenes System aufzubauen, in dem nach seinen praktischen, das Leben bestimmenden Gedanken nichts übrig blieb als die treue Berufserfüllung in dem für jeden angewiesenen Kreis, geheiligt von dem Glauben an die Providenz Gottes, der uns schon in sich ohne einen genugtuenden Tod des Mittlers Vergebung für die in Unwissenheit begangenen Sünden entgegenbringt. Dieser geringe vom Rationalismus nicht verschiedene moralische Ertrag ruht auf einer weitschichtigen, in schwer verständlicher, wuchtig polemischer Sprache, ein rechtes Gelehrtenkauderwelsch, sich äußernden Theologie, die auf der einen Seite energisch und klar die reformatorische Wahrheit vertritt, dass Gott nur in Christo sich offenbare und dass alle metaphysischen Spekulationen über das Wesen Gottes an sich unfruchtbar und gefährlich seien, dass alles was die Schrift von Gott und Christo sagt, zum Gebrauch der Gemeine geschrieben sei, auf der anderen Seite aber von dieser Regel den Gebrauch macht, dass, weil wir alle Dinge nur nach unserer Empfindung von ihnen beurteilen können, wir weder von Christi Persönlichkeit, noch den Tatsachen seines Heiles, noch seiner jetzigen Beziehung zur Gemeine etwas Bestimmtes aussagen können. Die von ihm ausgegangenen Wirkungen sind für uns nur in der von ihm gestifteten und von seinen Erinnerungen belebten christlichen Gemeine vorhanden. Auf diesem Wege hat Ritschl die Lehre von der Präexistenz Christi, seinem sühnenden Opfertode, seinem persönlichen Regiment der Kirche und dem mit ihm fortbestehenden lebendigen Verkehre des einzelnen Gläubigen verloren. Christus eine Größe der Vergangenheit, mit der kein unmittelbares persönliches Verhältnis stattfinden kann, weil dies mystische Schwärmerei wäre. Ein System ohne die Schrift und über der Schrift, in der auch Paulus wesentliche Irrtümer hat und Johannes mechanische Begriffe besitzt. Dabei die Verlegenheit, dem Protestantismus ein dauerndes Recht gegen die kath.Stufe des Christentums zu sichern. Die Verwerfung der metaphysischen Seinsurteile führt zu religiösen Werturteilen, die rein subjektiv aufgefasst werden, da auch die ersten christlichen Gemeinen in denselben Falsches haben. Die Wahrheiten und Tatsachen des Christentums werden wie andere Erfahrungen in Phänomene des subjektiven Bewusstseins oder in Akte des menschlichen Willens umgesetzt. Gott ist unerreichbar fern, ohne Zorn und Mitleid, beherrscht von einem starren, ewig unwandelbaren Liebeswillen: Christus der Offenbarer dieses Liebeswillens, ein vorbildlicher Mensch, treu bis in den Tod, der heilige Geist die intellektuelle, moralische Kraft der Gemeine, bei dem Menschen sein Wille das einzig Reale und Entscheidende, vielgeschäftig in eigener Kraft, herrschend über die Welt. Religion – Selbstbehauptung des Menschen gegenüber der Welt mit Hilfe Gottes. Gott ein Mittel zu diesem Zwecke. Ein rationalistischer Skeptizismus und ein pelagianischer Moralismus, vergeblich in handgreiflicher Täuschung mit den reformatorischen Wahrheiten geschmückt, mit dem fadenscheinigen Mäntelchen des Luthertums: das hellste Zeichen der völligen Erschöpfung und Verarmung des Protestantismus, der am Ende dieses Jahrhunderts aufs neue nicht mehr weiß als das, was das niedere Volk immer wusste: Tue Recht und scheue niemand. Eine Verfälschung von Schrift, Reformation und Geschichte in Kantianismus. Nach dem Wahn des „Spekulativen“ stellt man wieder die Forderung des „Sittlichen“ auf: für ein schuldbeladenes Gewissen von noch größerer Qual und Täuschung. Ritschl war ein gewalttätiger Mensch, der alles zertrat; wenn er tot wäre, so meinte er, müsse man sein böses Maul noch besonders totschlagen. Diese neueste Theologie hat eine Anzahl von sich gegenseitig lobenden und äußerst hochfahrenden Schülern in Marburg, Bonn, Tübingen, Göttingen, Gießen, Kiel und Berlin, doch auch ihre Zeit ist so kurz wie die der vorhergehenden stolzen Romane der Denker, denen sie ein gerechtes Grab bereitete. Der Kampf mit Rom ist die wichtigste Aufgabe des Protestantismus; er tritt überall mit gebrochenem Schilde in denselben ein. Von den Schülern Ritschls ist A. Harnack