Kontemplatives Gebet, das Herz des Mystizismus
Herz und Seele des Mystizismus, jeder Art von Mystizismus, christlich oder nichtchristlich, ist die Kunst der Meditation oder Kontemplation. Georgia Harkness erläutert, dass „unter den Kirchenvätern ‚Kontemplation‘ der übliche Begriff war, um das zu bezeichnen, was man später die mystische Erfahrung nannte.“1 Kontemplatives Gebet, auch bekannt als Centering Gebet und Atemgebet, gewinnt zunehmend an Popularität und Akzeptanz in evangelikalen Kreisen; aus diesem Grunde ist es wichtig, genau zu verstehen, um was es sich handelt und warum wir darüber besorgt sind.
Was ist kontemplatives Gebet?
Zuerst müssen wir den Unterschied kennen zwischen dem normalen Gebet, das man in der Schrift findet und wozu die gesamte Schrift aufruft, und dem kontemplativen Gebet, das man in der Schrift nicht findet. Gebet ist unsere Kommunikation mit Gott. Während der Herr durch sein Wort zu uns spricht, sprechen wir zu Ihm durch unser Gebet. Solche Gebete sind rational, intelligent und kommen aus unserem Verstand. Paulus sagte, er würde mit seinem Geist beten und er würde auch mit dem Verstand beten (1Kor 14,15), nicht entweder oder. Wir sollen ohne Unterlass beten (1Thess 5,17), und in unseren Gebeten sollen wir unsere Bitten zum Ausdruck bringen (Phil 4,6). Im Gebet bekennen wir unsere Sünden (1Jo 1,9). Im Gebet preisen wir Gott für sein Wesen. Gebete, die ein Lallen oder ohne Verstand sind, finden wir im Gegensatz zu den Behauptungen der Charismatiker nicht in der Schrift. Ebenso wenig finden wir das kontemplative Gebet in der Schrift, dessen Ursprung nicht in der Bibel sondern bei den christlichen Mystikern oder in der östlichen Spiritualität liegt. Es sollte erwähnt werden, dass das kontemplative Gebet (oft einfach nur als Meditation bezeichnet) im Grunde dem Hinduismus und Buddhismus entspricht und eigentlich im Christentum in identischer Weise praktiziert wird.
Um was genau handelt es sich? Es beginnt mit Loslösung. Richard Foster schrieb in seiner ersten Ausgabe von Celebration of Discipline (dt. Ausgabe: Nachfolge feiern) im Jahre 1978: „Christliche Meditation ist ein Versuch, den Verstand leer zu machen, um ihn zu füllen“ (S.15). Füllen mit was? In den östlichen Religionen macht eine Person ihren Verstand leer, um mit dem Universum (Kosmischen Bewusstsein) eins zu werden. Im christlichen Mystizismus macht man den Verstand leer, um mit Gott eins zu werden, der in uns selbst zu finden ist (es ist wichtig, sich an Meister Eckharts göttlichen Funken in der Seele eines jeden Menschen zu erinnern). Foster zitiert eine Reihe von Mystikern und beschreibt ihre Erfahrungen. Er führt beispielsweise den russischen Mystiker Theophan der Klausner auf, der sagte: „Zu beten bedeutet, sich mit dem Geist ins Herz zu versenken, um dort vor dem Angesicht des allgegenwärtigen und allwissenden Herrn in dir zu stehen.“2
Das wiederkehrende Thema des Mystikers ist die Einheit mit Gott, die durch das kontemplative Gebet ermöglicht wird, und die Einheit mit Gott, die in uns selbst gefunden werden kann. Theresa von Avila erläutert: „Da ich mit meinem Verstand keine Erkenntnis erlangte, strebte ich danach, mir Christus in mir vorzustellen.“3 Sie hat ferner gesagt: „Begib dich in die Abgeschiedenheit, und du wirst in deinem Selbst auf IHN treffen.“4 Solche Aussagen machen deutlich, warum die Mystiker unter den Verdacht gerieten, Pantheisten zu sein. Die Stille ist ein wichtiger Bestandteil der Kontemplation. Catherine de Haeck Doherty schreibt: „Alles in mir ist Stille und… ich bin in die Stille Gottes eingetaucht.“5 Francis de Dales merkt an: „Mittels der Imagination setzen wir unserem Verstand Grenzen innerhalb des Mysteriums, über das wir meditieren.“6 Imagination ist äußerst wichtig für die Mystiker. Wie Theresa uns mitteilt, handelt es sich dabei nicht um eine Methode, die von unserem Verstand kommt. Die Mystiker bewegen sich auf dünnem Eis, sozusagen, und müssen durch Imagination mit Gott in Kontakt treten und nicht durch den rationalen Weg des Verstandes. Die Macht solcher Erfahrungen wird offenkundig, wenn Foster uns sagt: „Wir müssen in einer ständigen, innerlichen, hörenden Stille leben, so dass Gott zur Quelle unserer Worte und Handlungen wird.“7
Folglich, durch das kontemplative Gebet soll eine Person ihren Verstand leeren (loslösen), ihn dann durch Imagination mit einer Erfahrung des Christus erfüllen (an Christus binden), den wir in der Stille unserer Seele finden, was letztlich dazu führt, dass Gott zur Quelle unserer Worte und Taten wird. Das klingt für viele attraktiv, obgleich eine solche Lehre nicht in der Schrift zu finden ist. Aber wie genau wird dies praktiziert?
