Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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III,4,8

Diese Abschaffung der Beichte aber bezeugt Chrysostomus, der ebenfalls Bischof der Kirche von Konstantinopel gewesen ist, deutlich an sovielen Stellen, daß man sich wundern muß, wieso die Papisten dagegen noch zu mucksen wagen. Er sagt: „Sprich deine Sünden aus, um sie zunichte zu machen; wenn du dich aber schämst, einem Menschen zu sagen, was du gesündigt hast, so sprich es alle Tage in deiner Seele aus! Ich sage nicht, daß du deinem Mitknecht beichten sollst, der dir womöglich Vorwürfe macht; nein, sag deine Sünden Gott, der heilt sie! Bekenne deine Sünde auf deinem Bette, damit dein Gewissen seine Übeltaten dort tagtäglich erkenne“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt zu Ps. 50). Ebenso: „Es ist nun aber auch nicht vonnöten, daß du deine Sünde in Gegenwart von Zeugen beichtest; in deiner eigenen Erkenntnis soll die Erforschung deiner Übertretungen vor sich gehen, und dies Gericht soll ohne Zeugen sein; allein Gott soll sehen, wie du beichtest“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt von der Buße und der Beichte). Oder er sagt: „Ich will dich nicht ins Schauhaus, vor deine Mitknechte führen; ich zwinge dich nicht, Menschen deine Sünde aufzudecken: prüfe dein Gewissen vor Gott und breite es vor ihm aus! Zeige dem Herrn, dem herrlichsten unter allen Ärzten, deine Wunden und bitte ihn um Arznei, zeige sie ihm, der dir nicht Vorwürfe macht, sondern dich aufs allerfreundlichste heilt! (Chrysostomus, Über Gottes unbegreifliches Wesen 5,7). Oder auch: „Sag es wahrhaftig nicht einem Menschen, damit er dich nicht verweist; beichte auch nicht deinem Mitknecht, der deine Beichte womöglich in die Öffentlichkeit trägt, sondern zeige dem Herrn deine Wunden: er trägt Sorge um dich, er ist freundlich, und er ist ein Arzt!“ Bald danach läßt er Gott so reden: „Ich zwinge dich nicht, mitten ins Schauhaus zu treten und viele Menschen als Zeugen zuzuziehen; sag mir ganz allein, ohne andere, deine Sünde, damit ich deine Schwäre heile:“ (Predigt über Lazarus, IV,4). Sollen wir nun sagen, Chrysostomus sei, wenn er dies und dergleichen schreibt, dermaßen vermessen, daß er das Gewissen der Menschen von Banden löse, in die es nach Gottes Gesetz verstrickt wäre? Ganz gewiß nicht; nein, er weiß, daß es sich hier durchaus nicht um Vorschriften aus Gottes Wort handelt, und deshalb wagt er es auch nicht, dergleichen als nötig zu fordern!


III,4,9

Damit aber nun die ganze Angelegenheit deutlicher und klarer wird, will ich zunächst nach bestem Wissen und Gewissen darstellen, welche Art von Beichte uns im Worte Gottes überliefert ist; dann will ich auch die Erdichtungen der Papisten heranziehen, und zwar nicht sämtliche – wer sollte auch dieses unergründliche Meer ausschöpfen wollen? -, sondern nur die, in denen sie die Hauptsache ihrer heimlichen (d.h. Ohren-) Beichte zusammenfassen. Es verdrießt mich nun, daran erinnern zu müssen, wie oft der alte Übersetzer, wo er im Text „Loben“ las, dies Wort mit „Bekennen, Beichten“ wiedergegeben hat. Das weiß nämlich selbst der gröbste Laie. Nur muß ich es erwähnen, weil es erforderlich ist, die Vermessenheit der Papisten ins rechte Licht zu setzen, die nämlich solche Stellen, die vom Lobpreis Gottes handeln, auf ihr tyrannisches Gebot deuten! Um zu beweisen, daß die Beichte dazu verhelfe, daß das Herz froh werde, ziehen sie unter gewaltsamer Verdrehung das Psalmwort heran: „(Ich wollte gerne mit ihnen wallen zum Hause Gottes) mit Frohlocken und Danken“ (Ps. 42,7; das Wort „Danken“ ist in der lateinischen Übersetzung mit „Bekennen“ wiedergegeben!). Wenn nun aber eine derartige Sinnverwandlung Geltung haben soll, dann können wir am Ende aus allem alles machen! Aber sie haben eben aufgehört, sich zu schämen, und daran mag der fromme Leser erkennen, daß sie Gott in gerechter Vergeltung in einen verkehrten Sinn hat fallen lassen, damit ihre Vermessenheit nur um so abscheulicher würde. Wenn wir bei der schlichten Lehre der Schrift verharren wollen, so besteht keine Gefahr, daß uns jemand mit solchem leeren Schein betöre. In der Schrift aber wird uns nur eine Art der Beichte vorgeschrieben, nämlich diese: Da allein der Herr Sünde vergibt, vergißt, tilgt, so sollen wir ihm unsere Sünden bekennen, um Vergebung zu erlangen. Er ist der Arzt; so sollen wir ihm unsere Wunden offenlegen. Er ist verletzt und gekränkt worden; so sollen wir von ihm den Frieden erbitten. Er ist der Herzenskündiger und weiß alle unsere Gedanken; so sollen wir herzueilen, um ihm unser Herz auszuschütten. Und schließlich: er ruft die Sünder; so sollen wir nicht zögern, zu ihm hinzugehen! So spricht David: „Darum bekannte ich dir meine Sünde und verhehlte meine Missetat nicht. Ich sprach: ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Missetat meines Herzens“ (Ps. 32,5; bis auf das letzte Wort Luthertext). Oder ein anderes Bekenntnis, auch von David: „Gott, sei mir gnädig … nach deiner großen Barmherzigkeit!“ (Ps. 51,3). Oder eine Beichte des Daniel: „Wir haben gesündigt, Herr, unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden: wir sind von deinen Geboten … gewichen“ (Dan. 9,5). Solche Beichtworte kommen in der Schrift immer wieder vor, und es würde wohl einen Band füllen, wenn man sie alle wiedergeben wollte. So sagt Johannes: „So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist der Herr treu …, daß er uns die Sünden vergibt …“ (1. Joh. 1,9). Wem sollen wir nun unsere Sünden bekennen? Doch zweifellos ihm! Und das geschieht, wenn wir uns erschrockenen und gedemütigten Herzens vor ihm niederwerfen, wenn wir uns vor ihm von Herzen verklagen und verdammen – und begehren, daß er uns aus seiner Güte und Barmherzigkeit losspreche!


III,4,10

Wer nun von Herzen und vor Gott diese Beichte geübt hat, der wird auch ohne Zweifel mit der Zunge zum Bekenntnis bereit sein, um, sooft es nötig ist, vor Menschen Gottes Barmherzigkeit zu preisen. Und er wird da nicht bloß einem einzigen Menschen gegenüber ein einziges Mal das Geheimnis seines Herzens aussprechen und es ihm dabei gar bloß still ins Ohr sagen, nein, er wird öfter, er wird öffentlich, wenn es alle Welt hört, seine eigene Schande und Gottes Herrlichkeit und Ehre frei heraus ehrlich bekennen. So machte es David: Nathan hatte ihn gestraft, und der Stachel des Gewissens hatte ihn getroffen; da bekannte er seine Sünde vor Gott und vor Menschen und sprach: „Ich habe gesündigt wider den Herrn!“ (2. Sam. 12,13). Das heißt: Ich beschönige nichts, ich suche auch keine Ausflüchte dagegen, daß mich nun alle Leute als Sünder ansehen und daß das, was ich vor dem Herrn heimlich halten wollte, jetzt gar vor den Menschen offen zutage liegt! So folgt also auf jene verborgene Beichte, die Gott gegenüber geschieht, das freiwillige Bekenntnis vor den Menschen, sooft es der Ehre Gottes oder unserer eigenen Demütigung dient. Aus diesem Grunde hat der Herr einst im israelitischen Volke die Einrichtung getroffen, daß das Volk unter Vorsprechen des Priesters seine Missetaten öffentlich im Tempel bekannte (Lev. 16,21). Er sah nämlich voraus, daß sie diese Hilfe nötig hatten, damit jeder einzelne besser dazu angeleitet würde, sich selbst recht zu erkennen. Es ist auch recht und billig, daß wir durch das Bekenntnis unseres Elendes die Güte und Barmherzigkeit unseres Gottes untereinander und vor aller Welt verherrlichen.


III,4,11

Diese Art der Beichte sollte m der Kirche ordentlich im Schwange gehen. Sie sollte aber auch außer der Ordnung in besonderer Weise geübt werden, wenn es sich etwa zuträgt, daß das Volk in eine gemeinsame Sünde verstrickt ist. Für diese zweite Art des Sündenbekenntnisses haben wir ein Beispiel in jener feierlichen Beichte, die das ganze Volk auf Anregung und unter Leitung des Esra und des Nehemia ablegte (Neh. 9,1ff.). Die lange Verbannung, die Zerstörung der Stadt und des Tem-pels, der Untergang der Religion – das war ja alles die Strafe für den gemeinsamen Abfall aller; und deshalb konnten sie die Wohltat der ihnen widerfahrenen Befreiung nicht nach Gebühr anerkennen, ohne sich zuvor selber als Angeklagte hinzustellen. Es ist ohne Belang, wenn in einer Versammlung zuweilen einige wenige unschuldig sind; denn sie sind ja Glieder an einem siechen und gebrechlichen Leibe und können deshalb nicht den Anspruch erheben, selbst gesund zu sein. Ja, es kann gar nicht anders sein, als daß auch sie sich irgendeine Befleckung zugezogen haben und so ebenfalls mitschuldig sind. Wenn uns also Pestilenz oder Krieg oder Dürre oder sonst eine Drangsal befällt, so ist es unseres Amtes, zu Trauer und Fasten und anderen Zeichen der Schuldhaftigkeit unsere Zuflucht zu nehmen, aber das Sündenbekenntnis, von dem ja alles andere abhängt, darf dabei unter keinen Umständen unterlassen werden. Jene ordentliche Beichte, die uns ja durch den Mund des Herrn nahegelegt ist, wird auch abgesehen hiervon kein vernünftiger Mensch, der ihren Nutzen recht erwägt, zu verwerfen wagen. Stellen wir uns doch in jeder heiligen Zusammenkunft vor Gottes und der Engel Angesicht – was sollte aber da anders der Anfang unseres Tuns sein, als die Erkenntnis unserer Unwürdigkeit? Nun könnte aber einer sagen: das geschieht doch in jedem Gebet; denn wenn wir um Vergebung bitten, so bekennen wir doch damit unsere Sünden! Das gebe ich zu. Aber wenn man bedenkt, wie groß unsere Sicherheit, unsere Verschlafenheit, unsere Trägheit ist, dann wird man mir auch zugeben, daß es eine heilsame Einrichtung ist, wenn das Christenvolk durch eine feierlich geordnete Beichte zur Demütigung geübt wird. Die Beichtform, die der Herr den Israeliten auftrug, gehört freilich zu der Erziehung unter dem Gesetz; aber die Sache selbst geht auch uns gewissermaßen an. Wir nehmen auch tatsächlich wahr, daß bei wohlgeordneten Kirchen mit viel Frucht die Sitte herrscht, daß der Diener an den einzelnen Sonntagen in seinem und des Volkes Namen ein formuliertes Sündenbekenntnis ausspricht, in dem er alle der Ungerechtigkeit zeiht und den Herrn um Vergebung bittet. Schließlich ist dies auch der Schlüssel, der dem Einzelnen für sich allein und allen zusammen öffentlich die Tür zum Beten auftut.


III,4,12

Außerdem heißt die Schrift zwei Formen der Einzelbeichte (confessio privata) gut. Die erste geschieht um unserer selbst willen. Dahin gehört die Weisung des Jakobus, nach der wir einer dem anderen unsere Sünden bekennen sollen (Jak. 5,16). Er meint nämlich dies: wir sollen einander unsere Schwachheiten aufdecken, um uns dann mit gegenseitigem Rat und gegenseitiger Tröstung beizustehen. Die zweite Form soll um des Nächsten willen geschehen, um ihn zu beruhigen und ihn wieder mit uns zu versöhnen, wenn er in irgendeiner Angelegenheit durch unsere Schuld verletzt worden ist. Bei der ersten Art nennt nun zwar Jakobus niemanden ausdrücklich, an dessen Herzen wir unsere Last ablegen sollen. Er überläßt es unserem freien Ermessen, dem unsere Sünde zu bekennen, der uns dazu aus der Schar der Kirche am meisten geschickt erscheint. Nun sind aber besonders die Hirten (Pastoren) hierzu als geeignet anzusehen, und deshalb werden wir vornehmlich sie zu erwählen haben. Daß sie geeigneter sind als andere, sage ich deshalb, weil sie durch die Berufung in ihren Dienst von Gott dazu ausersehen sind, daß wir durch ihren Mund dazu unterwiesen werden, die Sünde zu dämpfen und von uns zu tun, und daß wir auch durch ihren Mund aus dem Vertrauen auf die Vergebung heraus Trost empfangen sollen (Matth. 16,19; Matth. 18,18; Joh. 20,23). Das Amt der gegenseitigen Ermahnung und Zurechtweisung ist zwar allen Christenmenschen aufgetragen, aber den Dienern am Wort ist es in besonderer Weise befohlen; wenn wir uns also auch alle gegenseitig trösten und in der Zuversicht auf das göttliche Erbarmen starken sollen, so betrachten wir doch die Diener am Wort selbst als Zeugen und Bürgen der Sündenvergebung, die das Gewissen dieser Vergebung versichern sollen. So heißt es ja auch von ihnen, daß sie Sünden vergeben und die Seelen lösen. Wenn man nun hört, daß ihnen dies zugesprochen wird, so soll man auch beachten, daß es zu unserem Nutzen geschieht. Deshalb soll jeder einzelne Gläubige daran denken, daß es, wenn er für sich allein dermaßen vom Empfinden seiner Sünde geängstigt und erschreckt wird, daß er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr freimachen kann, seine Aufgabe ist, nicht das Heilmittel beiseitezulassen, das ihm vom Herrn dargereicht wird. Er soll dann von der Einzelbeichte bei seinem Pastor Gebrauch machen und soll den Mann, dessen Amt es ist, das Volk Gottes öffentlich und insonderheit mit der Lehre des Evangeliums zu trösten, zu seiner Erleichterung auch um seine persönliche Hilfeleistung bitten. Das soll aber alles in solchem Maßhalten vor sich gehen, daß nicht an einer Stelle, wo Gott nichts Bestimmtes vorgeschrieben hat, die Gewissen unter ein festes Joch gebunden werden. Daraus ergibt sich, daß diese Beichte frei sein muß und nicht etwa von allen zu fordern ist, sondern nur denen empfohlen werden soll, die merken, daß sie sie nötig haben. Auch sollen selbst diese Leute, die angesichts ihrer Not davon Gebrauch machen, nicht durch ein Gesetz dazu angehalten oder mit List dazu gebracht werden, alle ihre Sünden aufzuzählen, sondern sie sollen nur soweit gehen, wie sie es für dienlich halten, um eine vollkommene Frucht des Trostes zu empfangen. Treue Hirten müssen den Kirchen diese Freiheit nicht bloß lassen, sondern sie auch schützen und tapfer aufrechterhalten, wenn sie wollen, daß ihr Dienst ohne Tyrannei und das Volk ohne Aberglauben bleibe.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,4,13

Von der anderen Form der Einzelbeichte spricht Christus bei Matthäus: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe“ (Matth. 5,23f.). Denn so soll die Liebe wiederhergestellt werden, die durch unsere Schuld zerborsten ist: wir sollen die Schuld, die wir begangen haben, anerkennen und Abbitte leisten. Zu dieser Art gehört auch die Beichte derjenigen, die mit ihrer Sünde der ganzen Kirche Anstoß gegeben haben. Denn wenn Christus die Kränkung eines einzelnen Privatmenschen so schwer nimmt, daß er alle, die gegen die Brüder irgendwie gesündigt haben, vom heiligen Dienst zurückhält, bis sie sich in gerechter Genugtuung wieder mit ihnen versöhnt haben – wieviel besser ist es dann begründet, daß der, welcher die Kirche mit irgendeinem schlechten Beispiel beleidigt hat, sie durch Anerkennung seiner Schuld wieder mit sich versöhne! So wurde jener Korinther wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, als er bewiesen hatte, daß er der Zurechtweisung gehorsam war (2. Kor. 2,6). Diese Form der Beichte hat auch in der Alten Kirche bestanden; daran erinnert uns Cyprian. Er sagt: „Sie tun eine gebührliche Zeit hindurch Buße, dann kommen sie zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Sünden und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht auf die Gemeinschaft“ (Brief 16,2). Von anderen Arten und Formen der Beichte weiß die Schrift schlechterdings nichts. Auch ist es nicht unsere Aufgabe, die Gewissen, die uns Christus auf das schärfste zu knechten verbietet, mit neuen Fesseln zu binden. Indessen erhebe ich keinerlei Widerspruch dagegen, daß die Schafe jedesmal, wenn sie am Heiligen Abendmahl teilnehmen wollen, sich ihrem Hirten stellen; ich möchte im Gegenteil, daß diese Gepflogenheit allerorts beobachtet würde. Denn daraus kann einerseits denen, die ein bedrücktes Gewissen haben, eine einzigartige Frucht erwachsen, anderseits bietet sich dabei auch Gelegenheit, die Leute zu ermahnen, die dessen bedürfen. Nur muß alles ohne Tyrannei und Aberglauben vor sich gehen.


III,4,14

In diesen drei Arten der Beichte hat die Schlüsselgewalt ihren Platz. Diese ist also erstens wirksam, wenn die ganze Kirche in öffentlichem Bekenntnis ihrer Übeltaten um Vergebung bittet. Zum zweiten wird sie da geübt, wo ein einzelner Mensch, der durch irgendeinen öffentlich ins Auge fallenden Frevel ein allgemeines Ärgernis herbeigeführt hat, seine Buße bezeugt. Und zum dritten geschieht sie dann, wenn ein Mensch, der um der Unruhe seines Gewissens willen die Hilfe des Dieners (am Wort) braucht, diesem seine Schwachheit zur Kenntnis bringt. Dagegen hat es mit der Behebung einer Kränkung eine andere Bewandtnis: freilich geschieht auch diese so, daß dabei dem Frieden des Gewissens gedient wird, aber der hauptsächliche Zweck ist doch der, daß der Haß verschwindet und die Herzen durch das Band des Friedens miteinander geeint werden. Aber jener Nutzen (nämlich der des Schlüsselamtes), von dem ich sprach, ist keineswegs geringzuschätzen, damit wir um so leichter bereit sind, unsere Sünden zu bekennen. (Erster Fall:) Wenn nämlich die ganze Kirche gewissermaßen vor Gottes Richterstuhl steht und sich schuldig bekennt und wenn sie dann ihre einzige Zuflucht in Gottes Erbarmen findet, so ist es kein geringer, kein leichter Trost, daß da ein Gesandter Christi gegenwärtig ist, der den Auftrag empfangen hat, sie zu versöhnen, und aus dessen Munde sie die Verkündigung ihrer Lossprechung vernehmen darf. Hier wird der Nutzen des Schlüsselamtes mit vollem Recht hoch gerühmt, wenn die Ausrichtung dieses Gesandtendienstes mit der gebührenden Ordnung und Ehrerbietung sich vollzieht. Oder ebenso (im zweiten Fall): ein Mensch, der sich von der Kirche auf irgendeine Weise entfremdet hat, empfängt Verzeihung und wird in die brüderliche Gemeinschaft wieder aufgenommen. Was ist es nun da für eine große Wohltat, wenn er gewahr wird, daß ihm von denen verziehen ist, zu denen Christus gesagt hat: „Welchen ihr die Sünden erlasset auf Erden, denen sollen sie auch im Himmel erlassen sein“ (Zusammenstellung aus Matth. 18,18 und Joh. 20,23). Nicht geringere Wirkung und Frucht hat (dritter Fall) die private Absolution, wo sie von Menschen begehrt wird, die ein besonderes Mittel nötig haben, um ihren Schwachheiten aufzuhelfen. Es kommt nämlich nicht selten vor, daß ein Mensch, der die allgemeinen Verheißungen vernimmt, die sich an die ganze Versammlung der Gläubigen richten, trotzdem einigermaßen im Zweifel bleibt und immer noch ein unruhiges Herz hat, als hätte er noch gar keine Vergebung erlangt. Wenn nun ein solcher Mensch seinem Pastor die verborgene Wunde seines Herzens offenlegt und wenn er dann hört, daß das Wort des Evangeliums: „Sei getrost … dir sind deine Sünden vergeben“ (Matth. 9,2) ihm ganz persönlich zugesprochen ist, so wird er sein Herz stärken, damit es Gewißheit findet, und er wird von dem ungewissen Zagen, das ihn zuvor quälte, frei werden. Wenn aber von den „Schlüsseln“ die Rede ist, so müssen wir uns immerzu in acht nehmen, nur ja nicht zu träumen, das sei eine von der Verkündigung des Evangeliums getrennte Gewalt. Das muß an anderer Stelle, wenn ich vom Kirchenregiment zu reden habe, aufs neue, und dann ausführlicher dargetan werden. Da werden wir denn auch erkennen, daß jedwedes Recht zu binden oder zu lösen, das Christus seiner Kirche erteilt hat, an das Wort gebunden ist. Das ist aber in ganz besonderer Weise wahr, wenn es sich um das Amt der Schlüssel handelt: seine ganze Kraft beruht darauf, daß die Gnade des Evangeliums durch die Menschen, die der Herr dazu verordnet hat, in den Herzen der Gläubigen öffentlich und insonderheit versiegelt wird – und das kann ausschließlich durch die Predigt geschehen.



III,4,15

Was lehren nun die römischen Theologen? Sie geben die Anweisung, daß alle Menschen beiderlei Geschlechts, sobald sie das Alter erreicht haben, in dem sie Gut und Böse unterscheiden können, mindestens einmal im Jahre dem zuständigen Priester alle ihre Sünden zu beichten haben. (So will es das entsprechende Dekret Innozenz’ III. auf dem IV. Laterankonzil). Eine Vergebung der Sünde soll nur dann eintreten, wenn der feste Vorsatz zur Beichte vorgelegen hat. Ist dieser Vorsatz, sofern die Gelegenheit dazu bestand, nicht verwirklicht worden, so soll keinerlei Eingang in das Paradies mehr möglich sein (Sentenzen IV,17,4). Der Priester hat – so lehrt man weiter – die Schlüsselgewalt, mit der er den Sünder zu lösen oder zu binden vermag, damit das Wort Christi: „Was ihr binden werdet auf Erden …“ nicht außer Kraft sei (Matth. 18,18; Sentenzen IV,17,1). Über diese Schlüsselgewalt liegen sie nun untereinander streitbar im Kriege. Die einen meinen, es bestehe dem Wesen nach nur ein „Schlüssel“, nämlich die Gewalt, zu binden und zu lösen; die (moraltheologische) Kenntnis sei zwar zu guter Anwendung (dieser Gewalt) erforderlich, aber doch gewissermaßen nur ein hinzutretendes Ding und hänge nicht wesentlich an jener Gewalt. Andere merkten nun, daß dies ein allzu zügelloser Mutwille ist, und unterschieden deshalb zwischen zwei „Schlüsseln“, der Unterscheidung (der Sünden) und der (eigentlichen) Gewalt (zu binden und zu lösen). Wiederum sahen aber andere, daß durch diese Mäßigung die Schalkheit der Priester in Schranken gehalten würde, und da haben sie noch andere „Schlüssel“ zugesetzt: sie reden zunächst von der Unterscheidungsgewalt, die sie bei der Feststellung (bestimmter Sünden) brauchen sollten, dann zweitens von der Gewalt, die sie in der Vollstreckung ihrer Entscheidung auszuüben hätten; die Kenntnis kommt nach dieser Ansicht gewissermaßen als „Ratgeber“ hinzu. Jenes „Binden und Lösen“ wagen sie nun gar nicht schlicht auszulegen, nämlich daß es Sünden vergeben und tilgen bedeutet. Denn sie hören doch bei den Propheten den Herrn ausrufen: „Ich, ich bin der Herr … Ich, ich tilge deine Übertretungen, Israel!“ (Jes. 43,11. 25). Ihre Ansicht ist aber nun die: Dem Priester steht es zu, kundzumachen, welche Menschen gebunden und welche gelöst sind, und zu erklären, welchen Menschen die Sünden vergeben und welchen sie behalten sind. Die Erklärung übt der Priester entweder in der Beichte aus, wenn er losspricht und Sünden „behält“, oder aber durch Urteilsspruch, wenn er jemanden in den Bann tut (exkommuniziert) oder ihn zur Gemeinschaft an den Sakramenten zuläßt. Nun merken sie aber schließlich doch, daß sie sich noch immer nicht von dem Einwand freigemacht haben, den stets jemand erheben könnte: ihre Priester binden und lösen ja oft den Unrechten, und deshalb wird dieser ja dann im Himmel nicht gebunden oder gelöst! Da antworten sie dann – und das ist ihre äußerste Zuflucht! -, die Übergabe der Schlüssel(-gewalt) müsse begrenzt verstanden werden; Christus habe nur verheißen, daß der gerecht gefällte Urteilsspruch des Priesters vor seinem Richtstuhl bestätigt werden würde, also der, welcher nach Maßgabe der Verdienste des Gebundenen oder Gelösten ausgesprochen worden sei. Weiterhin behauptet man, diese Schlüssel hätte Christus zwar allen Priestern übergeben und sie würden ihnen deshalb von den Bischöfen bei der Beförderung in ihr Amt übertragen – der freie Gebrauch sei aber nur denen gestattet, die ein Kirchenamt verwalteten. Bei den gebannten und ihres Amtes (zeitweise) enthobenen Priestern blieben die Schlüssel an sich bestehen, aber doch nur rostig und gebunden. Die Leute, die das sagen, kann man aber noch für bescheiden und maßvoll halten, wenn man auf andere blickt, die sich auf einem neuen Amboß neue Schlüssel geschmiedet haben, mit welchen man nach ihrer Lehre den Schatz der Kirche zuschließen kann. Diese neuen Schlüssel wollen wir später an ihrem Platze näher betrachten.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,4,16

In meiner Entgegnung will ich kurz auf die einzelnen Stücke der gegnerischen Ansicht eingehen. Vorerst will ich unerwähnt lassen, mit was für einem Recht oder Unrecht man die Seelen der Gläubigen mit seinen Gesetzen in Fesseln legt; das wollen wir an geeigneter Stelle untersuchen. Daß man den Menschen aber das Gesetz auferlegt, alle Sünden müßten aufgezählt werden, daß man Sündenvergebung nur unter der Bedingung für möglich erklärt, daß der Vorrsatz zu beichten fest gefaßt worden sei, daß man schwatzt, es bliebe keinerlei Eingang ins Paradies mehr offen, wenn einer die Gelegenheit zu beichten nicht benutzt habe – dies alles ist unter keinen Umständen tragbar!Man soll alle Sünden aufzählen? Aber David, der doch nach meiner Ansicht wirklich rechtschaffen die Beichte seiner Sünden bei sich bedacht hat, David hat doch trotzdem ausgerufen: „Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,13). Er sagt ebenso an anderer Stelle: „Meine Sünden, gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden“ (Ps. 38,5). Er wußte wahrhaftig, wie tief der Abgrund unserer Sünden ist, er wußte, unter wievielerlei Gestalt der Frevel bei uns auftritt, wieviel Häupter dieses Schlangenuntier hat und was für einen langen Schwanz es hinter sich herzieht! Er unternahm deshalb keine Aufzählung seiner Sünden, sondern rief aus der Tiefe seiner Bosheiten zum Herrn: „Ich bin versunken, ich bin begraben und erstickt, der Hölle Pforten haben mich umfangen, laß mich deine Hand herausziehen, der ich in tiefen Schlamm versunken bin, der ich verschmachte und sterben soll!“ (vgl. Ps. 18,6; Ps. 69,2f.,15f.; nicht Luthertext). Wer will nun daran denken, seine Sünden aufzuzählen, wenn er doch wahrnimmt, daß selbst David die Zahl der seinigen nicht zu fassen vermag!


