Hallo Stephan,
Du schreibst:
sbrowa hat geschrieben:Durch die Beschäftigung mit der Philosophie (Fach in RT am Seminar) und der Kirchengeschichte (dito), kam ich zu ganz ähnlichen Überzeugungen wie Bruder Ebertshäuser.
Kenntnisse der Kirchengeschichte sind durchaus hilfreich bei der Abwägung der einzelnen Manuskripte. Ohne Vergleich der Handschriften selbst aber hilft alle Philosophie nichts. Die alten Griechen waren nicht dumm, aber ihr Philosophieren hat sich oft als Torheit entpuppt, weil sie zwar über die Dinge nachdachten, aber ihre Theorien selten in der Praxis auf die Probe stellten. (Archimedes entdeckte das Prinzip der Wasserverdrängung bekanntlich nicht im Studierstübchen, sondern in der Badewanne.)
Ebensowenig kann man sich durch bloße Theorien ein klares Bild über die handschriftliche Überlieferung des NT machen; man muß sich schon die Quellen selbst anschauen.
sbrowa hat geschrieben:Bislang konnte mir noch niemand plausibel die Ablehnung der Bibelkritik auf der einen Seite, die Akzeptanz der Textkritk auf der anderen Seite erklären!
Dann will ich’s noch mal versuchen: Bibelkritik und Textkritik sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Bibelkritik ist die Anmaßung des Menschen, über Gottes Wort zu Gericht sitzen zu wollen, Textkritik ist der Versuch, die ursprüngliche Gestalt eines Textes durch Vergleich der vorliegenden Textzeugen zu ermitteln.
Wo der Textkritiker sein Ergebnis von vorgefertigten Theorien bestimmen läßt, läuft er Gefahr, die Fakten zu vernachlässigen (siehe etwa Westcotts und Horts Annahme eines „westlichen“ Textes oder die angebliche „Lukianische Rezension“, was heute beides in der Textkritik nicht mehr vertreten wird).
sbrowa hat geschrieben:[Bibelkritik und Textkritik] schöpfen beide aus der Aufklärung und dem damit verbundenen Rationalismus (= "Vergöttlichung" des verfinsterten Verstandes).
Ganz und gar nicht! „Wissenschaft“ im eigentlichen Sinne ist doch das, was man aufgrund von Forschung und Wissen feststellen kann, kurz:
sachgemäße Erforschung des jeweiligen Erkenntnisgegenstandes. Voraussetzung für die neuzeitliche Wissenschaft war das christliche Weltbild, d.h. daß Gott alles in seiner Weisheit in guter Ordnung geschaffen hat. Diesbezüglich war das Mittelalter nicht ganz so finster, wie man oft glaubt, denn viele bedeutende Erfindungen wurden schon im Mittelalter gemacht. Durch die Reformation kam es zu einer erneuten wissenschaftlichen Blüte, da hierdurch die Vorherrschaft der griechischen Philosophen (siehe oben...) gebrochen wurde.
Wenn „Wissenschaft“ aber so weit gekommen ist, daß der Verstand vergötzt wird, ist sie keine Wissenschaft mehr, sondern blinde Dogmatik. Die Bibel fordert uns durchaus heraus, den Verstand zu benutzen (1Kor 14,20), natürlich unter Beachtung seiner Grenzen.
sbrowa hat geschrieben:Nun meine ich, dass die Gründe die z.B. zur Ablehnung der Authentizität eines Bibelbuches wegen "nicht vorhandener" außerbiblischen Bestätigung führen, (z.B. Pentateuch sei nicht historisch...) GENAUSO rationell, logisch und "wissenschaftlich" sind, wie die Ratifizierung einer Handschrift in Bezug auf ihr Alter (z.B. Codex Sinaiticus) - oder liege ich da falsch?
Hm – ja. Das eine hat mit dem anderen etwa so viel zu tun wie ein Frosch mit der Raumfahrt.