Die Methode
Wie geht man also beim kontemplativen Gebet vor? Die Methoden ähneln jenen der östlichen Religionen und sind den meisten von uns in Form von Yoga oder Transzendentale Meditation (TM) bekannt. Gary Thomas gibt die typischen Anweisungen: „Suche dir ein Wort aus (Jesus oder Vater beispielsweise) und mache es zum Mittelpunkt deines kontemplativen Gebets. Wiederhole das Wort leise in deinem Verstand für eine bestimmte Zeit (sagen wir 20 Minuten), bis dein Herz das Wort von selbst zu wiederholen scheint und dies so natürlich und unbewusst wie das Atmen wird. Aber das Stille-Gebet (Centering Gebet) ist eine kontemplative Handlung, bei der du gar nichts tust. Du verharrst einfach in der Gegenwart Gottes.“8 Also ist die Wiederholung von Worten oder kurzer Sätze, ein Mantra, der Schlüssel für diese Erfahrung. Richard Foster empfiehlt eine Reihe von Methoden und sagt: “Ich finde es am besten, in einem Stuhl mit gerader Lehne zu sitzen, mein Rücken in gerader Position und beide Füße flach auf dem Boden… Legen Sie Ihre Hände auf die Knie, die Handflächen nach oben als Zeichen des Empfangens. Manchmal ist es gut, die Augen zu schließen, um Ablenkungen zu vermeiden und die Aufmerksamkeit auf Christus zu lenken. Manchmal ist es zum gleichen Zweck hilfreich, wenn wir uns ein Bild von Gott vorstellen oder uns einige schöne Bäume oder Pflanzen betrachten.“9 Brennan Manning empfiehlt in seinem Buch The Signature of Jesus Folgendes: „Der erste Schritt im Glauben ist, im Gebet das Denken über Gott auszuschalten… Kontemplative Spiritualität betont gewöhnlich den Wandel des Bewusstseins… wir müssen die Realität anders wahrnehmen… Suchen sie sich ein einzelnes, heiliges Wort aus… wiederholen Sie das Wort in Ihrem Innern, langsam und oft… Treten Sie in die große Stille Gottes ein. Alleine in dieser Stille wird die innere Unruhe weichen und die Stimme der Liebe hörbar werden.“10 Offensichtlich ist es die Wiederholung des Mantras, das den leeren Verstand hervorruft. Mit einem leeren Verstand und einem offenen Herzen, das für alle möglichen Stimmen und Visionen empfänglich ist, wird eine Person in einen mystischen Zustand versetzt. Dies ist der Zustand, der für den Mystizismus so entscheidend ist, und diesen Zustand erreicht man durch das kontemplative Gebet. Bezüglich dieser Dinge ermutigt Foster dazu: „Obwohl es in modernen Ohren seltsam klingen mag, sollten wir uns alle als Lehrlinge in der Schule des kontemplativen Gebets einschreiben.“11 Im Gegensatz zu Foster suchen wir in der Schrift vergeblich nach solchen Anweisungen. Wir treffen aber bei den östlichen Religionen ständig auf diese Art von Kontemplation. Daher finde ich es sowohl gewagt als auch bezeichnend, dass Foster bei seiner Empfehlung für Catherine de Haeck Dohertys Dienst tatsächlich einräumt, dass ihr Buchtitel Poustinia: Christian Spirituality of the East for Western Man (Poustinia: Christliche Spiritualität des Ostens für den westlichen Menschen) lautet.12 Dies lässt keinen Zweifel offen, aus welchen Quellen diese Art von Gebet kommt.
Ist dies aber biblisch?