III,4,17

Mit solcher Folter hat man unter furchtbarer Grausamkeit die Seelen von Menschen gequält, die irgendwie vom Empfinden Gottes getroffen waren! Zuerst fingen sie an zu rechnen und zerlegten die Sünden in Aste und Zweige und Zweiglein und Laub – nach der Anweisung jener römischen Priester! Dann erwogen sie die „Art“ der Sünden, die „Menge“, die „Umstände“ – und doch ging die Sache allzu langsam voran! Wenn sie aber dann weitergingen, dann sahen sie allenthalben nur Himmel und Meer, kein Hafen war da und kein Ruheplatz: je mehr Sünden sie durchgegangen waren, desto größer war die Menge, die sich vor ihrem Auge erhob, ja ihre Sünden ragten vor ihnen auf wie ein hoher Koloß – und es war keine Hoffnung zu sehen, je herauszukommen, selbst nicht nach langen Umwegen! So hingen sie denn „zwischen Heiligtum und Fels“, und es fand sich am Ende kein anderer Ausgang als die Verzweiflung! Da kamen denn jene wüsten Folterknechte her und legten auf die Wunden, die sie geschlagen hatten, gewisse Pflaster auf, um sie zu lindern: sie sagten, es solle ein jeder tun, was er vermöchte. Aber alsbald erhob sich neue Sorge, ja neue Qual brachte die elenden Seelen gänzlich um die Besinnung: Ich habe mir nicht genug Zeit genommen, sagte man sich, ich habe nicht die rechte Mühe daran gewandt, ich habe vieles in mangelnder Achtsamkeit ausgelassen – und das vergessen aus mangelnder Sorgfalt ist ja unentschuldbar! Da gab man den Menschen denn wieder andere Arznei ein, um solche Schmerzen zu lindern. Man sagte: Tu Buße für deine Unachtsamkeit; wenn sie nicht allzu träge ist, dann wird sie vergeben werden. Aber all solche Dinge können die Wunde nicht vernarben lassen, und sie sind nicht sowohl Linderungsmittel für das Übel, als vielmehr Gift, das man mit Honig überstrichen hat, damit man seine Bitterkeit nicht gleich beim ersten Schluck mit Abscheu bemerkt, sondern es nicht eher wahrnimmt, als es bereits ins Innerste gedrungen ist! So quält also jene schreckliche Stimme die Menschen noch immer und schreit ihnen in die Ohren: „Beichte alle deine Sünden!“ – und dieser Schrecken kann nur durch einen festen Trost gestillt werden! Der Leser soll hier auch einmal darüber nachdenken, wieweit es überhaupt möglich ist, sich die Geschehnisse eines ganzen Jahres ins Bewußtsein zu rufen oder alles zusammenzuzählen, was man an den einzelnen Tagen gesündigt hat. Jeder Mensch erhält doch aus eigener Erfahrung die Einsicht, daß unser Gedächtnis schon durcheinandergerät, wenn wir eines Abends auch nur die Sünden eines einzigen Tages überdenken wollen – so groß ist die Menge und die Vielfältigkeit, die sich einem dabei aufdrängt. Dabei rede ich nun nicht von groben und abgestumpften Heuchlern, die da meinen, sie hätten ihre Schuldigkeit getan, wenn sie drei oder vier schwerere Vergehen bedacht haben. Nein, ich rede von den wahren Dienern Gottes; sie nehmen ihre Selbstprüfung gründlich vor und gewahren, wie sie von Sünden ganz überschüttet werden, aber sie sagen sich dann auch noch jenes Johanneswort: „So uns unser Herz verdammt, so ist Gott größer als unser Herz …“ (1. Joh. 3,20). So erschrecken sie vor dem Angesicht des Richters, dessen Erkenntnis weit über unseren Verstand geht.



III,4,18

Nun hat sich zwar ein großer Teil der Welt auf jene Schmeicheleien, mit denen man ein so verderbenbringendes Gift versüßt hat, verlassen. Aber das ist nicht geschehen, weil man etwa glaubte, Gott Genugtuung geleistet oder auch sich selbst wirklich Genüge getan zu haben. Nein, man wollte gleichsam mitten auf dem Meere den Anker auswerfen, um ein wenig von der Seefahrt auszuruhen. Oder man wollte es machen wie ein müder, verschmachteter Wandersmann, der sich an den Weg legt, um zu rasten. Ich brauche mir keine Mühe damit zu machen, diesen Satz zu beweisen. Denn dafür kann sich jedermann selbst Zeugnis ablegen. Ich will zusammenfassend aussprechen, wie es um jenes Gesetz (zu beichten) bestellt war. Zunächst ist es einfach unmöglich; und deshalb kann es nur zugrunde richten, verdammen, verwirren, in Verstörung und Verzweiflung stürzen. Zweitens führt es auch die Sünder von der wahren Empfindung ihrer Sünden weg und macht sie so zu Heuchlern, zu Menschen, die weder Gott kennen, noch sich selber. Denn wenn der Mensch ganz damit beschäftigt ist, seine Sünden aufzuzählen, so vergißt er unterdessen den verborgenen Schlangenpfuhl seiner Laster, seine versteckten Ungerechtigkeiten, seine innere Befleckung – und durch die Erkenntnis dieser Wirklichkeit sollte er doch vornehmlich zur Einsicht in sein Elend geführt werden! Die sicherste Regel für unser Beichten ist aber doch die, daß wir solchen tiefen Abgrund unserer Bosheit erkennen und bekennen sollen, der auch über unser Wahrnehmen hinausgeht. Nach dieser Regel richtete sich, wie wir sehen, das Sündenbekenntnis des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Luk. 18,13). Es ist, als ob er sagen wollte: So viel auch an mir ist – ich bin ganz Sünder, und ich vermag die Größe meiner Sünden weder mit meinem Verstand, noch mit meiner Zunge zu fassen: so möge der Abgrund deiner Barmherzigkeit diesen Abgrund der Sünde verschlingen! Wieso, könnte nun jemand fragen, – soll man denn die Sünden nicht einzeln bekennen? Gibt es denn vor Gott kein Sündenbekenntnis, das ihm wohlgefällig wäre, außer dem einen, welches in die paar Wörtlein eingeschlossen ist: Ich bin ein Sünder? Nein, sage ich, wir sollen uns vielmehr Mühe geben, soviel an uns ist, unser ganzes Herz vor dem Herrn auszuschütten. Wir sollen uns nicht bloß mit einem einzigen Wort als Sünder bekennen, sondern uns auch wahrhaftig und von Herzen als solche erkennen; wir sollen unser ganzes Denken darauf richten, wie groß und wie vielfältig der Schmutz der Sünde ist. Wir sollen nicht bloß zugeben, daß wir unrein sind, sondern auch merken, welcher Art und wie groß unsere Unreinigkeit ist und wie vielfältig sie sich auswirkt. Wir sollen uns nicht allein für Schuldner halten, sondern auch erkennen, wieviel Schulden uns drücken und wie mannigfach wir in sie verstrickt sind. Wir sollen uns nicht bloß als verwundet bekennen, sondern auch wahrnehmen, von wie vielen und tödlichen Schlägen wir verletzt sind! Wenn sich aber der Sünder in solcher Selbstprüfung ganz vor Gott ausgeschüttet hat, so soll er ernstlich und aufrichtig bedenken, daß noch viele Sünden übrig sind, daß die Schlupfwinkel seiner Bosheit zu tief liegen, als daß er sie in ihrer ganzen Tiefe ergründen könnte. So muß er denn mit David ausrufen: „Wer kann merken, wie oft er fehlet; verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,13). Die Römischen behaupten mm weiter, der Mensch empfange keine Sündenvergebung, wenn er nicht den festen Vorsatz gefaßt habe, zu beichten, und die Pforte des Paradieses bleibe dem verschlossen, der die Gelegenheit zur Beichte, sofern sie sich ihm bot, vernachlässigt habe. Das wollen wir ihnen unter keinen Umständen zugestehen! Denn die Vergebung der Sünden ist heutzutage nicht anders beschaffen, als sie es je war. Soviele Menschen nun nach unseren Berichten Vergebung ihrer Sünden von Christus erlangt haben – von keinem einzigen lesen wir, daß er einem Priester die Ohrenbeichte abgelegt habe! Sie konnten auch tatsächlich gar nicht beichten, wo es doch noch keine Beichtpriester gab und auch keine Beichte! Auch Jahrhunderten später war diese Beichte unbekannt, und zu dieser Zeit empfing man also die Vergebung der Sünden ohne diese Bedingung. Aber wir wollen über diese Sache nicht weiter streiten, als ob etwas Zweifelhaftes daran wäre. Das Wort Gottes lehrt uns ja deutlich, und das bleibt ewig. Wir lesen: „Sooft ein Sünder aufseufzt, … will ich aller Übertretung, die er begangen hat, nicht gedenken“ (Ez. 18,21f.; nicht Luthertext). Wer diesem Wort etwas zuzufügen wagt, der „bindet“ nicht Sünden, sondern die Barmherzigkeit des Herrn! Die Papisten behaupten dagegen aber, man könne kein Urteil sprechen, ohne zuvor von der betreffenden Sache Kenntnis gewonnen zu haben. Aber da ist die Lösung schon bereit: das haben sie sich eben selbst vorwitzig angemaßt; denn sie haben sich selbst zu Richtern bestellt! Es ist auch verwunderlich, daß sie sich mit solcher Sicherheit Grundsätze machen, die kein vernünftiger Mensch zugeben wird. Sie behaupten stolz, ihnen sei das Amt zu binden und zu lösen aufgetragen – als ob das eine Rechtsprechung sein sollte, die an die Form des Prozesses gebunden wäre! Dabei bezeugt die ganze Lehre der Apostel laut, daß diesen jenes Recht unbekannt gewesen ist! Auch geht die klare Erkenntnis, ob der Sünder gelöst wird, nicht den Priester an, sondern vielmehr den, den wir um die Lossprechung bitten (nämlich Gott!); denn der, welcher die Beichte hört, kann nie und nimmer wissen, ob da eine rechte und vollständige Aufzählung der Sünden stattfindet! Eine Lossprechung gäbe es dann also nur in der Weise, daß sie auf die Worte dessen beschränkt würde, der da gerichtet werden soll. Man muß auch weiter bedenken, daß die ganze „Lösung“ (von den Sünden) aus Glauben und Buße besteht; und diese beiden Dinge entziehen sich der Erkenntnis des Menschen, sofern man über einen anderen urteilen soll. Die Gewißheit der „Bindung“ und „Lösung“ unterliegt also nicht dem Urteil eines irdischen Richters; denn der Diener am Wort kann, wo er sein Amt recht verrichtet, nur bedingt lossprechen. Das Wort: „Welchen ihr die Sünden erlasset …“ ist aber um des Sünders willen gesagt: er soll nicht zweifeln, daß die Vergebung, die ihm nach Gottes Auftrag und Gottes Wort verheißen ist, im Himmel gültig sein wird.



III,4,19

Es ist also kein Wunder, wenn wir die Ohrenbeichte, diese verderbenbringende Pestilenz, die der Kirche in so vielerlei Hinsicht Schaden tut, verdammen, und wenn wir begehren, daß sie abgetan werde. Selbst wenn sie an und für sich eine nicht entscheidende Angelegenheit (res indifferens) wäre – wer müßte nicht doch angesichts der Tatsache, daß sie keinerlei Nutzen und Frucht bringt, wohl aber die Ursache zu soviel Gottlosigkeit, Frevel und Irrtum abgegeben hat, für ihre sofortige Abschaffung eintreten? Man zählt allerdings einigerlei Nutzen der Ohrenbeichte auf, den man als sehr fruchtbringend an den Mann bringen will; aber der ist teils erlogen, teils gänzlich belanglos. Nur einen Nutzen rühmt man mit besonderem Vorrang: die Beschämung des Beichtenden sei eine schwere Strafe, die den Sünder auch für die Folgezeit achtsamer mache und ihn dazu bringe, der Vergeltung Gottes dadurch zuvorzukommen, daß er sich selber strafe. Als ob die Scheu nicht groß genug wäre, mir der wir den Menschen demütigen, wenn wir ihn vor den höchsten, himmlischen Richtstuhl rufen, nämlich vor Gottes Gericht! Das sollte wahrhaftig ein herrlicher Fortschritt sein, wenn wir zwar aus Scham vor einem einzigen Menschen aufhörten zu sündigen, uns aber nicht scheuten, Gott zum Zeugen unseres bösen Gewissens zu haben! Aber auch jene Behauptung selbst ist ganz falsch. Denn man kann allenthalben bemerken, daß der Mensch durch nichts größere Kühnheit, größeren Mutwillen zum Sündigen empfängt, als dadurch, daß er, nachdem er einmal dem Priester seine Beichte abgelegt hat, nun den Rücken wenden und sagen zu können glaubt: Ich habe nichts getan! Auf solche Weise wird der Mensch nicht allein das ganze Jahr hindurch nur kühner zum Sündigen, sondern er fühlt sich auch für den Rest des Jahres vor der Beichte sicher, erhebt nie seine Seufzer zu Gott, geht nie in sich, sondern häuft Sünde auf Sünde, bis er – wie man meint! – alle zusammen auf einmal ausspeit! Hat er sie dann aber ausgespien, so meint er seiner Last ledig zu sein, er meint Gott das Gericht genommen zu haben, das er ja auf den Priester übertragen hat, und er wähnt, Gottes Gedächtnis getilgt zu haben, wo er dem Priester seine Sünde zur Kenntnis gebracht hat! Aber weiter: wer sieht denn den Tag der Beichte fröhlich anbrechen? Wer kommt denn frohen Herzens zur Beichte? Kommt man nicht vielmehr unwillig und wie einer, der sich gehörig wehrt, als ob man beim Halse gewürgt und ins Gefängnis geschleppt würde? Anders mag es allenfalls bei den Priestern selber stehen, die sich durch die gegenseitige Erzählung ihrer Übeltaten köstlich ergötzen – wie durch lustige Geschichtlein! Ich will nicht viel Papier mit dem Bericht über die furchtbaren Greuel vertun, welche die Ohrenbeichte aus sich hervorsprudelt. Nur soviel will ich sagen: wenn schon jener fromme Mann (Nectarius), der um des einen Geredes von der Hurerei willen die Beichte aus seiner Kirche, ja aus dem Gedächtnis der Seinen entfernt hat, darin nicht unbedacht handelte, so mahnt uns heutzutage unendlich viel Hurerei, Ehebruch, Blutschande und Kuppelei an das, was zu tun nötig ist.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,4,20

Aber hier nehmen die Beichtväter die Schlüsselgewalt für sich in Anspruch und sehen in ihr Bug und Heck ihrer Herrschaft, wie sie sagen. Wir müssen zusehen, wieviel das gelten soll. Man fragt uns: Sollen denn die „Schlüssel“ ohne Ursache gegeben worden sein? Heißt es etwa ohne Ursache: „Was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein“ (Matth. 18,18)? Sollen wir denn Christi Wort inhaltslos machen? Ich entgegne: die Schlüssel sind aus sehr schwerwiegender Ursache gegeben worden! Das habe ich wenig weiter oben bereits auseinandergesetzt, und das werde ich, wenn ich auf den Bann zu sprechen komme, wiederum, und zwar noch ausführlicher darlegen. Aber was will man machen, wenn ich mit einem einzigen Schwertstreich allen solchen Ansprüchen der Priester jeden Ansatzpunkt wegschlage? Was will man nämlich machen, wenn ich behaupte, daß die Priester gar nicht die Platzhalter oder Nachfolger der Apostel sind? Aber auch das wird noch an anderer Stelle zu behandeln sein. Jetzt nur dies: die Papisten bauen sich eben aus dem, was sie nach ihrem Willen am sichersten schützen soll, einen Sturmbock, der all ihre Rüstungen zunichtemachen muß. Denn Christus hat seinen Jüngern die Vollmacht zum Binden und Lösen erst erteilt, als er sie mit dem Heiligen Geist begabt hatte! Ich behaupte daher, daß keinem Menschen die Schlüsselgewalt zusteht, der nicht zuvor den Heiligen Geist empfangen hat. Ich bestreite, daß ein Mensch die Schlüssel verwalten kann, ohne daß der Heilige Geist vorangeht, ihn lehrt und ihm angibt, was er tun soll. Nun schwatzen die Römischen, sie hätten den Heiligen Geist; aber mit der Tat bestreiten sie es – sie müßten uns sonst vormachen, der Heilige Geist sei ein eitles, nichtiges Ding; das tun sie auch wirklich, aber man wird es ihnen nicht glauben! Da haben wir nun aber ein Kriegsgerät, das sie gänzlich darniederwerfen wird: wenn sie den Anspruch erheben, zu irgendeiner Tür den „Schlüssel“ zu besitzen, dann muß man sie stets fragen, ob sie auch den Heiligen Geist hätten, der doch der Lenker und Verwalter der Schlüssel ist! Wenn sie dann antworten, sie hätten ihn – dann muß man sie wieder fragen, ob der Heilige Geist denn irren könnte! Das werden sie nicht ausdrücklich zu behaupten wagen, obwohl sie es in ihrer Lehre verdeckt zu verstehen geben. Man wird also zu folgern haben, daß kein Priester die Schlüsselgewalt besitzt; denn sie „lösen“ ja allenthalben ohne Unterschied, was der Herr binden wollte, und „binden“, was der Herr zu lösen befohlen hat!



III,4,21

Nun sehen die Römischen, daß man sie mit ganz einwandfreien Erfahrungsbeweisen überführen kann, wie sie Würdige und Unwürdige ohne Unterschied lösen und binden; aber da eignen sie sich die Schlüsselgewalt ohne die „Kenntnis“ zu. Und obwohl sie nicht zu leugnen wagen, daß diese „Kenntnis“ zur rechten Anwendung (der Schlüsselgewalt) erforderlich ist, schreiben sie doch, die Gewalt sei auch solchen Leuten übertragen, die sie übel austeilen. Aber diese Gewalt bedeutet doch: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“! (Matth. 18,18; Calvin zitiert abgekürzt). Nun muß also entweder Christi Verheißung lügen – oder aber die, welche dieser Vollmacht teilhaftig geworden sind, vollziehen das Binden und Lösen recht.
Eine unangebrachte Beschönigung ist es, wenn sie behaupten, das Wort Christi sei je nach den Verdiensten dessen begrenzt, der da gebunden oder gelöst würde. Auch wir bekennen, daß nur die gebunden und gelöst werden können, die würdig sind, gebunden und gelöst zu werden. Aber die Boten des Evangeliums und die Kirche haben das Wort, nach welchem sie diese Würdigkeit bemessen sollen. Mit diesem Wort können die Boten des Evangeliums allen Menschen in Christus durch den Glauben die Vergebung ihrer Sünden verheißen, und sie können gegen alle und über alle die Verdammnis predigen, die Christus nicht annehmen. In diesem Wort verkündigt die Kirche: „Weder die Hurer noch die Ehebrecher noch die Diebe noch die Mörder noch die Geizigen noch die Ungerechten werden das Reich Gottes ererben“ (1. Kor. 6,9f.; ungenau). Und solche Leute bindet die Kirche mit ganz sicheren Banden. Nach dem selbenWort löst sie die Menschen, die sie als Reuige tröstet. Was aber ist das für eine Vollmacht, nicht zu wissen, was man binden oder lösen soll? Und dabei kann man doch gar nicht binden oder lösen, wenn man das nicht weiß! Weshalb behaupten sie, auf Grund der ihnen gegebenen Vollmacht die Lossprechung zu vollziehen – wenn diese doch ungewiß ist? Was soll uns diese eingebildete Vollmacht, wenn man von ihr gar keinen Nutzen haben kann? Ich habe aber bereits erwiesen, daß wirklich kein Nutzen dabei herauskommt oder daß dieser wenigstens so ungewiß ist, daß man ihn für nichts halten muß. Sie geben selber zu, daß ein erheblicher Teil der Priester die Schlüssel nicht nach Gebühr anwendet, andererseits gestehen sie, die Schlüsselgewalt sei ohne rechtmäßigen Gebrauch kraftlos; wer kann mir nun aber die Gewißheit verschaffen, daß der Priester, der mich löst, ein rechter Verwalter der Schlüssel ist? Wenn er nun ein schlechter Verwalter ist – was kann er dann anders von sich geben, als eben eine solche abgeschmackte Austeilung(sformel) wie diese: Was an dir zu binden oder zu lösen ist, das weiß ich nicht; denn mir fehlt die rechte Anwendung der Schlüssel; aber wenn du es verdienst, so spreche ich dich los!? Soviel vermöchte nun aber auch – ich sage nicht: ein Laie; denn das würden sie nicht gerne hören, sondern – ein Türke oder der Teufel! Denn es heißt doch soviel, als wenn man sagte: Das Wort Gottes habe ich nicht, diese gewisse Richtschnur für das Lösen – aber mir ist die Vollmacht gegeben worden, dich loszusprechen, wenn deine Verdienste danach sind! Da sehen wir nun also, was die Römischen im Auge haben, wenn
sie in ihrer Lehre erklären, die Schlüssel seien die Autorität, ein Urteil abzugeben, und die Vollmacht, es zu vollziehen; die „Kenntnis“ komme als Ratgeber hinzu und sei wie ein Ratgeber zu rechter Anwendung der Schlüsselgewalt nütze: Sie wollten eben nach ihren eigenen Lüsten, mutwillig, ohne Gott und sein Wort herrschen!



III,4,22

Nun könnte aber der Einwand erfolgen, auch die rechtmäßigen Diener Christi müßten unter solchen Umständen in ihrer Amtsführung ungewiß sein, weil ja die Lossprechung – die doch vom Glauben abhängt! – stets eine zweifelhafte Sache sein werde! Man könnte weiter sagen, die Sünder könnten keinen oder bloß einen kraftlosen Trost empfangen, weil ja der Diener selber gar kein geeigneter Richter über ihren Glauben und deshalb ihrer Lossprechung nicht gewiß sei. Da ist aber die Lösung schon bereit. Die Römischen behaupten, der Priester könne nur die Sünden vergeben, von denen er selbst Kennwis erlangt habe; sie sind also der Meinung, daß die Vergebung vom Urteil des Priesters abhängt: trifft er keine verständige Entscheidung darüber, wer nun der Vergebung würdig sei, dann ist das ganze Verfahren leer und nichtig. Kurzum, die Vollmacht, von der sie sprechen, ist (nach ihrer Meinung) eine richterliche Gewalt, die an die Untersuchung des Tatbestandes gebunden ist, von der die Vergebung und Lossprechung abhängt. In diesem Stück findet sich nun nichts Festes, ja es ist alles ein tiefer Abgrund. Denn wo die Beichte nicht vollständig ist, da ist auch die Hoffnung auf Vergebung verstümmelt. Auch muß der Priester selbst dauernd im Ungewissen bleiben, weil er ja nicht weiß, ob der Sünder seine bösen Werke treulich aufzählt oder nicht! Und schließlich ist bei der Unwissenheit und mangelnden Bildung der Priester deren größerer Teil zur Ausübung dieses Amtes nicht geschickter als der Schuster zum Ackerbau; die übrigen aber müssen sich mit Recht fast alle selber verdächtig vorkommen! Die Ungewißheit und der Zweifel gegenüber der unter dem Papsttum geschehenden Lossprechung kommen also daher, daß man diese Lossprechung auf die Person des Priesters gegründet wissen will, und zwar nicht allein dies, sondern zugleich auch auf dessen richterliche Untersuchung, so daß er also nur über solche Dinge ein Urteil spricht, die ihm vorgebracht sind, die er untersucht hat und deren er den Sünder überführt hat. Wenn nun jemand diese frommen Lehrer fragt, ob denn der Sünder auch dann mit Gott versöhnt wäre, wenn nur einige Sünden vergeben wären, so weiß ich nicht, was sie dann antworten wollen. Einzig werden sie zugeben müssen, daß alles, was der Priester von der Vergebung der Sünden ausspricht, deren Aufzählung er gehört hat, ohne Frucht bleiben muß, solange der Schuldzustand für die anderen Sünden nicht verschwindet! Sehen wir auf den, der da beichtet, so merken wir, daß sein Gewissen von einer verderblichen Angst in Fesseln geschlagen ist; und das geht daraus hervor, daß er, solange er sich – wie man sagt – auf die Entscheidung des Priesters verläßt, aus Gottes Wort nichts Gewisses feststellen kann. Von all diesen Widersinnigkeiten ist die Lehre, die wir vortragen, frei und unberührt. Die Lossprechung ist in folgendem Sinne bedingt: der Sünder soll darauf vertrauen, daß Gott ihm gnädig ist, wenn er nur ehrlich in Christi Opfer seine Versöhnung sucht und sich auf die Gnade verläßt, die ihm angeboten ist. Wer also in seinem Amte als Herold das bekanntmacht, was ihm aus Gottes Wort aufgetragen ist, der kann nicht irren! Der Sünder aber kann eine sichere und klare Lossprechung empfangen, und dabei wird nun die eine schlichte Bedingung hinzugesetzt, daß er Christi Gnade annehmen muß; dies aber geschieht nach der allgemeinen Regel des Meisters selbst, die im Papsttum gottlos verachtet worden ist: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast!“ (Matth. 8,13; 9,29).