Es stimmt einfach nicht, daß alle neuzeitlichen Textkritiker „böse Ungläubige“ gewesen wären. Ich nenne nur Bengel, Tischendorf, Tregelles. Es ist auch eine merkwürdige Logik, den Nestle-Aland-Text zu verwerfen, weil viele, die daran gearbeitet haben, nicht Evangelikale sind oder waren, aber andererseits den Text eines Erasmus geradezu abgöttisch zu verehren, obwohl Erasmus ein strammer Katholik war (siehe unten).
sbrowa hat geschrieben:Ich für meinen Teil will deswegen eigentlich gar nicht recht auf dem "Parkett" der Wissenschaft auftreten sondern "unwissenschaftliche" Argumente für den reformatorischen Text (Textus Receptus) betonen.
Nun – genau das ist ja das Problem! Wie sollen wir denn feststellen, was der Wortlaut des Urtextes ist, wenn nicht anders als durch sachgemäße Untersuchung der vorhandenen Handschriften?
sbrowa hat geschrieben:Für mich ist das wichtigste Argument für den TR die kirchengeschichtliche Wirkung, die er durch die fast 400 Jahre seit der Reformation hatte.
Meinst Du, die Bibel hätte eine andere Wirkung gehabt, wenn Erasmus seinem griechischen NT den Codex Vaticanus zugrundegelegt hätte? Das wage ich zu bezweifeln. Die Bibelübersetzungen Wyclifs und der Waldenser beruhen auf der lateinischen Vulgata, weil damals im Westen keine griechischen Handschriften zur Verfügung standen. Gott löste durch sie jeweils eine Erweckung aus. Heißt das nun, daß wir deshalb nur noch die Vulgata benutzen sollten?
Oder schau auf die Missionsfelder von heute. Während hierzulande geistlich Eiszeit herrscht (trotz des derzeitigen TR-Revivals in manchen Kreisen), haben sich in den letzten Jahrzehnten Angehörige bislang unerreichter Völker bekehrt – durch Bibelübersetzungen, die auf dem „bösen“ Nestle-Aland-Text beruhen!
Warum ist das so? Weil trotz aller Unterschiede in Einzelheiten insgesamt die Botschaft des Evangeliums von allen Handschriften und Textausgaben unverfälscht überliefert wird! (Und deshalb erscheint mir die ganze Aufregung auch ziemlich überflüssig.)
sbrowa hat geschrieben:Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Gott seinen Kindern auf der ganzen Welt nur eine "abscheuliche Handschrift" für mehrere Jahrhunderte zukommen ließ, um sie dann ab Anfang des 20. Jahrhunderts durch die "ungläubige" Wissenschaft "bereinigen" zu lassen.
Pardon, man kann’s auch umdrehen: Warum enthielt Gott seinen Kindern auf der ganzen Welt 1500 Jahre lang den TR vor, der so überhaupt erst durch Erasmus zustande kam? Sein Text weicht nämlich sowohl vom Mehrheitstext als auch von den älteren alexandrinischen Handschriften ab. Erasmus kann man ebenfalls einen „ungläubigen Wissenschaftler“ nennen (vom evangelischen Standpunkt aus): Er hielt an den Irrlehren Roms fest und bekämpfte die Reformation in seinen Schriften.
sbrowa hat geschrieben:Übrigens kenne (und schätze!!) ich sowohl Bruder Rudolph Ebertshäuser als auch Bruder Martin Heide.
Dito. Wenn ich R. Ebertshäusers Ansichten zum TR widerspreche, heißt das deshalb ja nicht, daß ich ihn als Person und Bruder nicht schätzen würde (auch wenn mir ehrlich gesagt die Diskussion langsam auf den Wecker geht). Man muß halt zwischen
Sachkritik und Kritik an
Personen unterscheiden – leider fällt das heute immer mehr Menschen schwer, auch den Frommen... (*seufz*)
Freundliche Grüße
Joachim