Keine Erfahrung oder Methode, die Spiritualität fördert, sollte von vorneherein abgelehnt oder ungeprüft akzeptiert werden. Die Schrift ist der letztgültige Maßstab, und wie wir gesehen haben, finden wir den Mystizismus, den wir näher betrachtet haben, keineswegs in der Schrift. Ich finde es höchst interessant, was Winfried Corduan in seinem Buch Mysticism, an Evangelical Option? (Mystizismus, eine evangelikale Option?) einräumen musste. Corduan würde sich nicht so stark an die Schrift binden, wie wir es tun, und er würde einen milden Mystizismus im Leben eines Christen durchaus positiv bewerten. Aber am Ende seines Buches stellt er eine Reihe wichtiger Fragen.
„Im Kontext des Neuen Testaments wird dieser Aspekt der mystischen Erfahrung problematisch. Denn dies würde bedeuten, dass mystische Erfahrungen zu einer Quelle von Offenbarungen werden, ein persönlicher Weg, um Einsichten über Gott und sein Handeln zu empfangen. Wenn dem so wäre, wie Arthur L. Johnson betont, würde die evangelikale Lehre unterlaufen, die die Schrift als einzige Quelle von Offenbarung anerkennt. „Die Schrift lehrt an keiner Stelle, dass Gott uns irgendwelche Erkenntnisse durch ‚spirituelle Erfahrungen‘ gibt. Erkenntnis in geistlichen Dingen wird stets mit Gottes Offenbarung in Form von Aussagen, in Form des geschriebenen Wortes, verbunden.“13
Corduan spricht einen wichtigen Punkt an. Der Mystizismus, sowohl die alte als auch die moderne Form, ist voller angeblicher Offenbarungen von Gott. Tatsächlich ist dies der Anziehungspunkt – Gott wird dir persönlich im Zentrum deiner Seele begegnen und dir Dinge mitteilen, die weit über die Schrift hinausgehen. „Christliche Meditation ist einfach gesagt die Fähigkeit, Gottes Stimme zu hören und seinem Wort zu gehorchen,“ so Foster.14 Dies ist kein Ausrutscher. Foster ist kein Befürworter, auf die Stimme Gottes im geschriebenen Wort Gottes zu hören. Er stellt noch nicht einmal „sein Wort“ mit der Bibel gleich. Er spricht davon, dass man Gottes Stimme außerhalb der Schrift hören und dieser Offenbarung folgen soll. Dies ist eine der größten Gefahren des Mystizismus. Corduan fährt fort:
„Wir haben die Behauptung aufgestellt, dass Mystizismus ein sehr wichtiger Aspekt der neutestamentlichen Theologie ist [er definiert Mystizismus etwas anders als der vorliegende Artikel]. Und doch sollen wir keine mystischen Erfahrungen suchen. Durch einen neutestamentlichen Mystizismus kann man die Wahrheit nicht erkennen. Es gibt keinen Weg der Askese oder Meditation, um diese mystische Realität zu erfahren. Vielmehr gibt es zwei wichtige Gebote. Das erste ist: „Glaubt an den Herrn Jesus Christus!“ (Apg 16,31). Das zweite ist: „Lebt… im Geist! (Röm 8,5). Es geht darum, ein Leben im Licht der Tatsache zu führen, dass diese Realitäten durch Gottes Gnade geschenkt werden. Christen müssen die gegenwärtigen Realitäten nicht suchen, sondern sie genießen. Wenn sie sich dem Werk Gottes hingeben, bringt der Heilige Geiste ein neues, übernatürliches Leben in ihnen hervor.“15
Dies ist neutestamentliche Spiritualität: die Wiedergeburt und die Innewohnung des Geistes und die Befähigung durch die Kraft des Heiligen Geistes, was auf der Grundlage der geoffenbarten Wahrheit der Schrift geschieht. Wenn Gott es gewollt hätte, dass wir Ihm durch mystische Methoden oder das kontemplative Gebet begegnen, warum hat er uns dies nicht mitgeteilt? Warum finden wir keine Beispiele oder Anweisungen hierfür? Wie konnte der Heilige Geist die Niederschrift der Bibel inspirieren, aber vergessen ein oder zwei Kapitel über Mystizismus, geistlichen Übungen oder Meditation nach östlichem Vorbild einzuschließen? Sollen wir etwa glauben, dass der Geist dies alles übersehen und derart wichtige Unterweisungen über unbedingt notwendige Erfahrungen, die für die christliche Spiritualität absolut notwendig sind, übersehen hat? Wenn dem so wäre, sollen wir glauben, Gott habe katholischen Mönchen Jahrhunderte später das fehlende Glied des christlichen Lebens offenbart, das von den Reformern verworfen wurde, nur um von Richard Foster im 20. Jahrhundert erneut eingeführt zu werden? Dies ist fast nicht vorstellbar, aber offensichtlich wird es von vielen heute akzeptiert.