III,4,23

Wie töricht man (unter dem Papsttum) durcheinanderwirft, was die Schrift von der Schlüsselgewalt lehrt, das habe ich an anderem Ort auszuführen versprochen, und eine geeignetere Stelle dazu wird die Behandlung des Kirchenregiments sein. Trotzdem mag der Leser (bereits hier) daran denken, daß man dabei Worte, die Christus teils von der Predigt des Evangeliums, teils vom Bann ausgesprochen hat, fälschlich auf die Ohrenbeichte oder verborgene Beichte bezieht. Wenn man uns vorhält, das Recht zum Lösen sei den Aposteln gegeben worden, und dieses Recht übten nun die Priester aus, indem sie die ihnen bekanntgewordenen Sünden vergäben – so stellt man damit offenkundig einen falschen und unsinnigen Grundsatz auf. Denn die Lossprechung, die dem Glauben dient, ist ja gar nichts anderes als die Bezeugung der Vergebung, die aus der Gnadenverheißung des Evangeliums genommen ist. Die andere Art der Lossprechung, die mit der Kirchenzucht zusammenhängt, hat mit den verborgenen Sünden nichts zu schaffen, sondern bezieht sich auf das Beispiel, das einer gibt, und dient dazu, ein öffentliches Ärgernis der Kirche zu beheben. Nun aber kratzen die römischen Theologen da und dort Zeugnisse zusammen, die beweisen sollen, es sei nicht ausreichend, wenn man Gott allein oder auch einem Laien seine Sünden bekenne – sofern nicht ein Priester die Untersuchung führte. Aber das ist ein fauler und beschämender Eifer! Gewiß, die Väter der Alten Kirche geben den Sündern den Rat, sich bei ihrem Pastor ihre Last abnehmen zu lassen; aber das darf nicht auf die Aufzählung der Sünden bezogen werden, die dazumal noch nicht in Übung stand. Dann scheinen Petrus Lombardus und seinesgleichen in ihrer Ungeschicklichkeit auch geradezu mit Absicht unechten Büchern verfallen zu sein, die ihnen den Vorwand dazu boten, schlichte Leute zu täuschen. Allerdings gestehen sie richtig zu, die Lossprechung trete ja stets bloß in der Begleitung der Buße auf, und deshalb bleibe eigentlich keinerlei Gebundenheit übrig, wenn jemand von der Buße erfaßt sei, selbst wenn er noch nicht gebeichtet habe. Auf diese Weise wäre es dann die Aufgabe des Priesters, nicht sowohl die Sünden zu vergeben, als vielmehr zu verkündigen und zu erklären, daß sie vergeben sind! Freilich lassen sie dann bei dem Begriff „Erklären“ einen groben Irrtum eindringen, indem sie an die Stelle der Lehrunterweisung eine Zeremonie setzen. Wenn sie aber dann weiter sagen, der Mensch, der vor Gott Vergebung erlangt habe, werde dann auch vor dem Angesicht der Kirche losgesprochen, so beziehen sie eine Einrichtung, die, wie ich bereits ausgeführt habe, der öffentlichen Zucht zugehört und die zur Behebung einer durch schwere und bekanntgewordene Verschuldung entstandenen Kränkung der Kirche dient, unrichtig auf die besondere Übung durch jeden Einzelnen. Aber derartige Milderungen verkehren und verderben sie dann bald darauf, indem sie eine andere Weise der Vergebung anfügen, nämlich die, bei der man den Menschen Strafe und Genugtuung auferlegt; damit sprechen sie ihren Opfern das Recht zu, das zu halbieren, was Gott überall als vollständig verheißen hat. Denn wenn er einfach Buße und Glauben fordert, dann ist diese Teilung (erstens Buße und Glauben, zweitens Strafe und Genugtuung) und diese Einschränkung durch und durch frevelhaft! Denn das bedeutet nichts anderes, als daß sich der Priester gleichsam zum Tribun macht, bei Gott Einspruch erhebt und nicht zulassen will, daß Gott den Sünder aus freier Güte in Gnaden annimmt, sofern sich dieser nicht vor dem Richtstuhl des Tribunen niedergeworfen und dort seine Strafe empfangen hat!
Simon W.

Der Pilgrim
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III,4,24

Ich fasse das Ganze zusammen: wenn die Römischen Gott zum Urheber ihrer erdichteten Beichte machen wollen, so ist damit ihre Eitelkeit erwiesen; ich habe auch gezeigt, daß sie die wenigen Stellen, die sie anführen, fälschlich vorbringen. Wenn es aber offenkundig ist, daß es sich hier um ein von Menschen auferlegtes Gesetz handelt, so behaupte ich zugleich, daß es tyrannisch ist und daß seine Aufbringung Gott Unrecht tut; denn Gott bindet die Gewissen an sein Wort und will, daß sie von der Herrschaft der Menschen los sein sollen! Wenn weiter zur Erlangung der Vergebung ein Verfahren als notwendig vorgeschrieben wird, das nach Gottes Willen freiwillig sein sollte, so erkläre ich, daß dies ein schlechterdings unerträglicher Frevel ist. Denn Gott ist nichts so sehr eigen wie die Vergebung der Sünden, auf der unser Heil beruht! Außerdem habe ich bewiesen, daß diese Tyrannei erst aufgekommen ist, als die Welt unter dem Druck schändlicher Barbarei lag. Dann habe ich auch dargelegt, daß wir hier ein verderbenbringendes Gesetz vor uns haben: wo Gottesfurcht lebendig ist, da stürzt es die armen Seelen in Verzweiflung, wo aber ein Mensch in Sicherheit dahinlebt, da streichelt es diese noch mit eitlen Schmeicheleien und macht die Verstockung nur noch größer! Und endlich habe ich auseinandergesetzt, daß alle Milderungen, die sie vorbringen, keinen anderen Zweck haben, als die reine Lehre zu verhüllen, zu verdunkeln und zu verderben, ihre gottlosen Taten aber hinter falschen Farben zu verbergen!



III,4,25

Den dritten Platz nimmt bei der Buße nach römischer Lehre die Genugtuung (satisfactio) ein (Sentenzen IV,16,4). Das Geschwätz, das sie nun hiervon machen, läßt sich mit einem Wort widerlegen. Man sagt: es genügt nicht, daß ein Mensch, der Buße tut, von seinen vergangenen bösen Werken absteht und sein Leben bessert, nein, er muß auch für das, was er bereits getan hat, Gott Genugtuung leisten! (Decretum Gratiani, II,33,3,1,63). Es gibt nun nach der römischen Lehre vielerlei Mittel, durch die wir uns von unseren Sünden loskaufen können: Tränen, Fasten, Opfer und Werke der Liebe. Mit diesen Werken sollen wir den Herrn versöhnen, der Gerechtigkeit Gottes Genüge tun, unsere Sünde gutmachen und die Vergebung verdienen (Decretum Gratiani, II,33,3,1,76). Denn Gott hat uns, so erklärt man, zwar durch seine große Barmherzigkeit unsere Schuld vergeben; aber die Strafe bleibt durch die Zuchtübung seiner Gerechtigkeit bestehen; und das ist die Strafe, von der wir uns durch unsere genugtuenden Werke loskaufen müssen (Decretum Gratiani, II,33,3,1,42). Alles läßt sich dahin zusammenfassen: wir empfangen zwar aus Gottes Freundlichkeit die Vergebung für unsere Übeltaten, aber doch so, daß dabei das Verdienst der Werke dazwischentritt; mit diesen Werken wird die Strafe für die Sünden abgetragen, damit der Gerechtigkeit Gottes die schuldige Genugtuung geschehe. Dergleichen Lügen stelle ich die Vergebung der Sünden aus lauter Gnade entgegen; denn nichts ist in der Schrift so deutlich verkündigt wie diese! (Jes. 52,3; Röm. 5,8; Röm. 3,24; Kol. 2,13f.; Tit. 3,5). Zunächst: Was ist Vergebung anders als ein Geschenk aus reiner Güte? Wenn nämlich ein Gläubiger mit einer Quittung bescheinigt, daß er sein Geld bekommen hat, dann sagt man nicht, er habe die Schuld erlassen; davon redet man nur, wenn er ohne jede Zahlung freiwillig aus Wohltätigkeit die Schuld ausstreicht! Und alsdann: weshalb wird denn hinzugesetzt: „Aus Gnaden“? Doch nur, damit jeder Gedanke an Genugtuung verschwinde! Aus was für einer Kühnheit heraus richtet man denn seine genugtuenden Werke noch auf, die von einem so gewaltigen Blitzschlag zu Boden geworfen werden? Wieso? Der Herr ruft durch Jesaja aus: „Ich, Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht!“ (Jes. 43,25). Verkündet er damit nicht offen, daß er die Ursache und das Fundament zur Vergebung einzig und allein aus seiner Güte hernimmt? Und weiter: die ganze Schrift gibt Christus das Zeugnis, daß „durch seinen Namen alle … Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg. 10,43). Schließt sie damit nicht alle sonstigen „Namen“ aus? Wie kann man dann aber lehren, daß die Vergebung im „Namen“ der genugtuenden Werke empfangen werde? Die Römischen können aber nicht leugnen, daß sie das den genugtuenden Werken zuschreiben, selbst wenn diese gewissermaßen bloß als Hilfen eintreten! Denn wenn die Schrift sagt: „Durch den Namen Christi“ – dann versteht sie darunter, daß wir nichts bringen, daß wir nichts von dem Unsrigen vorwenden, sondern daß wir uns einzig und allein auf Christi Vermittlung stützen! So lehrt Paulus: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu …“ (2. Kor. 5,19); und dann setzt er alsbald die Art und Weise und die Ursache hinzu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht!“ (2. Kor. 5,21).



III,4,26

Die Papisten behaupten nun aber in ihrer Verkehrtheit, die Vergebung der Sünden und die Versöhnung geschähen einmal, nämlich wenn wir in der Taufe durch Christus bei Gott in Gnaden angenommen würden, nach der Taufe aber müßten wir uns durch genugtuende Werke wieder erheben, und das Blut Christi nutze uns nichts, sofern es nicht durch die Schlüssel(gewalt) der Kirche ausgespendet würde. Dabei rede ich nicht von einer zweifelhaften Sache; denn sie haben ihre Unreinigkeit in ganz klaren Schriften an den Tag gebracht, und zwar nicht der eine oder andere, sondern sämtliche Scholastiker! Ihr Meister bekennt allerdings zunächst auf Grund der Lehre des Petrus (1. Petr. 2,24), daß Christus an dem „Holze“ die Strafe für unsere Sünden getragen hat; aber dann ändert er gleich jene Aussage, indem er die Einschränkung hinzusetzt: in der Taufe werden alle zeitlichen Sündenstrafen erlassen, aber nach der Taufe werden sie durch das Mittel der Buße gemindert, so daß also das Kreuz Christi und unsere Buße gleichermaßen zusammenwirken! (Sentenzen III,19,4). Aber Johannes redet ganz anders: „Und ob jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum … und derselbe ist die Versöhnung für unsere Sünden … Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen …“ (1. Joh. 2,1f.12). Er spricht da sicherlich zu Gläubigen: wenn er nun denen Christus als die Versöhnung für die Sünden vor Augen stellt, so zeigt er damit, daß es keine andere Genugtuung gibt, durch welche Gott, der erzürnt ist, gnädig gemacht und versöhnt werden könnte. Er sagt nicht etwa: Einmal ist euch Gott durch Christus gnädig gemacht worden – jetzt müßt ihr euch andere Mittel suchen; nein, er erklärt Christus für den ewigen Fürsprecher, der uns stets durch sein Eintreten bei dem Vater zu Gnaden bringt, er kennt ihn als die stete Versöhnung, in der unsere Sünden getilgt werden. Es bleibt ständig wahr, was der andere Johannes (der Täufer) einst sagte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde träg’”(Joh. 1,29). Ich sage: dieses Lamm trägt die Sünden selbst, kein anderer! Und das heißt: da er selber das Lamm Gottes ist, so ist er allein auch das Opfer für unsere Sünden, er allein die Sühne, er allein die Genugtuung! Das Recht und die Vollmacht zur Vergebung kommt im eigentlichen Sinne dem Vater zu, wo er vom Sohne unterschieden wird – wie wir das bereits sahen. So steht hier Christus an zweiter Stelle, weil er die von uns verwirkte Strafe auf sich genommen und damit unsere Schuld vor Gottes Gericht getilgt hat. Daraus folgt, wir haben nur dann Anteil an der Versöhnung, „so durch Christus geschehen ist“ (Anklang an Röm. 3,24), wenn bei ihm die Ehre liegt, welche ihm die Menschen rauben, die Gott mit ihren eigenen genugtuenden Werken zu versöhnen trachten!



III,4,27

Hier sind nun zwei Erfordernisse zu erwägen: erstens muß Christus seine Ehre vollkommen und ungeschmälert behalten, zweitens muß das Gewissen der Vergebung der Sünden sicher sein und so Frieden mit Gott haben (vergleiche Kapitel 13). Jesaja sagt uns, daß der Vater alle unsere Missetaten auf den Sohn gelegt hat, damit wir durch „seine Wunden heil“ würden (Jes. 53,4.6). Das wiederholt Petrus mit anderen Worten: „Christus hat unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz …“ (1. Petr. 2,24). Und Paulus schreibt, die Sünde sei an Christi Fleisch verdammt worden, als er für uns zur Sünde gemacht wurde (Röm. 8,3; Gal. 3,13; 2. Kor. 5,21). Das bedeutet: Die Kraft und der Fluch der Sünde sind an seinem Fleische getötet worden, als er zum Opfer hingegeben wurde, auf das die ganze Last unserer Sünden gelegt werden sollte mit ihrer Vermaledeiung und ihrem Fluch, mit dem furchtbaren Richterspruch Gottes und mit der Verdammnis zum Tode! Hier hört man rein gar nichts von der Phantasterei, nach der ersten Reinigung (in der Taufe) könne nun keiner von uns mehr die Kraft des Leidens Christi erfahren, außer nach dem Maße seiner genugtuenden Buße. Nein, die Schrift ruft uns jedesmal, wenn wir gefallen sind, zu der einigen Genugtuung Christi zurück! Nun halte man sich aber das verderbenbringende Geschwätz der Papisten vor Augen! Man sagt so: Bei der ersten Vergebung der Sünden (in der Taufe) wirkt Gottes Gnade allein; fallen wir aber danach wieder in Sünde, so wirken zur Erlangung der zweiten Vergebung unsere Werke mit! Wenn das nun so ist – bleibt dann Christus auch das unverkürzt erhalten, was ihm oben beigelegt wurde? Nein, was ist das doch für ein entsetzlicher Unterschied, ob unsere Übeltaten alle auf Christus gelegt werden, um in ihm Sühne zu finden – oder ob wir durch unsere eigenen Werke Sühne empfangen; ob Christus die „Versöhnung ist für unsere Sünden“ – oder ob wir Gott durch Werke versöhnen müssen! Das zweite Erfordernis war, daß dem Gewissen zum Frieden verholfen werden müsse. Geht es nun darum, was soll das denn für ein Stillen des Gewissens sein, wenn es hört, die Sünden müßten durch genugtuende Werke getilgt werden? Wann wird es je die Gewißheit haben, mit seinen genugtuenden Werken das rechte Maß erreicht zu haben? Es wird also immerfort im Zweifel sein, ob es nun Gott für gnädig halten darf, es wird immerfort in Qual und Schrecken leben! Denn die Leute, die sich auf geringe Werklein zur Genugtuung verlassen, die denken allzu verächtlich von Gottes Gericht und erwägen, wie ich noch an anderer Stelle darlegen muß, zu wenig, wie groß das Gewicht der Sünde ist. Aber wenn man den Menschen auch zugäbe, sie könnten für eine bestimmte Anzahl von Sünden mit rechter Genugtuung die Vergebung erkaufen – was sollen sie dann tun, wenn sie sich von soviel Sünden bestürmt sehen, daß nicht hundert Leben hinreichen könnten, für sie Genugtuung zu leisten, selbst wenn man sie ausschließlich damit zubrächte? Auch muß man bedenken, daß all die Stellen, in denen die Vergebung der Sünden gelehrt wird, nicht an solche Menschen gerichtet sind, die erst im Glauben unterwiesen werden, sondern an wiedergeborene Kinder Gottes, die lange Zeit im Schoße der Kirche aufgezogen sind! Die Botschaft, die Paulus so herrlich erhebt: „So bitten wir nun an Christi Statt: lasset euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,20) – diese Botschaft richtet sich nicht an Außenstehende, sondern an solche, die bereits vor langer Zeit wiedergeboren waren! Und doch gibt er allen genugtuenden Werken den Abschied und weist diese Menschen zu Christi Kreuz! Oder wenn Paulus an die Kolosser schreibt: „daß alles … versöhnt würde zu ihm selbst, es sei auf Erden oder im Himmel, damit daß er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz …“ (Kol. 1,20) – so beschränkt er das nicht auf den Augenblick, da wir in die Kirche aufgenommen werden, sondern er dehnt das auf den ganzen Lauf unseres Lebens aus. Das ergibt sich leicht aus dem Zusammenhang, wo er von den Gläubigen sagt, daß sie „die Erlösung durch das Blut Christi haben“, nämlich „die Vergebung der Sünden“ (Kol. 1,14). Es ist allerdings überflüssig, hier noch mehr Stellen zusammenzuhäufen, wie sie immer wieder vorkommen.
Simon W.

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III,4,28

Die Scholastiker nehmen nun aber ihre Zuflucht zu der abgeschmackten Unterscheidung, einige Sünden seien „läßliche“ Sünden (peccata venialia), andere dagegen „Todsünden“ (peccata mortalia). Für die Todsünden ist danach der Mensch schwere Genugtuung schuldig, die „läßlichen Sünden“ lassen sich dagegen mit leichteren Mitteln tilgen, nämlich durch ein „Vaterunser“, durch Besprengung mit Weihwasser und durch die in der Messe erfolgende Lossprechung. So treiben sie mit Gott ein unsinniges Spiel! Und obwohl sie die Begriffe „läßliche Sünde“ und „Todsünde“ immerzu im Munde führen, so haben sie es noch nicht fertiggebracht, sie voneinander zu unterscheiden – abgesehen davon, daß sie die Gottlosigkeit und Unreinigkeit des Herzens für eine „läßliche Sünde“ erklären! Wir verkündigen dagegen, weil es uns die Schrift, die Regel über Gerecht und Ungerecht, so lehrt, – daß „der Tod der Sünde Sold“ ist, und daß, „welche Seele sündigt, die soll sterben“ (Röm. 6,23; Ez. 18,20). Ferner sagen wir, daß die Sünden der Gläubigen „läßlich“ sind, und zwar nicht, weil sie etwa nicht den Tod verdienten, sondern weil nach Gottes Erbarmen „nichts verdammliches an denen ist, die in Christo Jesu sind“ (Röm. 8,1), weil ihnen die Sünden nicht zugerechnet werden und weil sie in der Vergebung getilgt werden! Ich weiß, was für ungerechte Schmähungen man gegen diese unsere Lehre vorbringt: man behauptet, das sei hier die widersinnige Behauptung der Stoiker von der Gleichheit der Sünden; aber ich werde die Gegner ohne Mühe durch ihre eigenen Worte widerlegen. Ich frage sie nämlich, ob sie nicht unter den Sünden, die sie (alle gleichermaßen) für „Todsünden“ erklären, die eine für geringer halten als andere. (Das müssen sie bejahen.) Es ergibt sich also nicht sogleich die Folgerung, die Sünden, die alle miteinander gleichermaßen „Todsünden“ sind, müßten auch (untereinander) gleich sein, wenn die Schrift erklärt, der Sünde Sold sei der Tod, der Gehorsam gegen das Gesetz sei der Weg zum Leben, die Übertretung aber der Tod, so können unsere Gegner da nicht herauskommen! Wie wollen sie nun die Möglichkeit finden, bei einem so großen Haufen von Sünden je mit ihrer „Genugtuung“ zu Ende zu kommen? Nehmen wir an, daß man an einem Tag für eine Sünde Genugtuung leisten kann, so verwickelt man sich eben, während man sein Sinnen darauf richtet, wieder in viele neue Sünden! Denn auch der Gerechteste kann keinen Tag leben, ohne oftmals in Sünde zu fallen (Spr. 24,16). Während sich die Römischen aber rüsten, Genugtuung zu leisten, häufen sie zahlreiche, nein vielmehr zahllose weitere aufeinander! So ist also die Zuversicht auf solche Genugtuung abgeschnitten. Was säumen sie da? Wie wagen sie es, noch an Genugtuung zu denken?



III,4,29

Sie versuchen sich nun freilich herauszuwinden – aber „das Wasser bleibt ihnen aus“, wie es heißt! So ersinnen sie sich einen Unterschied zwischen Schuld und Strafe. Sie geben zu, daß die Schuld durch Gottes Barmherzigkeit vergeben wird; ist aber die Schuld vergeben, so bleibt noch die Strafe, und die muß nach der Forderung der Gerechtigkeit Gottes bezahlt werden! Auf den Erlaß der Strafe zielen nun im eigentlichen Sinne die genugtuenden Werke. Gütiger Gott, was ist das für eine tolle Leichtfertigkeit! Zuerst bekennen sie, daß uns die Vergebung der Schuld rein aus Gnade dargeboten wird – und dann erklären sie doch gleich darauf, sie müsse mit Beten und Weinen und allerlei anderen Übungen verdient werden! Aber auch noch mit dieser Unterscheidung steht alles, was uns die Schrift über die Vergebung der Sünden lehrt, in schroffem Gegensatz. Ich bin zwar der Ansicht, daß ich das bereits mehr als zur Genüge bewiesen habe – aber ich will doch noch einige weitere Schriftzeugnisse anfügen: dahinein sollen denn diese wendigen Schlangen dermaßen verstrickt werden, daß sie nicht einmal die äußerste Schwanzspitze mehr krümmen können! Nach Jeremia besteht „der neue Bund“, den Gott in seinem Christus mit uns geschlossen hat, darin, daß er „unserer Sünden nimmermehr gedenken“ will! (Jer. 31,31-34). Was der Herr hiermit sagen will, das erfahren wir bei einem anderen Propheten; da spricht er: „Und wo sich der Gerechte kehrt von seiner Gerechtigkeit … soll aller seiner Gerechtigkeit nicht gedacht werden“, und andererseits: „wo sich der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden … soll aller seiner Übertretung nicht gedacht werden:“ (Ez. 18,24. 21f.). Wenn der Herr erklärt, er werde der gerechten Werke nicht gedenken, so bedeutet das er wird sie nicht mehr strafen! Das Gleiche kommt an anderen Stellen so zum Ausdruck: er „wirft die Sünden hinter sich zurück“ (Jes. 38,17), er „vertilgt sie wie eine Wolke“ (Jes. 44,22), er „wirft sie in die Tiefen des Meeres“ (Micha 7,19), er „rechnet sie nicht zu“ (Ps. 32,2) er „bedeckt sie“ (Ps. 32,1). Das sind Ausdrucksformen, mit denen uns der Heilige Geist deutlich genug auseinandergesetzt hat, was er meint – wenn wir ihm nur gelehrig unser Ohr leihen wollen! Es ist doch wirklich so: wenn Gott die Sünden straft, so rechnet er sie zu; wenn er für die Sünden Vergeltung übt, dann gedenkt er ihrer, wenn er sie vor sein Gericht ruft, dann bedeckt er sie nicht, wenn er sie erforscht, so hat er sie eben nicht hinter sich geworfen, wenn er auf sie blickt, so hat er sie nicht wie eine Wolke vertilgt, wenn er sie vor sich bringt, so hat er sie nicht in die Tiefen des Meeres geworfen! So legt es auch Augustin mit klaren Worten aus: „Wenn Gott die Sünden bedeckt hat, so hat er sie nicht bemerken wollen, wollte er sie nicht bemerken, so hat er sie auch nicht wahrnehmen wollen, wenn er sie nicht wahrnehmen wollte, so wollte er sie auch nicht strafen – er wollte sie nicht kennen lernen, sondern er wollte sie lieber vergeben. Warum hat er denn gesagt, daß die Sünden bedeckt sind? Weil sie nicht mehr gesehen werden sollen! Was hieß das aber: Gott sieht die Sünden? Nichts anderes als: er straft sie!“ (Erklärung zu Psalm 31 [32]). Wir wollen aber aus einer anderen Prophetenstelle vernehmen, nach welcher Ordnung Gott die Sünden vergibt: „Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Scharlach, so soll sie doch wie Wolle werden!“ (Jes. 1,18). Bei Jeremia aber lesen wir: „In denselbigen Tagen wird man die Missetat Jakobs suchen … aber es wird keine da sein, und die Sünden Judas, aber es wird keine gefunden werden; denn ich will sie vergeben denen, die ich übrigbleiben lasse“ (Jer. 50,20). Will man in Kürze zusammenfassen, was diese Worte für einen Sinn haben, so muß man nur auf der anderen Seite erwägen, was die folgenden Äußerungen bedeuten: „Du hast meine Übertretung in ein Bündlein versiegelt“ (Hiob 14,17) oder: „Die Sünde Judas ist geschrieben mit eisernen Griffeln und mit spitzigen Demanten geschrieben“ (Jer. 17,1). Die letzteren Stellen bedeuten, daß Gott die Sünden rächend vergelten wird. Wenn das aber der Sinn ist – und das ist außer Zweifel! – dann ist es auch nicht zu bezweifeln, daß der Herr in den entgegengesetzten Stellen versichert, er werde jede rächende Vergeltung unterlassen. Hier bitte ich die Leser inständig, nicht auf meine Anmerkungen zu hören, sondern nur zuzugestehen, daß Gottes Wort einigen Raum hat!