in Berlin mit einem Lehrbuch der Dogmengeschichte hervorgetreten, in dem nach Abzug alles Theoretischen, Theologischen und Philosophischen nur ein spezifisches supranaturales Heilsgut, eine reale Erlösung und ein praesens numen übrig bleibt. Die Dogmengeschichte Verweltlichung und Verderbung des echten Evangeliums. Selbst Paulus viel zu sehr doktrinär und sein Wert nicht zu überschätzen. Harnack, ein gereifter an dem Verständnis des Evangeliums und der Kirchengeschichte gebildeter Christ, hat das Apostolikum beseitigen und behalten wollen. Die ursprüngliche Abendmahlsverwaltung geschah in Brot und Wasser: Schleiermaeher hatte wenigstens noch Wasser und Wein. Julius Kaftan in Berlin tat das alte Dogma in Verruf, konnte aber nicht sagen, wie das neue zu gestalten sei. Der Pietismus ging noch aus einer Bewegung der Gemeinen hervor: die Göttinger Theologie ist von vornherein ein trockenes Schulgewächs. Ritschl † 20. März 1889; hätte er das, was er im Sterben ausrief: Was ist der Mensch, dass du sein gedenkest, von vornherein gewusst, er hätte ein anderes System aufgestellt, als ein solches, in dem der Wille alles vermag. Über ihn der Sohn, 1892. 2 Bde. In der Einleitung das Wort: Mit Wort und Schrift hat er viele zur Gerechtigkeit geführt. Organ der Schule ist eine seit 1890 herauskommende Zeitschrift für Theologie und Kirche.
92 Zur Erinnerung an ihn die Leichenreden und eine Gedächtnissrede von Nippold, 1890.
93 Da Kant autonom, die christliche Wahrheit theonom, haben beide keine Gemeinsamkeit.
94 Scharfsinnig nachgewiesen von A. Kuyper in De Verflauwing der Grenzen, 1892.
95 Thilo, Die Wissenschaftl. d. mod. spekul. Theol., 1851.
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11. Die schwäbische Kirche.
Württembergische Kirchengeschichte, 1893.
Literatur: Er. Kirchen- und Schulblatt für Württemberg 1840 ff.

Wegen ihrer Eigentümlichkeit bedarf die Kirche Württembergs einer besonderen kurzen Charakterisierung. Hier erwachte mit großer Innigkeit der von den Vätern geliebte Pietismus mit seinen wohltätigen Gemeinschaften (Altpietisten, Pregizerianer, Michelianer),96 empfing in dem Prälaten Sixt Karl Kapff97 einen angesehenen Führer, in Christoph Blumhardt98 in Boll einen warmherzigen Herbergsvater für alle Welt, der in dem freundlichen Wahn lebte, noch selbst das tausendjährige Reich zu erschauen, doch starb er gerade in dem Jahre (1880), dessen Neujahrslosung ihm seine Hoffnung recht nahe gerückt sein ließ. Seine seltsame Geschichte mit der Gottliebin erinnert doch sehr an ähnliche Geschichten hysterischer Frauen, wo immer große Täuschungen unterlaufen. In den Theologen Palmer, Oehler, Landerer und Beck erstanden konservative Leiter und so überwand man die furchtbaren Wirkungen der Kritik von Baur und Strauß, die jede Kirche zu zerstören schienen. Gottlieb Wilh. Hoffmann, mit Neuerungen in der Landeskirche unzufrieden, gründete 1818 mit königlicher Erlaubnis die blühende Gemeine Kornthal, der sich Wilhelmsdorf anschloss. Sein Sohn Christoph († 1885) schuf die Gemeine des neuen Tempels mit Kolonien in Palästina und später mit großen Häresien. Nach seinem Tode kehrte ein Teil seiner Anhänger zur alten Kirche zurück. Als ein Zeuge der Wahrheit viele tröstend steht Ludwig Hofacker da († 1828). Sein Leben hat der bekannte Dichter Albert Knapp beschrieben (5. Auflage 1883). Seine Predigten erlebten 38 Auflagen.99 In Schwaben ist mehr als im übrigen Deutschland die evangelische Kirche noch eine Volkskirche, getragen von einem verbreiteten frommen Sinne vieler, unermüdlich in Wohltaten und Liebeswerken, nach denen sie die erste Stelle in Deutschland einnimmt. Nach allen Gegenden: auf Professorenstühle, in den heißen Boden von Afrika und Indien, in die Verlassenheit deutscher Gemeinen in Amerika sendet sie ihre geistlichen Zöglinge, die die Seminare und das Stift gebildet haben. Die Basler Missionsgesellschaft ist eine schwäbische Filiale und hat von hier ihre Inspektoren und ihre