Moderne Protagonisten der mystischen Methode
Wenn die mystischen Methoden, die wir beschrieben haben, lediglich in einer kleinen Ecke der christlichen Subkultur zu finden wären, dann hätten wir zu viel Zeit darauf verschwendet. Aber unglücklicherweise ist das, was einmal eine Ausnahme war, heute zum Hauptstrom geworden. Mehr und mehr Organisationen, Colleges, Seminare und Autoren propagieren die Überlegenheit des mystischen Christentums. Und dabei konzentriert man sich besonders auf die Jugend. Im Jahre 1990 führte beispielsweise das San Francisco Theological Seminary zusammen mit der sehr einflussreichen Jugendorganisation Youth Specialities eine dreijährige Untersuchung durch, bei der es um kontemplative Methoden ging. Das Projekt wurde von der Stiftung Lilly Endowment Fund finanziert. Mike Yaconelli, Mitgründer von Youth Specialities, begann sich für kontemplatives Gebet zu interessieren, als er eine geistlich trockene Zeit in seinem Leben erfuhr und ein Buch von Henri Nouwen zu diesem Thema gelesen hatte. Yaconelli und Youth Specialities bieten seither kontemplatives Gebet und Mystizismus bei ihren jährlich stattfindenden Pastorenkonferenzen und Jugendkonferenzen an, bei denen sie jährlich über 100.000 Jugendleiter erreichen.16 Jede Konferenz bietet Kurse an, wie man einen kontemplativen Dienst unter Jugendlichen aufbauen, die Lectio Divina beten (ein altes kontemplatives Gebet in vier Stufen) und Gebetslabyrinthe begehen kann. Der Tochterverlag von Christianity Today, Christian Parenting, veröffentlichte kürzlich einen Artikel (Herbst 2004), der für die Lectio Divina für Jugendliche warb. Christliche Sänger wie John Michael Talbot empfehlen das kontemplative Gebet ebenso wie die östlichen Methoden des Tai Chi und Yoga. Ohne Frage ist der ehemalige katholische Priester Brennan Manning tief in Mystizismus verstrickt, und doch verschenkt Michael W. Smith seine Bücher, und Michael Card holt sich bei ihm Rat ein und benannte seinen Sohn nach ihm. Larry Crabb frägt ihn um Rat, Eugene Peterson liebt seine Bücher, Max Lucado empfiehlt seine Bücher, Philip Yancey betrachtet ihn als einen guten Freund,17 und Multnomah sowie NavPress, evangelikale Verlage, veröffentlichen seine Bücher. Mystizismus und kontemplatives Gebet sickert durch viele Quellen in den Evangelikalismus ein, und eine Flutwelle könnte sich durchaus bald ereignen. Wir müssen darauf vorbereitet sein, den Glauben gegen diese äußerst gefährliche Perversion des biblischen Glaubens zu verteidigen.
Anmerkungen
[1] Georgia Harkness, Mysticism, (Nashville, Tennessee: Abingdon Press, 1973), p. 25.
[2] Richard Foster, Celebration of Discipline, (New York: HarperCollins, 1998), p. 19.
[3] Ibid., p. 25.
[4] Ibid., p. 96.
[5] Ibid., p. 102.
[6] Ibid., p. 25.
[7] Ibid., p. 166.
[8] Cited in James Sundquist, Who’s Driving the Purpose Driven Church?, (Bethany, OK: Rock Salt Publishing, 2004), p. 93.
[9] Richard Foster, p. 28.
[10] Cited in Ray Yunger, A Time of Departing, (Silverton, Oregon: Lighthouse Trails, 2002), p. 84.
[11] Richard Foster, p. 15.
[12] Ibid., p. 107.
[13] Winfried Corduan, Mysticism, an Evangelical Option?, (Grand Rapids, Michigan: Zondervan, 1991), p. 120.
[14] Richard Foster, p. 17.
[15] Winfried Corduan, p. 138.
[16] Yungen, pp. 133-134.
[17] Agnieszka Tennant, “The Patched Up Life and Message of Brennan Manning,” Christianity Today, June 2004, p. 42.
Quelle:
hier