III,4,30

Ich möchte doch wissen, was uns denn Christus erworben hat, – wenn von uns noch immer Strafe für unsere Sünden gefordert wird! Wir sagen: „Er hat alle unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz“ (1. Petr. 2,24; nicht ganz Luthertext). Damit wollen wir doch nur zum Ausdruck bringen: er hat die Strafe und die Vergeltung auf sich genommen, die wir mit unseren Sünden verdient hatten! Das hat Jesaja noch deutlicher erklärt: „Die Strafe“ – oder auch: die Züchtigung – „liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten“ (Jes. 53,5). Was ist aber diese „Züchtigung“, „damit wir Frieden hätten“? Sie ist die Strafe, die wir mit unseren Sünden verdient hatten und die wir – wenn Christus nicht selbst an unsere Stelle getreten wäre! – hätten tragen müssen, ehe wir mit Gott hätten versöhnt werden können! Da sehen wir ganz deutlich: Christus hat die Strafe für die Sünden auf sich genommen, um die Seinen von ihr loszukaufen! Jedesmal, wenn Paulus von der Erlösung spricht, die durch Christus geschehen ist, braucht er dafür den Ausdruck „Apolytrosis“ (Loskaufung) (Röm. 3,24; 1. Kor. 1,30; Eph. 1,7; Kol. 1,14). Dieser Ausdruck besagt nicht einfach „Erlösung“, wie man dies Wort gemeinhin versteht, sondern bezeichnet auch das Lösegeld und die Genugtuung, die zur Erlösung führen. In diesem Sinne schreibt er auch, Christus habe sich selbst für uns als „Antilytron“ (Lösegeld) hingegeben (1. Tim. 2,6). Augustin sagt: „Was gibt es vor dem Herrn anders für eine Versöhnung, als das Opfer? Und was gibt es anders für ein Opfer als das, welches im Tode Christi für uns dargebracht ist?“ (zu Psalm 129). Einen ganz besonders starken Sturmbock aber gewinnen wir in den Vorschriften, die das Gesetz des Mose für die Sühnung der Sündenschulden gibt. Denn da hat der Herr nicht diese oder jene Art der Genugtuung vorgeschrieben, sondern er verlangt, daß die gesamte Sühne einzig und allein durch die Opfer geschehe. Trotzdem legt er im Gesetz doch sonst die sämtlichen Sühnebräuche gründlichst und in genauester Ordnung dar: Wie kommt es aber, daß er keinerlei Werke anordnet, mit denen man für die begangenen Sünden Heilung suchen könnte, sondern zur Versöhnung einzig und allein dieOpfer fordert? Doch allein daher, daß er hier bezeugen will: es gibt nur eine einzige Art der Genugtuung, in der sein Urteil Genüge findet! Denn die Opfer, die die Israeliten dazumal darbrachten, galten ja nicht als das Werk von Menschen, sondern sie wurden nach ihrer Wahrheit, nämlich nach dem einigen Opfer Christi beurteilt. Was für eine Bezahlung der Herr von uns empfängt, das hat Hosea mit wenigen Worten sehr treffend ausgedrückt: „Du, Gott, nimmst unsere Missetat von uns“ – das ist die Vergebung der Sünden -, „und so wollen wir opfern die Farren unserer Lippen“ – das ist die Genugtuung! (Hos. 14,3; Anfang nicht Luthertext). Ich weiß aber, daß die Scholastiker sich mit einer noch feineren Unterscheidung herauszuwinden versuchen: sie unterscheiden zwischen der ewigen Strafe und den „zeitlichen Sündenstrafen“. Aber sie verstehen unter diesen „zeitlichen Sündenstrafen“ jederlei Züchtigung, die Gott Leib oder auch Seele zufügt, unter alleiniger Ausnahme des ewigen Todes, und deshalb kann ihnen diese Einschränkung (ihrer Gesamtlehre) wenig Erleichterung verschaffen. Denn die Stellen, die ich oben herangezogen habe, wollen uns doch ausdrücklich sagen: wir werden unter der Bedingung von Gott in Gnaden angenommen, daß er uns durch die Vergebung unserer Schuld auch alles vergibt, was wir an Strafe verwirkt haben. Und jedesmal, wenn David oder die anderen Propheten Gott um Vergebung der Sünden bitten, erflehen sie zugleich auch den Erlaß der Strafe. Dahin treibt sie wahrhaftig bereits das Empfinden des göttlichen Gerichts. Und andererseits: wenn sie im Auftrage des Herrn die Barmherzigkeit verheißen, so reden sie in ihrer Predigt fast durchweg mit voller Absicht zugleich von den Strafen und ihrer Erlassung. Wenn der Herr bei Ezechiel ankündigt, er werde der babylonischen Gefangenschaft ein Ende setzen, und zwar um seinetwillen und nicht um der Juden willen (Ez. 36,22. 32) – dann zeigt er damit gewiß deutlich, daß beides (Vergebung und Erlaß der Strafe) aus Gnaden geschieht. Kurzum, wenn wir durch Christus von der Schuld freigemacht werden, dann müssen auch die Strafen aufhören, die aus dieser Schuld kommen!
Simon W.

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III,4,31

Aber unsere Gegner wappnen sich auch ihrerseits mit Schriftzeugnissen, und wir wollen sehen, welcher Art die Beweismittel sind, die sie für sich in Anspruch nehmen. Sie sagen zunächst: als David um seines Ehebruchs und seines Mordes willen von Nathan einen Verweis empfangen hatte, da empfing er zwar Vergebung der Sünde; trotzdem wurde er hernach durch den Tod des Sohnes, der jenem Ehebruch entstammte, gestraft (2. Sam. 12,13f.). Solche Strafen, die uns auch nach der Vergebung der Schuld noch treffen müßten, sollen wir nun nach der (römischen) Kirchenlehre durch genugtuende Werke ablösen. Denn Daniel hat den Nebukadnezar ermahnt, er solle sich durch Almosen von seinen Sünden loskaufen (Dan. 4,24). Und Salomo schreibt: „Durch Gerechtigkeit und Frömmigkeit wird Missetat versöhnt“ (Spr. 16,6; nicht Luthertext) und anderwärts: „Liebe deckt zu alle Übertretungen“ (Spr. 10,12). Den letzteren Spruch bekräftigt auch Petrus (1. Petr. 4,8). Ferner sagt der Herr bei Lukas von der großen
Sünderin: „Ihr sind viele Sünden vergeben; denn sie hat viel geliebt“ (Luk. 7,47). Wie verdreht und töricht urteilen doch diese Leute immerzu über Gottes Werke! Hätten sie aber darauf geachtet – und daran durften sie unter keinen Umständen vorbeigehen! -, daß es zweierlei Arten des göttlichen Gerichts gibt, so hätten sie auch gemerkt, daß die Züchtigung des David eine ganz andere Art von Strafe ist, als daß man etwa auf den Gedanken kommen könnte, sie diente der Vergeltung! Es ist nun aber für uns alle von außergewöhnlicher Bedeutung, daß wir erkennen, welchen Zweck die Züchtigungen Gottes haben, mit denen er unsere Sünden heimsucht, und wie sehr sie sich von den als Beispiel dienenden Strafen unterscheiden, mit denen er die Gottlosen und Verworfenen zürnend verfolgt. Deshalb wird es nach meiner Ansicht zweckmäßig sein, diesem Tatbestand zusammenfassend nachzugehen. Zum besseren Verständnis nennen wir das eine Gericht „Vergeltungsgericht“, das andere dagegen „Züchtigungsgericht“. Unter dem Vergeltungsgericht verstehen wir nun dies: Gott übt an seinen Feinden dergestalt seine Strafe, daß er seinen Zorn gegen sie zur Auswirkung bringt, sie verwirrt, zerstreut und zunichte macht. Gottes Vergeltung ist also im eigentlichen Sinne da zu erblicken, wo die Strafe mit seinem Zorn verbunden ist. Bei dem Züchtigungsgericht tritt er uns nicht so hart entgegen, daß er etwa zürnt, auch übt er keine Vergeltung, um zugrunde zu richten oder in seinem Grimm den Menschen untergehen zu lassen. Daher handelt es sich hier nicht eigentlich um eine verderbende Strafe oder Vergeltung, sondern um Züchtigung und Vermahnung. Das Vergeltungsgericht übt Gott als Richter, das Züchtigungsgericht als der Vater. Denn wenn ein Richter den Übeltäter straft, so ahndet er das Vergehen selbst und übt Strafe für die Übeltat selbst. Wenn dagegen ein Vater seinen Sohn hart züchtigt, so tut er das nicht, um Vergeltung zu üben oder zu strafen, sondern um ihn zu lehren und ihn für die Folgezeit achtsamer zu machen. Einen etwas anderen, aber doch in der gleichen Richtung laufenden Vergleich braucht Chrysostomus an einer Stelle: „Da wird ein Sohn geschlagen, und es wird auch ein Knecht geschlagen. Aber der Knecht wird eben als Knecht bestraft, weil er gesündigt hat, der Sohn dagegen, der als Freier und als Sohn der Zucht bedarf, wird gezüchtigt. Der Sohn empfängt die Züchtigung als (Mittel zur) Bewährung und Besserung, der Knecht dagegen als Geißel und Strafe.“



III,4,32

Um nun aber die ganze Frage kurz und deutlich zu fassen, wollen wir eine zwiefache Unterscheidung eintreten lassen. Zunächst die erste. Wo eine Strafe zur Vergeltung erfolgt, da wirkt sich immer Gottes Fluch und Zorn aus, und diese wendet er doch von den Gläubigen stets ab. Die Züchtigung dagegen ist eine Segnung Gottes und trägt das Zeugnis seiner Liebe in sich, wie die Schrift lehrt (Hiob 5,17; Spr. 3,11f.; Hebr. 12,5f.). Diese Unterscheidung tritt uns in Gottes Wort immer wieder deutlich entgegen. Alles, was die Gottlosen in diesem gegenwärtigen Leben an Trübsal erfahren, das wird uns gleichsam als die Eingangspforte zur Hölle beschrieben, von der aus sie ihre ewige Verdammnis bereits von ferne erblicken; sie werden auch durch diese Trübsal keineswegs gebessert und empfangen aus ihr keinerlei Frucht, im Gegenteil, sie werden durch derartige Vorspiele auf die entsetzliche Hölle vorbereitet, die ihrer einst wartet. Wenn der Herr dagegen seine Knechte züchtigt, so gilt: er züchtigt sie zwar, aber er gibt sie dem Tode nicht preis (Psalm 118,18). Deshalb bekennen sie, wenn er sie mit seiner Rute geschlagen hat, daß ihnen das zu ihrer wahren Erziehung gut gewesen ist (Ps. 119,71). Wie wir aber einerseits überall lesen, daß sie Strafen dieser Art mit fröhlichem Herzen auf sich genommen haben, so haben sie doch andererseits immer wieder um Abwendung der Geißeln von der oben beschriebenen Art flehentlich gebeten! So bittet Jeremia: „Züchtige mich, Herr, doch nach deinem Gericht und nicht in deinem Grimm, auf daß du mich nicht aufreibest. Schütte aber deinen Zorn über die Heiden, so dich nicht kennen, und über die Reiche, so deinen Namen nicht anrufen …“ (Jer. 10,24f.; nicht Luthertext). Und David sagt: „Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ (Ps. 6,2; 38,2). Dem widerspricht es nicht, daß wir mitunter hören, daß der Herr seinen Heiligen zürnt, wenn er ihre Sünden ahndet. So geschieht es bei Jesaja: „Ich danke dir, Herr, daß du zornig gewesen bist über mich, und dein Zorn sich gewendet hat, und tröstest mich“ (Jes. 12,1). Ebenso bei Habakuk: „Wenn du erzürnt bist, so gedenke deiner Barmherzigkeit“ (Hab. 3,2; nicht Luthertext). Oder auch bei Micha: „Ich will des Herrn Zorn tragen; denn ich habe wider ihn gesündigt“ (Micha 7,9). Da macht uns der Prophet darauf aufmerksam, daß Menschen, welche mit Recht gestraft werden, mit Murren nicht das mindeste ausrichten, daß es aber den Gläubigen eine Linderung ihres Schmerzes bringt, wenn sie Gottes Ratschluß bedenken. In demselben Sinne hören wir gelegentlich, der Herr „entweihe“ sein „Erbe“ (Jes. 47,6; 42,24), obwohl er es doch, wie wir wissen, in Ewigkeit nicht entweihen wird. Dieser Ausdruck bezieht sich aber auch nicht auf Gottes Ratschluß oder Gesinnung über seinem Strafen, sondern vielmehr auf das heftige Empfinden des Schmerzes, das die Menschen erfaßt, die auch nur irgendwie seine Strenge erfahren müssen. Aber der Herr plagt seine Gläubigen nicht bloß mit geringer Schärfe, sondern er schlägt ihnen zuweilen derartige Wunden, daß sie nicht weit von dem höllischen Verderben weg zu sein meinen. So bezeugt er ihnen zwar, daß sie seinen Zorn verdient haben, und führt es so, daß sie sich in ihren bösen Werken mißfallen, von größerer Sorge erfaßt werden, Gott zu versöhnen, und mit Ernst und Eifer sich aufmachen, um Vergebung zu erlangen – aber eben darin gibt er ihnen unterdessen ein viel strahlenderes Zeugnis seiner Güte als seines Zorns! Denn der Bund, den Gott in unserem wahren Salomo (d. h. in Christus) mit uns geschlossen hat, der hat Bestand, und der, welcher nicht täuschen kann, hat es zugesichert, daß seine Gültigkeit nie außer Kraft gesetzt werden wird! Er sagt aber: „Wo aber seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, so sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden …“ (Psalm 89,31-34). Um uns dieser seiner Barmherzigkeit zu versichern, bezeichnet er die Rute, mit der er Salomos Nachkommenschaft strafen will, als „Menschenrute“, und seine Schläge als „der Menschenkinder Schläge“ (2. Sam. 7,14). Durch diese Zusätze deutet er Mäßigung und Linderung an, gibt uns aber zugleich zu verstehen, daß ein Mensch, der es empfindet, daß Gottes Hand wider ihn ist, unabwendbar vom furchtbarsten Todesschrecken erschüttert werden muß. Wie weitgehend er bei der Züchtigung seines (Volkes) Israel jene Linderung hat eintreten lassen, das zeigt er in dem Prophetenwort: „Im Feuer habe ich dich geläutert, doch nicht wie Silber; denn dabei wärest du selbst gar aufgefressen worden …“ (Jes. 48,10, nicht Luthertext). Er zeigt hier, wie die Züchtigungen seinem Volke zur Läuterung dienen sollen; aber er setzt doch hinzu, daß er sie so sehr mäßigt, daß sein Volk nicht mehr als nötig geschunden wird! Das ist auch sehr vonnöten. Denn je mehr ein Mensch Gott fürchtet, je mehr er sein Leben dem Dienst der Frömmigkeit hingibt, desto zarter ist sein Empfinden im Ertragen des Zorns Gottes! Die Verworfenen nämlich seufzen zwar auch unter ihren Geißeln - aber sie erwägen deren Ursache nicht, ja, sie kehren vielmehr ihren Sünden wie auch dem Gericht Gottes den Rücken zu und verhärten sich deshalb doch in ihrer Stumpfheit, oder aber sie toben und schlagen aus und wehren sich stürmisch gegen ihren Richter – und so verstockt sie dieser erbitterte Sturmlauf in unsinniger Wut! Wenn Gott dagegen die Gläubigen mit seinen Ruten warnt, dann machen sie sich alsbald daran, ihre Sünden zu bedenken, sind ganz und gar von Furcht und Schrecken durchdrungen und nehmen ihre Zuflucht zu demütiger Abbitte. Wenn Gott diese Schmerzen, mit denen sich die armen Seelen martern, nicht linderte, dann würden sie auch bei geringeren Zeichen seines Zorns wohl hundertmal zusammenbrechen.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,4,33

Wir wenden uns jetzt der zweiten Unterscheidung zu. Wenn die Verworfenen mit Gottes Geißeln geschlagen werden, dann fangen sie bereits gewissermaßen an, seinem Gericht gegenüber die schuldige Strafe zu erleiden. Es geht ihnen gewiß nicht straflos durch, daß sie auf derartige Bezeugungen des göttlichen Zorns nicht hören. Aber trotzdem werden sie nicht zu dem Zweck geschlagen, daß sie besseren Sinnes würden, sondern allein dazu, daß sie unter ihrem großen Unglück erfahren, daß Gott der Richter und Vergelter ist. Die Kinder (Gottes) dagegen werden mit Ruten geschlagen – nicht um Gott die Strafe für ihre Übeltaten zu entgelten, sondern um dadurch zur Reue fortzuschreiten! Wir merken also, daß dergleichen Rutenschläge sich vielmehr auf die Zukunft, als auf die Vergangenheit beziehen. Das will ich lieber mit den Worten des Chrysostomus als mit meinen eigenen ausdrücken: „Gott legt uns Strafe auf, nicht um uns für unsere Sünden zu strafen, sondern um uns im Blick auf zukünftige Sünden zu bessern!“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt von der Buße und der Beichte). So sagt auch Augustinus: „Das, was du leidest und was dich klagen macht, das ist doch eine Arznei für dich und keine Strafe, eine Züchtigung und keine Verdammung. Weise die Geißel nicht zurück – wenn du nicht vom Erbe zurückgewiesen werden willst …“ (Zu Psalm 102). Oder auch: „Ihr Brüder, ihr sollt wissen, daß das ganze Elend des Menschengeschlechts, unter dem die Welt seufzt, ein Schmerz ist, der als Arznei wirkt, und nicht ein Richterspruch, der Strafe verhängt …!“ (Zu Psalm 138). Diese Äußerungen wollte ich gern anführen, damit niemand meint, die von mir gebrauchte Redeweise sei neu oder weniger gebräuchlich. Hierauf beziehen sich auch die zornerfüllten Klagen, mit denen sich Gott scheltend gegen die Undankbarkeit des Volkes wendet, weil es in seiner Halsstarrigkeit alle Strafen verachtet hat. So bei Jesaja: „Was soll man weiter an euch schlagen? … Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Gesundes an ihm …“ (Jes. 1,5f.). Aber die Propheten sind ja überall von solcherlei Aussprüchen, und so will ich mich damit begnügen, kurz angedeutet zu haben, daß Gott seine Kirche einzig und allein zu dem Zweck straft, daß sie sich unterwerfe und so zur Buße gelange. Wenn er den Saul aus der Königswürde verstieß, dann vollzog er damit vergeltende Strafe an ihm (1. Sam. 15,23), wenn er dagegen dem David sein Kindlein nahm (2. Sam. 12,18), so züchtigte er ihn, um ihn zu bessern. In diesem Sinne ist auch das Wort des Paulus aufzufassen: „Wenn wir … gerichtet werden, so werden wir von dem Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht samt der Welt verdammt werden“ (1. Kor. 11,32). Das bedeutet: wenn wir Kinder Gottes durch die Hand unseres himmlischen Vaters Trübsal erleiden, so ist das keine Strafe, die uns verwirren, sondern nur eine Züchtigung, die uns erziehen soll! In dieser Frage steht Augustinus voll und ganz auf meiner Seite; er lehrt nämlich, die Strafen, mit denen die Menschen gleichermaßen von Gott gezüchtigt würden, seien in verschiedener Weise zu betrachten: für die Heiligen, die bereits Vergebung empfangen haben, sind sie nach Augustin Kämpfe und Übungen, für die erworfenen dagegen, die ohne Vergebung sind, sind sie Strafen für ihr Ungerechtigkeit. Dabei erinnert er an die Strafen, die dem David und anderen Frommen auferlegt worden sind, und erklärt, diese hätten den Zweck gehabt, daß ihre Frömmigkeit durch dergleichen Demütigungen geübt und erprobt würde (über die Schuld und Vergebung der Sünden II,33.34). Wenn aber Jesaja von Jerusalem sagt: „Ihre Missetat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden“ (Jes. 40,2) – so beweist das doch nicht, daß die Vergebung von dem Erdulden der Strafe abhinge. Er will vielmehr etwa sagen: Jetzt ist genug Strafe geübt; ihr habt euch nun schon lange in Trauer und Schmerz verzehrt – jetzt aber ist es angesichts der Schwere und Vielfältigkeit eurer Strafen Zeit, daß ihr die Botschaft vollen Erbarmens empfangt und daß euer Herz mich voll Freuden als den Vater erkenne! Denn Gott handelt hier als Vater, dem auch die gerechte Strenge leid tut, wenn er sich genötigt gesehen hat, seinen Sohn gar hart zu strafen!



III,4,34

Mit solchen Gedanken muß sich der Gläubige in der Bitterkeit der Trübsal wappnen. „Denn es ist Zeit, daß anfange das Gericht an dem Hause Gottes“ (1. Petr. 4,17), in dem man seinen Namen angerufen hat (Jer. 25,29; nicht nach dem Luthertext). Was sollen aber Gottes Kinder anfangen, wenn sie glauben müßten, diese Strenge, die sie empfinden, sei Gottes Vergeltung? Denn wenn ein Mensch, den Gottes Hand geschlagen hat, daran denkt, Gott sei ein strafender Richter, dann muß er unabwendbar annehmen, Gott sei erzürnt, er sei wider ihn, er muß Gottes Geißel als Fluch und Verdammnis verwünschen, kurzum, er kann sich niemals überzeugen lassen, daß dieser Gott ihn liebt, dessen Gesinnung gegen sich er doch so erfährt, daß er noch immer strafen will! Wer aber bedenkt, daß Gott gegen seine Laster zürnt, ihm selber aber gnädig und wohlgesinnt ist, der erst macht auch unter Gottes Geißeln noch Fortschritte. Im anderen Falle müßte ja auch bei ihm eintreten, was der Prophet nach seiner Klage erfahren hat: „Dein Grimm, mein Gott, ist über mich gegangen; dein Schrecken hat mich gedrückt!“ (Ps. 88,17; nicht Luthertext). Oder er müßte erfahren, was Mose schreibt: „Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz!“ (Ps. 90,7-9). David dagegen will uns lehren, daß Gottes väterliche Züchtigungen den Gläubigen eher helfen müssen, als daß sie sie zu Boden drücken, und deshalb singt er von ihnen: „Wohl dem, den du, Herr, züchtigest und lehrst ihn durch dein Gesetz, daß er Geduld habe, wenn’s übel geht, bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde!“ (Psalm 94,12f.). Es ist gewiß eine harte Anfechtung, wenn Gott die Ungläubigen verschont und ihre Laster übersieht, seinen Gläubigen gegenüber aber gar hart erscheint. Deshalb fügt der Psalmist als Ursache des Trostes die Unterweisung des Gesetzes hinzu, durch welche die Gläubigen lernen sollen: es geschieht um ihres Heiles willen, wenn Gott sie auf den Weg zurückruft, die Gottlosen dagegen stürzen sich kopfüber in ihre Irrwege, deren Ende die „Grube“ ist. Es macht dabei auch nichts aus, ob die Strafe ewig ist oder zeitlich. Denn Kriege, Hungersnot, Pestilenz und Krankheiten sind (dann) ebensolche Vermaledeiungen Gottes, wie das Urteil des ewigen Todes selber – denn der Herr verhängt sie dazu, Werkzeuge seines Zorns und seiner Vergeltung gegen die Verworfenen zu sein.