größten Beiträge. Die Gemütstiefe und treue Wärme des ev. Volkes wirkt überall hin belebend. Unter den Theologen ragt durch seinen großen, viele Jünglinge an sich ziehenden Einfluss Joh. Tobias Beck hervor, neben der Kritik Baurs die volle Inspiration des Kanons verteidigend, ehrwürdig in seiner Liebe zur Schrift, verbunden der altwürttembergischen Exegese, dem Realismus markiger Grundbegriffe, dem Pneumatismus und dem naturalistischen kräftigen Hintergrunde der Bibelworte, dabei Chiliast, der die Hilfe des persönlich kommenden Herrn für die Schäden der Welt erhofft, die durch Macherei der Kirche nur verschlimmert werden. Nützliche und brauchbare Winke gibt er in seinen Pastorallehren, in seiner Betrachtung der Lehrweisheit Jesu, dessen was wirklich Erbauung ist und wie alles im Reiche Gottes wachstümlich gedeiht; aber sein ganzes Lehrsystem, oft rätselhaft dunkel gestaltet wie wenigstens in seinen Anfängen, ist durch und durch synergistisch und gesetzlich treiberisch („erst Knecht, dann Kind“), mit dem Trost der immer größeren Treue, die man üben soll, und hat in anderer Weise zwar wie Hengstenberg, aber auf demselben Gebiete, dem der Lehre von der Rechtfertigung, tief geirrt, denn deren schriftgemäße Fassung und heilige Widersinnigkeit als die Gerechtsprechung des Gottlosen konnte Beck nicht begreifen: ein Theologe in der Schrift und doch außerhalb derselben, auch in seinem Realismus und mystischen Wesenseinigung mit Christus mehr Worten als Wahrheiten huldigend, da wir von dem Naturboden des Lebens und des Todes nichts wissen als lediglich in Gott ruhenden Geheimnissen. Es war etwas keck von mir, als ich ihn auf seinem Weinberge in studentischer Weise fragte: „Nicht wahr, Sie haben Ihr System in die Schrift hineingelegt?“ „Nein“, sagte er scharf, „es sind die Lineamente, welche allen Schriftbüchern unterliegen und nur zusammenzufügen sind.“ Er trug in seinen späteren Jahren einen langen grauen Bart und sah mit seinen braunen klugen Augen recht trotzig in die Welt. Seinem Bilde hat er die Unterschrift gegeben: Werdet Nachahmer der göttlichen Einfalt. Die Einfalt der Schrift ist noch viel größer als er sie gefunden.100 Auch Beck, der mit Schleiermacher, Hengstenberg, Hofmann und Ritschl eine Schule in ganz Deutschland gegründet hat, zeigt wieder, dass es unserem Jahrhundert nicht möglich war, die Wahrheit der Reformation zu erneuern. Wo die Rechtfertigungslehre weg ist, sagt Luther, da ist die Kirche weg, und ohne diesen Artikel ist der heilige Geist nicht bei uns. Beck stirbt am 28. Dezember 1878. Neben ihm ist Gustav Oehler einer der lichtvollsten und besten at. Theologen dieses Jahrhunderts gewesen.101 In der Gegenwart hat Schwaben Theologen von Namen in C. Weizsäcker und R. Kübel (positiv), aber als die schwäbische Nachtigall K. Gerok im Januar 1890 starb, schwand mit ihren süßen Liedern auch der theologische Ruhm Schwabens. Als grundgelehrter Geschichtskenner ist hier auch noch Pfarrer Bossert in Bächlingen zu nennen.
Nicht ohne Bitterkeit, aber mit viel Wahrheit hat Eberle über die Gegenwart geschrieben in einer kirchlichen Verteidigungsschrift 1890. Der Fall Schrempf deckte einen Abgrund von Heuchelei auf und rief in ganz Deutschland einen erbitterten Kampf gegen und für das Apostolikum hervor, in dem die Ritschlianer über die Massen fälschten und logen und in der Eisenacher Erklärung ihre völlige Verwirrung offenbarten. Der „geniale“ A. Harnack erklärte die auf dem evangelischen Bericht und den Bekenntnissen der Kirche beruhende jungfräuliche Geburt des Herrn für etwas was dem modernen Bewusstsein am unerträglichsten sei, obwohl sie schon von der Kirche im zweiten Jahrhundert allgemein bekannt wurde.102 Kaiser und Kirche legten am 31. Oktober 1892 feierlichen Protest dagegen ein und taten die Irrlehrer in Reichsbann.
97 Sein Leben von seinem Sohne, 1881.
98 Sein Leben in gutem Glauben von Zündel beschrieben. 2. Aufl. 1881. Über Frau Doris Blumhardt der Sohn, 1886. Hase, der Sohn in der Christoterpe, 1889.
99 Über ihn auch Clauss, Württemb. Väter. 2. Bd. 1888.
100 Über ihn Riggenbach, 1887.
101 Sein Leben von Jos. Knapp, 1876.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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