III,4,35

Jetzt wird, wenn ich mich nicht täusche, jedermann verstehen, was jene Strafe für einen Sinn hatte, die der Herr einst über David verhängte (2. Sam. 12,13f.). Sie sollte eben ein Zeugnis dafür sein, daß Mord und Ehebruch Gott heftig mißfielen; angesichts dieser Freveltaten wollte Gott zeigen, wie sehr ihn sein geliebter und treuer Knecht beleidigt hatte; und das geschah zu dem Zweck, daß David selber unterwiesen wurde, in Zukunft nicht noch einmal solche Übeltat zu begehen. Dagegen sollte es keine Strafe sein, durch die er Gott irgendwelche Bezahlung leistete. In gleichem Sinne werden wir auch die andere Züchtigung zu beurteilen haben, als nämlich der Herr um des Ungehorsams Davids willen, in den er durch die Zählung des Volkes verfallen war, eben dies Volk mit heftiger Pestilenz heimsuchte (2. Sam. 24,15). Denn die Sündenschuld vergab Gott dem David umsonst; aber es war zum öffentlichen Beispiel für alle Zeiten wie auch zur Demütigung Davids dienlich, daß ein solcher Frevel nicht ungestraft blieb, und deshalb übte er mit seiner Geißel harte Züchtigung an ihm. Diesen Gesichtspunkt müssen wir uns auch angesichts des allgemeinen Fluchs vor Augen halten, den Gott auf die Menschheit gelegt hat. Denn auch wenn wir Gnade empfangen haben, so leiden wir doch alle noch mit unter all dem Elend, das Gott als Strafe für die Sünde über unseren Stammvater verhängt hat. Da erfahren wir nun, daß wir durch solcherlei Übungen daran gemahnt werden, wie heftig Gott an der Übertretung seines Gesetzes Mißfallen hat, damit wir im Bewußtsein unseres jämmerlichen Loses niedergeworfen und gedemütigt werden und uns um so inniger nach der wahren Glückseligkeit sehnen! Ein ganz großer Tor wäre aber der Mensch, welcher memte, die Nöte des gegenwärtigen Lebens wären uns als Strafe für unsere Sünde auferlegt: Das scheint auch Chrysostomus im Sinne zu haben, wenn er schreibt: „Wenn Gott zu dem Zweck straft, daß er die, welche in der Bosheit verharren, zur Buße rufe – so ist die Strafe, wenn die Buße erzeigt ist, überflüssig!“ (An Stagirius III,14). So verfährt der Herr bei jedem einzelnen so, wie er weiß, daß es seiner Art dienlich ist: den einen behandelt er mit größerer Schärfe, den am deren mit freundlicherer Nachsicht. Wenn er also lehren will, daß er beim Vollzug seiner Strafen nicht unmäßig vorgeht, so richtet er gegen das verhärtete und halsstarrige Volk den scharfen Tadel, es habe trotz aller Schläge doch nicht aufgehört zu sündigen (Jer. 5,3). In diesem Sinne hält Gott Klage über Ephraim, er sei „wie ein“ auf der einen Seite bereits ganz angebrannter „Kuchen, den niemand umwendet“ (Hos 7,8). Das heißt: alle Rutenschläge sind ihm nicht ins Herz gedrungen, und so kommt es nicht dazu, daß die Laster ausgebrannt werden und das Volk zum Empfang der Vergebung zubereitet wird. Wenn er so redet, dann zeigt er damit, daß er, sobald ein Mensch Buße tut, auch sogleich zur Versöhnung bereit ist, und daß ihm die Schärfe, mit der er uns für unsere Vergehen züchtigt, durch unsere Halsstarrigkeit abgedrungen wird – denn mit freiwilliger Besserung würde der Sünder der Züchtigung zuvorkommen. Aber unser aller Verhärtung und grobes Wesen sind derart, daß da allewege Züchtigung nottut, und deshalb hat es dem Vater in seiner großen Weisheit gefallen, uns alle ohne Ausnahme unser ganzes Leben lang mit einer uns alle treffenden Geißel zu plagen! Verwunderlich ist aber doch, daß die Römischen ihre Augen so sehr auf das eine Beispiel des David heften, aber nicht von den vielen Beispielen bewegt werden, an denen sich die Vergebung der Sünden aus lauter Gnade hätte anschauen lassen. So lesen wir, daß der Zöllner „gerechtfertigt“ vom Tempel hinabstieg – da folgt keinerlei Strafe! (Luk. 18,14). Petrus erlangte Verzeihung für sein Vergehen (Luk. 22,61) – und wir hören, wie Ambrosius sagt, wohl etwas von seinen Tränen, aber von Genugtuung hören wir nichts! Der Gichtbrüchige hört: Stehe auf, „deine Sünden sind dir vergeben“ (Matth. 9,2) – aber eine Strafe wird ihm nicht auferlegt! All die Lossprechungen, von denen uns die Schrift erzählt, sind nach ihrem Bericht aus Gnaden erfolgt! Aus dieser Fülle von Beispielen hätte man die Regel ableiten sollen – und nicht aus jenem einen, das wer weiß welchen besonderen Inhalt hat!



III,4,36

Wenn Daniel den Nebukadnezar ermahnte: „Mache dich los von deinen Sünden durch Gerechtigkeit und ledig von deiner Missetat durch Wohltat an den Armen“ (Dan. 4,24) – so wollte er damit nicht zum Ausdruck bringen, solche „Gerechtigkeit“ und Barmherzigkeit sei die Versöhnung mit Gott und die Ablösung der Strafe – denn es sei ferne, daß es je eine andere Loskaufung gegeben habe als Christi Blut! -; nein, dieses „Mache dich los“ hat er auf die Menschen und nicht auf Gott bezogen. Er wollte also mit anderen Worten sagen: Du, König, hast ein ungerechtes und gewalttätiges Regiment geführt, du hast die Geringen bedrückt, du hast die Armen beraubt, du hast dein Volk hart und unbillig behandelt – jetzt übe für deine ungerechte Abgabenerpressung, für deine Gewalttätigkeit und Bedrückung Barmherzigkeit und Gerechtigkeit! deckt zu alle Übertretungen“ (Spr. 10,12): das gilt nicht vor Gott, sondern vor den Menschen selber. Denn der Vers lautet unverkürzt: „Haß erregt Hader; aber Liebe deckt zu alle Übertretungen“. In diesem Verse vergleicht Salomo nach seiner Gewohnheit durch Gegenüberstellung zweier entgegengesetzter Tatbestände das Übel, welches aus dem Haß entsteht, mit den Früchten der Liebe. Er will also sagen: Die Menschen, die sich gegenseitig hassen, die beißen sich, beleidigen und schmähen sich, zerreißen sich untereinander, verkehren alles in Schande – die aber einander lieben, die sehen gegenseitig über vieles hinweg, üben in vielen Dingen Nachsicht, vergeben einander vieles, nicht weil der eine des anderen Fehler billigte, sondern weil er sie trägt und sie durch Ermahnungen heilt, statt sie durch herabsetzende Redensarten schlimmer zu machen! Ohne Zweifel hat auch Petrus diese Stelle in dem gleichen Sinne angeführt (1. Petr. 4,8) – wir müßten ihm sonst schon vorwerfen wollen, er habe die Schrift verfälscht und listig verdreht! Wenn Salomo aber weiter lehrt: „Durch Güte und Treue wird Missetat versöhnt“ (Spr. 16,6), so meint er da auch nicht, Güte und Treue bedeuteten einen Ausgleich vor dem Angesicht des Herrn, so daß Gott also, durch solche Genugtuung versöhnt, die Strafe erlassen würde, die er sonst forderte. Nein, Salomo weist nach der gewohnten Sitte der Schrift darauf hin, daß die Menschen, welche ihren früheren Lastern und Übeltaten den Abschied geben und sich durch Frömmigkeit und Wahrheit zu ihm bekehren, in ihm einen gnädigen Gott finden werden. Er will also etwa sagen: Wenn wir von unseren Missetaten ruhen, dann legt sich der Zorn des Herrn, dann ruht sein Gericht! Damit beschreibt er aber nicht die Ursache der Vergebung, sondern vielmehr die Weise, wie eine wahre Bekehrung vor sich geht. So verkünden die Propheten ja auch oft genug, daß es vergebens ist, wenn die Heuchler Gott erdichtete Zeremonien statt der Buße aufdringen – denn Gott hat an der Aufrichtigkeit und an den Werken der Liebe Gefallen! In diesem Sinne verfährt auch der Verfasser des Hebräerbriefes: er ruft die Leser auf: „Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht“, und mahnt sie dann daran: „Solche Opfer gefallen Gott wohl“ (Hebr. 13,16). Auch wenn Christus die Pharisäer verspottet, weil sie sich nur darum bemühen, die Schüsseln rein zu halten, aber die Reinlichkeit des Herzens vernachlässigen, und wenn er ihnen dann die Weisung erteilt, Almosen zu geben, damit alles rein sei (Matth. 23,25; Luk. 11,39-41) – so ermuntert er sie damit nicht zu „genugtuenden Werken“, sondern er zeigt ihnen nur, welcherlei Reinheit Gott wohlgefällig ist. Von dieser Redeweise ist noch an anderer Stelle die Rede (III,14,21).
Simon W.

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III,4,37

Was nun aber die (von den Gegnern herangezogene) Stelle aus dem Lukasevangelium (von der großen Sünderin Luk. 7,36-50, insbesondere Vers 47) betrifft, so wird mir daraus kein Mensch, der das dort vom Herrn gegebene Gleichnis mit vernünftigem Urteil gelesen hat, einen Einwand machen. Der Pharisäer dachte bei sich selbst, das Weib, welches der Herr mit so großer Leichtigkeit an sich hatte herankommen lassen, sei ihm unbekannt. Denn er meinte, er würde ihr doch keinen Zugang gewährt haben, wenn er gewußt hätte, was für eine Sünderin sie tatsächlich war. Daraus schloß er dann, Christus sei kein Prophet, wenn man ihn auf diese Weise täuschen könne. Da wollte nun aber der Herr beweisen, daß diese Frau keine Sünderin mehr sei, da ihr die Sünden schon vergeben wären – und dazu erzählte er ein Gleichnis: „Es hatte ein Gläubiger zwei Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Groschen, der andere fünfzig. Da … schenkte er’s beiden. Sage an, welcher unter ihnen wird ihn am meisten lieben?“ Der Pharisäer antwortete: „Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat.“ Darauf sagte der Herr: daß dieser Frau ihre Sünden vergeben sind, das sollst du daraus erkennen, daß sie „viel geliebt hat“. Man sieht deutlich, daß der Herr mit diesen Worten ihre Liebe nicht zur Ursache der Sündenvergebung erklärt, sondern zu deren Beweis. Denn diese Worte sind ja dem Gleichnis entnommen und knüpfen an das an, was dort von dem Schuldner gilt, dem fünf, hundert Groschen erlassen waren: von diesem aber sagt Christus nicht, die Schuld sei ihm erlassen, weil er viel geliebt hätte, sondern umgekehrt, er liebe viel, weil ihm die Schuld erlassen sei! Die Anwendung des Gleichnisses muß man sich nun folgendermaßen denken: Du, Pharisäer, denkst, dieses Weib sei eine Sünderin; sie ist aber keine, und das hättest du wissen sollen, denn ihr sind die Sünden vergeben. Daß ihr aber ihre Sünden vergeben sind, das hätte dir ihre Liebe glaubwürdig machen sollen, mit der sie für die empfangene Wohltat dankt! Es handelt sich daher um einen nachträglichen Beweis, bei dem also etwas aus den Anzeichen bewiesen wird, die sich aus ihm ergeben. Wie diese Frau aber die Vergebung der Sünden erlangt hat, das bezeugt der Herr ganz deutlich: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ (Vers 50). Denn wir empfangen die Vergebung der Sünden durch den Glauben, durch die Liebe sagen wir Dank und geben wir Zeugnis von der Wohltat des Herrn!



III,4,38

Was nun aber in den Schriften der alten Kirchenlehrer an vielen Stellen von der Genugtuung zu lesen steht, das macht auf mich wenig Eindruck. Ich sehe zwar, daß einige von ihnen – nein, ich will geradeheraus sagen: fast alle, deren Bücher auf uns gekommen sind! – in diesem Stück entweder in Irrtümer gefallen sind oder allzu rauh und hart geredet haben. Aber ich werde doch nicht zugeben, sie wären dermaßen ungebildet und unerfahren gewesen, daß sie wirklich in dem Sinne geschrieben hätten, in dem die neuerlichen Verfechter der „Genugtuungen“ sie lesen. Chrysostomus hat an einer Stelle geschrieben: „Wo ein Mensch Barmherzigkeit begehrt, da hört das Verhör auf; wo einer nach Barmherzigkeit verlangt, da wütet nicht das Gericht; wo die Barmherzigkeit erbeten wird, da ist für Strafe kein Raum, wo Barmherzigkeit ist, da ist keine Richterfrage, wo Barmherzigkeit waltet, da ist uns die Antwort erlassen“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt zu Psalm 50). Man mag diese Worte drehen und wenden, wie man will – sie lassen sich jedenfalls nicht mit den scholastischen Lehrsatzungen in Übereinstimmung bringen! In einem dem Augustinus zugeschriebenen Buche über „die kirchlichen Lehrsatzungen“ heißt es ferner: „Die zur Buße gehörige Genugtuung besteht darin, daß wir die Ursachen der Sünde ausrotten und ihren Lockungen keinen Zutritt mehr verstatten“ (Pseudo-Augustin, Von den kirchlichen Lehrsatzungen 24). Daraus geht klar hervor, daß auch in jenen Zeiten die Lehre von den „Genugtuungen“ durchweg verlacht worden ist, sofern man mit diesen „Genugtuungen“ etwa für bereits begangene Sünden eine Gegenleistung zu bieten glaubte. Denn diese Stelle bezieht jede „Genugtuung“ auf die Achtsamkeit, mit der wir uns für die Folgezeit von der Sünde fernhalten. Ich will dabei nicht noch die Lehre des Chrysostomus anführen, wonach Gott nicht mehr von uns fordert, als daß wir unsere Missetat mit Tränen vor ihm bekennen (Predigten über die Genesis,10,2). Dergleichen Äußerungen kommen nämlich in seinen Schriften und denen anderer wiederholt vor. Freilich bezeichnet Augustin an einer Stelle die Werke der Barmherzigkeit als eine Arznei, mit deren Hilfe wir Vergebung der Sünde erlangten (Handbüchlein,72). Aber er sorgt an einer anderen Stelle selbst dafür, daß sich an diesem Wörtlein niemand stößt; da sagt er: „Das Fleisch Christi ist das wahre und einzige Opfer für unsere Sünden, nicht nur für die, welche in der Taufe alle miteinander vertilgt werden, sondern auch für die, welche hernach noch aus Schwachheit vorkommen und um derentwillen die ganze Kirche tagtäglich ruft: Vergib uns unsere Schulden! (Matth. 6,12). Auch sie werden durch dieses einige Opfer vergeben“ (An Bonifacius III, 6,16).



III,4,39

Die Kirchenväter haben ferner die Genugtuung zumeist nicht als „Gegenleistung“ bezeichnet, die wir Gott darbrächten. Sie verstanden darunter im Gegenteil ein öffentliches Zeugnis, durch welches Menschen, die mit dem Bann bestraft worden waren, der Kirche eine Versicherung ihrer Buße abgaben, wenn sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollten. Solchen Büßenden wurden bestimmte Fasten und andere Übungen auferlegt, durch die sie beweisen sollten, daß sie ihr voriges Leben wahrhaftig und von Herzen bereuten, oder besser: durch welche sie die Erinnerung an das früher Geschehene tilgen sollten. Sie leisteten also, wie man sagte, nicht Gott, sondern der Kirche Genugtuung! Das hat Augustin mit eben diesen Worten in seinem „Handbüchlein an Laurentius“ zum Ausdruck gebracht (Handbüchlein,65; zitiert im Decretum Gratiani, II,33,3,1,84). Von diesem alten Brauch haben die Beichten und die „Genugtuungen“ ihren Ausgangspunkt genommen, die heute in Übung stehen. Wahrhaftig eine Schlangenbrut! Denn durch diese neueren Übungen ist es dahin gekommen, daß von jener besseren Gestalt der Dinge nicht einmal mehr ein Schatten übrig ist. Ich weiß freilich, daß die Alten zuweilen ein wenig hart reden, und, wie ich oben bereits gesagt habe, ich leugne auch nicht, daß sie dabei vielleicht (in Irrtum) gefallen sind. Aber Dinge, die an sich bloß mit ein paar Flecken behaftet sind, die werden, wenn die Römischen sie mit ihren ungewaschenen Händen behandeln, ganz und gar besudelt! Wenn aber das Ansehen der alten Kirchenväter hier mit in den Streit geführt werden soll – gütiger Gott, was für „Alte“ drängt man uns da auf! Ein guter Teil der Aussagen, aus denen Petrus Lombardus, ihr Stimmführer, seine Lappen zusammengeflickt hat, ist aus unsinnigen Schwärmereien gewisser Mönche entnommen, die nun unter dem Namen des Ambrosius, des Hieronymus, des Augustinus oder des Chrysostomus umgehen! So nimmt Petrus Lombardus in der hier verhandelten Frage fast alles aus einem dem Augustin zugeschriebenen Buche „Von der Buße“, das tatsächlich von irgendeinem Bänkelsänger in übler Weise gleichermaßen aus guten und schlechten Schriftstellern zusammengeflickt ist, und das zwar Augustins Namen trägt, das aber kein Mensch, der auch nur ein wenig gelehrt ist, als sein Werk anzuerkennen für wert halten wird. Daß ich aber ihre Torheiten nicht allzu scharf untersuche, das mag mir der Leser verzeihen; ich möchte ihm keinen Überdruß bereiten. Es würde mir nicht viel Arbeit machen und wäre doch eine ergötzliche Sache, hier Dinge mit höchster Schande dem Spott preiszugeben, die die Römischen bislang als Geheimnisse ausgegeben haben! Aber ich sehe davon ab, weil ich die Absicht habe, mit meiner Unterweisung Nutzen zu stiften.



Fünftes Kapitel: Von den Anhängseln zur Lehre von den genugtuenden Werken, nämlich vom Ablaß und vom Fegefeuer


III,5,1

Aus dieser Lehre von der Genugtuung quillt nun weiter der Ablaß hervor. Was uns nämlich an Fähigkeiten zu solcher Genugtuung mangelt, das kann man nach dem Geschwätz der Römischen durch den Ablaß ergänzen. Ja, sie gehen in ihrer Tollheit so weit, daß sie den Ablaß als Austeilung der Verdienste Christi und der Märtyrer bestimmen, die der Papst mit seinen Bullen vornähme. Nun bedürfen die Vertreter dieser Anschauung allerdings eher des Nießwurz (eines Mittels gegen den Wahnsinn nach damaliger Auffassung), als daß sie etwa eines Beweises würdig wären, und deshalb ist es nicht besonders der Mühe wert, sich mit der Widerlegung so leichtsinniger Irrtümer Arbeit zu machen; denn diese sind ja bereits von vielen Sturmböcken durchstoßen und fangen schon ganz von selber an zu veralten und baufällig zu werden. Trotzdem wird eine kurze Widerlegung für einige unerfahrene Leute von Nutzen sein, und ich will deshalb nicht davon absehen. Man kann wirklich sagen: daß sich der Ablaß so lange halten, daß er in so zügelloser, wilder Ausgelassenheit so lange ungestraft bleiben konnte – das mag uns wirklich zum Beweis dafür dienen, in was für eine tiefe Nacht des Irrtums die Menschen etliche Jahrhunderte lang versunken gewesen sind. Sie sahen, wie sie vom Papst und seinen Bullenträgern offen und unverhüllt zu Narren gehalten wurden; sie sahen, wie man mit ihrem Seelenheil geldgierigen Schacher trieb, sie nahmen es wahr, wie ihre Seligkeit auf den Preis von wenigen Hellern veranschlagt wurde, aber nichts umsonst zu haben war, – sie hatten es vor Augen, wie man sie unter solchem falschen Schein um Opfergaben prellte, die man dann in Ehebruch und Kuppelei und auf Gelagen schnöde verpraßte; sie wußten wohl, daß die vollbäckigsten Ablaßprediger zugleich die schlimmsten Ablaßverächter waren, sie sahen es, wie dieses Untier von Tag zu Tag mit tollerem Mutwillen wütete und immer ausgelassener wurde und wie solch Treiben doch kein Ende fand, nein, wie alle Tage neues Blei dazukam, neue Groschen den Leuten aus der Tasche gelockt wurden! Das alles sahen sie – aber sie empfingen den Ablaß trotzdem mit höchster Ehrerbietung, beteten ihn an, kauften ihn! Und die, welche schärfer sahen als andere Leute, die meinten doch, es sei das nun eben ein frommer Betrug, von dem man sich immerhin mit einigem Nutzen täuschen lassen könnte! Seitdem sich nun zuletzt die Welt gestattet hat, ein wenig klüger zu werden, da erkaltet der Ablaß, er wird nachgerade zu Eis, bis er gänzlich vergeht.
Simon W.

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III,5,2

Es gibt aber sehr viele Leute, die all den Unflat, all den Betrug, den Diebstahl, den Raub, mit denen uns die Ablaßkrämer bislang betrogen und zu Narren gehalten haben, wohl sehen, aber die eigentliche Quelle dieser Gottlosigkeit nicht bemerken. Es ist also der Mühe wert, wenn wir nicht bloß darlegen, wie der Ablaß beschaffen ist, sondern auch zeigen, was er eigentlich darstellt, wenn er von aller Befleckung gereinigt ist. Die Römischen nennen die Verdienste Christi und der heiligen Apostel und Märtyrer den „Schatz der Kirche“. Die vollkommene Wacht über diese Schatzkammer ist – wie ich bereits kurz erwähnte – nach ihrer erdichteten Darstellung dem römischen Bischof übertragen; und der hat nun die Verwaltung derartig großer Güter inne, daß er sie sowohl selber austeilen, als auch anderen die Vollmacht zu ihrer Austeilung übertragen kann. So erteilt der Papst selbst bald Vollablässe, bald Ablässe für eine bestimmte Zahl von Jahren, die Kardinäle teilen Ablässe auf hundert Tage aus, die Bischöfe auf vierzig Tage! Aber all diese Ablässe sind – ich will sie beschreiben, wie sie wirklich sind! – tatsächlich eine Entweihung des Blutes Christi, ein höhnischer Betrug des Satans! Sie sollen das Christenvolk von Gottes Gnade, von dem Leben, das in Christus ist, wegführen, sollen es von dem wahren Wege zum Heil abbringen! Denn wie könnte man Christi Blut schändlicher entweihen als durch die Behauptung, es sei zur Vergebung der Sünden, zur Versöhnung, zur Genugtuung nicht vollgenügend, sofern sein Mangel – als ob es also verdorrt, erschöpft wäre! – nicht von anderer Seite aufgefüllt und ersetzt werde! Nach Petrus geben doch das Gesetz und alle Propheten Christus das Zeugnis, daß wir durch ihn „Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg. 10,43). Der Ablaß dagegen läßt den Menschen durch Petrus, Paulus und die Märtyrer Vergebung der Sünden zuteil werden! „Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde“, sagt Johannes (1. Joh. 1,7). Beim Ablaß dagegen findet man die Abwaschung von den Sünden im Blute der Märtyrer! Paulus sagt: „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde – das heißt: zur Genugtuung für unsere Sünden! – gemacht, auf daß wir würden Gerechtigkeit Gottes in ihm“ (2. Kor. 5,21). Der Ablaß dagegen läßt die Genugtuung für unsere Sünden auf das Blut der Märtyrer gegründet sein. Paulus hat einst den Korinthern mit lauter Stimme bezeugt, daß allein Christus für sie gekreuzigt und gestorben sei (1. Kor. 1,13). Der Ablaß dagegen verkündigt uns, daß auch Paulus und andere für uns gestorben seien! An anderer Stelle sagt Paulus, Christus habe die Gemeinde erworben mit seinem Blut (Apg. 20,28). Der Ablaß dagegen behauptet, daß es noch einen anderen Preis für dieses „Erwerben“ gibt: nämlich das Blut der Märtyrer! Der Apostel schreibt: „Mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden“ (Hebr. 10,14). Der Ablaß erklärt demgegenüber, die Heiligung empfange durch die Märtyrer ihre Vollendung – sonst sei sie nicht ausreichend! Johannes sagt, alle Heiligen hätten ihre Kleider „gewaschen … in dem Blut des Lammes“ (Apk. 7,14) – der Ablaß aber lehrt uns, wir sollten unsere Kleider im Blut der Heiligen waschen!



III,5,3

Herrliche Worte hat gegen diesen Raub an Gottes Ehre der Bischof Leo von Rom (Papst Leo I.) in seinem Brief an die Palästinenser gesprochen. Er schreibt: „Gewiß ist der Tod vieler Heiligen ‘wertgehalten vor dem Herrn’ (Ps. 116,15). Aber die Tötung keines einzigen Unschuldigen ist die Versöhnung der Welt gewesen. Die Gerechten haben Kronen empfangen, aber keine gegeben. Aus der Tapferkeit der Gläubigen sind Beispiele der Geduld geworden, aber keine Gaben der Gerechtigkeit. Der Tod jedes einzelnen von ihnen hatte nur Bedeutung für ihn selber, und keiner hat durch sein Ende eines anderen Schuld abgetragen. Denn einzig und allein in Christus, dem Herrn, sind wir alle gekreuzigt, alle gestorben, begraben und wieder auferstanden!“ (Brief 124). Diesen tatsächlich sehr denkwürdigen Ausspruch hat Leo an anderer Stelle noch einmal wiederholt (Brief 165). Klareres ließe sich sicherlich zur Vernichtung jener gottlosen Lehre gar nicht wünschen! Jedoch schreibt auch Augustin ebenso treffend in dem gleichen Sinne: „Gewiß sterben wir Brüder für unsere Brüder; aber trotzdem wird das Blut nicht eines einzigen Märtyrers zur Vergebung der Sünden vergossen; denn das hat Christus für uns getan! Und er hat uns diese Gabe zuteil werden lassen – nicht damit wir sein Tun nachahmten, sondern damit wir uns dankbar daran freuten!“ (Predigten zum Johannesevangelium, 84). Oder an anderer Stelle: „Wie allein der Sohn Gottes zum Menschensohn gemacht worden ist, damit er uns mit sich selber zu Söhnen Gottes machte – so hat auch er allein, ohne Böses verdient zu haben, für uns die Strafe getragen, damit wir, die wir nichts Gutes verdient hatten, durch ihn unverdiente Gnade erlangten!“ (An Bonifacius IV,4,6.) Gewiß ist die ganze Lehre der Römischen aus entsetzlichem Raub an Gottes Ehre und furchtbaren Lästerungen zusammengeflickt; aber hier haben wir es doch mit einer besonders grauenhaften Gotteslästerung zu tun. Ich will ihre Lehre zusammenfassen, und sie sollen selbst zusehen, ob sie nicht wirklich so gemeint ist: Die Märtyrer haben danach durch ihren Tod Gott gegenüber mehr geleistet und mehr Verdienste erworben, als sie es für sich selber nötig hatten; sie haben also eine große Fülle von Verdiensten übrigbehalten, die nun anderen zufließen kann. Damit nun ein so großes Gut nicht ohne Nutzen bleibt, so wird ihr Blut mit dem Blute Christi vermengt und aus beiden der „Schatz der Kirche“ gebildet, zur Vergebung der Sünden und zur Genugtuung für sie. In diesem Sinne ist dann auch das Wort des Paulus zu verstehen: „Ich erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an den Leiden Christi, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde“ (Kol. 1,24; nicht Luthertext). (Soweit der Bericht über die römische Lehre.) Was bedeutet das nun anders, als daß man Christus zwar den Namen läßt, im übrigen aber aus ihm einen gewöhnlichen Heiligen macht, den man in der großen Schar kaum noch zu erkennen vermag? Und dabei sollte doch er, er ganz allein verkündigt werden, er allein den Menschen vor Augen gestellt, er allein genannt, er allein angeschaut werden, wenn es sich darum handelt, wie wir Vergebung der Sünden, Versöhnung und Heiligung erlangen! Aber wir wollen ihre Beweisführung hören; sie sagen: damit das Blut der Märtyrer nicht nutzlos vergossen sei, so muß es zum gemeinsamen Nutzen der Kirche angewendet werden. Wieso nun? Ist es denn keine Frucht, Gott durch den Tod zu verherrlichen? Ist es nutzlos, seine Wahrheit mit dem eigenen Blut zu unterschreiben? Sollte es ohne Belang sein, durch die Verachtung des gegenwärtigen Lebens zu bezeugen, daß man ein besseres sucht? Sollte es fruchtlos sein, mit der eigenen Beständigkeit den Glauben der Kirche zu stärken, die Halsstarrigkeit der Feinde aber zu brechen? Aber das ist es eben: die Römischen finden keinerlei Frucht, wenn Christus allein der Versöhner ist, wenn er allein für unsere Sünden gestorben ist, wenn er allein als Opfer zu unserer Erlösung dargebracht ist! Sie sagen so: Petrus und Paulus hätten die Krone des Sieges auch dann erlangt, wenn sie im Bette den Tod erlitten hätten; es würde sich aber nicht mit der Gerechtigkeit Gottes zusammenreimen lassen, wenn die Tatsache, daß sie bis aufs Blut gekämpft haben, ohne Wirkung und ohne Frucht bliebe! Als ob es Gott nicht verstünde, seinen Knechten nach dem Maß seiner Gaben auch größere Herrlichkeit zu verleihen! Die Kirche aber empfängt (aus dem Sterben der Märtyrer) insgemein Nutzen genug, wenn sie sich durch den Triumph dieser Männer zum Kampfeseifer entflammen läßt!



III,5,4

Nun ziehen unsere Widersacher eine Paulusstelle heran, wonach der Apostel „an seinem Fleische erstattet, was noch mangelt an den Leiden Christi“ (Kol. 1,24; siehe oben). Aber wie durchtrieben verdrehen sie diese Stelle! Dieses „Mangeln“ und „Erstatten“ bezieht der Apostel doch nicht auf das Werk der Erlösung, der Genugtuung und der Versöhnung, sondern auf die „Trübsale“ (wie Luther übersetzt!), in denen Christi Glieder, nämlich alle Gläubigen, geübt werden müssen, solange sie in diesem Fleische leben. Er sagt also, an den Leiden Christi „mangle“ noch das, was er in sich selbst einmal gelitten hat, aber nun alle Tage in seinen Gliedern leidet! Christus würdigt uns solcher Ehre, daß er unsere Trübsale als die seinigen ansieht und gelten läßt. Wenn aber Paulus hinzusetzt: „für die Gemeinde“, so bedeutet das nicht: zur Erlösung, zur Versöhnung der Gemeinde, zur Genugtuung für die Gemeinde – sondern zu ihrer Erbauung und zu ihrem Wachstum! So sagt er auch an anderer Stelle: „Ich erdulde alles um der Auserwählten willen, auf daß auch sie die Seligkeit erlangen in Christo Jesu …“ (2. Tim. 2,10). Und an die Korinther schrieb er: „Wir haben Trübsal oder Angst, so geschieht es euch zugute!“ (2. Kor. 1,6). Auch erklärt er in Kolosser 1 gleich darauf selber, was er meint: er sagt da, er sei der Diener der Gemeinde geworden, und zwar nicht zur Erlösung der Gemeinde, sondern „nach dem … Predigtamt“, das ihm „gegeben“ war, und nach dem er das Evangelium von Christus verkündigen sollte! (Kol. 1,25). Verlangen die Gegner aber nach einem anderen Ausleger, so sollen sie Augustin hören: „Das Leiden Christi“, sagt er, „geschieht (einerseits) in Christus allein, als in dem Haupte, (andererseits) in Christus und der Gemeinde, als in dem ganzen Leibe. Daher spricht ein Glied (der Kirche), nämlich Paulus: ‘Ich erstatte an meinem Fleische, was noch mangelt an den Leiden Christi’. Wenn du also, du Hörer, wer du auch sein magst, zu den Gliedern Christi gehörst, so hat alles, was du von denen erleidest, die nicht Christi Glieder sind, an den ‘Leiden Christi gemangelt’” (Erklärung zu Psalm 61; 4). Wozu aber die Leiden dienen, welche die Apostel für die Kirche auf sich genommen haben, das setzt Augustin an anderer Stelle auseinander: „Christus ist für mich die Tür zu euch; weil ihr die Schafe Christi seid, die er mit seinem Blute erworben hat, so erkennt den Preis, der für euch gezahlt ist – ich zahle diesen Preis nicht, sondern ich verkündige ihn!“ Und dann setzt er gleich hinzu: „Wie er sein Leben für uns gelassen hat, so sollen auch wir unser Leben für die Brüder lassen, und zwar, um den Frieden zu erbauen und um den Glauben zu bekräftigen“ (Predigten zum Johannesevangelium, 47). So hat es Augustin gesagt! Es kann aber gar keine Rede davon sein, daß Paulus gemeint hätte, an den Leiden Christi habe etwas „gemangelt“, sofern es die ganze Fülle der Gerechtigkeit, des Heils und des Lebens betrifft, oder daß er da etwas hätte „erstatten“ wollen – er redet doch selbst so klar und so herrlich davon, wie die überströmende Fülle der Gnade durch Christus so reichlich ausgegossen ist, daß sie alle Gewalt der Sünde weit überwindet! (Röm. 5,15). Allein durch diese Gnade Christi sind alle Heiligen selig geworden, nicht aber durch das Verdienst ihres Lebens und Sterbens, wie es Petrus ausdrücklich bezeugt (Apg. 15,11). Wer also die Würdigkeit irgendeines Heiligen auf etwas anderes gründet als allein auf Gottes Barmherzigkeit, der schmäht Gott und seinen Christus! Aber wozu soll ich mich hier länger aufhalten, als ob die Sache noch dunkel wäre! Derartige Ungeheuerlichkeiten ans Licht zu ziehen, bedeutet ja schon, sie zu überwinden!



III,5,5

Wir wollen also solche Greuel fahren lassen. Aber weiter: wer hat denn den Papst gelehrt, die Gnade Jesu Christi, die nach dem Willen des Herrn durch das Wort des Evangeliums ausgeteilt werden soll, in Blei und Pergament einzuschließen? So muß also notwendig entweder das Evangelium Gottes lügen – oder aber der Ablaß! Denn im Evangelium wird uns Christus dargeboten mit der ganzen Fülle der himmlischen Güter, mit all seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Gnade, und zwar ohne jede Einschränkung. Dafür ist Paulus Zeuge; denn nach seinen Ausführungen ist den Dienern das „Wort der Versöhnung“ anvertraut, und die Botschaft dieser Diener soll – gleich als ob Christus selbst durch sie vermahnte – so lauten: „So bitten wir nun … Lasset euch versöhnen mit Gott. Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ (2. Kor. 5,18ff.). Und die Gläubigen wissen, was die „Gemeinschaft … Jesu Christi“ vermag, deren Genuß uns nach dem Zeugnis des nämlichen Apostels im Evangelium angeboten wird (1. Kor. 1,9). Der Ablaß nimmt dagegen aus der Schatzkammer des Papstes einen festgesetzten Teil der Gnade, bindet sie an Blei und Pergament, auch an einen bestimmten Ort – und reißt sie von Gottes Wort los! Fragt man aber nach dem Ursprung dieses Mißbrauchs, so scheint er aus folgendem entstanden zu sein: Vor Zeiten wurden den Büßenden zuweilen derart harte Genugtuungen auferlegt, daß diese nicht für jeden zu ertragen waren; die Leute nun, die sich durch die ihnen auferlegte Bußleistung über das Maß beschwert fühlten, baten die Kirche um Milderung. Der Nachlaß, der solchen Leuten zuteil wurde, wurde „Ablaß“ genannt. Sobald man nun aber diese genugtuenden Werke (von der Kirche) auf Gott übertrug (vgl. III,4,39) und sie für Ablösungsleistungen erklärte, mit denen sich die Menschen vom Urteil Gottes loskaufen könnten – da hat man auch den Ablaß in der gleichen Richtung gezerrt und von ihm gesagt, er sei ein Sühnemittel, das uns von den verdienten Strafen freimache! Dabei hat man aber die Gotteslästerungen, von denen ich berichtete, mit solcher Schamlosigkeit erdacht, daß es dafür keine Entschuldigung geben kann.
Simon W.

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III,5,6

Auch mit ihrem Fegefeuer sollen uns die Römischen keine Beschwernis bereiten; denn das ist mit dem gleichen Beil zerschlagen, zerstört und bis auf den Grund ganz und gar umgestürzt. Es gibt nun Leute, die da meinen, man sollte ihnen in diesem Stück durch die Finger sehen, sollte die Erwähnung des Fegefeuers beiseite lassen, weil aus ihr – wie man dann sagt – scharfe Streitigkeiten erwachsen, aber sehr wenig Erbauung erlangt werden kann. Diesen Leuten kann ich mich nicht anschließen. Freilich würde auch ich anraten, dieses Geschwätz zu übergehen, wenn es nicht so ernste Folgen nach sich zöge. Aber dieses Fegefeuer ist aus vielen Gotteslästerungen errichtet und wird alle Tage mit neuen gestützt, es erregt auch viele und schwere Anstöße, und deshalb kann man hier durchaus keine Schonung walten lassen. Man hätte es immerhin vielleicht eine Zeitlang übersehen können, daß die Lehre vom Fegefeuer ohne Gottes Wort in vorwitziger, kühner Vermessenheit erdacht worden ist, daß man bezüglich des Fegefeuers wer weiß welchen von des Satans Kunst bewirkten „Offenbarungen“ Glauben geschenkt hat, daß man zu ihrer Bekräftigung eine ganze Anzahl von Schriftstellen ganz töricht verdreht hat! Und das, obwohl der Herr es nicht leidet, daß menschliche Vermessenheit solchermaßen in die verborgenen Abgründe seiner Gerichte einbricht, obwohl er es streng verboten hat, unter Geringschätzung seines Wortes von den Toten die Wahrheit zu erforschen (Deut. 18,11), und obwohl er es nicht verstattet, daß man sein Wort so schamlos besudelt! Aber geben wir selbst zu, man hätte all dies eine Zeitlang als nicht sehr belangreiche Sache dulden können, so ist doch solches Schweigen ein sehr gefährlich Ding, sobald die Versöhnung für unsere Sünden anderswo gesucht wird, als im Blute Christi, und die Genugtuung auf jemanden anders übertragen wird! Wir müssen also Stimme und Kehle und Lunge gewaltig anstrengen und es laut ausrufen: das Fegefeuer ist eine verderbenbringende Erdichtung des Satans, es macht das Kreuz Christi eitel, es tut Gottes Barmherzigkeit unerträgliche Schmach an, es erschüttert unseren Glauben und stößt ihn um! Denn was ist nach römischer Lehre das Fegefeuer anders als eine Genugtuung, die die Seelen der Verstorbenen nach ihrem Tode für ihre Sünden leisten müssen? Ist also der Wahn zerstört, wir müßten genugtuende Strafen erleiden, so ist auch das Fegefeuer sogleich bis auf die Wurzel zerstört! Wenn es aber auf Grund unserer vorausgehenden Erörterung mehr als deutlich geworden ist, daß Christi Blut die einzige Genugtuung für die Sünden der Gläubigen ist, die einzige Sühne, die einzige Reinigung – was bleibt dann anders übrig, als daß das Fegefeuer nichts weiter ist als eine furchtbare Lästerung Christi? Dabei lasse ich den vielerlei Frevel beiseite, mit dem man es heutzutage verteidigt, auch die Anstöße, die daraus in der Religion erwachsen und viele andere Dinge, die wir aus einer solchen Quelle der Gottlosigkeit haben bervorbrechen sehen:



III,5,7

Es ist aber der Mühe wert, den Römischen die Schriftstellen aus der Hand zu schlagen, die sie hier fälschlich und verkehrt an sich zu reißen pflegen.

a) Zunächst sagen sie: Der Herr erklärt doch mit solchem Ernst, daß die Sünde wider den Heiligen Geist weder in dieser Welt noch in der zukünftigen vergeben werden soll (Matth. 12,32; Mark. 3,28f.; Luk. 12,10). Damit gibt er zugleich zu verstehen, daß es gewisse Sünden gibt, die in der zukünftigen Welt vergeben werden. Aber wer bemerkt denn nicht, daß der Herr hier von der Sündenschuld redet? Wenn es aber so ist, was hat diese Sache dann mit ihrem Fegefeuer zu tun? Denn dort soll man doch nach ihrer Einbildung für die Sünden Strafe erleiden, deren Schuld einem – wie sie selbst nicht leugnen – im gegenwärtigen Leben vergeben ist! Damit sie uns nun aber nicht weiter belästigen, so sollen sie eine noch klarere Widerlegung haben. Der Herr wollte jener lästerlichen Bosheit (nämlich der Sünde wider den Heiligen Geist) jede Hoffnung auf Vergebung abschneiden, und deshalb war es ihm nicht genug, zu erklären, sie werde niemals vergeben werden; nein, um es noch stärker auszusprechen, wandte er eine Teilung an, in die er einerseits das Urteil einbegreift, das schon in diesem Leben jeder Mensch in seinem Gewissen empfindet, anderseits aber auch das letzte Urteil, das bei der Auferstehung öffentlich ergeht. Er will also etwa sagen: Hütet euch vor dem boshaften Widerstreben als vor dem ganz sicheren Verderben! Denn wer sich untersteht, das Licht des Heiligen Geistes, das ihm angeboten ist, mit voller Absicht auszulöschen, der wird weder in diesem Leben, das den Sündern zur Bekehrung gegeben ist, Vergebung erlangen, noch auch am jüngsten Tage, wenn Gottes Engel die Schafe von den Böcken scheiden und das Himmelreich von allen Ärgernissen gereinigt wird!

b) Ferner bringen die Römischen ein Gleichnis aus dem Matthäusevangelium vor: „Sei willfährig deinem Widersacher, … auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen … Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest“ (Matth. 5,25f.). Wenn an dieser Stelle unter dem Richter Gott zu verstehen ist, unter dem Widersacher der Teufel, unter dem Diener ein Engel und unter dem Kerker das Fegefeuer – dann will ich mich gern geschlagen geben. Aber es steht doch für jedermann fest, daß Christus hier zeigen will, wieviel Gefahren und Übel sich Menschen bereiten, die hartnäckig das schärfste Recht durchsetzen wollen, statt in Billigkeit und Güte ihre Sache zu betreiben, und daß er dies sagt, um die Seinen möglichst eindringlich zu billiger Eintracht zu ermahnen! Wenn es aber so ist, so möchte ich doch gerne wissen, wo man dann das Fegefeuer finden will!



III,5,8

c) Ein weiteres Beweismittel entnehmen die Römischen dem Wort des Paulus, nach dem sich vor Christus beugen sollen „alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“ (Phil. 2,10). Sie nehmen dabei von vornherein als ausgemacht an, daß unter denen, „die unter der Erde sind“, nicht solche verstanden werden könnten, die zur ewigen Verdammnis verurteilt sind. Also bleibt nur die Möglichkeit übrig, daß es die Seelen sind, die sich im Fegefeuer quälen. Das wäre nun keine üble Beweisführung, wenn der Apostel unter dem „Beugen der Knie hier die wahre Verehrung verstünde, wie sie aus Frömmigkeit geschieht. Aber er lehrt doch tatsächlich, daß Christus die Herrschaft übertragen ist, der alle Kreatur unterworfen werden soll. Dann aber hindert uns nichts, unter denen, „die unter der Erde sind“, die Teufel zu verstehen, die ganz gewiß vor den Richterstuhl des Herrn werden treten müssen, um ihn in Schrecken und Zittern als ihren Richter anzuerkennen. Die gleiche Prophetenstelle (auf die er sich auch Phil. 2,10 bezieht, nämlich Jes. 45,23) erläutert Paulus selbst an anderer Stelle ebenso: „Wir werden alle vor den Richtstuhl Christi dargestellt werden; denn es steht geschrieben: so wahr als ich lebe … mir sollen alle Knie gebeugt werden …“ (Röm. 14,10f.). Da macht man aber den Einwand, es gäbe eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes, die sich in dieser Weise nicht deuten ließe, nämlich: „Und alle Kreatur, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist und im Meer, und alles was darinnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Stuhl sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Apk. 5,13). Das gebe ich ohne weiteres zu; aber was für Kreaturen sind nun nach ihrer Meinung an dieser Stelle aufgezählt? Es ist nämlich gewisser als gewiß, daß hier von den vernunftlosen und unbeseelten Geschöpfen die Rede ist. Es wird hier nichts anderes behauptet, als daß die einzelnen Teile der Welt, von der höchsten Höhe des Himmels bis zum Mittelpunkt der Erde, auf ihre Weise die Ehre des Schöpfers verkünden sollen.

d) Dann bringt man noch eine Stelle aus der Geschichte der Makkabäer vor (2. Makk. 12,43). Aber das würdige ich keiner Entgegnung, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob ich dieses Werk zu den Büchern der Heiligen Schrift zählte. Aber – so wendet man ein – Augustin hat es doch als kanonisch anerkannt! Aber ich frage zunächst: mit was für einer Gewißheit hat er das getan? Er sagt: „Die Schrift der Makkabäer hat bei den Juden nicht die gleiche Stellung wie das Gesetz, die Propheten und die Psalmen, denen der Herr das Zeugnis gegeben hat, sie seien gleichsam seine Zeugen, indem er sprach: ‘Es muß noch alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mose’s, in den Propheten und in den Psalmen’ (Luk. 24,44). Daß dieses Buch aber von der Kirche angenommen worden ist, das ist nicht ohne Nutzen geschehen, wenn man es besonnen liest oder hört …“ (Gegen Gaudentius I,31,38). Hieronymus aber lehrt ohne allen Zweifel, daß das Ansehen dieses Buches keine Kraft habe, um daraus Kirchenlehren zu beweisen. Und aus einem alten Buch mit dem Titel „Auslegung des Glaubensbekenntnisses“, das dem Cyprian zugeschrieben wird, geht deutlich hervor, daß das Makkabäerbuch in der Alten Kirche keine Autorität gehabt hat. Was streite ich mich aber hier nutzlos herum! Als ob der Verfasser selber nicht deutlich zeigte, wieviel Ansehen ihm zukommt, indem er am Schlusse um Verzeihung bittet, sofern er etwas weniger gut ausgesprochen hätte (2. Makk. 15,39). Wenn einer aber bekennt, daß seine Schrift der Verzeihung bedarf, dann spricht er doch damit ohne Zweifel laut aus, daß es sich dabei nicht um Offenbarungsworte des Heiligen Geistes handelt! Auch wird die Frömmigkeit des Judas Makkabäus – als er nämlich ein Opfer für die Toten nach Jerusalem sandte – nur deshalb gelobt, weil er eine feste Hoffnung bezüglich der letzten Auferstehung hatte (2. Makk. 12,43). Denn der Verfasser der Geschichte deutet das, was Judas getan hat, nicht darauf, daß er mit seiner Gabe etwa die Erlösung jener Toten erkaufen wollte, sondern darauf, daß er den Wunsch hatte, es möchten die Männer, die für Vaterland und Glauben gefallen waren, mit den übrigen Gläubigen zusammen am ewigen Leben teilhaben! Freilich war diese Tat nicht frei von Aberglauben und falschem Eifer. Mehr als Narren sind aber Leute, die solch einem unter dem Gesetz stehenden Opfer eine Beziehung bis auf unsere Zeit geben wollen: denn wir wissen, daß durch Christi Kommen aufgehört hat, was damals in Übung war.
Simon W.

Der Pilgrim
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III,5,9

e) Eine unbesiegliche Waffe haben die Römischen aber an Paulus – und die ist nicht so leicht zu zerbrechen. Paulus sagt nämlich: „So aber jemand auf diesen Grund bauet Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stoppeln, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden; der Tag wird’s klar machen; denn er wird durch’s Feuer offenbar werden, und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren … Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden, er selbst aber wird selig werden, so doch wie durchs Feuer“ (1. Kor. 3,12. 13. 15). Was soll das nun – so fragen die Römischen – anders für ein Feuer sein als das des Fegefeuers, das die Sündenbefleckung verzehrt, damit wir rein in Gottes Reich eingehen? Die meisten unter den Kirchenvätern haben allerdings angenommen, es sei ein anderes Feuer gemeint, nämlich Trübsal oder Kreuz, durch die der Herr die Seinigen prüft, damit sie in den Befleckungen des Fleisches keine Ruhe finden (so Chrysostomus, Augustin und andere). Diese Ansicht ist viel glaubhafter, als wenn man sich ein Fegefeuer erdenkt! Freilich stimme ich auch diesen Kirchenvätern nicht zu; denn ich glaube eine viel sichere und klarere Deutung dieser Stelle gefunden zu haben. Bevor ich diese Deutung vorbringe, möchte ich aber wissen, ob die Römischen denn glauben, daß auch die Apostel und alle Heiligen durch dieses Fegefeuer hindurch gemußt hätten. Sie werden das verneinen – das weiß ich wohl. Es wäre ja auch allzu ungereimt, wenn die Männer, deren über das Maß hinausgehende Verdienste nach der Träumerei der Papisten auf sämtliche Glieder der Kirche überströmen, selbst solcher Reinigung bedurft hatten! Der Apostel aber behauptet das! Er sagt nämlich nicht, das Werk einiger Gläubiger solle der Bewährung unterworfen werden, sondern das Werk aller! (Vers 13). Das ist nun nicht ein Beweisstück von mir, sondern es stammt von Augustin, der auf diese Weise jener Deutung der Stelle entgegentritt. Und – was noch merkwürdiger ist! – Paulus sagt nicht, sie müßten wegen irgendwelcher beliebigen Werke durchs Feuer gehen; nein, sie sollen, wenn sie die Kirche mit höchster Treue erbaut haben, ihren Lohn empfangen, wenn lhr Werk im Feuer bewährt ist! (Augustin, Handbüchlein an Laurentius,68.) Zunächst sehen wir, daß der Apostel hier ein Gleichnis braucht: er hat die Lehren, die sich die Menschen in ihrem eigenen Kopfe ausgedacht haben, als „Holz, Heu, Stoppeln“ bezeichnet. Der Sinn dieses Gleichnisses ist unschwer zu ermitteln: wie Holz, wenn man es an das Feuer bringt, sogleich verzehrt wird und vergeht, so werden auch jene (vom Menschen selbst erdachten) Lehren keinen Bestand haben, wenn sie erprobt werden. Nun ist es aber jedermann deutlich, daß eine solche Prüfung vom Geiste Gottes vollzogen wird. Um also den Faden des Gleichnisses weiterzuspinnen und die einzelnen Stücke recht aneinander anzupassen, hat Paulus jene Prüfung durch den Heiligen Geist als „Feuer“ bezeichnet. Denn wie sich Gold und Silber, je näher man sie ans Feuer heranbringt, desto gewisser in ihrer Echtheit und Reinheit bewähren, so empfängt auch die Wahrheit des Herrn, je schärferer geistlicher Prüfung sie unterworfen wird, eine desto klarere Bekräftigung ihrer Autorität. Wie aber andererseits Heu, Holz und Stoppeln, wenn man sie ans Feuer bringt, ergriffen und plötzlich verzehrt werden, so können auch Menschensündlein, die im Worte des Herrn nicht gegründet sind, die Prüfung durch den Heiligen Geist nicht aushalten, sondern sie fallen in sich zusammen und vergehen. Kurz, wenn diese selbsterdachten Lehren mit Holz, Heu und Stoppeln verglichen werden, weil sie gleich Holz, Heu und Stoppeln vom Feuer verbrannt und zunichte gemacht werden, und wenn andererseits solche Zerstörung und Ausrottung dieser Lehren einzig und allein durch den Heiligen Geist erfolgt, – so ergibt sich, daß der Heilige Geist dieses „Feuer“ ist, in welchem sie „bewährt“ werden sollen. Diese Bewährung durch den Heiligen Geist nennt Paulus (Vers 13) den „Tag“ des Herrn, und zwar nach der gewohnten Ausdrucksweise der Schrift. Denn jedesmal, wenn der Herr auf irgendeine Weise den Menschen seine Gegenwart kundtut, so sagt die Schrift, das sei der „Tag des Herrn“. Vornehmlich aber leuchtet uns sein Angesicht dann, wenn seine Wahrheit ihr Licht erstrahlen läßt. Damit ist völlig bewiesen, daß für Paulus das „Feuer“ nichts anderes ist als die Prüfung durch den Heiligen Geist. Wie sollen nun aber durch dieses Feuer die Menschen, die an ihren Werken Schaden leiden müssen, selbst gerettet werden? (Vers 15). Das wird nicht schwer zu begreifen sein, wenn wir bedenken, von was für Menschen der Apostel spricht. Er meint nämlich die Baumeister der Kirche, die wohl den rechten „Grund“ der Kirche (Vers 11 und 12a) beibehalten, auf ihm aber sehr verschiedene Dinge „bauen“; sie weichen also nicht von den hauptsächlichen und notwendigen Stücken des Glaubens ab, sondern verfallen bei geringeren und nicht so gefährlichen in Träumerei, indem sie das Wort Gottes mit ihren eigenen Hirngespinsten vermischen. Solche Leute, sage ich, müssen nun an ihrem Werk Schaden leiden, und zwar dadurch, daß ihre Hirngespinste abgetan werden, „sie selbst aber werden selig, so doch wie durch’s Feuer“. Das heißt: nicht etwa wird ihre Unwissenheit und Träumerei vor dem Herrn gebilligt, sondern sie werden durch die Gnade und Kraft des Heiligen Geistes von ihr gereinigt! All die Leute also, die z.B. die goldene Reinheit des Wortes Gottes mit diesem Kot des Fegefeuers besudelt haben – die müssen an ihrem Werk Schaden leiden!



III,5,10

Aber – so wendet man weiter ein – es handelt sich doch hier um eine althergebrachte Meinung der Kirche. Diese Einrede macht Paulus zunichte, indem er auch seine Zeit mit unter den Satz einbegreift, in welchem er bezeugt, alle Menschen, dic beim Bau der Kirche etwas aufbrächten, das weniger zum Fundament der Kirche paßt, müßten notwendig an ihrem Werk Schaden leiden. Die Widersacher halten mir aber vor, schon vor dreizehnhundert Jahren habe der Brauch bestanden, für die Verstorbenen zu beten. Da frage ich aber zurück, auf Grund welches Wortes Gottes, welcher Offenbarung, welches Beispiels das denn geschehen sei. Denn hier fehlt es nicht nur gänzlich an Zeugnissen aus der Heiligen Schrift, sondern auch alle Vorbilder der Heiligen, von denen man da liest, weisen nichts dergleichen auf. Man findet da wohl viele und mitunter lange Berichte über die Trauerübungen und über die Art des Begräbnisses, aber von einem Gebet für die Verstorbenen ist auch nicht das mindeste zu bemerken. Da die Sache aber von so großer Wichtigkeit ist, so hätte man sie um so mehr erwähnen müssen. Aber selbst die unter den Alten, die wirklich solche Gebete für die Verstorbenen verrichteten, sahen, daß ihnen dabei Gottes Auftrag und ein rechtmäßiges Beispiel fehlte! Weshalb wagten sie es dann aber? Ich behaupte, daß ihnen dabei etwas Menschliches widerfahren ist, und ich bestehe darauf, daß man deshalb aus ihrem Tun keinerlei Beispiel zur Nacheiferung machen darf. Denn die Gläubigen sollen nach der Anweisung des Paulus kein Werk angreifen, wenn sie dabei kein ruhiges Gewissen haben (Röm. 14,23) – und diese Gewißheit ist dann doch vornehmlich beim Gebet erforderlich. Man könnte allerdings sagen: es ist doch anzunehmen, daß sie durch eine bestimmte Ursache dazu getrieben worden sind. Ja, sie suchten eben einen Trost, um ihren Schmerz zu lindern, und es erschien ihnen auch unmenschlich, vor Gott keinerlei Zeugnis von ihrer Liebe zu den Verstorbenen von sich zu geben. Wie sehr die Natur des Menschen zu solcher Gesinnung geneigt ist, das erfährt ja jedermann. Auch gab es (damals) eine allgemeine Gewohnheit, die wie eine Fackel das Feuer in vielen Herzen angezündet hat! Wir wissen, daß man bei allen Völkern und zu allen Zeiten den Toten Opfergaben gereicht und daß man ihre Seelen alle Jahre gereinigt hat. Obwohl aber der Teufel durch dergleichen Blendwerk mit den törichten Menschen sein Spiel trieb, so nahm er doch den Anlaß zu diesem Betrug aus einem richtigen Grundsalz, nämlich aus der Einsicht, daß der Tod nicht Vergehen ist, sondern der Übergang aus diesem Leben in ein anderes. Und ohne allen Zweifel wird dieser Aberglaube selbst die Heiden vor Gottes Richtstuhl als schuldig überführen, weil sie die Sorge um dieses ewige Leben, an das sie zu glauben bekannten, vernachlässigt haben! Die Christen wollten nun aber nicht schlimmer sein als unheilige Menschen, und deshalb schämten sie sich, den Verstorbenen keinerlei Dienst zu erweisen – als ob sie gänzlich ausgelöscht wären! Daher kommt denn diese übelberatene Geschäftigkeit: die Christen meinten, wenn sie faul darin wären, für ein feierliches Leichenbegängnis zu sorgen, Totenmähler und Totenopfer zu halten, so würden sie sich schweren Vorwürfen aussetzen. Was aber aus diesem verkehrten Wetteifer (mit den Heiden) hervorgegangen war, das hat dann immer neuen Zuwachs erhalten und ist so sehr gesteigert worden, daß im Papsttum die vornehmste Heiligkeit darin besteht, den Verstorbenen in ihrer Pein Hilfe zu bringen. Die Schrift aber schenkt uns doch einen anderen, weit besseren und stärkeren Trost, indem sie uns bezeugt: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“ (Apk. 14,13). Sie fügt auch den Grund gleich zu: „Denn sie ruhen von ihrer Arbeit.“ Unserer Liebe aber dürfen wir nicht soweit nachgeben, daß wir dabei in der Kirche eine verkehrte Gebetssitte aufrichten! Wer auch nur ein wenig Kenntnis der Dinge besitzt, der wird sicher leicht erkennen, daß alles, was man bei den Alten in dieser Sache zu lesen bekommt, der allgemeinen Sitte und der Unerfahrenheit der Menge zugegeben worden ist. Ich gestehe, daß sie auch selber in diesen Irrtum mit hineingerissen waren, wie denn unbesonnene Leichtgläubigkeit allgemein den Menschengeist um seine Urteilsfähigkeit zu bringen pflegt. Unter wieviel Zweifeln sie indessen die Gebete für die Verstorbenen empfehlen, das zeigt sich, wenn man ihre Äußerungen liest. In seinen „Bekenntnissen“ berichtet Augustin, daß seine Mutter Monika leidenschaftlich darum gebeten habe, man möge ihrer am Altar bei der Feier des heiligen Mahles gedenken. Das war ein Wunsch, wie man ihn bei einer alten Frau wohl erwarten kann. Ihr Sohn hat ihn nun aber nicht an dem Maßstab der Schrift gemessen, sondern aus natürlicher Hinneigung zu seiner Mutter gewünscht, die anderen möchten ihn billigen! Das Buch: „von der Fürsorge für die Toten“, das er geschrieben hat, enthält dermaßen viele Unsicherheiten, daß es mit seiner Kälte mit Recht die Hitze eines törichten Eifers auslöschen sollte, sofern jemand ein Anwalt der Toten zu sein begehrt; es wird sicherlich mit seinen abgeschmackten Vermutungen die Menschen, die zuvor besorgt waren, von ihrer Besorgnis befreien! Seine einzige Stütze ist nämlich diese: da die Gewohnheit, für die Toten zu beten, nun einmal aufgekommen sei, so dürfe man diese Pflicht nicht verachten. Ich will aber zugestehen, daß es den alten Schriftstellern der Kirche fromm erschienen ist, den Toten Beistand zu leisten. Aber es ist doch als untrügliche Regel stets festzuhalten, daß wir nicht das Recht haben, in unseren Gebeten etwas Eigenes vorzubringen, sondern daß unsere Wünsche dem Worte Gottes unterworfen werden müssen; denn bei seinem Urteil steht es, vorzuschreiben, um was er gebeten werden soll! Nun gibt uns aber das ganze Gesetz und das ganze Evangelium nicht mit einer einzigen Silbe die Freiheit an die Hand, für die Toten zu beten, und deshalb bedeutet es eine Entweihung der Anrufung Gottes, wenn wir uns hier mehr zu tun unterstehen, als er uns vorschreibt! Damit sich aber unsere Widersacher nicht rühmen, als ob sie sich mit ihrem Irrtum in der Gesellschaft der Alten Kirche befänden, so behaupte ich, daß da doch ein großer Unterschied besteht. Die Alten gedachten der Verstorbenen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als hätten sie alle Sorge um sie von sich geworfen; zugleich aber gestanden sie ein, daß sie im Zweifel waren, wie es um die Toten stünde; jedenfalls stellten sie über das Fegefeuer keine sicheren Behauptungen auf, ja, sie hielten es für eine ungewisse Sache. Unsere heutigen Widersacher dagegen verlangen, daß man ihre Träumereien vom Fegefeuer ohne Widerrede als Glaubenslehre gelten läßt! Die Alten befahlen Gott bei der gemeinsamen Feier des heiligen Mahles ihre Toten, und zwar wortkarg und nur, um ihrer Pflicht nachzukommen. Unsere Widersacher dagegen dringen heftig auf die Fürsorge für die Toten und bewirken mit ihrer ungestümen Predigt, daß man diese allem Dienst der Liebe vorzieht. Es wäre uns aber auch nicht schwer, einige Zeugnisse von Kirchenvätern vorzubringen, die all diese Gebete für die Toten, wie sie damals in Übung waren, offen verwerfen. Von dieser Art ist ein Ausspruch Augustins: er lehrt, daß alle auf die Auferstehung des Fleisches und die ewige Herrlichkeit warten, daß aber die Ruhe, die nach dem Tode folgt, von jedem, der ihrer würdig ist, in dem Augenblick seines Todes empfangen wird. Er bezeugt also, daß alle Frommen nicht weniger als die Propheten und Apostel und Märtyrer gleich nach ihrem Tode selige Ruhe genießen (Predigten zum Johannesevangelium, 49). Wenn es aber so um sie bestellt ist, so möchte ich doch nur zu gern wissen, wozu ihnen dann unsere Fürbitte noch nütze sein soll! Gröbere abergläubische Irrtümer, mit denen die Papisten die Herzen einfältiger Leute betört haben, lasse ich hier beiseite; sie sind aber unzählbar und zumeist ganz ungeheuerlich, so daß sie sie mit keiner ehrbaren Farbe beschönigen können. Auch will ich von dem schnöden Schacher schweigen, den sie bei solcher Betörtheit der Welt nach ihrem Gelüsten haben treiben können. Man kann nämlich da an kein Ende kommen, und der fromme Leser wird hier auch ohne die Aufzählung solcher Dinge genug finden, um sein Gewissen zu stärken!
Simon W.

Der Pilgrim
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Sechstes Kapitel: Von dem Leben eines Christenmenschen; vor allem mit welchen Gründen uns die Schrift dazu ermahnt


III,6,1

Im Leben der Gläubigen soll ein Gleichklang, ein Zusammenstimmen zwischen Gottes Gerechtigkeit und ihrem eigenen Gehorsam stattfinden. Das ist der eigentliche Zweck der Wiedergeburt, wie ich bereits zeigte. Auf diese Weise sollen die Gläubigen die Berufung festmachen (Ausdruck nach 2. Petr. 1,10), mit der sie zu Kindern Gottes angenommen sind. Nun faßt zwar Gottes Gesetz jene Erneuerung, durch die Gottes Ebenbild in uns wiederhergestellt wird, in sich; aber wir haben in unserer Trägheit viel Ansporn und Hilfe nötig, und so wird es von Nutzen sein, aus den verschiedenen Schriftstellen die rechte Weise zu entnehmen, wie wir unser Leben einrichten sollen, damit die, denen es mit ihrer Bekehrung Ernst ist, in ihrem Eifer nicht auf Irrwege geraten. Wenn ich mich nun aber anschicke, das Leben eines Christenmenschen darzustellen, so bin ich mir voll und ganz bewußt, damit einen sehr vielgestaltigen und schwierigen Stoff anzugreifen, der in seiner Umfänglichkeit einen dicken Band füllen könnte, wenn man ihn erschöpfend behandeln wollte. Wir sehen ja auch, wie weitläufig die Mahnreden der Alten auseinanderfließen, wenn sie sich (auch) nur auf die einzelnen Tugenden beziehen. Dabei herrscht aber keineswegs ein übertriebener Wortreichtum. Es ist eben so: wenn man sich vorgenommen hat, irgendeine Tugend in einer Rede recht zu preisen, dann drängt die Fülle des Stoffes von selbst zu einer solchen Breite des Stils hin, daß man meint, man hätte seine Sache nicht nach Gebühr dargestellt, wenn man nicht viel gesagt hätte! Ich habe nun aber nicht die Absicht, die Lebensunterweisung, die ich jetzt vorzutragen im Sinn habe, soweit auszudehnen, daß sie auch noch die gesonderte Behandlung der einzelnen Tugenden mit einschlösse und auch ausgedehnte Ermahnungen dazu enthielte. Das kann man aus den Schriften anderer, vor allem aus den Predigten der Kirchenväter entnehmen. Mir soll es übrig genug sein, wenn ich den Weg zeige, auf dem ein frommer Mann zum rechten Ausrichtungspunkt für die Gestaltung seines Lebens geführt werden kann, und wenn ich eine allgemeine Regel kurz umschreibe, nach der er seine Verpflichtungen recht feststellen kann. Für große Reden wird vielleicht später einmal die Zeit kommen – oder ich will diese Aufgabe, zu der ich nicht eben geschickt bin, anderen überlassen! Ich liebe von Natur die Kürze; und wenn ich auch weitläufiger reden wollte, so würde es mir vielleicht nicht gelingen. Selbst wenn eine wortreichere Art zu reden höchsten Beifall fände, so würde ich sie trotzdem schwerlich versuchen. Die Aufgabe des hier vorliegenden Werkes dagegen erfordert es geradezu, daß wir die schlichte Lehre mit möglichster Kürze umreißen. Wie aber die Philosophen bestimmte Grenzen für Recht und Ehrbarkeit kennen und von da her alle einzelnen Pflichten und die ganze Schar der Tugenden ableiten, – so hat auch die Schrift in dieser Hinsicht ihre Ordnung, ja, sie läßt die herrlichste Einteilung walten, die viel sicherer ist als alles, was die Philosophen hier bieten. Es besteht nur ein Unterschied: die Philosophen waren ehrgeizige Leute und haben sich deshalb mit großem Fleiß um eine ausgesuchte Klarheit der Anordnung bemüht, um auf diese Weise die Gewandtheit ihres Geistes an den Tag zu legen; der Heilige Geist dagegen trieb sein Lehramt ohne Künstelei, und deshalb hat er die geordnete Darstellungsweise nicht so scharf und unentwegt innegehalten. Aber da und dort bringt er sie doch und gibt uns damit genugsam zu verstehen, daß wir sie nicht vernachlässigen dürfen.



III,6,2

Diese Unterweisung, die uns die Schrift gibt und von der hier die Rede ist, besteht nun vor allem in zwei Stücken. Das erste liegt darin, daß die Liebe zur Gerechtigkeit, zu der wir sonst von Natur keineswegs geneigt sind, in unser Herz hineingeträufelt und eingeführt wird. Das zweite Stück hat sein Wesen darin, daß uns ein Richtmaß vorgeschrieben werden soll, das uns in unserem Trachten nach der Gerechtigkeit nicht vom Wege abirren läßt. Dann hat die Schrift viele und ausgezeichnete Ursachen, um die Gerechtigkeit recht anzupreisen; viele von ihnen haben wir schon oben an verschiedenen Stellen erwähnt, einige weitere werden wir hier noch zu berühren haben, von welchem Fundament sollte sie besser den Ausgangspunkt nehmen können, als von der Ermahnung: „Ihr sollt heilig sein; denn der Herr, euer Gott, ist heilig“? (Lev. 19,2; 1. Petr. 1,15f.). Wir liefen ja alle in der Irre wie versprengte Schafe, wir hatten uns heillos in dem Irrgarten dieser Welt verlaufen – und da hat er uns gesammelt, um uns zu seiner Herde zu machen! Wenn wir unsere Verbundenheit mit Gott erwähnen hören, dann sollen wir immer daran denken, daß die Heiligkeit das Band sein muß, durch welches sie besteht. Das bedeutet nicht, daß wir etwa durch das Verdienst unserer Heiligkeit in die Gemeinschaft mit Gott gelangten. Wir müssen im Gegenteil zuerst ihm anhängen, damit uns seine Heiligkeit durchdringe und wir dann folgen, wohin er uns ruft! Aber jener obige Satz gilt doch, weil es gar sehr zu Gottes Ehre gehört, daß er keinen Umgang mit Ungerechtigkeit und Unreinheit habe! Darum liegt nach der Lehre der Schrift hier der Sinn unserer Berufung, den wir stets im Auge behalten müssen, wenn wir Gott auf sein Rufen antworten wollen: (Jes. 35, 8 u. a.). Was sollte es auch für einen Zweck haben, uns aus der Bosheit und Befleckung dieser Welt, in die wir gänzlich versunken waren, herauszureißen, wenn wir uns nun erlauben wollten, uns in jener Bosheit und Befleckung unser ganzes Leben lang herumzuwälzen? Auch mahnt uns die Heilige Schrift zugleich daran, daß wir ja, um zum Volke des Herrn gezählt zu werden, in der heiligen Stadt Jerusalem wohnen müssen; diese Stadt aber hat sich der Herr selber geheiligt, und deshalb gebührt sich’s nicht, daß sie durch die Unreinheit ihrer Bewohner entweiht werde! Daher solche Worte wie: „Wer wird wohnen in deiner Hütte? … Wer ohne Tadel einhergeht und recht tut …“ (Ps 15,1f.; Psalm 24 und andere Stellen). Denn das Heiligtum, in dem er seine Wohnung hat, darf nicht voll Unreinigkeit sein wie ein Viehstall!



III,6,3

Um uns noch besser aufzumuntern, hält uns dann die Schrift weiterhin vor Augen: wie Gott, unser Vater, sich in seinem Christus selber mit uns versöhnt hat, so hat er uns auch in ihm das Ebenbild vorgezeichnet, nach dem wir nach seinem Willen gestaltet werden sollen (Röm. 6,18). Nun sollen doch die Leute, die da meinen, allein bei den Philosophen trete uns die Lehre von den guten Sitten recht und sinnreich angeordnet entgegen, einmal herkommen und mir bei den Philosophen eine herrlichere Anordnung aufzeigen! Wenn uns die Philosophen eine ganz ausgezeichnete Ermahnung zur Tugend geben wollen, dann tragen sie uns doch nichts anderes als den Satz vor, wir sollten der Natur gemäß leben. Die Schrift dagegen schöpft ihre Ermahnungen aus der wahren Quelle: sie gibt uns nicht allein die Vorschrift, unser Leben auf Gott zu richten, der sein Geber ist und dem es verpflichtet ist, sondern sie lehrt uns auch, daß wir dem wahren Ursprung und dem wahren Gesetz unserer Erschaffung gegenüber entartet sind, und setzt dann hinzu, daß uns Christus, durch den wir bei Gott wieder in Gnaden angenommen sind, als Beispiel vor Augen gestellt ist, dessen Gestalt wir in unserem Leben zur Abbildung bringen müssen. Was kann man Wirksameres suchen als dies Eine? Ja, was kann man überhaupt über dies Eine hinaus noch suchen? Wir werden also dazu vom Herrn zu Kindern angenommen, daß unser Leben Christus, das Band unserer Kindschaft, zur Darstellung bringe! Wenn wir uns nun also nicht der Gerechtigkeit hingeben und angeloben, dann fallen wir nicht bloß in schnöder Treulosigkeit von unserem Schöpfer ab, sondern wir verleugnen auch unseren Erlöser. Einen weiteren Anlaß zu ihrer Ermahnung entnimmt die Schrift all den Wohltaten Gottes, die sie uns ins Gedächtnis ruft, und all den einzelnen Tatsachen, die unser Heil ausmachen. Da sich uns Gott, so lehrt sie uns, als unser Vater erzeigt hat, würden wir den Vorwurf schrecklichsten Undanks auf uns ziehen, wenn wir uns ihm nicht wiederum als Kinder erzeigten! (Mal. 1,6; Eph. 5,1; 1. Joh. 3,1). Da uns Christus mit seinem Blute gereinigt hat und uns diese Abwaschung durch die Taufe hat zuteil werden lassen, geht es nicht an, daß wir uns mit neuem Schmutz beflecken! (Eph. 5,26; Hebr. 10,10; 1. Kor. 6,11; 1. Petr. 1,16; 1. Petr. 1,19). Da uns Christus in seinen Leib eingefügt hat, müssen wir, die wir seine Glieder sind, uns sorglich davor hüten, uns mit Makel und Unreinigkeit zu besudeln! (1. Kor. 6,15; Joh. 15,3ff.; Eph. 5,23ff.). Da er, unser Haupt, zum Himmel emporgestiegen ist, ist es billig, daß wir allen Erdensinn von uns tun und von ganzem Herzen nach dem Himmel trachten! (Kol. 3,1ff.). Da uns der Heilige Geist Gott zu Tempeln geweiht hat, müssen wir uns Mühe geben, daß Gottes Ehre durch uns verherrlicht werde, und wir dürfen es nicht dahin kommen lassen, daß wir durch den Unflat der Sünde entheiligt werden! (1. Kor. 3,16; 6,19; 2. Kor. 6,16). Da unsere Seele und unser Leib für die himmlische Unverwesbarkeit und einen unverwelklichen Kranz bestimmt sind, müssen wir alles daransetzen, daß sie rein und untadelig behalten werden auf den Tag des Herrn! (1. Thess. 5,23; Anklang an Phil. 1,10). Das sind wahrhaftig treffliche Fundamente zur rechten Gestaltung unseres Lebens, dergleichen man bei den Philosophen nie und nimmer antreffen wird; denn wenn diese die Tugend preisen wollen, so kommen sie doch nie über die natürliche Würde des Menschen hinaus!



III,6,4

Hier ist nun der Ort, an dem ich mich mit aller Schärfe gegen solche Leute wenden muß, die mit Christus nur dem Titel und dem Zeichen nach zu tun haben und doch Christen genannt werden wollen. Mit was für Frechheit rühmen sie sich denn seines heiligen Namens? Mit Christus haben doch nur die etwas zu schaffen, die aus dem Worte des Evangeliums seine rechte Erkenntnis empfangen haben. Nach den Worten des Apostels aber haben alle die Menschen Christus nicht recht kennengelernt, die nicht gelehrt sind, „den alten Menschen“ abzulegen, „der durch die Lüste im Irrtum sich verderbet“, und Christus „anzuziehen“ (Eph. 4,22-24). Solche Leute verraten also, daß sie die Erkenntnis Christi fälschlich und unter Beleidigung des Herrn für sich in Anspruch nehmen – wie wohlgesetzt und geläufig sie auch unterdessen vom Evangelium schwatzen mögen! Denn dies ist nicht eine Zungenlehre, sondern eine Lebenslehre, es wird nicht allein mit Verstand und Gedächtnis begriffen wie die anderen Wissenschaften, sondern der Mensch nimmt es erst dann recht in sich auf, wenn es seine ganze Seele in Besitz nimmt und in der tiefsten Regung des Herzens seinen Sitz und seine Herberge findet! Jene Leute sollen also davon ablassen, Gott zu verlästern und etwas für sich in Anspruch zu nehmen, was sie doch gar nicht sind – oder aber sie sollen sich Christus, ihrem Meister, als Jünger erweisen, die seiner nicht unwert sind! Wir haben der Lehre, in der unsere Gottesverehrung beschlossen ist, den ersten Platz gegeben; denn von ihr geht unser Heil aus; aber diese Lehre muß, wenn sie uns anders Frucht tragen soll, in unser Herz tief eingesenkt werden und in unsere Lebensführung eindringen, ja, sie muß uns in sich hineinbilden! Schon die Philosophen tun recht daran, wenn sie gegen solche Leute aufbrausen und sie mit Schmach und Schande aus ihrer Herde entfernen, die zwar jene „Kunst“ lehren, die doch „die Meisterin des Lebens“ sein soll, sie aber dann in ein scheinkluges Geschwätz verkehren! Mit wieviel besseren Gründen müssen wir dann jene geschwätzigen Klüglinge verabscheuen, die sich damit begnügen, das Evangelium ganz vorn auf den Lippen zu tragen – dessen Wirkung doch hundertmal stärker als alle frostigen Mahnreden der Philosophen in die tiefsten Regungen des Herzens dringen, in der Seele einwurzeln und den ganzen Menschen innerlich erfassen sollte!
Simon W.

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III,6,5

Indessen verlange ich nicht, daß die Lebensführung eines Christenmenschen nichts als das vollkommene Evangelium atme – obwohl das zu wünschen ist und wir uns notwendig darum mühen müssen. Ich stelle die Forderung nach der „evangelischen Vollkommenheit“ (Evangelica perfectio) nicht mit solcher Härte, daß ich einen Menschen, der sie noch nicht erreicht hat, deshalb nicht als Christen anerkennen würde. Denn in solchem Falle würden ja alle Menschen von der Kirche ausgeschlossen; ist doch kein einziger zu finden, der von jenem Ziel nicht noch gar weit entfernt wäre; viele aber sind noch recht wenig vorwärtsgekommen, und doch hätten sie es nicht verdient, daß man sie ausschlösse. Was soll nun aber geschehen? Wir sollen uns jenes Ziel vor Augen stellen und nach ihm allein unser Trachten richten. Es soll uns jenes Zielzeichen gesetzt sein, nach dem all unsere Anspannung, all unser Rennen sich ausrichten soll! Es gebührt sich nämlich nicht, zwischen Gott und dem Menschen in der Weise zu teilen, daß man von dem, was er uns in seinem Worte vorschreibt, einen Teil annimmt, einen anderen aber nach eigenem Ermessen beiseiteläßt. Denn er befiehlt uns überall an erster Stelle die Rechtschaffenheit als das vornehmste Stück seiner Verehrung; darunter versteht er die aufrichtige Einfalt des Herzens, der aller falsche Schein und alle Heuchelei fern ist; der Gegensatz dazu ist das geteilte Herz. Er will also sagen: der geistliche Anfang rechten Lebens liegt darin, daß wir uns ohne Heuchelei mit der inneren Regung unseres Herzens Gott hingeben, um der Heiligkeit und Gerechtigkeit zu dienen. Es hat aber kein Mensch in diesem irdischen Kerker des Leibes Kraft genug, um mit rechter Freudigkeit seinen Lauf dahinzueilen, ja, die meisten leiden unter solcher Schwachheit, daß sie nur wankend und hinkend, ja auf dem Boden kriechend, bescheiden vorankommen. So sollen wir denn alle nach dem Maß unserer kleinen Kraft unseren Gang tun und den angefangenen Weg fortsetzen! Niemandes Weg wird so unglücklich sein, daß er nicht alle Tage ein Stücklein hinter sich bringen könnte. Wir wollen aber nicht aufhören, danach zu streben, daß wir auf dem Wege des Herrn beständig etwas weiterkommen, wollen auch bei der Geringfügigkeit des Fortschrittes nicht den Mut sinken lassen. Mag auch das Weiterschreiten unseren Wünschen nicht entsprechen, so ist doch die Mühe nicht verloren, wenn nur der heutige Tag über den gestrigen Sieger bleibt. Wir wollen nur in aufrichtiger Einfalt auf unser Ziel schauen und nach dem Zielzeichen uns ausstrecken, wir wollen nicht schmeichlerisch an uns selber Gefallen haben, auch unserer bösen Art nicht nachgeben, sondern in unablässiger Mühe danach ringen, besser zu werden, als wir waren, bis wir dann endlich zur Güte selber hindurchgedrungen sind: sie suchen wir, ihr jagen wir nach durch die ganze Zeit unseres Lebens – dann aber werden wir sie erreichen, wenn wir die Schwachheit unseres Fleisches von uns getan haben und in die vollkommene Gemeinschaft mit Gott aufgenommen sind!



Siebentes Kapitel: Die Hauptsumme des christlichen Lebens; hier ist von der Selbstverleugnung zu reden



III,7,1

Das Gesetz des Herrn bietet uns gewiß eine großartige und trefflichst geordnete Anleitung zur Gestaltung unseres Lebens. Doch hat es unserem himmlischen Meister Wohlgefallen, die Seinen noch auf eine genauere Weise nach der Regel zu bilden, die er im Gesetz vorgeschrieben hatte. Der Hauptgrundsatz dieser Erziehungsweise ist der: die Gläubigen haben das Amt, „ihre Leiber zu begeben zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei – welches sei ihr vernünftiger Gottesdienst!“ (nach Röm. 12,1). Aus diesem Satz entnimmt Paulus Ursache zu der Ermahnung: „Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der Wille Gottes!“ (Röm. 12,2; Schluß etwas ungenau). Das ist nun eine große Sache, daß wir dem Herrn geheiligt und geweiht sind – um nun in unserem Denken, Reden, Trachten und Handeln nichts anderes zu tun, als was zu seiner Ehre dient! Denn das, was Gott heilig ist, zu unheiligem Gebrauch zu bestimmen, das bedeuter entsetzliches Unrecht gegen ihn! Sind wir nun aber nicht unsere eigenen Herren, sondern gehören wir dem Herrn – so wird sofort klar, welchen Irrtum wir zu meiden haben und worauf alle unsere Werke in unserem ganzen Leben zu richten sind. Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille die Herrschaft führen. Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also dürfen wir uns nicht das Ziel setzen, danach zu suchen, was uns nach dem Fleische nütze! Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also sollen wir uns und alles, was wir haben, soweit irgend möglich, vergessen! Auf der anderen Seite: Wir sind Gottes Eigentum – also sollen wir ihm leben und ihm sterben! Wir sind Gottes Eigentum – also muß seine Weisheit und sein Wille bei all unserem Tun die Führung haben! Wir sind Gottes Eigentum – also muß unser Leben in allen seinen Stücken allein zu ihm als dem einzigen rechtmäßigen Ziel hinstreben! (Röm. 14, 8). Wie weit ist der schon fortgeschritten, der erkannt hat, daß er nicht sein eigener Herr ist – und der deshalb seiner eigenen Vernunft Herrschaft und Regiment entzogen hat, um sie Gott allein zu überantworten! Denn die schädlichste Pestilenz, die die Menschen nur zugrunderichten kann, herrscht da, wo der Mensch sich selber gehorcht – und der einzige Hafen des Heils liegt dementsprechend darin, daß wir von uns aus nichts denken, von uns aus nichts wollen, sondern einzig dem Herrn folgen, wie er uns vorangeht! Der erste Schritt soll also darin bestehen, daß der Mensch von sich selber abscheidet, um alle Kraft seines Geistes daran zu setzen, dem Herrn zu Willen zu sein. Unter solcher Dienstschaft verstehe ich nicht nur die, welche im Gehorsam gegen das Wort beruht – sondern jene, bei der sich das Herz des Menschen, leer von allem eigenen, fleischlichen Sinn, ganz zu dem Willen des Geistes Gottes bekehrt. Diese Umwandlung, die Paulus auch „Erneuerung (im Geiste) des Gemüts“ nennt (Eph. 4,23), ist den Philosophen sämtlich unbekannt gewesen, obwohl sie doch der erste Schritt ins Leben hinein ist. Sie setzen allein die Vernunft als Meisterin über den Menschen ein, sind der Meinung, man solle allein auf diese hören, ja, sie übertragen und verstatten ihr allein die Herrschaft über die Sitten. Die christliche Weisheit (Cnristiana pnilosopnia) dagegen läßt die Vernunft weichen, gibt ihr auf, sich dem Heiligen Geiste zu unterwerfen, unter sein Joch zu treten, damit der Mensch fürderhin nicht selber lebt, sondern Christus als den in sich trage, der da lebt und regiert! (Gal. 2,20).



III,7,2

Hieraus folgt nun auch das Zweite: Wir sollen nicht suchen, was unser ist, sondern was aus des Herrn Willen kommt und zur Mehrung seines Ruhms geschieht. Auch das ist ein großer Fortschritt, wenn wir uns selber schier vergessen, jedenfalls alle Rücksichtnahme auf uns hintanstellen und uns anstrengen, all unseren Eifer getreulich auf Gott und seine Befehle zu richten. Wenn uns nämlich die Schrift die Weisung gibt, die private Rücksicht auf uns selber aufzugeben, so tilgt sie damit nicht allein die Habgier, die Machtsucht und das Streben nach Gunst bei den Menschen aus unseren Herzen – nein, sie entwurzelt auch die Ehrsucht, alles Hängen am menschlichen Ruhm und andere, verborgenere Pestilenz dieser Art! Der Christenmensch muß wahrlich so beschaffen und so zubereitet sein, daß er bedenkt: ich habe es in meinem ganzen Leben mit Gott zu tun. Aus diesem Grunde wird er all sein Tun und Lassen nach Gottes Urteil und Ermessen richten; ebenso wird er auch alles Streben seines Herzens fromm auf ihn lenken. Denn wer es gelernt hat, bei allem, was er auszurichten hat, auf Gott zu schauen, der wird dadurch zugleich von allen unnützen Gedanken abgewendet. Dies ist die Selbstverleugnung, die Christus mit solchem Nachdruck allen seinen Jüngern von ihrer ersten Lehrzeit an aufträgt. Hat diese Selbstverleugnung einmal unser Herz ergriffen, so läßt sie zunächst der Hoffart, der Aufgeblasenheit, der Prahlerei, dann aber auch dem Geiz, der Gier, der Ausschweifung, der weichlichen Wollust und all dem anderen, was aus unserer Selbstliebe entsteht, keinen Raum mehr. Wo sie dagegen nicht das Regiment führt, da verbreiten sich schamlos selbst die gemeinsten Laster – oder aber es wird zwar ein Schein der Tugend sichtbar, er ist aber durch böse Ruhmsucht verdorben. Man zeige mir doch, wenn man kann, einen Menschen, der anderen umsonst Gutes tun wollte – ohne sich nach dem Gebot des Herrn selbst verleugnet zu haben! Denn wer von dieser Gesinnung nicht beherrscht wird, der hat zum wenigsten das Lob im Auge, wenn er den Weg der Tugend geht! Gewiß hat es Philosophen gegeben, die behaupteten, man müsse nach der Tugend um ihrer selbst willen streben – aber die, welche das am schärfsten betont haben, die waren von derartiger Anmaßung aufgeblasen, daß es ganz deutlich wird: sie haben bei ihrem Streben nach der Tugend gar nichts anderes im Auge gehabt, als einen Grund für ihre Hoffart zu gewinnen. Gott aber hat kein Gefallen an solchen Haschern nach öffentlicher Gunst und solchen aufgeblasenen Menschen – nein, er gibt uns kund, daß sie schon in dieser Welt „ihren Lohn dahin haben“ (Matth. 6,2. 5. 16), daß die Huren und Zöllner dem Himmelreich näher sind als sie! (Matth. 21,31). Dabei habe ich aber noch gar nicht deutlich gezeigt, wie viele und wie große Hemmungen den Menschen am Eifer um das Rechte hindern, solange er sich noch nicht selbst verleugnet hat. Es ist wahr, was man einst gesagt hat: in der Menschenseele sei eine Welt von Lastern verborgen. Da läßt sich kein anderes Heilmittel finden als dies, daß du dich selbst verleugnest, die Rücksicht auf dich selber beiseiteschiebst und deinen Sinn einzig danach streben lässest, das zu suchen, was der Herr von dir fordert, und allein darum danach zu suchen, weil es ihm wohlgefällt.
Simon W.

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III,7,3

Paulus beschreibt noch an anderer Stelle, freilich kurz, ein recht gestaltetes Leben in seinen einzelnen Teilen. „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und züchtigt uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes, Jesu Christi, der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken“ (Tit. 2,11-14). Er stellt uns nämlich hier zunächst zu unserer Ermunterung die Gnade Gottes vor Augen und bahnt uns damit den Weg, Gott wahrhaft zu dienen; dann aber behebt er zwei Hindernisse, die uns am meisten hemmen, nämlich das „ungöttliche Wesen“, zu dem wir von Natur nur allzu geneigt sind, und dann die „weltlichen Lüste“, welche sich (noch) viel weiter erstrecken. Unter „ungöttlichem Wesen“ versteht er dabei nicht allein den Aberglauben, sondern er faßt darunter auch alles das zusammen, was mit der ernstlichen Furcht Gottes im Widerspruch steht. Die „weltlichen Lüste“ aber bedeuten soviel wie die Regungen des Fleisches. Wir sollen also nach dem Geheiß des Apostels hinsichtlich beider Tafeln des Gesetzes unsere eigene Art von uns legen und alles, was uns die Vernunft und der eigene Wille diktiert, verleugnen! Alle Lebensgeschehnisse faßt er dann in drei Stücken zusammen: Züchtigkeit, Gerechtigkeit und Gottseligkeit (Vers 12). „Züchtigkeit“ bedeutet dabei ohne Zweifel Keuschheit und Mäßigkeit, zugleich aber auch den reinen und besonnenen Genuß der zeitlichen Güter und das geduldige Ertragen des Mangels. Die „Gerechtigkeit“ umfaßt alle Pflichten der Billigkeit: es soll also jeder empfangen, was ihm zukommt. Dann folgt die „Gottseligkeit“, die uns von den Befleckungen der Welt absondert und uns in wahrer Heiligkeit mit Gott eint. Wo diese drei miteinander unauflöslich verbunden sind, da bewirken sie eine rechte Vollkommenheit. Indessen ist ja nichts so schwer, als der Vernunft des Fleisches den Abschied zu geben, die Begierden zu dämpfen, ja, zu verleugnen – und uns so Gott und unseren Brüdern zu weihen und mitten in dem Schmutz der Erde nach einem engelreinen Leben zu trachten. Darum will Paulus unser Herz aus allen Fesseln losmachen und ruft uns deshalb zur Hoffnung auf die selige Unsterblichkeit zurück. Er erinnert uns daran, daß wir ja nicht vergebens streiten: denn wie Christus einmal als unser Erlöser erschienen ist, so wird er auch bei seinem letzten Kommen die Frucht des Heils, das er uns erworben hat, an den Tag bringen. So macht er alle Lockungen zunichte, die uns umnebeln, so daß wir nicht gebührlich nach der himmlischen Herrlichkeit streben, ja, er lehrt uns, daß wir in der Welt als Fremdlinge wandern müssen, damit uns das himmlische Erbe nicht verlorengeht oder entfällt.



III,7,4

Aus diesen Worten des Apostels ersehen wir weiter, daß unsere Selbstverleugnung zum Teil auf die Menschen, zum Teil auch – und zwar vornehmlich – auf Gott gerichtet ist. Wenn uns die Schrift nämlich für den Umgang mit den Menschen die Weisung gibt: „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor“ (Röm. 12,10; Phil. 2,3), so daß wir also aus ehrlichem Herzen alles daransetzen sollen, für das Wohlergehen der anderen zu sorgen – so erteilt sie uns damit einen Befehl, den unser Herz nicht fassen kann, wenn es nicht zuvor seines natürlichen Sinnes entledigt worden ist. Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken – und deshalb glaubt jeder einen gerechten Grund zu haben, um sich selbst zu erheben, alle anderen dagegen im Vergleich mit sich selber zu verachten. Hat uns Gott etwas geschenkt, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen, so setzen wir gleich unser Vertrauen darauf und erheben unser Herz, wir blasen uns auf, ja wir bersten schier vor Hochmut! Unsere Laster, von denen wir soviele haben, verstecken wir mit Fleiß vor den anderen und machen uns selber schmeichlerisch vor, sie seien geringfügig und unerheblich, ja, wir hätscheln sie gar noch als Tugenden! Treten uns nun aber die gleichen Gaben, die wir an uns selber bewundern, bei anderen entgegen, vielleicht gar in höherem Maß, so tadeln und schmähen wir sie in unserer Bosheit, damit wir nur ja nicht genötigt sind, sie bei ihnen anzuerkennen. Finden wir bei den anderen aber Laster, so begnügen wir uns nicht damit, sie in strengem, bitterem Tadel anzumerken, nein, wir machen sie in unserer Gehässigkeit noch größer! Daher kommt dann die Überheblichkeit, mit der wir alle über die anderen hinausragen wollen – als ob wir von dem allgemeinen Gesetz eine Ausnahme machten -, mit der wir alle Sterblichen stolz und übermütig verachten oder sie wenigstens als unter uns stehend von oben herab ansehen! So müssen die Armen vor den Reichen, die Nichtadligen vor dem Adel, die Knechte vor den Herren, die Ungelehrten vor den Gebildeten zurücktreten - aber es ist keiner dabei, der nicht in seinem Herzen irgendwie den Wahn nährte, er sei etwas besonderes. So trägt jeder Einzelne durch seine Selbstbespiegelung irgendein Königreich in seinem Herzen. Denn jeder spricht sich anmaßend etwas zu, kraft dessen er an sich selbst Gefallen findet – und von da aus sitzt er dann über den Charakter und die Lebensweise des anderen zu Gericht! Wenn es dann aber zum Streite kommt, dann bricht das Gift offen hervor. Gewiß legen nämlich viele Leute einige Sanftmut an den Tag, solange sie lauter Schmeichelhaftes und Liebliches zu hören bekommen – aber wie viele unter ihnen mögen wohl diese bescheidene Haltung bewahren, wenn man sie quält und reizt? Da gibt es kein anderes Heilmittel, als daß die furchtbar schädliche Pestilenz der Ehrsucht und Selbsthilfe aus dem tiefsten Innern herausgerissen werde – wie das ja auch durch die Unterweisung der Heiligen Schrift wirklich geschieht. Denn die Schrift lehrt uns so, daß wir daran denken: die Gaben, die uns Gott gewährt hat, sind nicht unser Besitz, sondern Gottes Geschenk; wenn einer nun darüber hoffärtig wird, so kommt seine Undankbarkeit ans Licht. So sagt Paulus: „Wer hat dich vorgezogen? … So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest?“ (1. Kor. 4,7). Weiterhin sollen wir uns auch durch fleißige Betrachtung unserer Laster zur Demut anhalten. So wird in uns nichts übrigbleiben, das uns aufgeblasen machen könnte – dagegen wird zur Beugung viel Grund vorliegen! Auf der anderen Seite wird uns befohlen, die Gaben Gottes, die wir an anderen Menschen zu sehen bekommen, derart zu achten und hochzuhalten, daß wir damit zugleich die Menschen ehren, denen sie beigelegt sind. Denn wenn der Herr sie solcher Ehre gewürdigt hat, so wäre es schlimme Bosheit, wenn wir sie ihnen absprechen wollten. Den Lastern der anderen gegenüber sollen wir nach der Lehre der Schrift Nachsicht üben – gewiß nicht, als ob wir sie durch Schmeichelei bestärken sollten; aber wir sollen um der Laster willen nicht gegen die Menschen grob werden, denen wir doch mit Wohlwollen und Ehrerbietung begegnen sollen. So wird es denn geschehen, daß wir allen Menschen, mit denen wir zu tun haben, nicht nur zurückhaltend und bescheiden, sondern zuvorkommend und freundlich gegenübertreten. Zur wahren Sanftmut kann man eben auf keinem anderen Wege gelangen, als wenn man sich selbst erniedrigt und ganz von Ehrerbietung gegen den anderen erfüllt ist.



III,7,5

Wie schwer ist es uns doch, unsere Amtspflicht zu erfüllen und stets des Nächsten Vorteil im Auge zu haben! Wenn du nicht aller Rücksicht auf dich selbst den Abschied gibst und dich gewissermaßen selber ausziehst, so wirst du hier nichts erreichen. Wie willst du die Werke an den Tag legen, die Paulus als Werke der Liebe beschreibt – ohne dich selbst zu verleugnen und dich ganz dem Dienst der anderen zu weihen? Er sagt doch: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie neidet nicht, sie blähet sich nicht … sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern …“ (1. Kor. 13,4f.; etwas ungenau). Wenn auch nur das Eine gefordert würde, daß wir nicht das Unsere suchen sollten – so müßte doch unserer Natur in nicht eben geringem Maß Gewalt angetan werden; denn sie bestimmt uns derart ausschließlich zur Selbstliebe, daß sie es nicht eben leicht hinnehmen würde, wenn wir uns und unsere Interessen leicht hingehen lassen würden, um über das Wohlergehen anderer zu wachen, ja, freiwillig auf unser Recht verzichteten, um es einem anderen zu überlassen! Eben dahin aber will uns die Schrift an der Hand führen, und deshalb mahnt sie uns daran, daß uns alle Gnadengaben, die wir vom Herrn empfangen haben, mit der Bestimmung anvertraut sind, sie zum gemeinen Nutzen der Kirche anzuwenden! Der rechtmäßige Gebrauch aller dieser Gnadengaben besteht also darin, daß wir sie freimütig und gerne mit den anderen teilen! Es läßt sich keine zuverlässigere Regel denken, auch keine kräftigere Ermahnung, sie einzuhalten, als die, daß wir uns unterweisen lassen: all die Gaben, die wir reichlich empfangen haben, sind Gottes uns anvertrautes Eigentum, das uns mit der Bestimmung auf Treu und Glauben hingegeben ist, daß wir es dem Nächsten zugut austeilen!Die Schrift geht aber noch darüber hinaus und vergleicht jene Gaben mit den Fähigkeiten, die den Gliedern des menschlichen Körpers innewohnen. Kein Glied hat seine Fähigkeit für sich selber, wendet sie auch nicht zu seinem eigenen Nutzen an, sondern jedes überträgt sie auf die mit ihm verbundenen Glieder und hat auch keinerlei Nutzen davon als den, der aus dem Wohlergehen des ganzen Leibes kommt. So muß der Fromme alles, was er vermag, für die Brüder vermögen – indem er für sich allein sein Gemerk auf nichts anderes lenkt als darauf, daß sein Herz auf die gemeinsame Erbauung der Kirche gerichtet sei! Den Weg zu Freundlichkeit und Wohltun werden wir also finden, wenn wir bedenken: für alles, was uns Gott übertragen hat und mit dem wir dem Nächsten zu helfen vermögen, sind wir als Haushalter eingesetzt, und wir sind verpflichtet, über die Verteilung solcher Gaben einst Rechenschaft abzulegen. Die rechte Austeilung wird aber einzig die sein, die sich nach der Regel der Liebe richtet. So werden wir das eifrige Trachten nach dem Wohlergehen des anderen nicht allein mit der Sorge um unseren eigenen Nutzen stets verbinden – nein, wir werden diese Sorge jenem eifrigen Trachten unterordnen. Damit uns nun aber nicht vielleicht verborgen bleibt, daß dies das Gesetz ist, nach dem wir alle Gaben, die wir von Gott empfangen haben, recht verwalten sollen – so hat Gott eben diese Ordnung bereits in die geringsten Geschenke seiner Güte vorzeiten hineingelegt. Er hat nämlich geboten, ihm die Erstlinge der Früchte darzubringen (Ex. 22,28; 23,19). Dadurch sollte dem Volke bezeugt werden, es sei unrecht, wenn es für sich selber aus solchen Gütern Nutzen ziehen wollte, die nicht zuvor dem Herrn geweiht waren! Diese Gaben Gottes sind aber erst dann für uns geheiligt, wenn wir sie mit eigener Hand ihrem Geber selbst wieder dargebracht haben; es ist also alles das ein unreiner Mißbrauch der Gaben, was jene Darbringung nicht erkennen läßt. Es wäre nun aber ein vergebliches Bemühen, wolltest du Gott durch Hergabe deines Besitzes etwa reich machen! Da nun aber dein Wohltun nicht zu ihm zu dringen vermag, so sollst du es nach den Worten des Propheten gegen seine Heiligen üben, die auf Erden sind! (Ps. 16,2f. nach der lateinischen Übersetzung). Deshalb werden die Almosen mit heiligen Opfern verglichen, so daß sie also heute jenen Opfern entsprechen, die einst unter dem Gesetz bestanden (Hebr. 13,16).



III,7,6

Damit wir aber weiter nicht müde werden, wohlzutun (Gal. 6,9) – und das würde sonst sehr bald geschehen! -, muß auch das andere noch hinzutreten, was der Apostel uns sagt: „Die Liebe ist langmütig, … sie läßt sich nicht erbittern!“ (1. Kor. 13,4f.). Der Herr gibt uns die Vorschrift, allen Menschen ohne Ausnahme Gutes zu tun; und darunter ist ein erheblicher Teil dessen gänzlich unwürdig, wenn man diese Menschen nach ihrem eigenen Verdienst beurteilt. Da kommt uns nun die Schrift aufs beste zu Hilfe, indem sie uns lehrt, daß wir nicht auf das zu achten haben, was die Menschen aus sich selber verdienen, sondern daß wir unser Augenmerk bei allen Menschen auf das Ebenbild Gottes zu richten haben, dem wir alle Ehre und Liebe zu erweisen schuldig sind. Mit besonderem Fleiß haben wir auf dieses Ebenbild Gottes bei den Hausgenossen des Glaubens zu achten, sofern es in ihnen ja durch Christi Geist erneuert und wiederaufgerichtet ist (Gal. 6,10). Was für ein Mensch dir nun auch entgegentreten mag, der deiner Dienstleistung bedarf, so hast du keinen Grund, dich ihm zu entziehen und dich ihm nicht zu widmen. Sage du nur, er sei dir fremd: der Herr hat ihm aber ein Kennzeichen aufgeprägt, das dir wohl bekannt sein soll; in diesem Sinne hat er dir doch gesagt: „Entzieh dich nicht von deinem Fleisch!“ (Jes. 58,7). Sage du nur, er sei ein verachteter, nichtswürdiger Mensch: der Herr aber zeigt dir ihn als einen Menschen, den er der Zier seines Ebenbildes gewürdigt hat! Sage du nur, er habe dir keinen Dienst geleistet, der dich wiederum verpflichte: Gott hat ihn aber gleichsam zu seinem Stellvertreter eingesetzt – und du sollst dich diesem Menschen gegenüber für so viele und so große Wohltaten erkenntlich erweisen, mit denen Gott dich zu seinem Schuldner gemacht hat! Sage du nur, er sei es nicht wert, daß du dir um seinetwillen auch nur die geringste Mühe machtest – aber das Ebenbild Gottes, das dir hier entgegentritt, ist doch wohl wert, daß du ihm dich und alles, was dein ist, zur Verfügung stellst! Selbst wenn der andere nicht nur nichts Gutes um dich verdient, sondern dich gar noch mit Beleidigungen und Schmähungen gereizt hat – so ist selbst das noch kein guter Grund, weshalb du aufhören dürftest, ihn mit Liebe zu empfangen und ihm die Dienste der Liebe zu erzeigen! (Matth. 6,14; 18,35; Luk. 17,3). Du magst wohl sagen: Er hat an mir ganz etwas anderes verdient! Aber was hat denn der Herr verdient? Wenn dir der Herr gebietet, ihm alles zu vergeben, was er wider dich gefehlt hat, so will er doch sicherlich, daß du die Sünde des anderen ihm zurechnest! Es gibt nur einen Weg, um das zu erreichen, was der menschlichen Natur gänzlich zuwider, geschweige denn schwer ist, nämlich daß wir lieben, die uns hassen, daß wir Böses mit Gutem vergelten und Segnung gegen Schmähung setzen! (Matth. 5,44). Und dieser Weg liegt darin, daß wir daran denken: wir sollen nicht die Bosheit der Menschen in Betracht ziehen, sondern in ihnen auf das Ebenbild Gottes achten; das bedeckt und vertilgt ihre Missetaten und reizt uns durch seine Schönheit und Würde, den Menschen zu lieben und ihm mit Freundlichkeit zu begegnen.
Simon W.

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